KOMMUNIKATION- UND SPRACHWISSENSCHAFTEN SITZUNG 7 Carolin Demuth SFU Berlin WS2016/17 23. JANUAR 2017 SEMINAR ÜBERSICHT Datum Zeit Thema Literatur Deutsche Ersatztexte 07.11. 9-13h Einführung Edwards (2005) Demuth (2013) Potter (2001b) Potter (2001a) Demuth (2011) 21.11. 9-13h Dialogische Natur von Sprache und Kultur Slunecko & Hengl (2007) Linell (2006) Bertau (2005) 22.11. 9-13h Multimodalitaet von Kommunikation Goodwinn (2012) Cekaite (2013) Streeck & Streeck (2002) 05.12. 9-13h Narrative Psychologie I Bamberg (2011a) Bamberg (2011b) Freeman (2011) Schachter (2011) Bamberg (1999) Lätsch & Bamberg (2013) Lucius-Hoene & Deppermann (2004) 09.12. 9-13h Narrative Psychologie II Brockmeier (2012) Miller, Sandel, Liang & Fung (2001) Brockmeier (2003) Brockmeier (2006) 12.12. 9-15h (!) Sprachsozialisation Fasulo, Loyd, & Padiglione (2007) Ochs & Schieffelin (2011) Ochs,Pontecorvo & Fasulo (1996) 23.01. 9-15h (!) Beispiel aus der angewandten Psychologie: Agoraphobie Capps & Ochs (1997), Kapitel 1-5 30.01. 9-15h (!) Beispiel aus der angewandten Psychologie: Agoraphobie Capps & Ochs (1997), Kapitel 6-10 ZIEL DER HEUTIGEN SITZUNG Am Ende der Sitzung sollten Sie ein Verständis davon haben ! Wie Selbst-Erzählungen von Betroffenen uns helfen können, psychische Störungen besser zu verstehen ! Durch welche grammatischen Mittel bestimmte Versionen von Erlebtem konstruiert werden, insbesondere am Beispiel von Agoraphobie ABLAUF ! Einführung ! Kleingruppenarbeit zu den jeweiligen Kapiteln mit anschließender Diskussion Im Plenum ! Mittagspause ! Kleingruppenarbeit zu den jeweiligen Kapiteln mit anschließender Diskussion Im Plenum ! Online-Evaluation der Lehrveranstaltung AGORAPHOBIE – DEFINITION (DSM-V) ! Agoraphobie (altgriechisch ἀγορά agorá ‚Marktplatz' und φόβος phóbos ‚Furcht'), AGORAPHOBIE – DEFINITION (DSM-V) A. Angst, an Or ten zu sein, von denen eine Flucht schwierig oder peinlich sein könnte oder wo im Falle eines uner war teten oder durch die Situation begünstigten Panikanfalls oder panikar tiger Symptome Hilfe nicht erreichbar sein könnte. A goraphobische Ängste beziehen sich typischer weise auf charakteristische Muster von Situationen: z. B. allein außer Haus sein, Menschenmenge, Schlange stehen, Brücke, Reisen im Bus, Zug, Auto. B. C. Die Situationen werden vermieden oder sie werden nur mit deutlichem Unbehagen oder mit Angst vor dem Auf treten eines Panikanfalls oder panikähnlicher Symptome durchgestanden bzw. können nur in Begleitung aufgesucht werden. Die Angst oder das phobische Vermeidungsverhalten werden nicht besser durch eine andere psychische Störung erklär t. PANIKSTÖRUNG - DEFINITION (DSM-V) ! Die Panikstörung, auch Episodisch paroxysmale Angst genannt, ist durch wiederkehrende Panikattacken gekennzeichnet. Die Panikattacken können völlig unvorhersehbar auftreten. Es kann aber auch vorkommen, dass bestimmte Situationen wie z.B. Menschenmengen oder Reisen ohne Begleitung zur Auslösung der Panikattacke führen. ! Zu den wichtigsten Symptomen der Panikattacken gehören plötzlich auftretendes Herzklopfen, Brustschmerz, Erstickungsgefühle, Schwindel und Entfremdungsgefühle (Depersonalisation oder Derealisation). Diese körperlichen Symptome führen häufig noch zu einer deutlichen Verstärkung der Angst. Viele Betroffene leiden sekundär auch unter der Angst vor Kontrollverlust, Furcht zu sterben oder der Befürchtung, “wahnsinnig” zu werden. AGORAPHOBIE – DEFINITION (ICD-10) F40.0 A goraphobie ! Eine relativ gut definier te Gruppe von Phobien, mit Befürchtungen, das Haus zu verlassen, Geschäf te zu betreten, in Menschenmengen und auf öf fentlichen Plätzen zu sein, alleine mit Bahn, Bus oder Flugzeug zu reisen. Eine Panikstörung kommt als häufiges Merkmal bei gegenwär tigen oder zurückliegenden Episoden vor. Depressive und zwanghaf te Symptome sowie soziale Phobien sind als zusätzliche Merkmale gleichfalls häufig vorhanden. Die Vermeidung der phobischen Situation steht of t im Vordergrund, und einige A goraphobiker erleben nur wenig Angst, da sie die phobischen Situationen meiden können. PANIKSTÖRUNG - (ICD-10) F41 .0 Panikstörung [episodisch paroxysmale Angst] ! D a s wesentliche Kennzeichen sind wiederkehrende schwere Angstattacken (Panik), die sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände beschränken und deshalb auch nicht vorher sehbar sind. Wie bei anderen Angsterkrankungen zählen zu den wesentlichen Symptomen plötzlich auf tretendes Herzklopfen, Brustschmerz, Er stickungsgefühle, Schwindel und Entfremdungsgefühle (Deper sonalisation oder Derealisation). Of t entsteht sekundär auch die Furcht zu sterben, vor Kontrollverlust oder die Angst, wahnsinnig zu werden. Die Panikstörung soll nicht als Hauptdiagnose ver wendet werden, wenn der Betrof fene bei Beginn der Panikattacken an einer depressiven Störung leidet. Unter diesen Umständen sind die Panikattacken wahr scheinlich sekundäre Folge der Depression. AGORAPHIBIE-TEST https://www.palverlag.de/Angst-Test-Agoraphobie.html https://www.palverlag.de/Angst-Test-Agoraphobie.html https://www.palverlag.de/Angst-Test-Agoraphobie.html GRUPPENARBEIT 1 – 60 MIN. KAPITEL 1: THE AGONY OF AGORAPHOBIA ! Auslöser ! oft belastende Lebensereignisse, v.a. Verlust/Trennung von engen Bezugspersonen ! Erklärungsmodelle: ! Genetische Veranlagung " alleine nicht ausreichend ! Kognitive Stile: z.B. Misinterpretation von physiologischen Stimuli, Selektive Aufmerksamkeit (negative Ereignisse), Erlernte Hilflosigkeit " Erklärt nicht die Entstehung KAPITEL 1: THE AGONY OF AGORAPHOBIA ! Rolle interpersonaler Konflikte? ! Fallstudien: Partnershaftskonflikte, Trennungsangst, Agoraphobie als Legitimation, in der Beziehung zu bleiben ! Sozialisation von Agoraphobie? ! Korrelationsstudien deuten darauf hin, dass Agoraphobie sozialisiert wird, aber sagen nichts darüber aus, wie. KAPITEL 1: THE AGONY OF AGORAPHOBIA ! Sprachsozialisation: ”Children come to adopt certain world views and ways of acting in the world not only by being told how to think, how to act, and what things mean; more pervasively they become socialized indirectly by simply attending to how persons around them are representing and constructing their world through language” ! Narrationen: “Speakers use narrative structure to make sense out of their experiences” KAPITEL 1: THE AGONY OF AGORAPHOBIA ! Ursprüngliche Studie von Lisa Capps zu möglichen Anpassungsschwierigkeiten von Kindern agoraphober Eltern ! Die Logan Family: ! Meg (34), seit 2 Jahren in Psychotherapie ! Ehemann William ! Sohn Sean (6) ! Tochter Beth KAPITEL 1: THE AGONY OF AGORAPHOBIA ! Meg’s Fall zeigt, dass sie eine bestimmte (konfligierende) Weltsicht hat, die ihr selbst aber nicht bewusst ist ! wird von DSM5 nicht erfasst ! Psychotherapie arbeitet meist mit “offiziell” dargelgter Version KAPITEL 2 : IN HER OWN WORDS ! “ I will tell you something about stories, the aren’t just entertainment. Don’t be fooled. They are all we have, you see. They are who we are, and all we have to fight off ilnness and death” (Leslie Marmon Silko in Ceremony) ! “ Narrative is radical, creating us at the very moment it is being created” (Toni Morrison) KAPITEL 2: IN HER OWN WORDS ! Was ist mit einem ”proteanischem Selbst” gemeint? ! “We continually restructure ourselves, feeding and maintaining evolving combinations in ways that ultimately permit a certain continuity: a form of life that is not in one-way, linear motion but, despite surprising jolts and changes of direction, composes a pattern” ! “What ‘actually happened’ in some past event in our life is inextricably tied to the experience of the event. And this meaning we ascribe – that is, to our experience of the event. And this meaning changes as we continually respond to the blending of external and internal forces that make up our ongoing experience – as we revise and reshape the story of our lives” KAPITEL 2: IN HER OWN WORDS ! Warum sind Selbst-Narrationen so zentral für unser psychisches Erleben? KAPITEL 2: IN HER OWN WORDS ! Inwiefern kann eine Plotstruktur einer Erzählung Aufschluss über eine psychische Störung geben? KAPITEL 2: IN HER OWN WORDS ! Was sind die 2 verschiedenen Plotstrukturen in Meg’s Selbst-Erzählungen? 1. Panik als irrationale Reaktion darauf, an einem bestimmten Ort zu sein 2. Unfähigkeit, Vorbehalte auszudrücken, an einer best. Aktivität teilzunehmen " Anpassung " Panik ZUGZWÄNGE IN NARRATIONEN (SCHÜTZE, 1984) ! Gestalltschließungszwang ! Detaillierungszwang ! Kondensierungszwang " „Zwänge des Erzählens“ führen dazu, dass der Interviewte in einem Erzählfluss mehr erzählt oder mehr preis gibt, als er zunächst bereit gewesen war (Rosenthal 2005). CAPPS & OCHS (1997) ! Nutzen für die Psychotherapie ! nicht nur WAS erzählt wird, sondern WIE ! Fokus auf linguistische Mittel (‚what is being done with language‘) ! Gibt Einsicht in die Weltsicht der Person ! St ö rungsbild (z.B. Agoraphobie) wird durch wiederholtes Re-konstruieren m ö glicher Situationen aufrecht erhalten KAPITEL 3: TELLING PANIC ! Analyse von Narrationen, in denen Meg Ängste thematisiert ! Was sind grammatikalische Konstruktionen? ! Wie tragen Ko- Autoren zur Konstruktion des Plots bei? ! Welche Beziehungen werden zwischen den Personen hergestellt? ! Detaillierte Transkription (Pausen, Repairs, Überlappungen, Intonation etc.) KINDHEIT ! The “Water Story” “And I remember just gulping water and panicking, and feeling like a chicken then because I didn’t want to go in the deep end.” ! The “Train Story” ERSTE PANIKATTACKEN ! “30 t h Birthday Story” ! Panik als etwas, was plötzlich über sie kommt, als sie nach dem Abendessen auf dem Sofa liest. ! Ski- Ausflug ! Angst, dass etwas passieren könnte, und es keine Hilfe 5 JAHRE SPÄTER – 2. SCHWANGERSCHAFT ! “Taco Story” “I’m so damn mad I could just – storm out of here in the car. But – I can’t leave. I’m nine months preg – almost nine months pregnant. Ican’t (.4) If I wanted to leave I couldn’t” ! “Vision Story” ! “Pregnancy Story” ! Bringt Thematik durch hypothetische Geschichte in die Gegenwart ! Konstruiert was sie damals bewältigt hat, nicht als Leistung/ Kompetenz, sondern als Vorreiter von voll-entwickelter Agoraphobie, sich selbst als bald inkompetent werdend ! Als etwas was sie heute nicht mehr bewältigen könnte 2 JAHRE SPAETER ! “Niagara Falls story” ! Entwickelt Angst vor Aufzügen ! “Piaf’s Café story” ! Panikattacke als sie Freunde nach Mittagessen zur Kirche fährt 1 ½ WOCHEN SPÄTER: “BIG MAMA STORY” ! Im Stau auf der Autobahn ! Schlimmsten Symptome bislang ! Wendepunkt: von nun an Vermeidung von best. Orten, „Sicherheitszone“ wird nicht mehr verlassen ! „Graduation story“, „Dutiful daughter story“ ! Schuldgefühle ! Frustration über Unverständnis der anderen MUTTER-TOCHTER ERZÄHLUNGEN ! “Mall story” ! “Sarah the soprano story” ABENDESSEN INTERAKTIONEN ! “Pit bull stories” ! #1: Besuch Schwiegervater ! #2: Werbeplakat, Vorschlag, sich einen Pit bull als Haustier anzuschaffen ! #3: Schwiegermutter des Nachbarn schließt sich im Garten aus ! " löst jeweils Angst in der Gegenwart aus ! „Interrogation story“ ! „Bullet-proof windows story“ NARRATIVE STRUKTUR ! Sich zuspitzendes problematisches Ereignis löst ! Psychische Reaktion aus, inkl. Panik, sowie ! Eine Reihe von Versuchen, aus der Situation herauszukommen, meist mit einer Äußerung, die dieses Ziel deutich macht " Recasting ! Implizite Theorie: Panik als irrationale Reaktion auf bestimmte Situationen " g ebunden an Örtlichkeiten " U nerklärbar " F ür sie, aber nicht für andere problematisch " S ie selbst als irrational und abnormal DIE PANIKSPIRALE problematisches Ereignis (z.B. Stau auf Autobahn) " führt zu psychischer Reaktion (erhoehte Aufmerksamkeit) " wird zu problematischem Ereignis " führt zu psychischer Reaktion (Panik) " wird zu problematischem Ereignis " führt zu Versuch, problematisches Ereignis in den Griff zu bekommen (Kommunikation) " wird zu problematischem Ereignis " führt zu Versuch, problematisches Ereignis in den Griff zu bekommen (Ablenkung) NARRATIVE STRUKTUR ! Etwas wird vorausschauend als problematisch konstruiert ! Z.B. zögern, etwas zu tun ! Wiederkehrendes Kommunikations-dilemma: ! Vorbehalte gegenüber einer vorgeschlagenen Aktivität ! Wird aber nicht kommuniziert ! Nimmt daran Teil ! " Panik ! Implizite Theorie: Panik als Folge von Kommunikationsproblem GRUPPENARBEIT 2 – 60 MIN. ! Im Anschluss stellt jede Gruppe ihre Ergebnisse vor! KAPITEL 4: A GRAMMAR OF PANIC ! Meg’s Selbstdarstellung: ! Abnormal ! Hilflos ! Kontrollverlust GRAMMAR OF ABNORMALIT Y ! Reason Adverbs and Adverbials: ! ”unaccountably”, ”all of a sudden”, ”out of the blue” "unnormal, jenseits ihrer Kontrolle ! Mentale Verben: ! ”think”, ”realize, ”become aware”: Dialog mit sich selbst, Erhoehte Selbstwahrnehmung ! Praesenz " Aufrechterhaltung ! Futur " Dramatisierung ! “Freie direkte Rede” ! Verlaufsform, “would” " wiederkehrendes oder andauernde(s) Reflektieren ! Or ts- Adverbien: ! “here”, “here I am” " nur in Geschichten über Panikattacken; nur in Verbindung mit negativen Erfahrung) GRAMMAR OF HELPLESSNESS ! Selbst nicht als Agent oder Handelnder ! Non-agentive roles (role of experiencer or affected object) ! Verminderte Agentizität ! Modalverben: Handlung aus Notwendigkeit, nicht aus eigenem Willen ! Hypothetische Vergangensheitskonstruktionen („If I wanted to leave...“) ! „ich versuchte“ " impliziert Versagen ! Negationen (“Ich konnte nicht…”) ! Intensifier (Kontext: Angst, Verletzlichkeit), Deintensifier (Kontext: Copingfähigkeit) ! Betonung KAPITEL 5: ACCOMODATION AS A SOURCE OF PANIC ! Analyse der Settings einer Geschichte ! Kommunikaitonsdilemma (Anpassung gegen ihren Willen) als implizite Hintergrundtheorie Meg’s Geschichten ! Sie verbindet dies aber nicht direkt mit ihren Panikattacken, sondern verfällt in das Masternarrative “Irrationale Reaktion” GRAMMATIK DES KOMMUNIKATIVEN DILEMMAS 1. “Lass uns xy machen” (“Let’s…”) " “Co-membership”, Imperativ ! Gemeinsame Unternehmung (“us”) ! Von nahestehenden Bezugspersonen gewünscht ! “übergestülpt” (Imperativ “Let”) 2. Meg hat Vorbehalte, aber kommuniziert sie nicht Beschreibt dem Zuhörer, wie sie sich fühlt, nennt Gründe für Vorbehalt 3. Meg passt sich an und nimmt an der Aktivität teil " Agoraphobie als beziehungsbasierte Störung: Unzufrieden aber unfähig, zu entkommen GRAMMATIK DES KOMMUNIKATIVEN DILEMMAS ! Vgl. Merkmale die oft mit Agoraphobie in Verbindung gebracht werden: ! Beziehungsstörung ! Unzufriedenheit mit Beziehung ! Unfähigkeit, zu entfliehen ZUSAMMENFASSUNG ! Master Narrative 1: ! Panik als irrationale Antwort auf unmittelbare Situation " verbindet Panik mit Ort ! Master Narrative 2: ! Meg geht trotz Vorbehalte eine Aktivitaet ein " Anpassung/ ungewolltes Einlassen als Auslöser ! DA: ermöglicht “verborgene Strukturen” einer Erzählung herauszuarbeiten, die der Betroffenen nicht bewusst sind