Ethik in der LehrerInnenbildung.

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Er
will
alle
LehrerInnen
und
an
Bildung
interessierten
BürgerInnen
einladen
zu
Kontakt,
Gespräch
und
Zusammenarbeit.
ISBN 978-3-9519897-2-3
Pädagogik EcQ Niederösterreich — Band 2
Erwin Rauscher (Hg.)
LehrerIn
werden/sein/bleiben
LehrerIn werden/sein/bleiben
Dieser
zweite
Band
der
PH NÖ
sammelt
und
präsentiert
Facetten
der
Diskussion
um
neue
Formen
der
LehrerInnenbildung.
Erwin Rauscher (Hg.)
Bildung sucht Dialog!
Aspekte zur Zukunft der LehrerInnenbildung
Pädagogik
EcQ
Niederösterreich
Band 2
Erwin Rauscher (Hg.)
LehrerIn
werden/sein/bleiben
Aspekte zur Zukunft der LehrerInnenbildung
Pädagogik
EcQ
Niederösterreich
Band 2
IMPRESSUM
Eigentümer und Medieninhaber:
Pädagogische Hochschule Niederösterreich
Mühlgasse 67, A 2500 Baden
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Austria – 2008
Redaktion: Erwin Rauscher
Lektorat: Günter Glantschnig
Text, Gestaltung und Layout: Erwin Rauscher
Druck: Druckerei Philipp GmbH, Grabengasse 27, A 2500 Baden
ISBN 978-3-9519897-2-3
Pädagogische
Hochschule
Niederösterreich
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Eric Hultsch
Ethik in der LehrerInnenbildung
Warum Pädagogische Hochschulen nicht auf eine EthikAusbildung verzichten dürfen
Pädagogische Hochschulen sind Ausbildungs- ebenso wie
Fort- und Weiterbildungseinrichtungen im Bildungsbe­reich. Die
zunehmende Übertragung von Kernbereichen der Erziehung,
also auch der Moralbildung, verlangt von LehrerInnen zunehmend auch moralische Kom­pe­tenzen. SchülerInnen in einer
zivilisatorisch über­­geregelten Umgebung, die selbst aus
unterschiedlichen Traditionen kommen und in heterogenen
Gruppen unterrichtet werden, verlangen von LehrerInnen
aber auch ethische Kompetenz. Ein mehrstufiges Modell der
ethischen Ausbildung an Pädagogischen Hochschulen kann
daher dem Trend von LehrerInnen, sich als ‚Wissensvermittler‘
zu sehen und moralische Konflikte eben­­so wie allgemeine
Erziehungsaufgaben in den priva­ten Bereich abzudrängen
konsequent und sinnvoll entgegenwirken.
1
Die ‚gute Persönlichkeit‘ macht LehrerInnen
noch nicht moralisch kompetent
Auf einer Tagung1, bei der es eigentlich um Ethik in der Forschung ging – wie sich bald
herausstellte, war dabei natürlich vor allem Biologie und Medizin gemeint – hielt Volker Ladenthin aus Bonn das erste Grundsatzreferat und schloss mit dem Appell – der alsbald von
anderen ReferentInnen wiederholt wurde – hochschulische Ausbildung müsse ‚Bildung‘ sein.
Dies wiederkehrend gleichsam als Refrain klang irgendwie seltsam mutlos, so als dächten
die höchst unterschiedlichen RednerInnen dabei wehmütig ‘mal an Sokrates, ‘mal an Jean
Jacques Rousseau, ‘mal an Wilhelm von Humboldt, ‘mal an … ja, an wen denn eigentlich,
wenn da immer von ‚Bildung‘ die Rede ist. Sollte das vielleicht sein, was anderswo als Aufgabe
der Schule beschrieben wird, nämlich „embryonic society“ oder „Polis im Kleinen“ oder „just
community“ zu sein?2 Und damit die LehrerInnen das verwirklichen können, brauchen sie
eine Ausbildung, die Bildung ist. Ja, „die Lehrperson weiß um die Bedeutung rechtlicher und
ethischer Normen“3. Und natürlich kennt sie die wichtigsten erziehungswissenschaftlichen
Theorien. Natürlich – sie kennt die wich­tigs­ten entwicklungspsychologischen Theorien. Da
könnte man nun noch Lerntheorien, didaktische und fachdidaktische Theorien und Modelle,
fachwissenschaftliche und methodologische Kenntnisse anfügen und aufzählen. Was also
brauchen sie mehr? Vielleicht noch ein wenig besser mit SPSS umgehen oder vielleicht
mit MAXQDA? Vielleicht das Wissen, wie man spezielle Fragebögen oder Interviewleitfäden
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erstellt? Vielleicht auch zu wissen, wie man Begabungen wahrnimmt und fördert? Sie, die
Lehrperson für allgemeinbildende Pflichtschulen, für Berufsschulen, für mittlere und höhere
berufsbildende Schulen, sie ist geschult und eingewiesen. Aber schließt Bildung dies alles
einfach nur ein und besteht mithin aus einem in Modulen wohlsortierten Mix aus Sachwissen,
Fachwissen, Problemlösen, Kommunikation, Planung und Reflexion und dann natürlich auch
noch aus ethischen Normen – wenn man nur wüsste, was mit Letzterem gemeint sei. Deshalb
sucht man nach Aufklärung darüber und stößt natürlich auf die Begriffe Moral und Werte
und Tugend und sittlicher Charakter. Von der Aufgabe der Schule, Werte zu vermitteln, hört
man aber, die Pädagogik „müsste den Kindern verständlich machen, warum, obwohl das
Ethos als Einsicht da ist, die Erwachsenen nicht danach leben, jedenfalls keinen Erfolg damit
haben...“4 Von der Moral erfährt man, sie sei eigentlich nichts weiter als die Gesamtheit der
in einer Gruppe – oder Gesellschaft – vorhandenen und von der Mehrheit der Mitglieder
anerkannten Regeln. Von den Tugenden, speziell den pädagogischen, welche da sind Humor,
Geduld, Wahrhaftigkeit, Klugheit, Hoffnung, Liebe, Phantasie und Gerechtigkeit, erfährt man
klug Belesenes von Aristoteles bis Kant.5 Und was den sittlichen Charakter angeht, speziell
denjenigen der ‚Lehrperson‘, so hat den schon Fritz Oser mit den Begriffen der Fürsorge,
Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit umschrieben, um gleich auch aufzuzeigen, dass aus ihnen
permanent Dilemmata entstehen.6
Im Rahmen der zuvor erwähnten Tagung verwies Ulrich Körtner, Vorstand des Instituts für
Ethik in der Medizin an der Medizinischen Universität Wien, darauf, dass in den etwa 108
Ausbildungsprogrammen der UNESCO für ‚Ethik in der Wissenschaft‘ vor allem folgende
Lehrinhalte angeboten werden: Aufmerksamkeit für normative Dimensionen / Moralische
Sensibilität / Gutes Handeln / Identifikation moralischer Probleme / Verstehen – Erklären /
Analysieren – Argumentieren / Rechtfertigen – Begründen / Kritische Reflexion. Das alles
sind Bereiche, von denen man sagen könnte, dass sie in der hochschulischen Ausbildung
von LehrerInnen, natürlich vielfach und von den unterschiedlichsten Seiten beleuchtet, auch
schon vorkommen. Aber ist dies ausreichend, wenn es um die für viele LehrerInnen immer
schwieriger werdenden Entscheidungssituationen im ethischen Bereich geht? Reicht es da
aus anzunehmen, dass Lehrpersonen – wenn sie gut ausgebildet sind, also ausreichende
fachliche, didaktische und sonstige Kenntnisse erworben haben, gleichsam von sich aus als ‚gute
Persönlichkeiten‘ – auch über das verfügen, was Aristoteles schon den „sittlichen Charakter“
nannte? Fritz Oser urteilt darüber folgendermaßen: „Der Glaube, der die gute Persönlichkeit
auch schon als moralisch sieht, ist ein falscher Glaube.“7 Noch 1986 konnte Wolfgang Brezinka
schreiben, Erziehung sei nichts anderes als die „Übertragung der wesentlichen geistigen Güter
einer Gemeinschaft auf ihre Nachkommen.“8 Was aber, wenn eine Gemeinschaft entweder
nicht mehr über wesentliche geistige Güter verfügt oder dieselben nur unklar zu erkennen,
geschweige denn zu benennen sind oder mehr noch, wenn die Gemeinschaft dermaßen
heterogen geworden ist, dass in ihr selbst so unterschiedliche geistige Güter vorhanden sind
wie eine gleichzeitige religiös begründete Vorrangstellung von Männern und ein staatlich
verordnetes Gender-Mainstreaming? Und noch ein weiteres Element kommt hinzu, auf das
schon vor mehr als 150 Jahren der amerikanische Pädagogik-Rebell Henry David Thoreau
aufmerksam gemacht hat: Die Zivilisation postmoderner nachindustrieller Gesellschaften
verhindert durch ihre als Sachzwänge getarnten Ansprüche an die ‚Humanressource‘ Mensch
eine eigenständige und verantwortliche Persönlichkeitsentwicklung.9
LehrerInnen sind oder sollten zumindest am Ende ihrer Ausbildung oder zu einem möglichst
frühen Zeitpunkt ihrer Berufsausübung ‚ExpertInnen‘ sein. Was aber macht diese aus?
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ExpertInnen zeigen nach Berliner folgende Merkmale: a) Sie haben ein spezielles Feld, in
dem sie Spezialisten sind; dieses ist abzugrenzen von anderen Feldern, wo sie es nicht sind;
b) sie entwickeln für bestimmte wichtige Aktivitäten Automatismen; c) sie haben eine hohe
Sensitivität für die Anforderungen und sozialen Risiken einer bestimmten Aufgabe; d) sie
sind gute ProblemlöserInnen in ihrem Feld; e) sie haben eine außerordentliche Fähigkeit,
sich das Problem vorzustellen; f) sie können Probleme gut erfassen und kognitiv bearbeiten,
und g) sie können die Bedeutungshaftigkeit ihres Handelns richtig einschätzen. Nur hat
Berliner diese Fähigkeiten nicht auf die moralische Expertise angewandt, sondern nur auf
didaktisches Handeln im Sinne der Instruktion.10 Was aber machen solche ExpertInnen,
wenn sie mit moralischen Konflikten konfrontiert werden? Moralische Konflikte treten stets
dann auf, wenn man sie nicht erwartet hat, und lassen dem/r pädagogischen Experten/in
selten Zeit genug, in der einschlägigen Fachliteratur nachzulesen. Wertekollisionen, die zu
Gewissenskonflikten führen können, gibt es in unterschiedlichen Formen, sie lassen sich
aber im Wesentlichen in drei Gruppen einteilen:
 Normen, die zu ein und demselben Moralsystem gehören, kollidieren miteinander.
[Beispiel: Das Gebot der Wahrhaftigkeit versus die Tatsache, dass die Erfüllung dieses Gebotes das Leben eines Menschen aufs Höchste gefährdet (Gebot der Mitmenschlichkeit).]
 Normen, die zu verschiedenen Moralsystemen gehören, kollidieren miteinander.
[Beispiel: Für PazifistInnen ist die Forderung, keine Waffengewalt anzuwenden, unvereinbar
mit der Forderung des Staates, diesen notfalls mit Waffengewalt zu verteidigen (Gebot
der Unverletzlichkeit menschlichen Lebens).]
 Eine bestimmte allgemeine Norm gefährdet die freie Selbstverwirklichung des Einzelnen
derart tiefgreifend. Der Konflikt besteht also zwischen einer allgemeinen Norm und einer
Individualnorm.
[Beispiel: Jemand ist homosexuell veranlagt und will mit seiner/m Partner/in zusammen
leben, was gegen die allgemeine Norm der heterosexuellen Partnerschaft verstößt (Gebot
des Schutzes des Privatlebens).]11
Für so beschriebene ExpertInnen entsteht nicht nur, aber vor allem im schulischen Bereich
noch ein weiteres Problem, das Uwe Wesel eher resignierend als eine „ständige Ausbreitung,
(ein) Auseinandertreten von Moral (Ethik) und Recht, (eine) zunehmende Verflechtung von
Recht und Politik“ beschreibt.12
2
Wo lassen sie denken? Wo lassen sie urteilen?
Was also kann dagegen getan werden? Ist hier nicht durchaus eine ‚neue Aufklärung‘ nötig,
die sich, was ihre Zielrichtung angeht, allerdings kaum von der ersten unterscheidet, welche
Immanuel Kant im Jahre 1784 so beschrieb: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus
seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines
Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit,
wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und
des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit
und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem die Natur
sie längst von fremder Leitung frei gesprochen, (…) dennoch gerne zeitlebens unmündig
bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“13
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Und eben das ist es ja auch, was Henry David Thoreau meint, wenn er seinen Vorsatz, sich
abseits der „Zivilisation“ niederzulassen und nur von dem zu leben, das er selbst schaffen
kann, damit begründete, er wolle „…sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt,
um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu
haben.“14 Aber diese neue Aufklärung soll einem neuen Problem zu Leibe rücken, das sich
auch und gerade in einem ungenügend geschulten Umgang mit den Grundprinzipien einer
„offenen Gesellschaft“ (K. Popper) oder – genauer gesagt – mit der „Toleranz“ zeigt und
dem sich LehrerInnen zunehmend dadurch zu entziehen versuchen, dass sie sich auf ihre
Rolle als Wissensvermittler zurückziehen und den Umgang mit moralischen Konflikten und
ethischen Antworten ihren SchülerInnen ebenso überlassen wie ihrer eigenen häufig aus der
internalisierten Moral ihrer Großeltern stammenden Entscheidung.15
Was LehrerInnen benötigen, um ihre Rolle als ExpertInnen im fachlichen und didaktischen Sinn
gut ausfüllen zu können, erwerben sie in Form vielfach aufgelisteter Kompetenzen während
ihres Studiums, müssen es aber, um den aktuellen Anforderungen des Berufs gerecht zu
werden, durch Fort- und Weiterbildung beständig erneuern und ergänzen. Womit sie aber
vom ersten Tag ihrer pädagogischen Praxis an konfrontiert sind, nämlich mit Entscheidungen,
dafür erhalten sie entweder eine ungenügende oder gar keine Ausbildung. Wenn es nötig
wird – wie in Island geschehen –, LehrerInnen durch spezielle Trainingskurse im Umgang
mit moralischen Konflikten zu schulen, dann ist es fast schon zu spät.16
3
Moral ist gut, Ethik ist besser
Darum erscheint eine spezielle Ausbildungsschiene an den Pädagogischen Hochschulen, die
sich der Bewusstmachung ethischer Dimensionen widmet und es eben nicht beim schlichten „Es
weiß eh jeder, was gut und böse ist“ bewenden lässt, nötig zu sein. Versteht man unter Moral
„alle teils naturwüchsig entstandenen, teils durch Konvention vereinbarten, teils durch Tradition
überlieferten, aus wechselseitigen Anerkennungsprozessen hervorgegangenen Ordnungs- und
Sinngebilde (Regelsysteme), die in Form eines Katalogs materialer Normen und Wertvorstellungen einerseits die Bedürfnisbefriedigung einer menschlichen Handlungsgemeinschaft regeln
und andererseits in dem, was von dieser allgemein als verbindlich (als Pflicht) erachtet wird,
Auskunft über das jeweilige Freiheitsverständnis der Gemeinschaft geben“17, so genügt
dies doch keineswegs, um LehrerInnen auf ihre Aufgabe im Umgang mit SchülerInnen
vorzubereiten. „Denn wer das Wissen um seiner selbst willen wählt, der wird die höchste
Wissenschaft am meisten wählen, dies ist aber die Wissenschaft des im höchsten Sinne
Wissbaren, im höchsten Sinne wissbar aber sind die ersten Prinzipien (protai archai) und die
Ursachen (aitia); denn durch diese und aus diesen wird das andere erkannt, aber nicht dies
aus dem Untergeordneten. […] Dass sie aber nicht auf ein Hervorbringen geht, beweisen
schon die ältesten Philosophen. Denn Verwunderung (thaumázein) veranlasste zuerst wie
noch jetzt die Menschen zum Phi­lo­sophieren… […] Wenn sie also philosophierten, um der
Unwissenheit zu entgehen, so such­ten sie die Wissenschaft offenbar des Erkennens wegen,
nicht um irgendeines Nutzens willen.“18
Ethik indes ist nicht die Kenntnis der Moral (auch nicht der Moralen). Ethik ist vielmehr im Sinne
des aristotelischen éthos die Suche nach dem Guten um des Guten willen, die Erkenntnis des
Guten um des Guten willen und die Fähigkeit, das Gute um des Guten willen zu tun – auch und
wohl gerade dann, wenn dies Nachteile für die eigene Person mit sich bringt. Dass dies leicht
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der Fall sein kann, sei am folgenden kleinen Beispiel aus der Praxis gezeigt: Da unterrichtet
die Lehrperson Biologie und Physik in einer Hauptschule, steht in der vierten Klasse und ein
Schüler nickt dem anderen zu, sagt – halb hinter der Hand verborgen – „Ähem!“ und knickt
zwei Finger der linken Hand ein. Die Lehrerin beachtet das nicht, erklärt geduldig – denn es
ist ja die erste Stunde – was sie mag und was nicht, was sie toleriert und was nicht mehr.
Der andere Schüler nickt zurück und knickt ebenfalls die Finger und fünf oder sechs, die
nahebei sitzen, sehen es und nicken auch; denn es heißt, gemeint in Richtung der Lehrerin:
„Fick deine Mutter!“ Die Integrationslehrerin, die ganz hinten steht und alles beobachtet
hat, weiß, was es heißt, denn sie ist schon im vierten Jahr in dieser Klasse. Und sie geht
nicht in die Pause, lässt auch die SchülerInnen nicht in die Pause gehen, sondern besteht
darauf zu reden. Darüber, was da geschehen ist, darüber, was es bedeutet, in Österreich
etwas zu sagen, etwas anzudeuten, das vielleicht in der Bronx ganz normal wäre, aber eben
nicht bei uns. Hier gilt es nicht mehr, die Frage zu beantworten, wozu man denn dies oder
jenes brauche, wozu denn die Einhaltung dieser oder jener Regel vorteilhaft sei. Hier geht
es darum, verständlich zu machen, mit SchülerInnen darüber zu sprechen, warum es eben
nicht gut ist, leichtfertig – und sei es auch unbedacht – die in einer Tradition der Hochachtung
vor anderen, insbesondere den eigenen Eltern, und zusätzlich derjenigen des Inzestverbotes
aufgewachsenen Menschen zu kränken und zu verletzen. Denn Ethik fragt eben nicht danach,
was denn gut oder böse sei, was falsch oder richtig. Ethik fragt danach, warum etwas gut
oder böse, falsch oder richtig ist. Sie bedeutet, dass wir uns nicht nur der Verantwortung für
unser Handeln bewusst werden, sondern eben auch, dass wir nach den Gründen für Urteile
fragen und Begründungen suchen, die interpersonal vermittelbar sind; von denen wir also
annehmen können, dass sie auch von anderen akzeptiert werden können.
4
Ethik-Ausbildung an Pädagogischen Hochschulen
Daher sei hier zum Abschluss kurz zusammengefasst, was in einer Ethik-Ausbildung an einer
Pädagogischen Hochschule thematisiert werden sollte:
 Zu allererst geht es darum, Studierenden zu vermitteln, warum ‚Philosophie‘ keineswegs
eine spezielle Wissenschaft ist, die man deshalb besser auch den SpezialistInnen dieser
Wissenschaft überlässt, sondern warum und inwiefern Philosophie im eigentlichen Sinne
„Anstiftung zum Denken“, zum „Selber Denken“ im Kantischen Sinne ist.19 Dass dies
gerade für die Schule wichtig ist, dazu kann Henry David Thoreau und vor allem seine
intentionale Adaptierung in dem Film „Der Club der toten Dichter“ hilfreich sein. Und weil
dies womöglich als Literatur verstanden und nicht der eigentlichen Philosophie zugerechnet
werden könnte, sei darauf verwiesen, dass die Philosophie ihre Wirkung vornehmlich
durch die Literatur erhalten hat. Seit Sophokles‘ ‚Ödipus Rex‘ zieht sich die Darstellung
von moralischen Konflikten, die im Sinne der Ethik daraufhin untersucht werden, warum
denn das, was gut und böse sei, auch wirklich so genannt werden könne, durch die
Weltliteratur. Denkende Menschen sollten unsere LehrerInnen doch wohl sein. Also könnten
sie durchaus am Beispiel des ‚Prinzen von Homburg‘ einmal über das übergeordnete
Prinzip der Solidarität, am Beispiel des ‚Zerbrochenen Kruges‘ über das moralische Recht
der Lüge oder am Beispiel des ‚Mannes ohne Eigenschaften‘ über den Unterschied von
‚Möglichkeit und Wirklichkeit‘ nachdenken. Oder soll es allenthalben weiter so bleiben,
wie es dort beschrieben wird, dass nämlich den Kindern der ‚Möglichkeitssinn‘ so bald
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Pädagogische
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wie möglich ausgetrieben wird, indem man solche Menschen Phantasten oder Träumer
nennt? Der Möglichkeitssinn sagt nicht, wie es ist, sondern fragt, ob es nicht auch
anders sein könnte.20 An welchem Beispiel ließe sich die Frage danach, was denn nun
den Menschen als Menschen ausmache, woran man ihn erkennen könne – und dies im
besten ethischen Sinne – besser diskutieren als an Daniel Defoes ‚Robinson Crusoe‘?
 Danach aber geht es auch darum, Studierenden den Unterschied zwischen Moral und Ethik,
zwischen Alltag und Reflexion über den Alltag sowie die Grundprobleme philosophischer
Ethik wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gut und Böse und dabei wohl nicht zuletzt all diese
Fragen auch anhand der vorhandenen ethischen Modelle (Tugendethik, Hedonismus,
religiöse Ethik, Stoa, deontologische oder Pflichtenethik, Werteethik, Utilitarismus) zu
zeigen.
 Erst in einem zweiten Schritt kann anhand der Bereiche der Angewandten Ethik sowohl
auf die unterschiedlichen Spezialgebiete – unter ihnen naturgemäß bevorzugt die
pädagogische Ethik oder Ethik der Pädagogik – eingegangen werden. Dies führt sicher
auch dazu, sowohl die Moralentwicklung als auch den Moralerwerb bei Kindern und
Jugendlichen21 – denn beides muss LehrerInnen bekannt sein und von ihnen beachtet
werden – zu behandeln als auch auf die durchaus grundsätzlichen Modellansätze von
John Dewey,22 John Rawls23 oder Jürgen Habermas24 einzugehen. Dabei sollten aber auch
die Umsetzungsmodelle und die für die Schule adaptierten Modelle der „just community
school“25 oder des „Runden Tisches“26 als Beispiele diskutiert werden.
 Da sich gerade aus der zunehmenden Heterogenität der SchülerInnengruppen besondere
Probleme ergeben, erscheint es notwendig, auf ethische Aspekte des Unterrichts in heterogenen Gruppen besonders einzugehen, wobei es die Ethik bis zu einem gewissen Grad
der Religionspädagogik überlassen kann, die religiöse Heterogenität zu behandeln, jedoch
selbst vor allem für die Bereiche der ‚Sexuellen‘, der ‚Gender-‘, der ‚Ethnischen‘, der
‚Sprachlich-Kulturellen‘ und zuletzt wohl auch der ‚Begabungs-Heterogenität‘ zuständig
sein sollte.
 Heterogenität bringt allenthalben sowohl moralische Konflikte als auch ethische Grundfragen
hervor und zur Sprache. Sie fordert von Lehrpersonen mehr denn je, sich selbst und den
SchülerInnen die Frage zu stellen, wann denn nun eingegriffen werden soll und wann
man einen Konflikt den Selbstregulierungsmechanismen überlassen sollte.
Alle diese Bereiche können hier nicht im Einzelnen ausgeführt noch dargestellt werden. Vielmehr
erscheint es wichtig, bei den leitenden Personen Pädagogischer Hochschulen ebenso wie den
Lehrenden ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass weder sie selbst noch gar Studierende
eigentlich „eh schon wissen“, was gut und böse, was falsch und richtig sei, und dass man dies
eben nicht getrost dem Hausverstand oder dem Gewissen des Einzelnen überlassen kann.
Ethik in der LehrerInnenbildung an Pädagogischen Hochschulen soll angehende LehrerInnen
dazu befähigen, moralische Kompetenz zu entwickeln. Moralische Kompetenz aber ist die
Fähigkeit, die vorhandenen moralischen Regeln auf ihre Angemessenheit in Bezug auf
eine bestimmte Situation zu prüfen und je nachdem ihre Einhaltung oder ihre Übergehung
argumentativ zu begründen.
Anmerkungen
1 Tagung ‚Ethik in der Wissenschaft‘ am 26. 5. 2008 in Wien, gemeinsam organisiert vom Bundeskanzleramt und
Pädagogische
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von Joanneum Research.
2 H.v.Hentig: Ach, die Werte! München 1999, S.81.
3 Aus: Standards für die Ausbildung der Pädagogischen Hochschule Zürich, www.phzh.ch unter „Gemeinsame
Studienelemente“, 22. 6. 2008.
4 H.v.Hentig, a.a.O., S.55.
5 So in W.Eykmann/S.Seichter (Hg.): Pädagogische Tugenden, Würzburg 2007.
6 Vgl. F.Oser: Ethos – die Vermenschlichung des Erfolgs, Opladen 1998.
7 A.a.O.. S.205.
8 W.Brezinka: Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft, München 1986, S.172.
9 Vgl. dazu H.D.Thoreau: Ein Leben mit der Natur, dt. von E.Ziha, ergänzt und überarbeitet von S.Zeiz. München:
dtv, 20075.
10 Vgl. dazu D.C.Berliner: The nature of expertise in teaching, in: F.Oser/A.Dick/J.-L.Patry (Hg.): Effective and
Repsonsible Teaching. The New Synthesis, San Francisco 1996, S.214.
11 Vgl. dazu A.Pieper: Einführung in die Ethik, Tübingen 20035, S.38f.
12 U.Wesel: Geschichte des Rechts, München 1997, S.48.
13 I.Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werke, Bd. 9, S.53.
14 H.D.Thoreau, a.a.O., S.100f.
15 Vgl. dazu S.Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke,
Bd. 15, 1933.
16 Vgl. dazu S.Adalbjanardóttir: Zur Entwicklung von Lehrern und Schülern, in: W.Edelstein/F.Oser/P.Schuster
(Hg.): Moralische Erziehung in der Schule, Weinheim 2001, S.213–232.
17 A.Pieper, a.a.O., S.42.
18 Aristoteles: Metaphysik, 982b. [Aristoteles, Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz, Hamburg, 1966.]
19 Vgl. dazu A.Pieper: Selber Denken. Anstiftung zum Philosophieren, Leipzig 20025.
20 Vgl. dazu R.Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1978. In einer späteren Notiz nannte Musil die
Möglichkeiten „die noch nicht erwachten Absichten Gottes“.
21 Vgl. L.Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt/Main 1996; ders.: Die Psychologie der Lebensspanne, Frankfurt/Main 2000.
22 J.Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, übers. von J.Oelkers,
Weinheim 1993.
23 J.Rawls: Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, Frankfurt/Main 2000.
24 Vgl. dazu J.Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/Main 2006; ders.: Erläuterungen
zur Diskursethik, Frankfurt/Main 1991.
25 A.Higgins: Moralische Erziehung in der „Gerechte-Gemeinschaft-Schule“ – Über schulpraktische Erfahrungen
in den USA, in: G.Lind/J.Raschert (Hg.): Moralische Urteilsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit Lawrence
Kohlberg, Weinheim 1987, S.54–72.
26 F.Oser, Ethos – die Vermenschlichung des Erfolgs, Opladen 1998, S.219ff.
Eric Hultsch, Mag. Dr., Prof.,
1972 bis 1981 Univ.-Ass. Universität Wien; 1981 bis 1990 und
1997 bis 2007 Prof. PA Graz; 1990 bis 1997 Pfarrer Ramsau und
Graz, Lehrbeauftragter an der Universität für Musik und Darstellende Kunst, Graz; stv. Leiter des Instituts 1 (Forschung,
Wissenstransfer & Innovation) der PH Steiermark
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