Zum Verhältnis … Seite 1 Zum Verhältnis von Erziehung, Sinnlichkeit und Politik Kunstverein in Hamburg – Dienstag: 16. Oktober 2007 Roger Behrens »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. [¶] Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.« Karl Marx, ›Thesen über Feuerbach‹ (MEW Bd. 3, S. 5 f.) Dies ist die dritte These der insgesamt elf berühmten wie berüchtigten so genannten ›Thesen über Feuerbach‹, die Karl Marx im Frühjahr 1845, wahrscheinlich im April in Brüssel, als Ende-Zwanzigjähriger notiert hat. Die Thesen werden erst 1888, also fünf Jahre nach Marx’ Tod von dessen Freud und Genossen Friedrich Engels herausgegeben. Ihre breite Rezeption als kritische Theorie finden sie allerdings erst im zwanzigsten Jahrhundert, nicht zuletzt durch die Edition der Marxschen und Engelsschen Frühschriften Anfang der dreißiger Jahre, zu denen auch die ›Deutsche Ideologie‹ gehört, zu der – geschrieben um den Jahreswechsel 1845/1846 – die Marxschen Feuerbachthesen gleichsam eine Vorstudie bilden. Das heißt die Thesen wie die Frühschriften überhaupt entfalten ihre Wirkung zu einem Zeitpunkt, wo die »lange Nacht des Stalinismus«, wie Terry Eagleton sagt, bereits angebrochen war, in deren Dunkelheit jede Lebendigkeit der Marxschen Ideen erstickt, die revolutionäre Avantgarde vernichtet und das kommunistische Projekt vereitelt wurde. Das Potenzial einer materialistischen Ästhetik, deren Grundlagen Marx in seinen frühen Schriften entwickelt, wird schließlich erst über einhundert Jahre später, nämlich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in seiner emanzipatorischen und radikalen Bedeutung erschlossen. Zum Verhältnis … Seite 2 Ausführlich diskutiert Ernst Bloch die Marxschen ›Thesen über Feuerbach‹ in seinem monumentalen ›Prinzip Hoffnung‹, geschrieben 1938 bis 1947 im US-amerikanischen Exil und überarbeitet in den ersten Jahren der DDR 1953 und 1959; hier stehen sie im Zentrum der theoretisch-praktischen »Weltveränderung«, freilich in Hinblick auf die bekannte elfte Feuerbachthese: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.«1 Diese revolutionäre Zielperspektive erschließt sich für Bloch jedoch nicht aus der reinen Ziffern-Ordnung der Thesen. »Nummerierung aber ist nicht Systematik, und am wenigsten hat Marx diesen Ersatz nötig. Daher muss also philosophisch, nicht arithmetisch gruppiert werden, das heißt, die Reihenfolge der Thesen ist einzig die ihrer Themen und Inhalte.«2 Für Bloch ergibt sich deshalb und daraus eine Bildung von vier Gruppen, nämlich die erkenntnistheoretische Gruppe (Thesen 5, 1, 3), die anthropologisch-historische Gruppe (Thesen 4, 6, 7, 9, 10), die TheoriePraxis-Gruppe (Thesen 2, 8) und schließlich das »Losungswort«, die elfte These. Die eingangs zitierte dritte These gehört also zum ersten Block: »Die erkenntnistheoretische Gruppe: die Anschauung und Tätigkeit«.3 Anschauung und Tätigkeit, nämlich Theorie – vom griechischen ›theoria‹, die Schau des Göttlichen – und ein »aus der idealistischen Erkenntnistheorie« stammender »Begriff Tätigkeit«,4 werden hier bereits in Vermittlung gebracht; der Feuerbachsche Materialismus, »mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden«,5 wird wirklich konkretisiert, indem »Sinnlichkeit … als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit« gefasst wird.6 Bloch konzentriert dies auf die »lebendige Subjekt-Objekt- 1 Karl Marx, ›[Thesen über Feuerbach]‹, in: MEW Bd. 3, S. 7 2 Ernst Bloch, ›Prinzip Hoffnung‹, Band 1, Frankfurt am Main 1973, S. 294. 3 Vgl. Bloch, ›Prinzip Hoffnung‹, a. a. O., S. 295 ff. 4 Vgl. Bloch, ›Prinzip Hoffnung‹, a. a. O., S. 295. 5 Marx, ›[Thesen über Feuerbach]‹, in: MEW Bd. 3, S. 6 {These 5}. 6 Vgl. Marx, ›[Thesen über Feuerbach]‹, in: MEW Bd. 3, S. 6 {These 5}. Zum Verhältnis … Seite 3 Zum Verhältnis … Seite 4 Beziehung« als »bei Marx entscheidend mit zur materiellen Basis« gehörig; oder, auf die diese Gruppe abschließende Formel gebracht: »Auch das Subjekt in der Welt ist Welt.«7 Was ist unter der Trennung, oder – nach Marx – Sondierung der »Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist« zu verstehen? Es ist die Trennung und zugleich Erhebung der Kultur von der Gesellschaft, wie es Herbert Marcuse 1937 in seinem Aufsatz ›Über Wir finden in der dritten These nicht nur den Grundsatz jeder kritischen Erziehungstheorie als materialistische Bildungstheorie, zudem den Grundsatz jeder dialektischen Auffassung der Geschichte als den Menschen machender und vom Menschen gemachter Prozess, sondern darüber hinaus, ohne das Marx dies auch nur mit einem Wort anspricht, eine kritische Theorie der Kunst, Kultur und Ästhetik. Impliziert ist das im Begriff der Sinnlichkeit, den Marx hier von Feuerbach übernimmt und in revolutionäre Praxis erweitert: ein Schlüsselbegriff der ästhetischen Theorie beziehungsweise der philosophischen Ästhetik des Idealismus. Den Idealismus übernimmt Marx bekanntlich in seiner logisch-systematischen Struktur vollständig, um ihn auf echten Boden zu stellen, auf das Fundament der »materiellen Lebensverhältnisse«, wie Marx es später (1859) im Vorwort zur ›Kritik der Politischen Ökonomie‹ nennt. Im Sinne Marxens lässt sich formulieren: Die materialistische Lehre Feuerbachs hat vergessen, was der idealistischen Philosophie bereits als Erkenntnis galt: Hegel war klar, »dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss«. Nur, dass bei Hegel, wo der Idealismus ja seinen Abschluss und Höhepunkt findet, diese Dialektik als Phänomenologie des Geistes gedacht wurde, also nicht als materielle Praxis, sondern als Entfaltung des Selbstbewusstseins. Zwar verstand Hegel das »Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung« als einheitlichen Prozess und durchaus rationell, aber eben nur im Begriff des Geistes. Insofern findet sich die Trennung der »Gesellschaft in zwei Teile«, die Marx am Feuerbachschen Materialismus kritisiert, weil dieser den idealistischen Geist nur bis zur unpraktisch-unsinnlich begriffenen Sinnlichkeit überschreitet und damit eigentlich unterschreitet, im Idealismus angelegt. den affirmativen Charakter der Kultur‹ dargestellt hat: »Die Trennung des Zweckmäßigen und Notwendigen vom Schönen und vom Genuss ist der Anfang einer Entwicklung, welche das Feld freigibt für den Materialismus der bürgerlichen Praxis einerseits und für die Stillstellung des Glücks und des Geistes in einem Reservatsbereich der ›Kultur‹ andererseits.«8 Und dies manifestiert sich in der »These von der Allgemeinheit und der Allgemeingültigkeit der ›Kultur‹«.9 Damit wird in der Entfaltung der Moderne »die Kultur zu einem (falschen) Kollektivum und zu einer (falschen) Allgemeinheit erhöht … Dieser … Kulturbegriff (besonders ausgeprägt in Wendungen wie ›nationale Kultur‹, ›germanische Kultur‹ oder ›romanische Kultur‹) spielt die geistige Welt gegen die materielle Welt aus, indem er die Kultur als ein Reich der eigentlichen Werte und Selbst-Zwecke der gesellschaftlichen Nutz- und Mittel-Welt entgegenhält.«10 Dieser Begriff der Kultur, der eine »ewig bessere, wertvollere Welt« beschreibt, »die von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist«,11 bildet gleichsam die Matrix für künstlerische Produktion und ästhetische Praxis, schließlich für die Ästhetisierung der Politik im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert bis heute. Diese Sondierung der Gesellschaft in zwei Teile ist, wie gesagt, im Idealismus bereits angelegt, wird aber in der Logik der idealistischen Philosophie und ihrem Begriff der Gesellschaft erfolgreich 8 Marcuse, ›Über den affirmativen Charakter der Kultur‹, in: Schriften Bd. 3, a.a.O., S. 186 f. 9 Marcuse, ›Über den affirmativen Charakter der Kultur‹, in: Schriften Bd. 3, a.a.O., S. 191. 7 Bloch, ›Prinzip Hoffnung‹, a. a. O., S. 303. 10 Marcuse, ›Über den affirmativen Charakter der Kultur‹, a.a.O., S. 192. 11 Marcuse, ›Über den affirmativen Charakter der Kultur‹, a.a.O., S. 192. Zum Verhältnis … Seite 5 Zum Verhältnis … Seite 6 verschleiert: In Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, die er im Rahmen seiner Rechtsphilosophie entwirft, kommt Kultur als etwas von der Gesellschaft abgespaltenes nicht vor; statt dessen wird die Einheit der Lebensverhältnisse als »Totalität« begriffen, die alle Teilungen und zugleich die ästhetische Verwirklichung der Humanität im Spiel: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« (15. Brief) In jungen Jahren setzte Hegel selbst, zusammen mit seinen Studienfreunden Hölderlin und Widersprüche in sich einschließt (Arbeitsteilung, Familie etc.). Für Hegel ist dies philosophisch kein Problem – die Verabsolutierung des Geistes und der Vernunft lässt das zu. Dagegen haben vor allem die Schelling, Schillers Forderung konsequent fort: Im so genannten ›Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ von 1796 oder 1797 heißt es: »Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, dass es Frühromantiker geltend gemacht, dass sich dieser Vernunftidealismus des Geistes, dass sich diese gedachte und begriffene Einheit und Totalität im System nicht aufrechterhalten lässt. Vielmehr gelte es, die Welt bereits keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den Staat hinaus! –«13 Und: als in sich zerbrochene, zersplitterte zu begreifen – was dem Totalitätsbegriff an sich gar nicht zuwider läuft, wohl aber seiner Fixierung auf ein Einheit stiftendes Vernunftprinzip. Hier – bei Friedrich Schlegel, bei Schelling und dem frühen Hegel selbst – kommt die Sinnlichkeit ins Spiel, und zwar erstaunlicher Weise nicht als die materialistische Feuerbachs, die – wie Marx kritisiert – »Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts« 12 fasst, sondern die subjektiv begriffene Sinnlichkeit, die eigentlich idealistisch antizipiert, was Marx als eben »praktisch menschlich-sinnliche Tätigkeit« postuliert. »Der höchste Akt der Vernunft, [ist], in dem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt … und … Wahrheit und Güte [sind] nur in der Schönheit verschwistert. Der Philosoph muss ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie … Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.«14 Es ist eine Sinnlichkeit, die ästhetisch fundiert ist, aber gleichsam praktisch-produktiv oder formend-kreativ. Friedrich Schiller hat sie 1795 zum Thema seiner Briefen ›Über die ästhetische Erziehung des Menschen‹. Schiller, der kein Philosoph ist, vollzieht in diesen Briefen zwei für die philosophische Ästhetik der Moderne entscheidende Schritte. Erstens bindet er die Ästhetik als Theorie vom Geschmacksurteil an einen besonderen Gegenstand, nämlich an die Kunst; zweitens sichert er diese folgenreiche Bindung zwischen Ästhetik und Kunst über ästhetische Praxis des Kunstwerkes mit zugleich politischer Dimension. Nicht nur der Mensch soll ästhetisch erzogen sein, sondern die ganze Gesellschaft wird ästhetisch; anders gesagt: die Idee der ästhetischen Erziehung des Menschen zielt auf den »ästhetischen Staat« (27. Brief), in dem »ästhetisches Leben« und »ästhetische Kultur« vereinigt wären (21. Brief). Insofern bedeutet der ästhetische Staat Schiller wollte Ästhetik im Spiel mit dem Staat verbinden, indem er ihn zum Kunstwerk erhob. Freilich formulierte er diese Utopie vor dem historischen Hintergrund der Französischen Revolution, der begeisterte Anhänger auch Hegel, Hölderlin und Schelling waren. Doch die Revolution scheiterte oder kam gar nichts erst zustande, wonach sich für die bürgerliche Philosophie nur noch zwei Auswege boten: Hegel, der eben zunächst noch den Staat abschaffen wollte zugunsten einer in der Ästhetik aufgehobenen lebendigen Vernunftgemeinschaft, zog die Ästhetik von ihrem revolutionär-emanzipatorischen Posten wieder ab 13 G. W. F. Hegel, [Hölderlin, Schelling], ›[Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus]‹, Werke Bd. 1, Frankfurt am Main 1971, S. 234. 14 12 Marx, ›[Thesen über Feuerbach]‹, in: MEW Bd. 3, S. 5 {These 1}. 235. Hegel, ›[Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus]‹, a. a. O., S. Zum Verhältnis … Seite 7 Zum Verhältnis … Seite 8 und setzte dagegen den Staat absolut. Der andere Ausweg ist Schillers unter gewissermaßen Hegelschen Bedingungen des preußischen Staates: Wo der Staat seine Politik auf Arbeit gründet, also sich über die politische Ökonomie erhebt, findet eine Ästhetik des Spiels, also Schließlich definiert Lukács: »Die konkrete Totalität ist also die eigentliche Wirklichkeitskategorie.«17 ästhetische Erziehung zur Freiheit des ›Homo ludens‹ ihren Ort in der von der Gesellschaft abgeschiedenen Kultur. Nur in der Kultur kann die Kunst behaupten, die Umstände zu ändern; und nur in der Kultur kann die Kunst sich von den Umständen ändern lassen. Nur in der Kultur darf die Kunst als ästhetische Erzieherin der Menschheit auftreten, nur als Poesie oder ›poiesis‹ darf sie Lehrerin der Menschheit sein, nicht als Praxis und schon gar nicht als revolutionäre Praxis. Auch das hat bei Hegel und Marx gleichermaßen zum drastischen Urteil über die Kunst geführt: ihre Blütezeit sei vorüber, ein Ende der Kunst kündigt sich an – angesichts der gesellschaftlichen Realität versagt die Kunst in ihren Möglichkeiten. Hegel hat das in seinen ›Ästhetik‹Vorlesungen ausgeführt, Marx in den ›Grundrissen‹. War es scheinbar in theoretischer Absicht nicht mehr möglich, Kunst, Ästhetik und Politik zu verbinden, so ist erstaunlich, inwiefern sich nach Hegel und nach Marx in der Moderne überhaupt eine moderne Kunst konstituiert hat, die genau diese Kopplung von Politik und Ästhetik zu ihrem Projekt machte: im Sinne der Avantgarde hieß das »Art into life« (Tatlin) und meint nichts anderes als die in zwei Teile sondierte Gesellschaft wieder als Einheit zu denken, zu praktizieren, zu produzieren und zu gestalten. Georg Lukács begriff das, nach einer Formulierung von Marx, als »konkrete Totalität«. Marx notiert: »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung von vielen Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen.«15 Und Lukács kommentiert 1923 in ›Geschichte und Klassenbewusstsein‹: »Der Idealismus verfällt hier der Täuschung, diesen gedanklichen Reproduktionsprozess der Wirklichkeit mit dem Anschauungsprozess der Wirklichkeit selbst zu verwechseln.«16 15 Marx, ›Zur Kritik der Politischen Ökonomie‹, in: MEW Bd. 13, S. 632. 16 Georg Lukács, ›Geschichte und Klassenbewusstsein‹, Darmstadt und Neuwied 1988, S. 70. Das Problem ist allerdings, inwieweit dieser »Anschauungsprozess der Wirklichkeit« ein ästhetischer oder praktischer ist, oder inwiefern sich dieser Anschauungsprozess als ästhetische Praxis verstehen lässt. Solche Fragen haben die politische wie ästhetische Avantgarde Ende der zehner und Anfang der zwanziger Jahre gleichermaßen interessiert – und berührten auch ganz zentrale Aspekte der Erziehung, der Kunsterziehung. Sowohl in der revolutionären Sowjetunion als auch im kapitalistischen Teil der Welt wurden diese Fragen indes nicht gesellschaftlich gelöst, sondern kulturell isoliert und als Problem an die verschiedenen für Kunst und Erziehung zuständigen Institutionen delegiert: Kunstunterricht, Kunsthochschulen, Akademien etc. Anders gesagt: Wenn Walter Benjamin seinen berühmten Aufsatz ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ von 1936 beschließt mit dem ebenfalls berühmten Satz von der Ästhetisierung der Politik, der mit einer Politisierung der Kunst zu antworten ist, dann besteht die Erfolgsgeschichte der Moderne auch darin, diese Politisierung der Kunst auf einen politisch überhaupt nicht gefährlichen Bereich isoliert zu haben, nämlich auf die Kunst selber, so wie diese sich seit dem Scheitern der Avantgarden entwickelt hat. In ihrer kunstpädagogisch verdrehten Fassung ist die Frage der ästhetischen Erziehung selbst jener emanzipatorischen Impulse entkleidet, die sich in Schillers Entwurf eindrucksvoll manifestierte. Als Kunstpädagogik reduziert oder depotenziert sich ästhetische Erziehung zum therapeutischen Programm: Hier darf die Freiheit ausprobiert werden, auf die ansonsten freiwillig verzichtet wird. Aber dennoch bleibt das eben ein Raum der Freiheit, zwar ei eingeschränkter, wenn auch vorhandener: ein Fluchtort der Sinnlichkeit auch im Sinne von Marx: Erziehung nämlich verstanden als »menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung«. Wie dieser Raum zu nutzen ist, ist aber keine Frage der Ästhetik, sondern ein Problem der Politik. 17 Lukács, ›Geschichte und Klassenbewusstsein‹, a. a. O., S. 71.