Menschen mit Demenz im Krankenhaus aus ärztlicher Sicht Elisabeth [email protected] UNIVERSITÄTSMEDIZIN BERLIN Gliederung Der geriatrische Patient Demenz, Begriffe, Verlauf Ziele für die Gruppe der Demenzerkrankten im Krankenhaus Versorgungssituation Demenzerkrankter im Krankenhaus Empfehlungen Der geriatrische Patient • fortgeschrittenes biologisches Alter • mehrere chronische Erkrankungen (Multimorbidität) • Fähigkeitsstörungen („Krankheitsfolgezustände“), Beeinträchtigungen • bedrohte oder bereits eingeschränkte Selbsthilfefähigkeit • drohende oder bereits bestehende Pflegebedürftigkeit • Gebrechlichkeit • verminderte Belastbarkeit • Immobilität Häufigste Diagnosengruppen im Krankenhaus • Kardiovaskuläre Erkrankungen • Erkrankungen des Bewegungsapparates • Demenz • Gedächtnisstörung • Abbau des Denkvermögens • Veränderungen der Persönlichkeit • Verhaltensstörungen • in der Folge deutliche Beeinträchtigung der Selbständigkeit im Alltag • Delir ist nicht alleinige Ursache der Hirnleistungsstörungen • Dauer der Symptomatik ≥ 6 Monate Versorgungssituation bei Demenz • Gesellschaft Fehlendes Bewusstsein, schlechte Lobby • Diagnostik unzureichend / (immer) zu spät • Hausärzte unzureichende Kenntnisse, „Neglect“ , kardiovask. Risikofaktoren !!!! keine Anreize für umfassende Versorgung • Fachärzte unzureichende Einbeziehung / Gedächtnissprechstunde • Therapie hohe Variabilität, fehlende Ausschöpfung der verschiedenen Möglichkeiten medikamentöser und nicht medikamentöser Therapie • akute medizinische nicht demenzspezifisch, fragmentiert, Notaufnahme / stationäre Versorgung • Schulungsressourcen geringe Verbreitung über Kenntnisse der Demenz • Forschung Positiver Trend Nur 20% aller Demenzkranken erhalten eine angemessene Versorgung ! Demenz – ein Syndrombegriff • Diagnostik: keine Biomarker vorhanden!!! - sorgfältig und ausreichend u.a. mehrdimensionale Assessments • Behandlungs- und Interventionsstrategien: Prävention: Was ist heute gesichert? (Vorsorgevollmacht) Aufklärung des Patienten und der Familie Behandlung Rehabilitation Pflege Demenz - Sammelbegriff • Für eine Erkrankung, die durch eine sekundäre Verschlechterung der geistigen Leistungsfähigkeit mit folgenden Merkmalen auftritt: – Abnahme der Gedächtnisleistung – Abnahme von kognitiven Fähigkeiten (Urteils- und Denkvermögen) – Kein Hinweis auf vorrübergehende Verwirrtheit – Störung der Affektkontrolle, des Antriebes oder auch im sozialen Verhalten – Wegen 30% Überlappung DEPRESSION ausschliessen Demenz - Sammelbegriff • Eines der genannten Störungen muss mindestens für 6 Monate anhalten, erst dann kann die ICDDiagnose „Demenz“ gestellt werden Aus: raumverloren: Architektur und Demenz, S. 67 Demenz - Sammelbegriff • Primäre Demenz: – Alzheimer Demenz – Frontotemporale Demenz – Lewy Körperchen Demenz • Sekundäre Demenz (meist reversibel): – Tumore – Stoffwechselerkrankungen Nicht-kognitive Symptomatik • Im Laufe der Krankheit können oft nicht-kognitive Störungen im Vordergrund stehen, die gerade bei einer Krankenhausaufnahme auftreten: • Z.B.: Störungen der Perzeption – – – – – – – – Wahnvorstellungen Verkennungen Halluzination Affektive Störungen Depressive Symptome Persönlichkeitsveränderungen Verhaltensprobleme Aggressionen Nicht-kognitive Symptomatik & Multimorbidität • Diese Störungen/Fakten sind sozioökonomisch bedeutsame bei Demenzerkrankten • z.B. „Rooming in“ auch für Ältere und Personen mit Demenz, muß mit den Kassen verhandelt werden!! • im DRG – System keine ausreichende Abbildung der personellen Erfordernisse der Patienten mit Demenz! Aus: ZGG 2008 (2), Hirsch, Abb.1 Multimorbidität und Demenz • Gehört zu den teuersten Krankheiten im höheren Lebensalter • Faktor Multimorbidität begründet die hohe Kosten – z.B.: Sturz und seine Folgen • Zahlen aus den USA: – M. Alzheimer und Multimorbidität 10000 US $ – M. Alzheimer „allein“ 526 US $ Verteilung der Komorbidität bei dementen Patienten 700 600 500 400 300 200 100 0 Ziele • Ziele im Umgang mit dementen Patienten als Aufgabe für Betroffene, Angehörige und Professionelle: – Erstellung eines individuellen multimodalen zielorientierten Behandlungs- und Pflegeplan – Selbstbestimmtheit, Selbstständigkeit, so lange wie möglich – Hohes Maß an Lebensqualität ermöglichen – Angehörige ins Team auf Station einladen Ziele • Situation der Versorgung: – Zu Hause: planen und organisieren für nachstationäre Zeit – Ambulanter Bereich: Probebesuche in Begleitung in ambulanten Einrichtungen – Teilstationärer Bereich: s.o. – Stationärer Bereich: Angehörige, bekannte Personen, Bezugspersonen für Demente, Herausnahme der dementen Personen in extra eingerichtete Gruppen mit strukturiertem Angebot! Z.B. Franz Projekt Aus: Hirsch Mobiler durch FRANZ ein neuer Behandlungsansatz für Demenzkranke mit Schenkelhalsfraktur Buch: Mägerl, A./ Lämmler, G./ Steinhagen-Thiessen, E.: Menschen mit Demenz nach Hüftfraktur mobilisieren Therapie-Konzept FRANZ • Konventionelle Therapie (Physio- und Ergotherapie) plus • Bewegungstherapie (Altenpflegerin) • Erinnerungsgruppe (Altenpflegerin) • Co-therapeutische Einbeziehung von Angehörigen • Einschlusskriterien: Patienten mit Schenkelhalsfraktur und leichter oder mittelgradiger Demenz, unabhängig von der Ätiologie der Demenz Bewegungstherapie • 1-2 mal täglich Bewegungstherapie durch eine geschulte Altenpflegerin unter physiotherapeutischer Supervision • Erste Einheit 40 Minuten Dauer; zweite Einheit ca. 20 Minuten Dauer, je nach Belastbarkeit • Primäre Ziele: Kräftigung, Ausdauer, Gleichgewicht, verbessertes Gangbild, Reduktion von Schmerzen und Ängsten vor einem Sturz, sichere Benutzung von Hilfsmitteln, Automatisierung des in der Physiotherapie Geübten • Sekundäre Ziele: Erhöhung des Wohlbefindens, Vermeidung / Verringerung psychiatrischer Begleitsymptome, Erleichterung der Orientierung durch personale Kontinuität und einfühlsamen Umgang Erinnerungspflege • • • • Lernen bei Demenz ist nur möglich in einer Atmosphäre, die Sicherheit gibt und Selbstvertrauen fördert (Hirsch, 1999). Eher funktionale Therapien müssen daher durch kompetenz- und beziehungsorientierte Angebote ergänzt werden Erinnerungspflege nutzt bewusst die verbliebenen Kompetenzen: Man erinnert sich gemeinsam ohne Leistungsdruck an biografische Ereignisse und Erfahrungen, kommt darüber zwanglos in Kontakt Ziele: – Steigerung von Selbstvertrauen und Lebensfreude – Psychiatrischen Begleitsymptomen entgegenwirken – Sekundär: Förderung psychosozialer Kompetenz, Stimulation von Altgedächtniswissen, verbesserte Orientierung • Um Erinnerungen zu stimulieren, braucht man „Trigger“, d.h. geeignete Gegenstände, Melodien, Fotos, Bewegungsabläufe, Geschmacksstoffe etc. Erinnerungspflege Erinnerungspflege Erinnerungspflege Aus: raumverloren: Architektur und Demenz, S. 61 Erinnerungsgruppe Demenz im Akutkrankenhaus • Fehleinschätzung Untercodierung • AOK-Daten: 5,7-6,2% der Krankheitsfälle: Untercodierung • 32% in der Inneren Medizin (Befragung von Fachpersonal) • Nur in wenigen Kliniken wird ein kognitives Screening durchgeführt • Krankenhauseinweisungen sind bei dementen Patienten häufiger, aber vermeidbar Aus: Statistisches Bundesamt 2010, Heft 2 Demenz im Akutkrankenhaus • 3 Mal häufiger als andere Ältere: – – – – – – Synkopen, Stürze Frakturen Erkrankungen des Herz-Kreislaufssystems Gastrointestinale Erkrankungen Pneumonien Delir Aus: Thies: Alzheimer‘s & Dementia 2012 (8), 131-168. Demenz im Akutkrankenhaus Demenz und akutes Koronarsyndrom • • Darunter 30 eingewiesene Patienten Risiken der UHK begünstigen die Demenz (Lin: Drugs Aging 2012 (10), 819-828) Demenz und hüftgelenknahe Frakturen • • Bei 85% liegt eine Demenz vor Folge: Delir (Rösler et al.: ZGG 212 (45), 400-403) Demenz und Schlaganfall • Sterblichkeit und Institutionalisierung zeigen bei Personen mit Demenz keinen Zusammenhang mit Schlaganfall (Saposnik et al.: Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry 2012 (259), 2366-2375) Demenz und andere Erkrankungen Komplikationen im Krankenhaus • Dementen gegenüber Nicht Dementen weise eine hohe Komplikationsrate nach OP‘s auf: – – – – – – – – Nierenversagen Pneumonie Sepsis Schlaganfall Harnwegsinfekte Decubital Geschwüre Schlecht heilende Wundverhältnisse Delir, hypoaktiv, hyperaktiv Demenz und Mangelernährung Essen wird vergessen Essen wird abgelehnt Schluckstörung Appetitlosigkeit einseitige Lebensmittelauswahl Hyperaktivität erhöhter Bedarf Demenz und andere Erkrankungen Komplikationen im Krankenhaus • Forderungen: Reduktion der Komplikationen bei älteren, dementen Patienten bereits prä- und perioperativ Hospitalisation bewirkt per se einen kognitiven Einbruch • • • Präoperativ: mehrdimensionales Assessment Perioperativ: Elektrolyte, kurze Narkosezeiten, Stoffwechselparameter,schnelle Mobilisierung Geschultes Personal, Angehörige, Umgebung anpassen Hu et al.: Journal of Surgery 2012 (36), 2051-2058. Charité-Haube: Pilotstudie bei dementen Patienten Somasundaram, Jockers-Scherübl et al., unveröffentlicht UNIVERSITÄTSMEDIZIN BERLIN 34 Charité-Haube – Studie „Fühl mich frei wie ein Vogel. Der Lärm wird abgedämpft.“ UNIVERSITÄTSMEDIZIN BERLIN 35 Abbildung 1 Abbildung 2 Aus: raumverloren: Architektur und Demenz, Abb. 1, S. 130; Abb. 2, S. 104 Nach einem Krankenhausaufenthalt • Demenzkranke: sind funktionell schwerer betroffen Höhere Komorbidität Schlechteres Outcome hinsichtlich Überleben und Heimeinweisungen (Fong et al: Annals of Internal Medicine 2012 (156), 848-856) Elektr. Eingriff, präoperativ MMST , portooperatives Delir bei 42% aller Teilnehmer, Einbußen bis zu einem Jahr Wichtig: Rehabilitation; präoperative Beratung Nach einem Krankenhausaufenthalt • Diskussion: Zusammenhänge Delir und Narkose (Saczynski et al.: Journal of Medicine 2012 (387), 30-39) „demenzgerechte“ Spezialstationen • wenn sich eine Krankenhauseinweisung nicht vermeiden lässt… … Umgebung „demenzgerecht“ gestalten Sind global durchgeführte Demenzscreenings sinnvoll? Ergebnisse der Berliner Altersstudie II: Bei 70% der Probanden ist eine Akzeptanz von Demenzscreenings vorhanden! N = 504 Wichtige Aspekte: • Befürchtungen und Ängste 359 • Einstellungen zum Nutzen früher Diagnosen • Wissen über das Krankheitsbild 145 Keine Akzeptanz Akzeptanz Konzepte eines erfolgreichen Demenzmanagements I • offen geführte Diskussion zur Enttabuisierung des Krankheitsbildes • Aufklärung für Menschen in der Mitte des Lebens in punkto Prävention • Vernetzung der beteiligten Leistungserbringer (Kooperation, Koordination) • Verbesserung der gerontopsychiatrischen / geriatrischen Kompetenz der Hausärzte /Verbesserung der Früherkennung • fachärztliche Behandlung entsprechend den Empfehlungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften • bessere Nutzung medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapieverfahren • gezielte (Nach)-Qualifikation von Pflegekräften Konzepte eines erfolgreichen Demenzmanagements II • Beratung der Betroffenen und ihrer Angehörigen • Unterstützungs-, Entlastungs- und Schulungsangebote der pflegenden Angehörigen • Bereitstellung niedrigschwelliger Unterstützungsangebote für Demenzkranke und ihre Angehörigen (Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz) • Etablierung einer neuen Ehrenamtskultur • Weiterer Reformbedarf in der Pflegeversicherung; Neudefinition und Erweiterung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit (nicht nur körperliche Defizite betrachten) • Aufbau bedarfsgerechter Versorgungsstrukturen • mehr Versorgungsforschung FAZIT • Demenz im Krankenhaus wird nicht beachtet und ist untercodiert • Abhängig von der Altersstruktur im Einzugsgebiet und der Genauigkeit der Diagnose ist die Häufigkeit der Demenz im Krankenhaus im Jahr 2020 auf 20% zu schätzen • Mehr als 75% aller Bürger wünschen eine frühzeitige Diagnose der Demenz für sich selbst FAZIT • Krankenhauseinweisungen bei Demenz sind häufig vermeidbar • Nicht nur die, sondern auch intensivmedizinische Behandlungen und Operationen triggern Delire (neuroinflammatorische Prozesse!) • Aus- und Weiterbildungen des gesamten Teams auf der Station, Aufnahmestation, Onkologie, Intensivstation, Chirurgie usw. sind essenziell Nach: Hofmann: ZGG 203 (46), 198-202. Diskussion zum Thema Demenz • Elisabeth Steinhagen-Thiessen, Charite – Altersmedizin u. Stoffwechsel FAZIT • Es bedarf eines Prozesses der Bewusstwerdung • Demenzversorgung ist eine Gemeinschaftaufgabe • Gemeinsame und vernetzte Anstrengungen aller Beteiligten sind nötig • Fortschritte in Prävention, Diagnostik und Behandlung sind erforderlich • Es bedarf mehr Support für häuslich versorgte Demenzkranke • Weiterer Personenkreise müssen an die Pflege herangezogen werden • Entwicklung und Verbreitung autonomiefördernder Technik sind sinnvoll Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Kosten von Demenz • Direkte Kosten - Verschreibungen (Medikamente, Hilfsmittel) - ambulante und stationäre Versorgung - Pflege • Indirekte Kosten – Ressourcenverlust durch Arbeitsunfähigkeit, Invalidität, Mortalität – Gesundheitliche und emotionale Folgen für Angehörige – Beispiel: Demenz - Sturz zunehmende körperliche und kognitive Funktionseinbußen bei Demenz stark erhöhten Sturz- und Unfallrisiko Kosten: Mehr als 20.000 Personen werden jährlich nach einer Hüftfraktur dauerhaft in eine Pflegeinstitution eingewiesen! Demenzkranke (Berliner Altersstudie) Altersgruppe Anteil 65- bis 69-Jährige 1,2 % 65 500 70- bis 74-Jährige 2,8 % 111 000 75- bis 79-Jährige 6,0 % 184 000 80- bis 84-Jährige 13,3 % 288 000 85- bis 89-Jährige 23,9 % 257 000 90 Jahre und älter 34,6 % 179 000 Summe absolut =920 000 Multimorbidität und Komorbidität bei Demenzkranken • 21,3 % der leicht bis schweren Demenzkranken hatten eine Schwerhörigkeit oder Taubheit • 19,3 % schwere Sehbeeinträchtigung bis zur Blindheit • 59,6 % erhebliche Mobilitätseinschränkung • 23,2 % komplett bettlägerig Demenzprävention durch Blutdruckeinstellung Fälle pro 100 Patienten 10 Placebo behandelte Gruppe 8 6 -55 % P < 0,001 4 2 0 0 2 4 6 8 Zeit seit Randomisierung (Jahre) Antihypertensiva können das Risiko, an Demenz zu erkranken, reduzieren und im Frühstadium der Demenz die Progression verlangsamen. Unterscheidung Depression vs. Demenz Depression • Familiäre Belastung mit Depression • Abrupter Beginn • Affekt gleichbleibend depressiv • Selbstabwertung • Schuldgefühle, Versagensangst vs. Demenz • Familiäre Belastung mit Demenz • Schleichender Beginn • Affekt schwankend, Affektlabilität • Selbstüberschätzung • Keine Schuldgefühle, beschuldigt andere