Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS

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Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
Ein Plädoyer für die Entwicklung pädagogischer Konzepte zur Förderung
sozialer Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen, die im schulischen
Kontext als untragbar gelten und deshalb häufig aus der Schule
ausgeschlossen werden.
Von Liliana Tönnissen
Abstract
ADS (Aufmerksamkeitsdefizit Syndrom) ist ein vieldiskutiertes Phänomen. Nach dem
medizinischen, neurobiologischen Erklärungsmodell handelt es sich um eine
hirnorganische Störung im Bereich der Neurotransmitter. Kulturwissenschaftliche
Betrachtungen halten ADS für eine Reaktion einer immer grösser werdenden Anzahl
Menschen auf kulturelle Erscheinungen der Postmoderne. Die Entwicklung der
digitalen Technologie und die Beschleunigung des Lebenstempos in der modernen
Industriegesellschaft spielen bei diesen Überlegungen eine prägnante Rolle.
Biographische Erklärungsmodelle greifen auf das Individuum und dessen familiäres
Umfeld zurück, in welchem primäre Bindungen als häufig brüchig und gestört
beschrieben werden. Im pädagogischen Kontext wirkt sich ADS bei Kindern oft mit
starken Verhaltensauffälligkeiten, Lern- und Schulschwierigkeiten negativ auf ihre
Bildungsfähigkeit aus. Die Erziehungswissenschaften scheinen sich diesem Problem
dennoch nur zögerlich anzunehmen. Die gängige Behandlung von ADS, die
multimodale
Therapie,
bestehend
aus
medikamentöser
und
verhaltenstherapeutischer Behandlung, löst die Schulschwierigkeiten der Kinder
nicht. Die Erziehungswissenschaften werden sich demzufolge dem Thema
annehmen müssen. Mit einer eigenen Perspektive auf das Thema können
pädagogische Konzepte ausgearbeitet werden. Die Sonderpädagogik kann mit der
spezifischen Unterstützung von betroffenen Kindern und von Lehrpersonen im
Unterricht eine Schlüsselrolle einnehmen.
Autorin
Liliana Tönnissen, Sozialpädagogin FH, Studium an der Universität Zürich: Pädagogik,
Sonderpädagogik und Soziologie, arbeitet als Privatdozentin an verschiedenen
Fachhochschulen für soziale Arbeit und an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Nach
ihrer langjährigen Praxistätigkeit in der Sozialpädagogik, Sonderpädagogik, Schulsozialarbeit
und als Trainerin für soziale Kompetenzen gründete sie ein eigenes Beratungsunternehmen.
Mit ihrem Weiterbildungsangebot und mit ihren Beratungen und Coachings unterstützt sie
Menschen aus dem pädagogischen und psychosozialen Bereich in ihrer Arbeit. Die
Förderung sozialer, ressourcenorientierter Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen bildet den Mittelpunkt ihrer Arbeit.
Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
Methoden
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Inhaltsverzeichnis:
Abstract.................................................................................. 2
1.
Einleitung..................................................................... 2
2.
Was ist ADS?.............................................................. 3
2.1. Geschichtlicher Überblick............................................ 3
2.2. Kulturtheoretische und biografische
Erklärungsmodelle...................................................... 5
2.3. Medizinische Erklärungsmodelle................................. 7
3.
Auswirkungen in der Schule....................................... 9
4.
Behandlungsmöglichkeiten......................................... 11
4.1. Die multimodale Therapie........................................... 11
4.2. Kritische Würdigung der multimodalen
Therapie...................................................................... 12
5.
Erziehungswissenschaftliche Überlegungen............... 13
5.1. Pädagogische Perspektive.......................................... 14
5.2. Lernen in der Schule................................................... 15
6.
Was kann die Sonderpädagogik tun?......................... 16
6.1. Integration, Förderung und Multitasking..................... 16
6.2. Pädagogische Methoden und Verfahren
für die Schule der Postmoderne.................................. 16
7.
Fazit.............................................................................18
Literatur.................................................................................. 19
2
Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
Methoden
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1. Einleitung
ADS ist in der Medizin und Pädagogik ein kontrovers diskutiertes Thema. Die
Pädagogen werfen den Medizinern vor, mit ADS eine Modediagnose kreiert zu
haben. Lebhafte, unangepasste Kinder würden mit Psychopharmaka ruhig gestellt,
ohne die Risiken der Behandlung abschätzen zu können, da fundierte Studien fehlen
würden (vgl. Hüther, 2002, S. 42ff). Die Mediziner ihrerseits werfen den Pädagogen
und Sozialtätigen vor, sie würden den Krankheitsaspekt von ADS ignorieren und
damit eine erfolgreiche medizinische Behandlung verhindern (Neuy, 2005, S. 82). Im
medizinischen Bereich werden mehrheitlich Behandlungen mit Psychopharmaka
durchgeführt. Bei erwachsenen Betroffenen werden diese mit flankierenden
Massnahmen,
wie
zum
Beispiel
Verhaltenstherapie,
kombiniert.
Die
Erziehungswissenschaft nimmt sich dem Problem ADS eher unsystematisch und
zögerlich an, obschon es für die Pädagogik relevant wäre. Die Relevanz ergibt sich
daraus, dass sich die Symptome von ADS wie Konzentrationsschwierigkeiten,
motorische Unruhe, und regelwidriges Verhalten häufig in der Schule negativ
auswirken können. Die schulischen Probleme werden so gross, dass die betroffenen
Kinder und Jugendlichen nur ungenügend, und in schwerwiegenden Fällen
überhaupt nicht mehr, in der Regelschule unterrichtet werden können.
In der vorliegenden Arbeit werde ich aufzeigen, dass die Schulprobleme vieler ADSBetroffener mit einer medizinischen Diagnose und Behandlung allein nicht gelöst
werden können. Daraus leite ich meine Hypothese ab, dass man pädagogische
Konzepte für unkonzentrierte, hyperaktive Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung
braucht. Schliesslich beschreibe ich, was die Sonderpädagogik zur schulischen
Integration von Kindern mit ADS beitragen kann.
Dazu werde ich die unterschiedlichen Perspektiven zum Thema ADS beleuchten.
Der erste Teil gibt einen geschichtlichen Überblick. Im zweiten Teil werde ich
einerseits kulturtheoretische und biographische Erklärungsmodelle für ADS
vorstellen und andererseits medizinische. Nach der Beschreibung der Auswirkungen
von ADS in der Schule und möglichen Behandlungen leite ich zu
erziehungswissenschaftlichen Überlegungen über, indem ich eine mögliche
pädagogische Perspektive einzunehmen versuche. Schliesslich zeige ich auf, was
die Sonderpädagogik zur schulischen Integration von sogenannten ADS-Kindern und
–Jugendlichen beitragen kann.
2. Was ist ADS?
2.1.
Geschichtlicher Überblick
Barkley geht davon aus, dass die älteste bisher bekannte Publikation über ADS auf
das 1844 geschriebene Kinderbuch: „Struwwelpeter“ des Frankfurter Kinderarztes H.
Hoffmann zurückgeht. Bei der Geschichte vom Zappelphilipp geht es um den Jungen
Philipp, der am Tisch nicht still sitzen kann, mit dem Stuhl schaukelt und am Ende
mitsamt der Tischdecke und der Mahlzeit auf die Erde fällt. In der Geschichte Hansguck-in-die-Luft ist der Protagonist ein Junge auf dem Weg zur Schule, der mit
seinen Gedanken ständig woanders ist. Den Blick immer zum Himmel gerichtet sieht
er nicht, wohin er tritt. So läuft er statt zur Schule zum Hafen, wo er über einen Hund
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stolpert und zur Erheiterung der Fische samt Schulmappe ins Wasser fällt. Mit diesen
beiden Geschichten sollen im Struwwelpeter sowohl die Beschreibung des
unaufmerksamen Typus als auch diejenige des hyperaktiv-impulsiven Typus von
ADS vorliegen, wie sie im DSM lV beschrieben sind. Die Geschichte des Phänomens
ADS umfasst ein Jahrhundert klinischer und wissenschaftlicher Publikationen (vgl.
Barkley, 2006, S. 3).
Nach einer Encephalitis-Epidemie in Nordamerika im Jahre 1917 stieg das
professionelle Interesse für die Folgen von Gehirnschäden bei Kindern im
medizinischen und schulischen Bereich. Die damals festgestellten Symptome und
Verhaltensauffälligkeiten der gehirngeschädigten Kinder glichen den Symptomen, die
später bei ADS diagnostiziert wurden. Man schloss daraus, dass ein spezifisches
unangepasstes Verhalten, einhergehend mit Konzentrationsschwierigkeiten,
hirnorganische Ursachen habe. Die Symptome wirkten sich im schulischen Kontext
besonders negativ aus. Viele betroffene Kinder konnten in der Regelschule kaum
unterrichtet werden. Es entstanden erste Konzepte der Sonderbeschulung und erste
Verhaltenstherapien (ebd., S. 5).
George Still und Alfred Tredgold waren nach Barkley die ersten Autoren, die 1902
die Symptome von ADS annähernd gleich erfasst haben, wie sie heute diagnostiziert
würden. Sie beschrieben unkonzentrierte, überaktive, aggressive, und renitente
Kinder, die gegen pädagogische Interventionen und Bestrafung resistent zu sein
schienen. Die Kinder hielten sich nicht an gesellschaftliche Normen und Regeln. Der
Arzt Still kam zum Schluss, dass sie an einem „Defekt der moralischen Kontrolle“
litten, welche er für eine chronische Gehirnkrankheit hielt. Ausserdem diagnostizierte
er bei einem Grossteil dieser Kinder Entwicklungsdefizite. Damit waren sie kognitiv
und emotional nicht in der Lage, ihre Impulse und Triebe moralisch angemessen und
gesellschaftlich akzeptiert zu steuern. Still ging davon aus, dass diese
Verhaltensauffälligkeiten biologische Ursachen hätten, und hielt sie für erblich (ebd.
S. 4).
In den 1950ern und 1960ern wuchs die Kritik an der Universaldiagnose eines
allgemeinen, unspezifischen Hirnschadens. Man begann von einer rein
medizinischen Ursache für Verhaltensauffälligkeiten abzurücken und fügte
sozioökonomische Aspekte hinzu. Daraus resultierten neue Fachbegriffe wie
Diskalkulie, Dislexie, Lernbehinderungen und Hyperaktivität. Sie basierten auf
beobachteten Beschreibungen von Defiziten beim Lernen. Im Gegensatz zu Stills
Beschreibung eines meist comorbiden Verlaufs und der Unheilbarkeit der
Erkrankung, begann sich in den 1960ern bis 1980 die Meinung durchzusetzen, dass
ADS, damals noch hyperkinetisches Syndrom genannt, eine vorübergehende
Erscheinung im Kindesalter sei. Man nahm an, sie würde spätestens nach der
Pubertät verschwinden. Vor allem in den Vereinigten Staaten wurde ADS als eine
häufig vorkommende Störung gesehen, die lediglich eine extreme Ausprägung der
Normvariante darstellte. In Europa dagegen, vor allem in Grossbritannien, hielt man
an der Diagnose einer hirnorganischen Störung fest. Dies führte zu einer grossen
Diskrepanz in der Diskussion und in der Behandlung von ADS. In den Vereinigten
Staaten setzte man auf kurzfristige Behandlungen mit der Verabreichung von
Medikamenten und kurzen Verhaltenstherapien, die eine Verhaltensmodifikation in
der Schule bewirken sollten (ebd. S. 9ff).
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Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
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1970 veröffentlichte Virginia Douglas ihre Studien über von ADS betroffene Kinder.
Sie stellte den Mangel an Aufmerksamkeit und die Konzentrationsschwierigkeiten in
den Vordergrund und nicht die Hyperaktivität. Dies war eine historische Wende im
Diskurs über ADS. Ihre Untersuchungen beeinflussten die Diagnosestellung
massgeblich und ihre Beobachtungs- und Diagnosekriterien wurden 1980 in das
DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychiatrischer Störungen)
aufgenommen (ebd. S. 12f).
Die medikamentöse Behandlung von Schulkindern mit Psychopharmaka erregte
grosses öffentliches Interesse. Verschiedene Medien berichteten über überforderte
Lehrpersonen und ein krankes Schulsystem, in dem Kinder mit der Verabreichung
von Medikamenten schulkonform gemacht würden. So entstanden 1980 neue
Erklärungsmodelle für ADS. Dabei spielten soziale, psychologische und ökologische
Faktoren die Hauptrolle. Einen sehr starken Einfluss auf Eltern von ADS-Betroffenen
hatte die Theorie, dass gewisse Substanzen im Essen die Störung verursachen
würden. Es entstanden spezifische Diät- und Ernähungsprogramme.
Eine weitere sehr starke und wichtige Strömung war diejenige, die die kulturelle und
technologische Entwicklung in den Vordergrund stellte. Demnach erklärte man sich
das Phänomen als die Reaktion vieler Menschen auf starke kulturelle
Veränderungen, die das Tempo im Alltagsleben drastisch erhöhen würden. Nach
diesem Modell war ADS eine typische Zivilisationskrankheit der modernen westlichen
Kultur.
Psychologisch ausgerichtete Schulen führten das Problem auf eine fehlende oder
ungenügende Interaktion und Bindung zwischen Primärbezugspersonen wie der
Mutter und dem Kind zurück. In diesem Erklärungsmodell stehen die familiären
Verhältnisse im Vordergrund.
Im Erziehungsbereich wurden verhaltensmodifizierende Verfahren entwickelt. Es
entstanden viele Untersuchungen über Techniken und Praktiken zur
Verhaltensmodifikation bei Kindern mit Lernschwierigkeiten und bei Schwierigkeiten
im sozialen Verhalten. Die Verfahren wurden zunächst meist als Alternative zu einer
Medikation vorgestellt (ebd. S. 16).
Nach 1980 setzte sich die bis heute übliche multimodale Behandlung bei ADS durch.
Man setzte nicht mehr auf ein Verfahren, sondern auf die Kombination aus
Medikation, Verhaltenstraining, Interventionen in der Klasse und Elterntrainings.
Durch den Fortschritt technischer Mittel konnten nach 1990 Hirnregionen und
Hirnströmungen besser gemessen werden. Die Meinung, es handle sich um eine
spezifische Krankheit des Kindesalters wurde durch neue Erkenntnisse in der
Neurobiologie revidiert. Man ging von einer lebenslänglichen Betroffenheit aus, da
die Störung hirnorganische Ursachen im Bereich der Neurotransmitter zu haben
schien. Ausserdem schloss man aus Zwillingsuntersuchungen und Untersuchungen
von Familiensystemen darauf, dass ADS hereditär sei. Es entstand eine Reihe
wissenschaftlicher Untersuchungen und Publikationen. Eine Fülle von Ratgebern für
Eltern, Lehrpersonen und Erzieher wurden publiziert. Die ADS-Diagnose im DSM
wurde überarbeitet (ebd. S. 16).
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Methoden
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2.2.
Kulturtheoretische
und
biographische
Erklärungsmodelle
Kulturtheoretische Zeitdiagnosen beschreiben allgemeine gesellschaftliche
Entwicklungen und akzentuieren die Besonderheiten ihrer Zeit. Die Kulturtheorie
kann neue Entwicklungen und Bedingungen beschreiben, denen Kinder heutzutage
begegnen. Die individuelle Reaktion der Kinder auf die Bedingungen kann dabei sehr
unterschiedlich sein. Jedes Kind ist in eine spezifische Lebensgeschichte
eingebunden, die kulturell geprägt ist. Das Kind hat eine reale Familie, die es fördert
oder vernachlässigt, in der es aufgehoben ist oder nicht. Demzufolge tragen viele
individuelle und kulturelle Faktoren zur Entwicklung oder Fehlentwicklungen der
Kinder bei. Nicht jedes Kind reagiert auf die Fülle von Reizen in der Moderne mit
einer Aufmerksamkeitsstörung oder mit Hyperaktivität. Die immer grösser werdende
Anzahl Betroffener spricht dafür, dass kulturelle Aspekte ein wichtiger Faktor bei der
Entwicklung von ADS sein können.
Nach Ahrbeck werden in der Betrachtungsweise und Behandlung von ADS wichtige
kulturelle, erzieherische und familiäre Aspekte ausgeblendet.
„Allzu offensichtlich ist, dass Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen in einer
Zeit zunehmen, in der sich die Lebensverhältnisse immer stärker beschleunigen.
Zeitverknappung und Reizüberflutung bestimmen inzwischen weite Teile des
Alltagslebens. Gefordert ist ein möglichst schneller Wechsel von einem Reiz zum
nächsten, von einer Person zur anderen. Dies soll geschehen, ohne dass
nachhaltige, die Flexibilität des Individuums gefährdende Spuren entstehen. [...] Ohne
gebührende Gewichtung dieses kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrundes
lassen sich die heftige innere Unruhe und die massiven Aufmerksamkeitsstörungen,
die viele Kinder gegenwärtig ergreifen, kaum erklären (Ahrbeck, 2007, S. 7).“
Er beschreibt die psychischen Folgen für Kinder, die in der postmodernen,
westlichen Gesellschaft einer nahezu permanenten Wahrnehmungsreizung
ausgesetzt sind. Dadurch werden elementare seelische Prozesse des Kindes
gefährdet. Das Erleben bleibt an der Oberfläche und Erfahrungen haben kaum eine
innere Repräsentanz. Die Folge davon sind Unsicherheit und innere Leere, die mit
ständiger Suche nach neuen Reizen gefüllt werden soll. Dadurch sind die Kinder
unruhig, unkonzentriert und getrieben (ebd. S. 8).
Für Bergmann spielen vor allem digitale Technologien wie Fernseher und Computer
eine wesentliche Rolle bei der Beschreibung eines Verhaltenstypus, der sich in der
Hyperaktivität von Kindern abbildet. Durch einen übermässigen TV-Konsum und
durch Computerspiele erlernen die Kinder nicht, die Welt symbolisch zu ordnen.
Diese Kinder entwickeln keine innere Sprache. Zwischen Erlebtem und Handeln
kann kein bedeutsamer Zusammenhang hergestellt werden. Sie leben in einer
sinnentleerten, nicht durch Sprache ausgefüllten Welt. Die Gesetze der medialen
Welt korrespondieren mit ihrem Inneren (vgl. Bergmann, 2007, S. 49ff).
Andere Autoren wie Perner gehen davon aus, dass die Nervosität, Hyperaktivität und
Unruhe vieler Kinder die Folge einer tief gehenden Beunruhigung sei. Die
Erwachsenen leben in einem raschen Tempo und sind unfähig, den Kindern und
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Jugendlichen die notwendige Sicherheit, Ruhe und Gelassenheit zu geben (vgl.
Perner, 2007, S. 73ff).
Crary beschreibt die Aufmerksamkeit, das heisst die Art und Weise, in der wir etwas
bewusst wahrnehmen, als Ergebnis von radikalen Veränderungen der Wahrnehmung
seit dem 19. Jahrhundert. Seines Erachtens setzen, durch die Industrialisierung und
durch die massenweise Verbreitung visueller Medien, eine Modernisierung des
Blicks, und damit der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ein. Die dynamische Logik
des Kapitals begann, stabile oder dauerhafte Strukturen der Wahrnehmung zu
unterminieren. Gleichzeitig forderte die gleiche Logik ein disziplinäres Regime der
Aufmerksamkeit. In anderen Worten produziert die postmoderne Gesellschaft eine
tägliche Fülle von Reizen, die permanent auf den modernen Menschen einwirkt.
Gleichzeitig gilt die Fähigkeit, aus diesen Reizen bestimmte auszusuchen und sich
auf diese konzentrieren zu können, während man die anderen ausblendet, als höchst
erstrebenswert. Die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit und Konzentration ist
gesellschaftlich hoch angesehen.
„ Im Kontext einer dramatischen Umstrukturierung des Wissens und der
neurologischen Forschung in den letzten Jahrzehnten trifft man auch immer wieder
auf Behauptungen wie die von Popper und Eccles, der einheitliche Charakter des
selbstbewussten Geistes sei untrennbar von Aufmerksamkeit. Der Neurologe Antonio
Damasio hat neuerdings geäussert, dass »ohne basale Aufmerksamkeit und
Arbeitsgedächtnis keine Aussicht auf eine kohärente mentale Tätigkeit besteht«. Viele
Gelehrte betrachten heute die Aufmerksamkeit nicht bloss als ein psychologisches
Problem, sondern halten sie auch auf neuronaler Ebene für nachweisbar, während
sie für andere nach wie vor ein schwer fassbares Phänomen bleibt. Aber welchen
relativen Wert die verschiedenen Theorien auch haben mögen, die Aufmerksamkeit
hat
sich
im
allgemeinen
disziplinären
Kontext
der
Sozialund
Verhaltenswissenschaften als ein bemerkenswert konstantes Problem erwiesen
(Crary, 2002, S. 36).“
Im Zusammenhang mit der Etikettierung ADS zeigt er auf, dass die Aufmerksamkeit
eine normative Kategorie der institutionalisierten Macht ist. Er greift die
Beschreibungen von ADS im DSM lV auf und konstatiert, dass Aufmerksamkeit als
eine normative und natürliche Funktion angenommen wird, deren Verminderung
Verhaltensweisen hervorrufe, die den sozialen Zusammenhalt zerreissen. Seines
Erachtens sprechen folgende Sätze aus einer Studie über ADS das aus, worum es
bei der Diagnose ADS eigentlich gehe:
„Was gestört ist, ist die Verhaltenskontrolle durch Regeln. [...] Bei Erwachsenen
verbindet sich die Diagnose von ADD zunehmend mit dem Gefühl der Minderleistung,
so dass praktisch jede Art ökonomischen Zurückbleibens oder sozialer Unsicherheit
als eine misslungene Anpassung an die ideologisch bestimmten »Leistungs-«Standards verstanden werden kann. In einer Kultur jedoch, die so schonungslos auf
kurzfristiger Aufmerksamkeit, auf der Logik des Zusammenhanglosen, auf
perzeptueller Überbeanspruchung, auf der verallgemeinerten Ethik des »
Vorwärtskommen« und dem Kult der Aggressivität beruht, ist es sinnlos, diese
Verhaltensformen zu pathologisieren oder in der Neurochemie, der Anatomie des
Gehirns und der genetischen Veranlagung nach den Ursachen für diese imaginäre
Erkrankung zu suchen (Crary, 2002, S. 37).“
2.3.
Medizinische Erklärungsmodelle
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In der Medizin hat sich die Sichtweise durchgesetzt, bei ADS handle es sich um eine
hirnorganischen Störung, die symptombezogen pharmakologisch behandelt werden
kann. Neuy beschreibt neurobiologische Erkenntnisse in der Ursachenforschung
über ADS wie folgt: Veränderungen der Neurotransmitter und Hormone Serotonin,
Dopamin und Noradrenalin verursachen eine Störung der Impulskontrolle und der
Verhaltensregulierung. Die Störung bewirkt, dass Reize nicht sinnvoll verarbeitet
werden können. Informationen werden nicht angemessen sortiert und genutzt. Es
entsteht eine Reizüberflutung, die zu hoher Ablenkbarkeit, Erschöpfung und
Zerstreutheit führt. Bei grossem Interesse an einer Sache, kann es zu
Hyperfokussieren kommen. Kleinigkeiten werden dabei scharf wahrgenommen,
während Wesentliches kaum registriert wird (Neuy, 2006, S. 74ff).
Barkley beschreibt ein Verfahren namens PET (Positron Emission Tomography), mit
welchem die oben beschriebenen hirnorganischen Veränderungen gemessen
wurden. Er bezieht sich dabei auf eine berühmte und in medizinischen Fachkreisen
zitierte Studie von Zametkin (Zametkin et al., 1990).
Weil die Untersuchungen jedoch enorm aufwändig und kostspielig waren, wurden
jeweils kleine Populationen von 25 erwachsenen Personen untersucht, bei denen
diverse Veränderungen, vor allem im kortikalen Bereich und im Bereich der
Neurotransmitter registriert wurden. Die Reliabilität der Studie war in diesem kleinen
Sample nicht gewährleistet (vgl. Barkley, 2007, S. 32).
Amft hält aus der Perspektive der kritischen Medizin fest, dass ein eindeutiges
organisches Substrat nie nachgewiesen wurde. Es existiert „kein einziges Verfahren,
mit dem eine objektive Unterscheidung mittels naturwissenschaftlicher Methodik
zwischen einem hirnstoffwechselgestörten ADS-Kind und einem nicht
hirnstoffwechselgestörten normalen Kind möglich wäre (Amft, 2006, S. 77).“
Die medizinische Diagnose wird mit Hilfe des DSM-lV (Diagnostischen und
Statistischen Manuals Psychischer Störungen) gestellt. Im DSM-lV, wird ADS als
Aufmerksamkeitsdefizitstörung
und
ADHS
als
Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung definiert. Folgende diagnostische Merkmale und Kriterien
bilden die Grundlage:
A
B
C
D
E
F
Hauptmerkmal: Ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit, und/oder
Hyperaktivität und Impulsivität muss vorliegen, wobei alle Merkmale deutlich häufiger
und schwerwiegender auftreten müssen, als bei Personen auf vergleichbarer
Entwicklungsstufe.
Einige Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität oder Unaufmerksamkeit
müssen schon vor dem siebten Lebensjahr auftreten.
Eine Beeinträchtigung durch diese Symptome muss in mindestens zwei
Lebensbereichen auftreten; beispielsweise zu Hause und in der Schule.
Es müssen eindeutige Anzeichen einer Beeinträchtigung der entwicklungsgemässen
sozialen, schulischen oder beruflichen Leistungsfähigkeit gegeben sein.
Die Störung tritt nicht ausschliesslich im Rahmen einer tief greifenden
Entwicklungsstörung oder einer psychotischen Störung auf. Die Störung kann nicht
durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden (Differenzialdiagnose).
Das Verhalten tritt seit mindestens sechs Monaten auf.
Kriterien für Unaufmerksamkeit:
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- Viele Flüchtigkeitsfehler, beachtet Einzelheiten nicht
- Fehlende Ausdauer bei Aufgaben oder beim Spielen
- Hört scheinbar oft nicht zu,
- Führt Anweisungen oder Arbeiten häufig nicht zu Ende
- Kann sich schlecht organisieren
- Vermeidungsverhalten punkto Konzentration und Ausdauer
- Hoher Verlust von Materialien und Gegenständen
- Leicht ablenkbar, hohe Vergesslichkeit
Kriterien für Hyperaktivität:
-
Zappelt ständig mit Füssen und Händen
Kann nicht still sitzen, rutscht auf dem Stuhl hin und her
Aufstehen und Herumlaufen in unpassenden Situationen
Redseligkeit, Getriebenheit, Mühe, ruhig zu spielen oder sich ruhig zu beschäftigen
Kriterien für Impulsivität:
-
Antwortet, ohne die Frage abzuwarten, allgemein Mühe, zu warten
Unterbricht und stört andere häufig beim Sprechen oder im Spielen
Bei den diagnostischen Merkmalen und Kriterien fällt auf, dass keine klaren Grenzen
zwischen normal aktiven und hyperaktiven Kindern existieren. Genauso bereitet die
Abgrenzung
normal
ablenkbarer
Kinder
von
solchen
mit
einer
Aufmerksamkeitsstörung Schwierigkeiten. Die Ansichten darüber, was in diesem
Bereich normal ist, können sehr stark variieren und zudem von ganz
unterschiedlichen Situationen abhängen (vgl. Krowatschek, 2003, S. 20).
3. Auswirkungen in der Schule
Lehrpersonen und Eltern sehen sich mit Kindern konfrontiert, die unkonzentriert sind,
sich nicht an Regeln halten können, häufig in tätliche Auseinandersetzungen mit
Gleichaltrigen verwickelt sind und diverse Lernschwierigkeiten haben. Diese Kinder
in der Regelschule zu unterrichten, scheint oft unmöglich.
Bereits die Neugeborenen werden als sogenannte Schreikinder beschrieben. Sie
leiden oft an Schlafstörungen, haben eine ausgeprägte Trotzphase und neigen zu
Wutausbrüchen. (vgl. Neuy, 2006, S. 64). Krowatschek stellt fest, dass bei den
Anamnesen die Eltern oft prä-, peri- und postnatale Komplikationen wie Frühgeburt,
Sauerstoffmangel, Verwickeln der Nabelschnur erwähnen. Im Allgemeinen würden
die hyperaktiven Babys als lebhafte, umtriebige, kontaktfreudige, sehr ansprechende
und fröhliche Babys gelten. Sie seien neugierig, krabbeln überall herum und würden
sich für alles interessieren. Dabei scheuen sie keine Gefahren und Risiken. Eltern
erinnern sich oft gerne an diese Zeit (vgl. Krowatschek, 2003, S. 52, 53).
Bereits in der Vorschulzeit mit 3-5 Jahren verhalten sich ADS-Kinder den Eltern
gegenüber ungehorsam. Sie sind ständig in Bewegung, können sich kaum mit sich
allein beschäftigen. Manche Eltern meiden Wartezimmer, Restaurants und
öffentliche Verkehrsmittel, weil sich die Kinder renitent verhalten und es dadurch
häufig zu schrecklichen Szenen und peinlichen Situationen kommt. In diesem Alter
fangen mehrheitlich die Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen an. ADS-Kinder können
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sich in Gruppen nur schwer orientieren. Sie verstehen nicht, dass Regeln für 3jährige
anders sind als diejenigen für 5jährige. Erste Entwicklungsdefizite und –rückstände
machen sich bemerkbar. Spätestens im Kindergarten führt das auffällige Verhalten
der Kinder zu ernsthaften Schwierigkeiten und zu Fehleinschätzungen. (vgl.
Krowatschek, 2003, S. 53, 54).
In der Schule verstärkt sich das Problem der motorischen Unruhe. Anstatt ruhig auf
dem Stuhl zu sitzen, der Lehrperson zuzuhören und zu arbeiten, zappeln hyperaktive
Kinder herum, laufen zu unpassenden Zeitpunkten im Schulzimmer umher. Sie teilen
alles, was ihnen einfällt,
spontan und laut mit. Sie haben eine kurze
Aufmerksamkeitsspanne und hören scheinbar nie richtig zu. Bei der Arbeit machen
sie viele Flüchtigkeitsfehler, sind unfähig die Fehler zu korrigieren. Wenn es zufällig
gut läuft, verstehen sie eine Aufgabenstellung auf Anhieb. Falls nicht, werfen sie die
Flinte sogleich ins Korn. Häufig wird diese Szene von einem Wutausbruch begleitet.
Die Kinder fühlen sich immer benachteiligt, was den Zorn der Erwachsenen
besonders stark nach sich zieht. Die Erwachsenen benachteiligen nämlich eher
andere Kinder, die durch hyperaktive Kinder zu kurz kommen. In der hypoaktiven
Form sind die Kinder verträumt, vergesslich, ängstlich, langsam, ungeschickt und
fast immer überfordert. Sie verlieren schnell die Fassung, sind häufig traurig und
weinen schnell (vgl. Neuy, S. 64). Bereits in den ersten Schuljahren haben sie
Lernprobleme und –defizite. Sie weisen Auffälligkeiten in der Graphomotorik auf und
haben Probleme mit der Feinmotorik. Dadurch schreiben sie sehr schlecht und ihre
Heftführung ist meistens eine Katastrophe. In der Grobmotorik weisen sie weniger
Probleme auf: meistens sind sie sportlich, wendig, schnell und körperlich belastbar.
Unter den ADS-Kindern sind signifikant viele Linkshänder anzutreffen. Viele leiden
zusätzlich an einer Rechtsschreibeschwäche. Die Kinder werden andauernd
zurechtgewiesen, erfahren viel Kritik und bekommen selten Lob und positive
Zuwendung. Ihr Selbstvertrauen sinkt. Sie verhalten sich noch renitenter oder
entwickeln Vermeidungsstrategien (vgl. Krowatschek, 2003, S. 56).
Jugendliche mit ADS sind provokativ, grenzüberschreitend, impulsiv und
aufbrausend. Jetzt sind sie meist nicht mehr nur in verbale sondern auch in tätliche
Auseinandersetzungen verwickelt. Häufig vertreten sie unreflektiert
radikale
Meinungen. Wut, Angst, Depression wechseln sich ab und verursachen starke
Stimmungsschwankungen. Sie sind wenig belastbar, haben ein schlechtes
Selbstwertgefühl und sind unzuverlässig (vgl. Neuy, 2006, S. 64) Vielfach schliessen
sie sich noch problematischeren Jugendlichen an und orientieren sich an ihnen. Das
geht häufig einher mit Delinquenz, Drogenmissbrauch und selbstgefährdendem
Verhalten (vgl. Krowatschek, 2003, S. 57). Häufig ergebe sich ein komorbider Verlauf
mit Depression, Delinquenz und Suizidalität (Petermann, 2000, S. 16).
Im Erwachsenenalter kommt es darauf an, ob sich jemand ein privates und
berufliches Umfeld schaffen kann, in dem seine Eigenschaften als ADSler gefragt
sind. In diesem Fall erweisen sie sich als mehr oder weniger unauffällige Bürger und
meist als gute Fachleute. Diejenigen Menschen, denen eine solche Kompensation
nicht gelingt, leiden unter beruflichen und privaten Misserfolgen. Durch ihre
Konzentrationsschwierigkeiten, Stimmungsschwankungen, Impulsivität und ihrem
inneren und äusserem Chaos, scheitern sie sowohl beruflich als auch in
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Beziehungen. Besonders im Umgang mit Risiken wirkt sich dieses Verhalten oft
negativ aus (vgl. Ryffel, 2004).
Zur Illustration beschreibe ich zwei Praxisbeispiele aus dem Schulalltag:
Peter hat eine ADS-Diagnose mit Hyperaktivität. Er kommt zu spät zum Unterricht.
Anstatt sich zu entschuldigen und sich ruhig hinzusetzen, steuert er im Zick Zack auf
seine Bank zu; unterwegs kneift er einen Jungen in den Arm, mit seiner Tasche
rempelt er ein Mädchen an, deren Stifte zu Boden fallen. Der gekniffene Junge
beschwert sich laut bei der Lehrerin, das Mädchen muss aufstehen, um ihre Sachen
aufzuheben. Kaum an seinem Platz angelangt, brüllt er lauthals, er sei unschuldig
und habe niemanden gekniffen und die Stifte habe er nicht mit Absicht auf den
Boden geschmissen. Bevor die Stunde angefangen hat, ist die Klasse in Aufruhr und
die Lehrerin wütend. Sie schimpft mit Peter, was lediglich noch lauteren und
vehementeren Protest seinerseits zur Folge hat. Er beschwert sich über die
ungerechten Unterstellungen, er sei immer an allem Schuld.
Nach einer längeren Wanderung bei Regen kommt Peters Klasse an einem kleinen
See, ihrem Wanderziel, an. Der Regen hat die Stimmung der Wandergesellschaft
etwas gedämpft. Einige Kinder stehen lustlos herum und murren. Peter scheint das
überhaupt nicht zu bemerken. Er lacht laut und freut sich, den See endlich erreicht zu
haben. Sofort zieht er sich um. Bereits nach einigen Minuten tobt er in seiner
Badehose vergnügt im Wasser. Weder Kälte, noch der Regen, noch die Stimmung
der Klasse scheinen ihn sonderlich zu beeindrucken. Einige Schüler machen es ihm
nach, und die Stimmung der Klasse verbessert sich deutlich.
Alex hatte eine ADS-Diagnose. Er galt im Kindergarten und in den ersten
Schuljahren als verträumter, etwas langsamer und wenig aktiver Junge. Zunächst
hielt man seinen übermässigen Fernsehkonsum dafür verantwortlich. Obschon seine
Mutter den Fernsehkonsum streng einteilte und überwachte, wurde Alex’
Langsamkeit und Unkonzentriertheit zum Albtraum. Die Mutter berichtete, dass sie
praktisch keine Termine mit ihm einhalten könne. Manchmal brauche er über eine
Stunde, bis er sich die Schuhe angezogen hätte. Ihn bei den Hausaufgaben zu
unterstützen, hat sie schon längst aufgegeben.
4. Behandlungsmöglichkeiten
Mediziner verlangen eine pharmakologische Behandlung mit flankierenden
verhaltenstherapeutischen
Massnahmen.
Psychologische
Vorschläge
wie
Spieltherapie, Gesprächstherapie beruhen auf individualpsychologischen Prozessen.
Schulen reagieren ausweichend und zögerlich. Es gibt eine Tendenz, die betroffenen
Kinder in die Sonderschule abzudrängen. Die Sonderpädagogik hat einige
Förderkonzepte
mit
Entspannungsverfahren,
Stressreduktion
und
Wahrnehmungsförderung entwickelt.
4.1.
Die multimodale Therapie
Bei den Behandlungsmethoden haben sich Kombinationen verschiedener
Massnahmen durchgesetzt. Typische Bausteine sind: Medikation, Verhaltenstherapie
und Coaching von Betroffenen, Eltern und Personen aus dem Umfeld.
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Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
Methoden
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Die Medikation besteht aus Präparaten wie zum Beispiel Ritalin, die Methylphinidat
enthalten. Durch die Einnahme werden die so genannten Botenstoffe Dopamin, dem
eine wesentliche Rolle bei Antrieb und Motivation zugeschrieben wird, Noradrenalin,
der für Aufmerksamkeitsleistungen zuständig sein soll und Serotonin, das für die
Impulssteuerung verantwortlich sein soll, reguliert. Betroffene würden dadurch
ruhiger, gelassener und zentrierter. Ihre Konzentration erhöht sich, während ihre
Impulsivität zurückgeht (vgl. Krause, 2005, S. 131).
Die gängige Praxis geht davon aus, dass bei Erwachsenen festgefahrene Muster von
Fehlverhalten vorliegen, denen mit einer Medikation allein nicht beizukommen ist.
Durch eine Verhaltenstherapie soll eine Verhaltensmodifikation erreicht werden (vgl.
Ryffel, 2004, S. 133). Krause & Krause empfehlen bei Erwachsenen, aufgrund des
meist komorbiden Krankheitsverlaufs (hinzukommende Depressionen, Sucht,
Angstzustände, Erschöpfungszustände u.s.w.) prinzipiell eine multimodale Therapie.
Dabei können Bausteine wie Coaching, ähnliche Programme wie bei den Anonymen
Alkoholikern, Psychotherapie, Beratung und diverse Trainings hinzukommen (vgl.
Krause & Krause, 2005, S. 130, 171-184).
4.2.
Kritische Würdigung der multimodalen Behandlung
Angesichts der oben beschriebenen Kenntnisse zur kulturellen Einbettung von ADS
sind bei einer medizinischen Betrachtung entscheidende Fragen aufgeworfen. Die
multimodale Behandlung berücksichtigt weder die Biographie der Kinder noch ihre
soziale und kulturelle Einbettung. Die kindliche Störung wird wie ein Phänomen
behandelt, das mit der Person und ihrem Leben kaum etwas zu tun hat. Das
Individuum wird sozusagen ohne sein Zutun von der Krankheit überfallen. Damit
nehmen nach Leuschner die Medizin und die pharmazeutische Industrie gleichsam
die pädagogische Intervention in die Hand (vgl. Leuschner, 2006, S. 119).
Der Fachbereich, der die Definitionsmacht hat und sich dem Problem annimmt,
bestimmt die Behandlung. Eine medizinische Diagnose zieht eine medizinische
Behandlung nach sich. Das medizinische, auf Funktionsstörungen zentrierte
organische Defizitmodell, und die medikamentöse Behandlung sind problematisch.
Die nachgewiesene Medikamentenwirksamkeit beschränkt sich auf den
Vergabezeitraum. Eine Heilung kann nicht erreicht werden. Untersuchungen über die
multimodale Therapie haben ergeben, dass die Verhaltenstherapie praktisch keine
signifikanten Auswirkungen hatte verglichen mit der Probandengruppe, der nur
Medikamente verabreicht wurden (vgl. Barkley, 2006, S. 28 und Ahrbeck, 2007, S.
38f). Kulturelle, individuelle, biographische und erzieherische Aspekte werden kaum
berücksichtigt, obschon sich die Problematik in verschiedenen Lebensbereichen,
insbesondere in der Schule in Lernschwierigkeiten äussert. Gerade diese Lern- und
Schulschwierigkeiten scheinen mit der multimodalen Behandlung nicht gelöst zu
werden.
„Natürlich ist Ritalin keine Tablette, die Kinder klüger macht. Die Medikation führt
dazu, dass sich die motorische Unruhe verringert, die Impulsivität nachlässt und die
Konzentrationsspanne grösser wird. Auch Auswirkungen auf die Feinmotorik sind
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Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
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beobachtbar. Das Kind schreibt leserlicher, wenn auch nicht besser, was die
Rechtschreibung betrifft (Krowatschek, 2003, S. 158).“
5. Erziehungswissenschaftliche Überlegungen
Deshalb ist es wichtig, dass sich die Erziehungswissenschaften vermehrt dem
Problem annehmen und entsprechende pädagogische Konzepte entwickeln.
Betrachtet man die Geschichte der Schulentwicklung, stellt man fest, dass in der
Volksschule
schon
immer
Kinder mit
unterschiedlichen
Begabungen,
Temperamenten, Herkunftsfamilien und Lernschwierigkeiten unterrichtet wurden.
Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel, als in vielen europäischen Ländern die
Schulpflicht eingeführt wurde, war sie bei weitem noch nicht flächendeckend. Die
Lehrpersonen ländlicher Regionen waren mit Kindern konfrontiert, die sporadisch,
widerwillig und hauptsächlich im Winter zur Schule geschickt wurden. Im Sommer
mussten sie Feldarbeit verrichten. Vielfach kamen sie von der Arbeit müde und
hungrig zur Schule, mehr um sich auszuruhen, als um zu lernen. Bis zu 100 Kinder
wurden in einem Raum unterrichtet. Der Unterricht war noch wenig didaktisiert. Viele
Schulabgänger konnten kaum schreiben und lesen. Ölkers stellt dazu Schneiders
Beschreibungen aus dieser Zeit vor (vgl. Schneider, 1905).
„Im Frühjahrsexamen des Jahres 1799 beschrieb Samuel Dysli, Lehrer der
Hintersässenschule in Burgdorf, die Leistungen seiner Schüler. [...] Gemäss seinem
Protokoll kamen manche Kinder überhaupt nie zur Schule, einige konnten trotz
Unterrichts fast nichts, die, die etwas konnten, konnten es sehr unterschiedlich,
Aufmerksamkeit und Fleiss waren sehr ungleich verteilt, der Unterrichtserfolg, anders
gesagt, war, trotz der aus heutiger Sicht geringen Anforderungen, schwankend und
unstet. Schüler konnten aus der Schule entlassen werden, ohne über auch nur
elementare Fähigkeiten im Lesen und Schreiben zu verfügen (Ölkers, 2002, S. 111f).“
Die Schule hat nicht die Ursache dieser Erscheinungen bekämpft, oder die Probleme
in einen anderen Fachbereich verlagert, wo sie pathologisiert wurden. Sie hat selbst
Massnahmen getroffen. Sie hat sich etabliert und die Schulpflicht wurde nach und
nach durchgesetzt. Die Lernbedingungen wurden zum Beispiel durch die Einführung
der Jahrgangsklassen verbessert. Die Anzahl Schüler pro Klasse wurde gesenkt und
Lehrerausbildungen begründet. Mit der Entwicklung von Lehrmitteln und der
Einführung des Fächerkanons konnte ein Lehrangebot für die meisten Kindern
realisiert werden. „Man kann so »Schulentwicklung« als fortlaufende Problemlösung
verstehen, die auf bearbeitbare Defizite reagiert (Ölkers, 2002, S. 114).“
Die Sonderpädagogik nahm sich den Kindern an, die wegen körperlicher und
geistiger Behinderungen am Regelunterricht nicht teilnehmen konnten. Noch vor 100
Jahren galten zum Beispiel Gehörlose, damals Taubstumme genannt, als verblödet
und nicht unterrichtbar. Mit der Entwicklung der Sonderpädagogik nahm man sich
der Bildung dieser Menschen an. Heute wird, nachdem bei einem Kind eine
Gehörlosigkeit festgestellt wird, sofort ein Katalog von pädagogischen,
sonderpädagogischen und medizinischen Massnahmen eingeleitet. Eine
interdisziplinäre Zusammenarbeit von Fachleuten wie Audiopädagogen, Ärzten,
Akustikern, Lehrpersonen und Therapeuten ist in der Zwischenzeit eine
Selbstverständlichkeit. Entsprechend können diese Kinder die Lautsprache und die
Gebärdensprache erlernen und wenn sie wollen, auch Fremdsprachen. Sie können
Sonderschulen besuchen oder Integrationsschulen (Wertli, 2007). Die besonderen
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Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
Methoden
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Lernbedürfnisse gehörloser Kinder kann die Schule gewährleisten. Weshalb sollte
sie
nicht
die
Bildung
der
Kinder
mit
Aufmerksamkeitsdefiziten,
Konzentrationsschwierigkeiten und Hyperaktivität gewährleisten können?
Eine wichtige Voraussetzung ist, eine eigene Perspektive einzunehmen. Diese
fachspezifische Sichtweise trägt zur Entwicklung erziehungswissenschaftlicher
pädagogischer Erklärungsmodelle für unkonzentrierte, hyperaktive Kinder bei.
Daraus wiederum resultieren Bildungs- und Förderkonzepte für die Erziehung und
Bildung.
5.1.
Pädagogische Perspektive
Die Volksschule hat den Auftrag, jedem Kind ein bestimmtes Bildungsangebot zur
Verfügung zu stellen. In der einen Institution Schule werden demnach alle Kinder in
ihrer ganzen Vielfalt unterrichtet. Das ist eine moderne und relativ neue Erscheinung.
Zu keiner Zeit in der Geschichte mussten alle Kinder, ungeachtet ihrer Herkunft,
Religion, sozialer Schicht und Geschlecht eine vereinheitlichte Institution wie die
Schule besuchen. Für die Schule bedeutet das, dass sie einerseits Schüler mit
unterschiedlichen Charaktereigenschaften, Eigentümlichkeiten, Temperamenten,
Krankheiten, Lerntypen und vielen anderen Unterschieden unterrichten muss.
Andererseits ist sie verschiedenen Zeitströmungen unterworfen. Vor diesem
Hintergrund muss sie einen Weg finden, auch diesen impulsgesteuerten,
unerschrockenen und unzimperlichen Typus Mensch, der voller Ungeduld ist und
sich nur schwer konzentrieren kann, den so genannten ADS-Typus, zu unterrichten.
Man könnte sich fragen, ob man bei einer doch beachtlichen Anzahl Betroffener
überhaupt von abweichender Norm sprechen kann. Gab es diesen Typus Mensch
nicht immer schon? Wenn man Geschichtsbücher liest, könnte man meinen, sie
seien voll davon. Sie zogen unerschrocken in den Krieg, schritten unzimperlich
neuen gefährlichen Abenteuern entgegen, entdeckten neue Kontinente und waren
hoch angesehene Wissenschaftler und Erfinder. Wenn man die Biographie von
Einstein liest, wird man den Verdacht nicht los, es handle sich um einen ADSBetroffenen. Ebenso bei den Biografien über die französische Königin MarieAntoinette oder Columbus. Hätten sich solche Menschen unauffällig in die
Volksschule eingefügt?
Eine Pathologisierung dieser Menschen erscheint so gesehen wenig nützlich für den
pädagogischen Kontext der Volksschule und auch irrelevant, da alle Kinder die
Schule besuchen müssen. In Anbetracht dieser Tatsachen müssten vielmehr
pädagogische Konzepte entwickelt werden, die die Kinder so wie sie sind, geprägt
vom Zeitgeist, ihrem kulturellen Umfeld, ihrem Gesundheitszustand und ihren
Charaktereigenschaften, erfassen. Eine Volksschule, deren oberstes Prinzip gleiche
Bildungschancen für alle ist, kann nicht an einem Bildungskonzept festhalten, das
15% der Kinder aus der Regelschule ausschliesst (laut DSM lV gibt es in der
Bevölkerung 15% ADS-Betroffener). Die hohe Anzahl spricht auch dagegen, dass
man lediglich die Kinder behandelt, um ihre Bildung zu gewährleisten. Die Erziehung
und Wissensvermittlung muss sich, um funktionieren zu können, ihrerseits an ihren
Adressaten orientieren. Dazu erörtere ich im Folgenden wie und was Kinder in der
Schule lernen. Ich versuche dabei Lern- und Förderkonzepte aufzuzeigen, die
möglichst alle Kinder in ihrer Vielfalt erfassen.
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Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
Methoden
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5.2.
Das Lernen in der Schule
Die fördernde Wirkung der Schule auf die Entwicklung von Kindern besteht nicht
allein aus der Wissensvermehrung. Die Schule ordnet Wissen und
Umwelterfahrungen neu. Lernen findet kontextgebunden statt. Einerseits vermittelt
die Lehrperson alters angemessene Schulinhalte. Durch repetitives Üben wird das
Gelernte gespeichert. Die versierte Anwendung von Wissen nimmt mit der Übung
und somit mit der Routine zu. Die Kinder lernen von der Lehrperson und von
einander durch Nachahmung, also durch Modelllernen. Die Entwicklung sozialer
Kompetenz bildet eine wichtige Basis für das Lernen und die Integration. Die
Interaktion mit Gleichaltrigen fördert das prosoziale Verhalten. Auf diese Weise
entwickeln sich Freundschaften, der Umgang mit Akzeptanz und Ablehnung wird
gelernt und das Regelverhalten wird geübt. Dies sind wichtige Voraussetzungen für
das Konzentrationsvermögen (Oerter-Montada, 2002, S. 240ff). Diese Prinzipien
gelten für alle Kinder gleichermassen. Werning et al. meinen dazu, dass die
Erfahrungen des gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne
Lernschwierigkeiten zeigt, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten nicht unbedingt eine
„Sonder-Didaktik“ brauchen, sondern vielmehr besonders guten „Normalunterricht“
(Werning et al., 2002, S. 169). Diese Perspektive scheint für ein integratives Konzept
von zentraler Bedeutung zu sein. Ob im Unterricht ein Bildungsangebot flexibel und
individuell angepasst gestaltet werden kann, hängt auch von der Versiertheit der
Lehrpersonen punkto Multitasking ab.
Auf die Problematik unaufmerksamer, unkonzentrierter und hyperaktiver Kinder
übertragen bedeutet das, dass Schulen im Allgemeinen und der Unterricht im
Besonderen systematisch mit gezielten
Massnahmen alle Schüler darin
unterstützen, ihre Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen, Ruhe zu finden für das
Lernen, ihre Konzentrationsfähigkeit zu erhöhen und einen prosozialen Umgang mit
Gleichaltrigen und Erwachsenen zu üben.
Als ein Beispiel erwähne ich das von Ellneby beschriebene pädagogische Konzept,
welches zur Beruhigung und Stressbewältigung in der Schule beitragen soll. Mit
gezieltem
Einsatz
von
Entspannungsverfahren,
Reizabschirmung
und
architektonischen Veränderungen soll den Schulkindern eine Atmosphäre der Ruhe
und Konzentration ermöglicht werden. Möglichen Stressfaktoren wie dem raschen
Tempo unserer Zeit, Scheidung, Lärm und TV-Konsum soll damit entgegengewirkt
werden. Für sie ist es selbstverständlich, dass Erziehungspersonen wie
Lehrpersonen, Eltern und andere Erzieher, den Kindern helfen sollen, mit
Schwierigkeiten, die sie am Lernen hindern, umzugehen. Ein solcher Ansatz kann
gute Voraussetzungen für die Konzentrationsfähigkeit und das prosoziale Verhalten
von Schulkindern schaffen (vgl. Ellneby, 2001).
6. Was kann die Sonderpädagogik tun?
6.1.
Integration, Förderung und Multitasking
Bei solchen integrativen Konzepten kann die Sonderpädagogik eine
Schlüsselstellung einnehmen. Die Sonderpädagoginnen und –pädagogen würden in
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Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
Methoden
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ihrer Rolle die Klassenlehrperson darin unterstützen, Kinder mit besonderen
Bedürfnissen in die Regelschule integriert zu unterrichten. Sie würden dazu
beitragen, dass mit Multitasking verschiedene Lernniveaus, Lernschwierigkeiten und
Besonderheiten der Kinder berücksichtigt werden können. Gleichzeitig stärken sie
die Ressourcen der Kinder und fördern sie gezielt und vor Ort, so dass das Gelernte
sogleich umgesetzt werden kann. Köbberling und Schley beschreiben in ihrer
Untersuchung die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Pädagogik,
Sonderpädagogik, resp. Heilpädagogik und Sozialpädagogik.
„Eine Schlüsselstellung zur Bewältigung der Komplexität der heterogenen Lerngruppe
nimmt das multiprofessionelle Pädagogenteam ein. [...] Sie bringen ihre
unterschiedlichen Kompetenzen und Sichtweisen ein, gestalten und steuern die
Prozesse in abgestimmter Aufgabenteilung und –ergänzung, reflektieren und
bewerten Erfahrungen und Ergebnisse aufeinander Bezug nehmend aus
unterschiedlicher Perspektiven heraus (Köbberling/ Schley, 2000, S. 227).“
So kann die Sonderpädagogik eine Vielzahl von weiteren Aufgaben in einer Klasse
übernehmen, beispielsweise Förderpläne erstellen, den Fachaustausch mit der
Lehrperson gestalten, Beobachtungen der Entwicklung und des Lernens der Kinder
in der Klasse, fördern des prosozialen Verhaltens, fördern der Konzentration und
Optimierung der Lernumgebung für Kinder mit Lernschwierigkeiten oder mit
Behinderungen.
6.2.
Pädagogische
Postmoderne
Methoden
und
Verfahren
für
die
Schule
der
Die folgenden Beispiele sollen einen Einblick in einige mögliche pädagogische und
sonderpädagogische Verfahren zur Integration und der gezielten Förderung des
postmodernen Kindes gewähren.
Stressbewältigung durch Entspannungsverfahren:
Stress scheint im Leben des modernen Kindes alltäglich zu sein. Unter Stress leidet
die Konzentrationsfähigkeit. Die Ursachen und Erklärungen für Stress bei Kindern
sind vielfältig; Leistungsdruck, Streit mit anderen Kindern, familiäre Veränderungen
wie Scheidungen, Geburt von Geschwisterkindern, intensiver TV-Konsum, zu wenig
Anregung, überfüllte Terminkalender, hoher Lärmpegel in Kinderkrippen, wenn das
Kind sich nicht auf seine Sinne verlassen kann, nicht verstanden werden und nicht
verstehen. Während Erwachsene bei Stress diverse Variationen des Abschaltens
kennen, wie zum Beispiel Golf spielen, wandern, ins Theater gehen u.s.w., fehlt den
Kindern häufig ein entsprechendes Repertoire. Kinder, betont Ellneby, müssen dabei
angeleitet werden, sich zu entspannen, zu regenerieren und Kraft zu schöpfen
(Ellneby, 2001, S. 35–65).
In der Schule können verschiedene Entspannungsverfahren, Übungen zur
Stresstoleranzerhöhung
und
Rückzugsmöglichkeiten
eingesetzt
werden.
Sonderpädagogen können in diesem Bereich wertvolle Inputs liefern. Sie
sensibilisieren Lehrpersonen, Eltern und andere Bezugspersonen auf die
Problematik und unterstützen sie darin, Methoden und Instrumente einzusetzen, die
dem Stress der Kinder entgegenwirken.
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Sonderpädagogische Fördermassnahmen bei ADS
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Wichtige Faktoren beim Stressabbau sind das Spielen und die Bewegung. Auch
Schulkinder sollten Verhalten spielerisch einüben können, um später im Ernstfall
routiniert und ohne allzu grossen Stress auf Herausforderungen reagieren zu
können. Durch einen gezielten Einsatz von Spielen können unterschiedliche positive
Effekte auf den Stressabbau, die Konzentration, die Kreativität, die Bewegung, das
Regelverhalten,
die
Sinneswahrnehmungen
und
eine
Stärkung
des
Selbstwertgefühls erzielt werden.
Enja Riegel, die Direktorin der Schule in Deutschland, die beim PISA-Test mit
Abstand am besten abgeschnitten hatte, beschreibt den Zweck eines Ruheraums an
der Schule. Die heutigen Kinder würden Stille oder das Ausbleiben von interessanten
Ablenkungen als quälend empfinden. Stille und Ruhe als erholsam und wohltuend zu
empfinden, müssen die Kinder der Moderne lernen. Erst dann können sie Ruhe und
Entspannung als Quelle von Kreativität und Kraft erleben (vgl. Riegel, 2004, S. 43).
Prosoziales Verhalten üben:
Empathie, Selbständigkeit und das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten werden
gestärkt. Dabei kommt der Anregung und Entwicklung des kindlichen Gefühlslebens
eine besondere Bedeutung zu. Gefühle zu erkennen, zu benennen, zu diskriminieren
und zu verstehen, ist die Basis, auf welcher prosoziales Verhalten aufbaut (Ellneby,
2001, S. 130). Streitschlichtungsprogramme, die über einen längeren Zeitraum
systematisch durchgeführt werden, können diese Themen nachhaltig aufgreifen und
zu einem Klassenklima beitragen, in dem Integration und erfolgreiche
Zusammenarbeit bestehen (vgl. Tönnissen, 2004, S. 6).
Konzentrationsspanne erhöhen:
Sonderpädagogen können mit Kindern gezielt trainieren, ihre Konzentrationsspanne
zu erhöhen. Dabei werden die Selbst- und Aufmerksamkeitssteuerung und das
selbständige Arbeiten gefördert. Die Kinder üben planvoll und systematisch
vorzugehen, und sie lernen den richtigen Umgang mit Fehlern, das selbständige
Überprüfen der Aufgabe und die Korrektur allfälliger Fehler. Solche Übungen können
während des Unterrichts von Sonderpädagoginnen mit Einzelnen oder mit einer
Gruppe von Kindern mit Konzentrationsschwierigkeiten durchgeführt werden (vgl.
Krowatschek, 2004, S. 15).
Die Wahrnehmung verbessern:
Miriam und Rainer Dürre rücken im Zusammenhang mit Lernschwierigkeiten
aufgrund von ADS, Diskalkulie, Dislexie und Legasthenie die Wahrnehmungsstörung
in den Vordergrund. In ihrem Buch stellen sie diverse Spiele und Materialien vor, mit
welchen Kinder im pädagogischen Kontext der Schule oder zu Hause spielerisch
dabei gefördert werden können, ihre Wahrnehmung zu verbessern.
7.
Fazit
In Anbetracht der hohen Anzahl Kinder, die zunehmend Verhaltens- und
Lernschwierigkeiten in der Schule zeigen, sollten die Erziehungswissenschaften und
die Pädagogik dieses Phänomen aufgreifen und zu ihrem Thema machen. Es gilt,
neue schulische Konzepte für einen angemessenen Unterricht dieser Kinder zu
entwickeln. Ausserdem sollte sich die Sonderpädagogik zur Aufgabe machen, die
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Schule und Pädagogen darin zu unterstützen, diese Kinder in die Regelschule zu
integrieren und ihnen damit eine ihrer Intelligenz entsprechende Bildung zu
ermöglichen. Anstatt dieses Thema anderen Disziplinen zu überlassen, die keine
Lösung für die Schule bringen, sollte der interdisziplinäre Dialog zu anderen
Fachrichtungen wie Medizin, Soziologie, Psychologie und Sozialpädagogik gesucht
werden. Dieser Dialog wird eine interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern zum
Wohle der betroffenen Kinder.
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