Abschlussarbeit zum Kapellmeisterkurs Musik und ihre Wirkung Verfasser: Stefan Öttl Trachtenmusikkapelle Bruck / Glstr. Musik und ihre Wirkung INHALTSVERZEICHNIS 1.ALLGEMEINES Seite 2 1.1.DER BEGRIFF „MUSIK“ Seite 3 1.2. MUSIK und MENSCH heute Seite 4 2. GEHÖR Seite 8 2.1. ANLAGE DES GEHÖRS Seite 8 2.2. AUFBAU UND LEISTUNGEN DES OHRES Seite 9 3. MUSIK verbessert Seite 12 3.1. Musiker/innen Seite 15 3.2. Zuhörer/innen Seite 16 4. MUSIK aktiviert / beruhigt Seite 17 5. MUSIK stimuliert Seite 21 5.1. Musiker/innen Seite 22 5.2. Zuhörer/innen Seite 23 6. MUSIK löst ASSOZIATIONEN aus Seite 24 7. MUSIK löst EMOTIONEN aus Seite 26 8. SCHLUSSWORT Seite 31 9. QUELLENVERZEICHNIS Seite 32 Stefan Öttl Seite 1 Musik und ihre Wirkung 1.ALLGEMEINES Soweit Überlieferungen vorliegen, spielte im Leben aller Völker der Geschichte Musik eine wesentliche Rolle. Die Wirkung von Musik auf Körper und Psyche des Menschen bildet Erfahrungen, die bereits Kulturen Jahrhunderte zuvor machten und die noch heute jeder einzelne an sich selbst erfahren kann. Musik kann zum Beispiel in Marsch- oder Tanzmusik einen Bewegungsantrieb auslösen oder in Wiegenliedern den Körper beruhigen. starken Musik war und ist (in abgeänderter Form) in alle Lebenslagen stark eingebunden: • • • • • • Anbetung der Geister und Götter Machtdemonstration Feste und Tänze Arbeitsgesänge Liebeslieder Trauer und noch vieles mehr. Musik kann starke Emotionen auslösen, nicht nur in Freude und Unterhaltung sondern auch in Nachdenklichkeit und Trauer. Musik ist in der heutigen Zeit überall vorhanden. Allerdings überwiegend als Hintergrundmusik, als Untermalung, welche die Stimmung fördern oder Geräusche überdecken soll. Die Überzeugung das Musik etwas innerlich Bewegendes sei, dem man in der Kirche, im Konzertsaal oder an sonstigen Orten begegnet, ist weiterhin vorhanden. Stefan Öttl Seite 2 Musik und ihre Wirkung 1.1.DER BEGRIFF „MUSIK“ Der Begriff „Musik“ist sehr breit gefächert. Nur um einige Beispiele aufzuzählen: • • • • • • eine Kunstform Unterhaltungsmusik Tanzmusik Hintergrundmusik funktionelle Musik (die einem bestimmten Zweck dient) Volksmusik und viele mehr. Heinrich Besseler hat in der europäischen Musik zwei Bereiche unterschieden: 1. Umgangsmusik Ist als solche Musik in die Ausübung menschlicher Tätigkeit eingebunden.Sie hat eine unterstützende oder begleitende Funktion. 2. Darbietungsmusik Im Gegensatz zur Umgangsmusik steht die Darbietungsmusik im Mittelpunkt einer Handlung, bei der Menschen Musik für andere darbieten. Man kann aber den Begriff „Musik“ nicht mit einer klaren Definition erklären. Alleine die vielen Bereiche (wie schon oben angeführt) in die man die Musik aufteilen kann, machen dies unmöglich. Stefan Öttl Seite 3 Musik und ihre Wirkung 1.2. MUSIK und MENSCH heute Die Zweige der Musikforschung sind heute aufgeteilt: • entweder auf musikalische Werke verschiedener Epochen, Regionen und sozialer Schichten, • oder sie werden als gesellschaftswissenschaftlich ausgerichtete Forschung betrieben, die den Musik erlebenden Menschen mit einbeziehen. Wobei hier beim zweiten Punkt hinzuzufügen ist, dass die sozialpsychologischen Aspekte die individualpsychologischen klar überwiegen. Das heisst, dass der Musik erlebende Mensch an den Rand des Blickfeldes gedrängt wurde, jedoch ist der Mensch der alleinige Zuständige, der erlebt, der wahrnimmt, denkt und fühlt. Da Musik im heutigen Zeitalter praktisch allgegenwärtig ist und der Mensch ihr sowohl in den unterschiedlichsten Alltagssituationen als auch in den besonderen, vom Alltag abgehobenen Stunden eines Konzertes begegnen kann und jeder Mensch bekanntlich sehr verschieden fühlt und denkt, ist eine einfache und einheitliche Erklärung ihrer Bedeutung für den Menschen nicht möglich. Einerseits gibt es eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensbereiche, in denen entsprechend abweichende Sparten der Musik verwendet werden, und andererseits unterscheiden sich die einzelnen Menschen in ihrer Einstellung zu diesen Bereichen des Erlebens. An dieser Stelle möchte ich eine Studie anführen die bereits etwas älter ist aber meines Erachtens immer noch zutrifft. Im Jahre 1980 führte das Institut für Demoskopie Allensbach in der Bundesrepublik Deutschland eine Umfrage „Die Deutschen und die Musik“ durch. 2490 Personen ab dem 10. Lebensjahr wurden über die Bedeutung der Musik in ihrem Leben befragt. Der Bericht umfasst eine Statistik über den musikalischen Geschmack der Bevölkerung in Deutschland. Bei dieser Umfrage wurden die verschiedenen Musikgattungen in 21 Kategorien aufgegliedert und die befragten Personen nach ihrem Alter gruppiert. Stefan Öttl Seite 4 Musik und ihre Wirkung Die Häufigkeitsverteilung zeigt einige Zusammenhänge zwischen Musikgattung und Alter der Bevölkerungsgruppen klar ersichtlich sind. In den meisten Fällen unterscheidet sich der Musikgeschmack der Kinder von dem der Eltern. Insbesondere junge Leute zwischen 14 und 29 Jahren sagen, dass sie andere Musik bevorzugen als ihre Eltern. Dieser Punkt ist weitgehend davon geprägt, wie die jeweilige Musik vom sozialen Umfeld, zu dem sich die Person verbunden fühlt, eingestuft wird. Stefan Öttl Seite 5 Musik und ihre Wirkung Ein Schüler muss bestimmte populäre Musik kennen und schätzen, um im Kreis seiner Altersgenossen anerkannt zu werden und zur Gruppe zu gehören. Ein Akademiker wird Musik, die einen Ruf als Bildungsgut genießt, zumindest so achten, wie es der Zugehörigkeit zu seiner Bildungsschicht entspricht. Die Musik muss - und das gilt für alle sozialen Gruppierungen - in Bezug auf die Situation, im Rahmen derer sie erklingt, den Gruppennormen entsprechen. Natürlich könnte man weitere Kategorien und Unterteilungen machen die aber ins Unendliche führen würden. Um zu ermitteln, welche Empfindungen und Stimmungen Musik auslöst, wurden den Befragten Karten vorgelegt, zu denen sie jeweils angeben sollten, ob die darauf zu lesenden Aussagen für sie zutreffen würden. Die Antworten geben Aufschluss über die Bedeutung, die Menschen unserer Zeit der Musik beimessen. Unter den verschiedenen Aussagen heben sich vier Gruppen heraus, die am häufigsten genannt wurden: 1. Musik aktiviert. Musik versetzt in Hochstimmung, regt zum Mitsingen und Tanzen an. 2. Musik ist Auslöser von Stimmungen. Musik löst Erinnerungen, Assoziationen aus, rührt zu Tränen, bewegt innerlich 3. Musik dient als Therapie. Musik hilft bei Depressionen, bei Einsamkeit, und regt zum Träumen an. 4. Musik kann Aggressionen auslösen. Manche Musik drückt Macht aus, stachelt an, macht angriffslustig. Es wird deutlich, dass es keine einheitliche Bedeutung der Musik für den Menschen gibt. Zweifelhaft ist ausserdem, ob die gleiche Musik bei verschiedenen Menschen die gleiche Wirkung hat. Die Ergebnisse der Allensbach-Studie sprechen dagegen, denn die Einstellung zu den Musikgattungen erwies sich als abhängig von Alter und Schulbildung. Stefan Öttl Seite 6 Musik und ihre Wirkung Das Musik-Erleben, als psychischer Vorgang, ist abhängig von erlernten, geschichtlichem Wandel unterworfenen, Mustern derjenigen Gesellschaft, in die die Person hineingeboren wird, sowie von speziellen Erfahrungen im Verlaufe des individuellen Hineinwachsens in die Gemeinschaft. Dennoch gibt es einen grundlegenden und gemeinsamen Punkt der bei Allen gleich ist: • die anatomisch-psychologischen Nervensystems. Strukturen und Funktionen des Das Psychische ist an spezifische Prozesse im Gehirn gebunden, es setzt • das Vorhandensein, • einen angemessenen Entwicklungsgrad, • und die Funktionsfähigkeit von neuronalen Strukturen voraus, die im Laufe der Evolution entstanden und daher langfristig stabil sind. Ebenso muss der Bau und die Funktion des Ohres als für das Hören wichtigstes Sinnesorgan berücksichtigt werden und dadurch eine Basis für das Verständnis der vielfältigen Wirkungen, die Musik auf den Menschen ausüben kann, geschaffen werden. Stefan Öttl Seite 7 Musik und ihre Wirkung 2. GEHÖR 2.1. ANLAGE DES GEHÖRS Menschen unterscheiden sich durch ihre Leistungsfähigkeit auf verschiedenen Gebieten. Die Unterschiede lassen sich theoretisch auf zwei Grundlagen zurückführen: 1. auf Erbanlagen, auf Begabung und 2. auf Umweltbedingungen und entsprechend gesteuerte Lernvorgänge. Die mit dem Lebensalter fortschreitenden menschlichen Entwicklungsprozesse sind zweifellos von beiden Punkten abhängig. Der Gehörsinn ist bereits lange vor der Geburt fertig entwickelt, er vermittelt dem noch ungeborenen Menschen Signale, die seinen weiteren Werdegang auf dem Weg zu einer individuellen Persönlichkeit wesentlich prägen. Da Signale des kombinierten Gleichgewichts- und Hörorgans auch Muskelreflexe steuern sind Klang und Bewegung seit einem frühen Entwicklungsstadium reflektorisch gekoppelt. Stefan Öttl Seite 8 Musik und ihre Wirkung 2.2. AUFBAU UND LEISTUNGEN DES OHRES Die akustischen Reize durchlaufen eine Kette von Reizübertragungsorganen, bevor es zur Erregung der Sinneszellen im Innenohr kommt, wo die mechanische Energie der Schallwellen in elektrische Impulse umgewandelt wird. Die Ohrmuschel mündet in den Gehörgang, der am Ende durch das Trommelfell abgeschlossen ist. Diese Membrane wird durch die beim Schalleinfall im Gehörgang auftretenden Druckschwankungen in Schwingung versetzt. Das Trommelfell reagiert ungefähr gleich gut über einen weiten Frequenzbereich. Am Trommelfell greift die aus Hammer, Amboss und Steigbügel bestehende Gehörknöchelchenkette des Mittelohres an und überträgt die Trommelfellschwingung auf das Innenohr, das wegen seines komplizierten Baues auch als Labyrinth bezeichnet wird. Stefan Öttl Seite 9 Musik und ihre Wirkung Das eigentliche Hörorgan wird als Schnecke (lateinisch: Cochlea) bezeichnet. In der Schnecke sind kleine Zellen, die an Ihrer Oberfläche feine Haare tragen und daher Haarzellen genannt werden. Diese Zellen haben die Aufgabe die eintreffenden Schallwellen in ein elektrisches Signal umzuwandeln, das dann über den Hörnerv zum Gehirn weitergeleitet wird. Das Hören ist somit ein relativ einfacher Vorgang. Wesentlich komplexer und viel weniger erforscht ist dann das, was mit den Impulsen in unserem Gehirn weiter vor sich geht. Hier müssen nämlich etliche Stationen durchlaufen werden ehe die Nervenimpulse bis in die Hirnrinde vordringen. Auf dem Weg dorthin wird alles, was wir hören, verstärkt oder vermindert, es wird bewertet als negativ, positiv oder neutral und manches kann sogar völlig weggefiltert werden. Nur die Signale, die tatsächlich bis zur Hirnrinde gelangen werden von uns wahrgenommen. Stefan Öttl Seite 10 Musik und ihre Wirkung Als Beispiel: Jeder von uns schluckt an jedem Tag etwa 2000 bis 3000 mal. Die Lautstärke des Schluckgeräusches liegt etwa bei 30dB. Wenn wir aber nicht bewusst auf das Schlucken achten hören wir es nicht, da dieses Geräusch von den Filtersystemen unseres Gehirns als normal erkannt und weggefiltert wird. Dieses Geräusch erreicht daher die Hirnrinde nicht und wird von uns nicht wahrgenommen - es sei denn wir achten bewusst darauf. Stefan Öttl Seite 11 Musik und ihre Wirkung 3. MUSIK verbessert Unter den verschiedenen Sinnen nimmt der Gehörsinn eine besonders wichtige Stelle ein. Er bildet eine der Voraussetzungen für die menschliche Sprache. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass vergleichbare Zusammenhänge nicht auch hinsichtlich musikalischer Fähigkeiten gelten sollten. Daraus wurde die Annahme abgeleitet, dass frühe musikalische Übung und das damit verbundene Training des Hörens nicht nur die musikalische, sondern die Hörfähigkeit insgesamt verbessern könnte, dass also musikalische Übung möglicherweise auch sprachliche Fähigkeiten zu steigern vermag. Eine Studie mit 300 Kindern zwischen 10 und 12 Jahren zeigte damals, dass zwischen musikalischer und sprachlicher Hörfähigkeit ein enger Zusammenhang besteht. In welchem Ausmaß musikalische und sprachliche Vorerfahrung der Kinder deren musikalische und sprachliche Hörfähigkeiten beeinflusst hatte, wurde mit Hilfe eines Fragebogens untersucht. Folgende Zusammenhänge wurden dadurch belegt: 1. Je intensiver das Spiel von Musikinstrumenten betrieben wird, desto besser die musikalischen und sprachlichen Hörfähigkeiten und die Leistungen in den verbalen Intelligenztests. 2. Je intensiver im Elternhaus musiziert wird, desto besser die musikalischen und sprachlichen Hörfähigkeiten und die Leistungen in den verbalen Intelligenztests. 3. Die Teilnahme an Ensemblespiel oder Chorgesang wirkt sich auf die musikalische Hörfähigkeit und das sprachliche Unterscheidungsvermögen aus. 4. Die Teilnahme an musikalischer Früherziehung wirkt sich auf die musikalischen Hörfähigkeiten und auch auf die verbale Intelligenz aus. 5. Je umfangreicher die Fremdsprachkenntnisse der Eltern sind, desto besser sind die musikalischen und sprachlichen Hörfähigkeiten und die verbale Intelligenz. Stefan Öttl Seite 12 Musik und ihre Wirkung Die Ergebnisse konnten zwar keine ursächlichen Zusammenhänge beweisen, aber sie machten es sehr wahrscheinlich, dass frühe musikalische Ausbildung der Kinder auch deren sprachliches Leistungsvermögen steigert. Die neueren Ergebnisse der Hirnforschung haben inzwischen zu Erkenntnissen geführt, aufgrund derer man auf plausible Zusammenhänge, der vorhin genannten fünf Punkte, schließen kann. Von den Zentren für die Verarbeitung visueller Informationen im Hinterhauptlappen der Großhirnrinde führen Verbindungen in die Bereiche im Schläfenlappen, die in erster Linie auf akustische Signale reagieren, und von dort weiter nach innen in das limbische System, das eine wichtige Rolle der Reizbewertung und bei der Entstehung von Emotionen spielt sowie von überragender Bedeutung für das Lernen und Einprägen ist. Eine weitere Studie von Hans Günther Bastian (2000) der an Berliner Grundschulen in seiner sechsjährigen Langzeitstudie „Musik(erziehung) und ihre Wirkung“ den Einfluss von erweiterter Musikerziehung belegt dies ebenfalls. Die Entwicklung von Kindern in Grundschulen mit musikbetonten Zügen, die neben zweistündigem Musikunterricht das Erlernen eines Musikinstrumentes und das Musizieren im Ensemble anboten, wurde mit derjenigen von Vergleichsschulen mit „normalem“ einstündigem Musikunterricht verglichen. Es zeigten sich bei den Kindern an den Musik fördernden Schulen neben deutlichen Verbesserungen des Sozialverhaltens auch deutlich gesteigerte Fähigkeiten in Bereichen der Wahrnehmung, Lernen, Erinnern und Denken, also derer Fähigkeiten die im Zusammenhang mit der menschlichen Erkenntnisund Informationsverarbeitung stehen. Der erhebliche Zeitaufwand für das Erlernen eines Instrumentes und musikalische Aufführungen gingen eindeutig nicht zu Lasten der allgemeinen schulischen Leistungen. Stefan Öttl Seite 13 Musik und ihre Wirkung Bastians Fazit lautet: Musikerziehung fördert neben der Freude an der Musik und der eigenen musikalischen Begabung wichtige Persönlichkeitsmerkmale wie: 1. nach aussen gewandte Handlungen im ausdrucksstarken Spiel 2. Teamfähigkeit im Ensemblemusizieren 3. Gewissenhaftigkeit gegenüber dem musikalischen Werk und Gesellschaft 4. emotionale Stabilität im Auftrittsstress der Darbietung 5. Intelligenz im Verstehen der künstlerischen Interpretation eines Musikwerkes Das musikalische Erleben und Verhalten ist – wie alle psychischen Vorgänge – auf Strukturen und Funktionen des Nervensystems gegründet, die im Laufe der Entwicklung entstanden und überregional, auch bei den verschiedenen Völkern, im Wesentlichen gleichartig sind. Bau und Leistung der Sinnesorgane und des größten Teil des Nervensystems einschließlich des Hirnstammes sind durch Erbinformation festgelegt und haben sich in geschichtlicher Zeit nicht verändert. Der jüngste Teil des Gehirns jedoch, das Großhirn, ist nur in seiner Grundstruktur genetisch veranlagt. Seine komplexe interne Verschaltung und mit ihm die Leistungen der Großhirnrinde entwickeln sich nach der Geburt und verändern sich im Laufe des Lebens kontinuierlich. Darüber hinaus sind die psychischen Vorgänge von sozialen kulturellen Faktoren abhängig, einerseits von geschichtlichem Wandel unterworfenen Mustern der Gesellschaft, in die der Mensch hineingeboren wird, und andererseits von speziellen Erfahrungen im Verlaufe des individuellen Hineinwachsens in die menschliche Gemeinschaft. Das musikalische Erleben und Verhalten des Menschen entwickelt sich also im Spannungsfeld zwischen angeborenen und erlernten Vorgängen, zwischen Natur- und Kulturfaktoren, die ineinandergreifen. Stefan Öttl Seite 14 Musik und ihre Wirkung 3.1. Musiker/innen Da bei der Musikausübung die Kommunikation zwischen örtlich weit voneinander entfernten Steuerungszentren im Gehirn erforderlich ist, nehmen wir an, dass der besondere mentale Zustand während einer musikalischen Aufführung – unabhängig von der speziellen Musik – durch extrem hohe Aktivität in den Nervenbahnen entsteht, die die beteiligten Hirnzentren verbinden. Diese Aktivität kann wegen ihrer Vielschichtigkeit vom Bewusstsein nicht im einzelnen erfasst werden. Dies erfordert nicht nur, die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf verschiedene Wahrnehmungsbereiche zu richten, sondern auch, eine Vielzahl unterschiedlicher Aktivitäten wohlkoordiniert zu steuern: • • • • • psychische und mentale intellektuelle und emotionale willentliche und automatisierte nach innen und nach aussen gerichtete bewusste und unbewusste In dieser Tatsache liegt die Erklärung für die Beobachtung, dass Erfahrung und Training auf einem psychischen Gebiet auch die Leistungsfähigkeit auf anderen Gebieten verbessert. Wenige Handlungen sind so vielschichtig wie das Spiel eines Musikinstrumentes. Als Beispiel: Wenn jemand in einem Orchester spielt, so muss er zur gleichen Zeit die Noten lesen, sein Instrument spielen, das heißt in beiden Händen unterschiedliche Bewegungsabläufe steuern, mit dem Gehör die erzeugten Klänge kontrollieren, auf die anderen Musiker hören, um Tempo und Intonation in Übereinstimmung zu halten, den Dirigenten und seine Zeichengebung beobachten, oder Pausen zählen, um Einsätze zu treffen, und – über all dies hinaus – die selbst gespielte Stimme auf den Gesamtklang beziehen und sie in der richtigen Wichtigkeit in das musikalische Gemeinschaftsprodukt einfügen. Stefan Öttl Seite 15 Musik und ihre Wirkung Die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung, dass Musikausübung nicht nur die Hörfähigkeit steigert, sondern auch die Grundlage der Denkfähigkeit und die Unterscheidung der Emotionalität, sollten dazu führen, sich endgültig vom Vorurteil zu verabschieden, dass Musikunterricht nur eine mehr oder weniger überflüssige Förderung von Spezialbegabungen sei. Die Ausübung von – dem geistigen Entwicklungsstand eines jungen Menschen angemessener – Musik versetzt das neuronale Netz in höchste Aktivität und zieht das Erlebnis eines hohen funktionellen Lebensreichtums nach sich. Diese unmittelbare Wirkung der Musik sowie ihre darüber hinaus gehende, viele Gehirnfunktionen prägende Kraft sollte zukünftig in weit höherem Maße in die pädagogische Arbeit integriert werden. 3.2. Zuhörer/innen In schwächerem Ausmaß als beim aktivem Spiel in einem Ensemble oder Orchester aber weitgehend vergleichbar ist das Netz der aktiven Hirnareale beim Hören von Musik ausgeprägt. In diesem Zusammenhang sei auf einen wesentlichen Unterschied zwischen der Verarbeitung musikalisch-akustischer und der im Bildungssystem vorwiegend visuellen Information hingewiesen. Wenn wir sehen, befinden wir uns am Rande unseres Gesichtsfeldes. Wir befinden uns ausserhalb eines Bildes und sehen es an. Wenn wir dagegen die Augen schließen und der Musik zuhören, wird unser Vorstellungsvermögen viel stärker aktiviert. Wir fühlen uns im Zentrum einer anderen Erlebniswelt, wir befinden uns mitten im Klang. Der Raum, indem wir uns befinden, der Umgebungsraum, sei es ein Saal, eine Kirche oder andere Räumlichkeiten, verliert an Bedeutung. Die Empfindungen „hoch“ oder „tief“ bedeuten nicht die Position im Raum draussen, sondern im Tonraum, in den wir einbezogen sind. Dies hat ein wesentlich stärkere emotionelle Aktivierung zur Folge als beim Zuschauen. Stefan Öttl Seite 16 Musik und ihre Wirkung 4. MUSIK aktiviert / beruhigt Schall ist eine mechanische Schwingung beziehungsweise eine Welle, die durch Bewegungen von Materie entstehen. Sie werden daher von Lebewesen, die über ein Hörorgan verfügen, als Anzeichen für Vorgänge in der Umwelt benutzt. Das Gehör ist ein ungerichteter Fernsinn, der Schallwellen aus allen Richtungen des Raumes empfangen kann. Da es Tag und Nacht empfangsbereit ist, erfüllt es die biologische Aufgabe,ständig die Umgebung zu überwachen und Bewegungen an das zentrale Nervensystem zu melden. Plötzliche Änderungen innerhalb der akustischen Umgebung lösen Schreckreaktionen, Zusammenzucken und Abwehrbewegungen der Hände aus. Dies sind Schutzreflexe, die nicht vom Großhirn, sondern von Zentren im Hirnstamm gesteuert werden und daher wesentlich schneller einsetzen als bewusst gesteuerte Aktionen. Jede Veränderung im umgebenden Schallfeld ist ein Anzeichen für Bewegungen in der Umwelt Sie weckt psychische Aufmerksamkeit und hat Muskelkontraktionen zur Folge, unwillkürliches Ausrichten des Kopfes in Richtung der Schallquelle und weitere Bereitschaftsreaktionen, die als Auffassungsbewegungen beschrieben werden. Völlige Ruhe oder unveränderte Regelmäßigkeit in der akustischen Umgebung bedeutet dagegen Stabilität der Umwelt. Ein gleichmäßiges Schallfeld wirkt daher beruhigend und entspannt den Organismus. Erst Änderungen in einer beständigen Folge von Klängen wecken Aufmerksamkeit, denn sie könnten Anzeichen für bedeutungsvolle Wechsel in der Umgebung sein. Wenn Menschen absichtlich Klänge als Ausdrucksmittel verwenden, so knüpfen sie an die vorhin genannten biologischen Zusammenhänge an. Dementsprechend geht die physische Wirkung von Musik auf den Menschen in zwei Richtungen: • entweder ist sie aktivierend • oder beruhigend. Stefan Öttl Seite 17 Musik und ihre Wirkung zu aktivierend) Aktivierend wirken große Lautstärke, schnelles Tempo und eine regelmäßige, durch starke Akzente gegebene Gliederung des klanglichen Ablaufes. Eine regelmäßige Folge dynamischer Akzente, die durch die Betonung der metrischen Schwerpunkte entsteht, zieht eine Übereinstimmung von muskulären Spannungs- und Entspannungsverläufen nach sich, was man seit alter Zeit in Marsch-, Tanz- und Arbeitsmusik nutzt und in Liedern, die aufrütteln und antreiben sollen, verstärkt zur Wirkung bringt. Die Akzente haben einen Magneteffekt, sie führen nicht nur zur Synchronisierung der Muskulatur, sondern auch Atmungs- und Kreislaufprozesse werden mitgezogen. Eine Steigerung erfahren die Effekte durch Tempowechsel und häufige dynamische Veränderungen, die den Anpassungseffekt verhindern. Lautstärken über 65 phon und starke metrische Akzente wirken allerdings in jedem Fall stimmulierend auf Herz, Atmung und Muskelspannung. Rasch aufeinander folgende Impulse im Bereich oberhalb der Herzfrequenz haben spontane Mitbewegungen zur Folge, die physiologisch darauf zurückzuführen sind, dass die Hörnerven bereits im Hirnstamm mit motorischen Bahnen verschalten sind, die unter anderem auch die erwähnten Ausrichtungsreflexe ermöglichen. Diese Effekte sind keine spezifisch musikalischen Wirkungen, sondern treten auch bei Geräuschen von entsprechender Stärke auf. zu beruhigend) Beruhigend wirken hingegen geringe Lautstärke, langsames Tempo, weiche Betonungen, geringer Tonumfang und eine einfache Harmonik. Ein mit der Ruhefrequenz des Herzens (60-75 Schläge pro Minute) in Wechselbeziehung stehender gleichmäßiger Verlauf bedeutet Ruhe und Entspannung. In dieser Hinsicht bildet der mütterliche Herzschlag, den der Fetus schon lange vor der Geburt spürt, eine wesentliche prägende Norm. Darum sind Wiegenlieder aus allen Teilen der Welt ähnlich. Durch weich schmiegsamen Klang und fließende Melodien im Tempo des mütterlichen Herzens bringen sie eine Atmosphäre der Geborgenheit zum Ausdruck. Die sogenannte Entspannungsmusik ist in vielen Fällen an bestimmten fernöstlichen Vorbildern orientiert. Durch ruhiges Tempo, geringe Dynamik, pentatonische Melodik, die keine Leittonspannung kennt und den Verzicht auf spannungserzeugende Harmonik entsteht eine Musik, die den Ruhebedingungen in Stefan Öttl Seite 18 Musik und ihre Wirkung der Natur dadurch entspricht, dass musikalisch möglichst wenig geschieht. Die Rückmeldungen an das limbische System, das die Gefühle reguliert, signalisieren unter Bedingungen, die erfahrungsgemäß mit entspannten Situationen verbunden sind, ebenfalls Ruhe. Das limbische System wiederum wirkt beruhigend auf die hormonalen Zentren des Zwischenhirns und so den eventuell vorhandenen Stressreaktionen im Nervensystem entgegen. Musik kann die Großhirnrinde so beschäftigen, dass die Umweltreize kaum oder gar nicht mehr wahrgenommen werden und die Skelettmuskulatur nachhaltig entspannt wird. Die Tabelle gibt einen Überblick über charakteristische musikalische Merkmale und deren körperliche Wirkungen. Jüngere Menschen werden eher die stimmulierende Wirkungen des Klanges suchen und sich in körperliche Aktivität hineinsteigern, ältere eher Entspannung und Beruhigung vorziehen. Die Gefahr bei typischer Entspannungsmusik besteht darin, dass sich aufgrund der Hörerfahrung bei vielen Menschen Langeweile einstellt, die der erwünschten Beruhigung entgegenwirkt. Stefan Öttl Seite 19 Musik und ihre Wirkung Die in den Abbildungen gezeigten beziehungsweise vorhin beschriebenen Effekte setzen natürlich nicht zwingend ein, wenn einzelne der musikalischen Merkmale auftreten, denn die Musik ist eine Ganzheit, innerhalb der die einzelnen Elemente aufeinander zurückwirken und sich gegenseitig beeinflussen. Aber die Beziehung dieser Kennzeichen auf ihre ursprüngliche biologische Bedeutung macht den Zusammenhang mit körperlichen Reaktionen offensichtlich. Von entscheidendem Gewicht für die Musikwirkung sind darüber hinaus die physische und psychische Verfassung und die Stimmung der Musik erlebenden Person. Je nach Gefühlszustand entstehen unterschiedliche Bedürfnisse, die die Wirkung der Musik verändern. Insbesondere der Aktivierungsgrad, in dem sich eine Person beim Erklingen der Musik befindet, spielt eine wichtige Rolle. Bei hoher Erregung sind die Reaktionen auf Reize grundsätzlich verändert, und das gilt natürlich auch für Musik. Eine ruhige Musik, die im entspannten Zustand als angenehm empfunden wird, kann im erregtem Zustand total abgelehnt werden und reizen statt zu beruhigen. Eine schnelle, rhythmisch akzentuierte Musik könnte in diesem Zustand eher akzeptiert werden. Stefan Öttl Seite 20 Musik und ihre Wirkung 5. MUSIK stimuliert Der Mensch hat für Melodien ein prinzipiell unbegrenztes Gedächtnis. „Verglichen mit anderen Gedächtnisleistungen überragt die akustische hier alle anderen. Ihre Präzision ist so groß, dass auch die in der Vorstellung erklingende Arie genau so lange dauert wie beim wirklichen Gesang, weil das Gedächtnis die komplette Sequenz ohne Lücken gespeichert hat“ (Klingenberg 1974) Demgegenüber werden zufällig stattfindende akustische Vorgänge, wie zum Beispiel Straßenlärm, nicht behalten, selbst wenn die einzelnen Komponenten, etwa wie das Quietschen einer Bremse, das Öffnen einer Haustür oder die Auspuffgeräusche bestimmter Autotypen, auch nach langer Zeit ohne Schwierigkeiten wiedererkannt werden. In diesem Fall fehlt ein entscheidendes Kriterium für die akustische Gedächtnisfähigkeit, nämlich eine durch das Hören erfassbare Ordnung. Das Kurzzeitgedächtnis wählt daher aus dem akustischen Gesamtangebot nicht nach Kriterien wie Gefallen oder Missfallen, sondern nach dem Prinzip der Ordnung. Die Voraussetzungen, unter denen sich nacheinander erklingende Töne zu Motiven und Melodien zusammenschließen, wurden im Laufe der Jahrtausende durch Probieren entdeckt und haben zur Erfindung unendlich vieler Melodien geführt. Viele melodische Wendungen sind stilisierte Klangformen, die dem Stimmklang der Sprache abgelauscht sind, andere erhalten ihre Bedeutung über die Ähnlichkeit zu körperlicher Bewegung. Ruhiges Schreiten, wildes Springen, anmutige Leichtigkeit, schwere Schritte und noch eine unzählbare Menge von anderen Bewegungscharakteren lassen sich in viele Schattierungen und Kombinationen durch eine Folge von Tönen nachzeichnen. Das Prinzip des Hörnervensystems, mehrere gleichzeitig auftretende Schwingungen innerhalb des Schallfeldes zu Tönen mit einer bestimmten Klangfarbe zusammenzufassen, wurde ebenfalls in das musikalische Spiel integriert. Die vertikale Organisation erzeugt außer Klangfarben Akkorde mit ihren Qualitäten Konsonanz und Dissonanz. In dem vom Menschen geschaffenen Spiel verbinden sich Töne zu konsonanten Akkorden, zu strukturierten, aus Intervallen gebildeten Tongestalten, oder sie bilden amorphe Mehrklänge, die als Dissonanzen auseinanderstreben. Stefan Öttl Seite 21 Musik und ihre Wirkung Dissonante Klänge wirken unruhig, gespannt. Sie widersetzen sich der Tendenz des akustischen Sinnes, sie zu Einheiten zu verbinden. Im erlernten musikalischen Spiel werden sie gedeutet, als drängten sie nach Weiterführung, nach „Auflösung“ in einen konsonanten Zusammenklang. Zum Beispiel: Leitton (Sept) bei Tonleiter Mit Hilfe seines Gedächtnisses kann man das bereits Erklungene zum aktuell Erklingenden in Beziehung setzen und dadurch eine Erwartung hinsichtlich des weiteren klanglichen Verlaufes entwickeln. Die Schallschwingungen, die den Tonwahrnehmungen vorangehen, sind der physikalischen Zeit unterworfen, in der das, was eben noch Gegenwart war, unmittelbar in die Vergangenheit übergeht. Form kann erst entstehen, wenn Töne durch psychische Kräfte im Erleben festgehalten und dem Vergehen entzogen werden. Zeitgestalten entstehen nur in dem Maße, wie die Speicherung von Klängen im Kurzzeitgedächtnis, Elemente bereitstellt, zwischen denen man Beziehungen erlebt. Eine im aktiven Hören erfasste Struktur fordert das Vorstellungsvermögen zu Vorhersagen heraus. Ihr Eintreffen beschert Erfolgserlebnisse, Erfolg verlangt nach Fortsetzung, das Nichteintreffen hat Überraschung zur Folge. Eine ausgewogene Mischung aus beiden Möglichkeiten fördert die weitere psychische Aktivität und zieht die Psyche in ihren Bann. Das musikalische Formerlebnis ermöglicht dem Menschen, aus dem zwangsmäßigen Ablauf der physikalischen Zeit herauszutreten und die Gegenwart zu genießen. 5.1. Musiker/innen Der Mensch nutzt – ebenso wie seine Hände zum Spiel von Musikinstrumenten – naturgegebene Fähigkeiten des Gehirns zu geistigem Spiel. Er fordert von seinem Gehirn im Spiel höchste Leistungen und wird dafür von Systemen des Gehirns mit der Ausschüttung von Hormonen belohnt, die ein Glücksgefühl erzeugen können, das die physische Realität vergessen lässt. Stefan Öttl Seite 22 Musik und ihre Wirkung 5.2. Zuhörer/innen In abgeschwächter Form gelten die gleichen Vorgänge für den Hörer, der die klanglichen Strukturen innerlich mitvollzieht. Je nach Entwicklung der entsprechenden Funktionen des Menschen kann ein Musikwerk für ihn angemessen sein, es kann ihn aber auch unter- oder überfordern. Sein ästhetisches Urteil würde bei optimaler Angemessenheit „faszinierend“ lauten, bei Unterforderung „banal“ und bei Überforderung „chaotisch“. Als „schön“ empfindet der Hörer Musik, die für ihn geordnet und zugleich phantasievoll ist, als „hässlich“ solche, die er als ungeordnet und einfallslos ansieht. Musik, die zwar phantasievoll erscheint, aber deren Ordnung für den Hörer nicht zu erkennen ist, kann zumindest „interessant“ wirken. Eine banale Ordnung wirkt dagegen „langweilig“. Dieser Zusammenhang erklärt, dass sich Urteile im Laufe des Lebens mit der Entwicklung des musikalischen Hörvermögens und der gesamten Persönlichkeit verschieben können. Je mehr der Mensch die musikalische Form so erleben kann, als ob er sie selbst hervorgebracht hätte, desto mehr wird sein Bewusstsein von ihr gefangen genommen. Die Beschäftigung mit kunstvoll strukturierter Musik bietet dem Organismus eine regulierende Reizung der Sinnesorgane und der verarbeitenden Zentren des Gehirns, die der Alltag nicht bietet. Ästhetische Stimulation ist eine Herausforderung der sinnlichen und geistigen Verarbeitungsfähigkeit des Menschen. Stefan Öttl Seite 23 Musik und ihre Wirkung 6. MUSIK löst ASSOZIATIONEN aus Wie jede Wahrnehmung gehört auch die akustische einem erlebten Augenblick an, in dem nicht nur die direkt zusammengehörenden Töne, sondern auch zahlreiche andere Wahrnehmungen als Glieder einer mehr oder weniger bewusst erfahrenen Erlebnisganzheit verbunden sind. Wird nun ein einzelnes Element eines solchen erlebten Zusammenhanges erneut wahrgenommen oder tritt es durch Vorstellung ins Bewusstsein, so können zusätzlich andere, auf Grund früherer Erlebniszusammenhänge mit diesem verbundene Inhalte ebenfalls bewusst werden. Diese mitbewussten Inhalte bezeichnet man als Assoziationen. Zu den Klängen eines Musikstückes treten also infolge der individuellen Erfahrungen vielfältige Assoziationen mit all ihren passierenden Bezügen hinzu, die das unmittelbar Gehörte unter Umständen als Zeichen für einen übergeordneten Sinn deuten lassen und damit den Eintritt in eine höhere Bedeutungsebene eröffnen. Trotz der erheblichen individuellen Unterschiede kann man Assoziationen einteilen: • Gebundene Assoziationen: Es gibt Assoziationen, die so eng an die Wahrnehmung gebunden sind, dass man sie unter Angehörigen unseres Kulturkreises als allgemein notwendig und selbstverständlich ansehen kann wie etwa: Kleine Terz abwärts – Kuckucksruf Trompete – Signal Horn – Wald Harmonika – Seefahrt usw. • Individuelle Assoziationen: Dies sind individuell an Klänge herangetragene Assoziationen, die mit den betreffenden Klängen in eher zufälligem Zusammenhang stehen, wie etwa ein schönes Erlebnis, währenddessen zufällig eine bestimmte Melodie erklang, oder die unliebsame Erinnerung an einen Taschendieb, der sein Unwesen ausgerechnet an einer klassischen Kulturstätte treiben musste. Stefan Öttl Seite 24 Musik und ihre Wirkung Sie brauchen in ihrem Erlebniswert nicht minder intensiv zu sein, wie etwa eine heimatliche Melodie, die nicht als Zeichen für die Heimat geschaffen sein muss und diese dennoch repräsentiert, da sie mit Erinnerungen an die Heimat assoziert. Art und Umfang der bei einem Menschen auftretenden Assoziationen sind natürlich abhängig von einem mehr oder weniger großen Reichtum an Erlebnissen, die je nach Intensität des Erlebens ihre Spuren hinterlassen haben. Je größer die Erfahrungen sind, desto beharrlicher und mannigfaltiger kann der Strom der Assoziationen fließen, desto mehr Bedeutungstiefe kann eine Wahrnehmung erhalten und den Menschen innerlich bewegen. Worin der eine nur ein Stück bemalter Leinwand oder höchstens ein verschwommenes Bild sieht, darin erkennt ein anderer ein impressionistisches Gemälde, das vielleicht zusätzlich musikalische Assoziationen hervorruft. Auf der assoziativen Ebene gibt es zahlreiche Bindungen zwischen charakteristischen Melodie- oder Klangmustern und bestimmten Situationen beziehungsweise Stimmungen. Relativ eng sind Stimmungen mit motorischen Charakteristika der Musik assoziert. Tempobezeichnungen wie allegro, vivace, adagio oder grave gehen ihrem Wortsinne nach auf Stimmungen zurück. Durch Tempo, Rhythmik, Melodik und Klang kann der dynamische Aspekt menschlichen Fühlens und Verhaltens nahezu allgemeinverständlich zum Ausdruck gebracht werden. Wenn Musik in emotional bewegende Handlungen, insbesondere in Rituale mit hoher Bedeutung eingebunden ist, verstärken sich die Wirkungen der einzelnen Faktoren mitunter gegenseitig und führen dazu, dass Musik extrem starke Gefühle auslöst. Stefan Öttl Seite 25 Musik und ihre Wirkung 7. MUSIK löst EMOTIONEN aus Gefühle haben im Verlauf der Evolution eine zentrale Rolle bei der Steuerung von Handlungen gewonnen. Ihre Bedeutung wird nicht zuletzt dadurch bestätigt, dass das Gehirn über ein körpereigenes System verfügt, das erfolgreiches Verhalten mit angenehmen Gefühlen belohnt. Dieser biologischen Tatsache steht die Feststellung gegenüber, dass im öffentlichen Leben Gefühle als Grundlage von Handlungen wenig geschätzt werden. Weder überschwängliche Begeisterung auf der einen noch Zorn oder Angst auf der anderen Seite werden gern als Antriebe gesehen, sondern statt dessen vernünftige Argumente für die Handlungsweise bevorzugt. Da diese zweifellos viele Vorteile bieten und in mancher Hinsicht sogar unverzichtbar sind, um das Zusammenleben in menschlichen Gemeinschaften zu regeln, erfährt der Mensch schon bald nach seiner Geburt die unermüdlichen Anstrengungen seiner Mitmenschen, ihm die Kontrolle seiner Gefühle anzuerziehen. Was für das Zusammenleben vorteilhaft oder sogar notwendig ist, kann für den einzelnen Menschen dann zum Problem werden, wenn durch fortwährende Hemmung der Gefühle und der mit ihnen verbundenen Antriebe die psychobiologische Regulation des Organismus aus dem Lot gebracht wird. Einerseits besteht der Vorteil vom Menschen in der Evolution gegenüber anderen Lebewesen gerade darin, seinen angeborenen Verhaltensweisen nicht uneingeschränkt ausgeliefert zu sein, weil seine Gefühle nicht zwingend in daran gekoppelte Instinkthandlungen münden müssen. Dadurch wird es möglich, neue Handlungsstrategien einzusetzen und durch das Lernen am Erfolg in kurzer Zeit die Verhaltensformen zu verändern. Diese Fähigkeit hat die überragende Rolle des Menschen in der Welt begründet. Andererseits aber entsteht ein Problem dadurch, dass die Beherrschung der Gefühle insofern nur partiell wirksam wird, als zwar große Anteile der Körpermuskulatur willentlich gesteuert werden können, nicht aber die Funktionen des vegetativen Nerven- und Hormonsystems. Hormone steigern die Handlungsbereitschaft und erregen den nicht dem Willen unterworfenen Anteil der Muskulatur. Es kommt bei willentlicher Hemmung von Verhaltensmustern in jedem Falle zu einer Spannung, die irgendwann gelöst werden muss. Stefan Öttl Seite 26 Musik und ihre Wirkung Ein derartiger Entladungsreflex, bei dem man die steigende Anspannung vor der Lösung gut beobachten kann, ist das Lachen. In anderen Fällen bildet das Weinen den Entspannungsreflex. Störungen der vegetativen Balance innerhalb des Organismus können aber auch länger anhalten, wobei sich Spannungen aufstauen und oberhalb einer bestimmten Schwelle eventuell explosionsartig lösen. Dies erweckt dann den Anschein einer unmotivierten Überreaktion. Bildlich sagt man, etwas habe „das Fass zum Überlaufen“ gebracht. Die Spannung kann sich allerdings auch bis zur Verspannung steigern, die nicht selten in eine Krankheit mündet. Neben der Unterdrückung der Gefühle muss der Heranwachsende daher lernen, mit Gefühlen umzugehen. Zu ihrer Beherrschung gehört es, Wege zu finden, auf denen sich Gefühle entfalten können. Nur dadurch gelingt es, die auf eine Person wirkenden Kräfte zu neutralisieren. Gefühle müssen nicht durch Befehle des „kortikalen Systems“ unterdrückt und in unterbewusste Schichten verdrängt werden, sondern sie dürfen, ja sie sollen erregt werden und sich auf bestimmte Gebiete entfalten, um ihre Kräfte zu entladen. Die Erregung des „limbischen Systems“ erhält dadurch ein Ventil und verliert den überschießenden gefühlsmäßigen Einfluss auf das Verhalten im Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese Art von Ventil bietet die Kunst und in besonderem Maße die Musik. Die Kunst ergänzt den Bereich des Lebens, der von übergeordneten Regeln der Gesellschaft, denen der Einzelne sich zu unterwerfen hat, bestimmt wird. Von alters her haben Menschen den Weg der künstlerischen Gestaltung gekannt und auf ihm die ganze Vielfalt der individuellen Gefühle zum Ausdruck gebracht. Sie sprachen in ihren Dichtungen von Liebe und Hass, Jubel und Trauer, schufen Liebeslyrik und gestalteten Musik, in der ein ausgewogenes Spiel von Spannung und Entspannung auf hoher geistiger Ebene stattfindet. Assoziationen können Musik oder musikalische Elemente mit Bedeutungen verbinden. Die Musik vermag, die assoziierten Inhalte ins Bewusstsein zu rufen. Stefan Öttl Seite 27 Musik und ihre Wirkung Aber auch dann, wenn derartige Bezüge nicht vorhanden sind, fällt Musik nicht auf die Ebene einfachen Klanges zurück, der vielleicht stimulierende oder narkotisierende Einflüsse auf den Menschen ausüben kann, darüber hinaus aber nichts bedeutet. Wesentliche Vorgänge, die man in strukturierter Musik verfolgen kann, sind Spannung und Entspannung, Bewegung und Ruhe. Diese dynamischen Aspekte sind auch als kennzeichnende Eigenschaften an den Gefühlen zu beobachten. Gefühle, die im Klang der Stimme, in Mimik, Gestik und Körperhaltung zum Ausdruck kommen, haben eine kommunikative Funktion. Diese Zeichen von erlebten Gefühlen sind bei Angehörigen verschiedener Kulturen sehr ähnlich und bilden gleichsam eine interkulturelle Sprache, die praktisch von allen Menschen verstanden wird. Spannung und Entspannung, Bewegung und Ruhe innerhalb der Musik sind in der Lage, die dynamischen Kräfte von Gefühlen widerzuspiegeln und können in gleicherweise wie sichtbare Gesten als Klanggestik verstanden werden. Man hat die Musik daher auch die Sprache der Gefühle genannt. „Die Tonsprache spricht, als reines Organ des Gefühles, gerade nur das aus, was der Wortsprache an sich unaussprechlich ist, und von unsrem verstandesmenschlichen Standpunkte aus angesehen also schlechthin das Unaussprechliche.“ Richard Wagner 1851 Jede Sprache benutzt Zeichen, die eine Bedeutung tragen. Betrachten wir diese Beziehung im Falle der Tonsprache. Hierbei unterscheidet man hinsichtlich der Beziehung zwischen Zeichen und ihrer Bedeutung drei Funktionen: (Karl Bühler 1965) 1. Zeichen können einen Gefühlszustand kundtun. Tränen können Zeichen der Trauer, ein lyrisches Gedicht oder Lied kann Zeichen der Zuneigung zu einem geliebten Menschen sein. Das Zeichen bringt etwas zum Ausdruck, es hat expressive Funktion. Die hier vorliegende Beziehung entspricht der verbreiteten Vorstellung, der Komponist drücke durch die Musik seine Gefühle aus. Stefan Öttl Seite 28 Musik und ihre Wirkung Das ist in vielen Fällen zweifellos der Fall und in der Musikgeschichte durch historische Dokumente belegt worden. Aber diese Beziehung ist keinesfalls allgemeingültig. Mozart zum Beispiel hat auch in Zeiten, in denen ihn große Sorgen drückten, unbeschwert heitere Musik geschrieben. 2. Zeichen haben, wenn sie an einen Empfänger gerichtet sind, um bei diesem Verhaltensänderungen zu bewirken, eine weitere Funktion. In diesem Fall spricht man von Appell. Diese Zeichenfunktion ist dann gegeben, wenn Musik bewusst so gestaltet wird, dass sie im Hörer bestimmte Gefühle auslöst, wenn der Komponist also das Ziel hat, den Hörer mithilfe des Zeichens „Musik“ zu „rühren“. „Indem ein Musikus nicht anders rühren kann, er sey dann selbst gerührt; so muß er nothwendig sich selbst in alle Affecten setzen können, welche er bey seinen Zuhörern erregen will; er giebt ihnen seine Empfindungen zu verstehen und bewegt sie solchergestalt am besten zur Mit-Emfindung.“ Carl Philipp Emanuel Bach 1787 Diese Auffassung entsprach der allgemeinen Überzeugung seiner Zeit und vieler späterer Generationen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber fordert Busoni (1916) eine physische Distanz des Künstlers und wandelt diesen Satz in Hinblick auf die Oper entsprechend ab: „So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf – soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen Augenblicke einbüßen -, so darf auch der Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische Genuß zur menschlichen Teilnahme herabsinken.“ Auf der Kunstebene muss Musik nicht unmittelbarer Selbstausdruck mit dem Ansuchen um Mitgefühl sein; aber auch der Hörer soll nicht in jedem Falle in die Stimmung versetzt werden, von der die Musik spricht. Wie könnte man sonst eine Tragödie „genießen“? 3. Zeichen können aus dem unmittelbaren Bezug zum Sender bzw. Empfänger gelöst sein und Gegenstände oder Sachverhalte darstellen. Stefan Öttl Seite 29 Musik und ihre Wirkung Musik drückt in diesem Fall nicht die Gefühle des Komponisten aus, sondern stellt Inhalte dar. „Das, was die Musik ausspricht, … spricht nicht die Leidenschaft, die Liebe, die Sehnsucht dieses oder jenes Individuums in dieser oder jener Lage aus, sondern die Leidenschaft, die Liebe, die Sehnsucht selbst, und zwar in den unendlich mannigfaltigen Motivierungen, die in der ausschließlichen Eigentümlichkeit der Musik begründet liegen, jeder andern Sprache aber fremd und unausdrückbar sind.“ Wagner 1841 Bei dieser Art von Zeichen handelt es sich um Symbole. Sie können an die Stelle unmittelbarer Wahrnehmungen treten und erlauben, sich mit Inhalten zu beschäftigen, ohne dass diese real gegenwärtig zu sein brauchen. Ebenso wie Ereignisse, die man nicht selbst erlebt hat, durch Worte zu beschreiben sind, kann ein Komponist in der Musik Stimmungen und Emotionen gestalten, in denen man eigenes Erleben quasi aus zeitlicher Distanz nacherlebt; oder man wird an Emotionen herangeführt, die stärker bewegen als alles, was man bisher selbst je erlebt hat. Musik kann daher eine Vielfalt von Emotionen auslösen und dient als Ventil welches die im alltäglichen Leben von übergeordneten Regeln der menschlichen Gesellschaft, denen der einzelne sich zu unterwerfen hat, „angestaute und unterdrückte Spannungen und Gefühle“ lösen kann. Stefan Öttl Seite 30 Musik und ihre Wirkung 8. SCHLUSSWORT Musik kann den Menschen auf verschiedenen Ebenen ansprechen. Daher ist ihre Wirkung sehr unterschiedlich. Sie tritt dem Menschen - bildlich ausgedrückt – als „Dreiklang“ gegenüber, der aus den Faktoren Klang, Struktur und Symbol gebildet wird. Musik steigert die Leistungen egal in welchem Ausmaß und Bereich. Musik wirkt als Klang auf das Nervensystem, kann durch Teilnahme an den in der Musik ablaufenden Spannungs- und Entspannungsvorgängen, Reflexe der Muskulatur auslösen und dadurch Spannungen nachhaltig lösen. Musik regt die Ausschüttung von Hormonen an und beeinflusst dadurch die Stimmung. Der Mensch kann sich dem Klang, der Melodik, dem Rhythmus hingeben, seine geistige Aktivität reduzieren und durch die Verdrängung lästiger Gedanken der Realität entfliehen. Umgekehrt kann man bewusst oder auch unbewusst die körperliche Beteiligung am musikalischen Geschehen weitgehend einschränken, sich mit geistiger Konzentration dem Erlebnis der musikalischen Struktur hingeben und psychische Bereiche der Funktionsschicht aktivieren. Darüber hinaus aber eröffnet die Symbol-Funktion die ganze Palette emotionalen Erlebens, die im zivilisierten Alltag von einem Mantel gesellschaftlicher Verhaltensnormen verdeckt wird. Die durch Musik ausgelösten Assoziationen führen den Menschen, der sich intensiv in Musik vertieft, aus der „normalen“ Welt in die Welt der Gefühle und lassen Emotionen erleben, die im normalen Alltag beherrscht und als Spannungen erhalten werden. Im Durchleben der Gefühle lösen sich Spannungen, es kommt zur „Läuterung der Seele.“ Es gibt kein spezielles Hirnareal, das nur dem musikalischen Genuss vorbehalten ist, sondern Musikgenuss regt die gleichen Hirnzentren an wie reale Erlebnisse. Besonders intensiv ist das Glücksgefühl, wenn Körper und Geist gemeinsam am Musikerlebnis beteiligt sind und das Belohnungssystem von verschiedenen Seiten her positive Meldungen erhält. Pflege der Musik, das ist die Ausbildung der inneren Harmonie, sprach Konfuzius. Stefan Öttl Seite 31 Musik und ihre Wirkung 9. QUELLENVERZEICHNIS LITERATUR: Bastian, H. G. (2000). Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen. Schott International Bastian, H. G. (2001). Kinder optimal fördern – mit Musik. Intelligenz, Sozialverhalten und gute Schulleistungen durch Musikerziehung. Schott International Hesse, Horst-Peter. (2003). Musik und Emotion. Wissenschaftliche Grundlagen des Musik-Erlebens. Springer Wien New York Spitzer, M. (2002). Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk. Schattauer Stuttgart New York INTERNET: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite http://de.wiktionary.org/wiki/Hauptseite Stefan Öttl Seite 32