Neue Lehr- und Lernformen

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Neue Lehr- und Lernformen
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Neue Lehr- und Lernformen
Lernen zwischen Instruktion und Konstruktion1
Dr. Bardo Herzig
Universität Paderborn
Die Aufgabe der Schule wird zum einen als Bildungs-, zum anderen als Erziehungsaufgabe
verstanden und entsprechend als Auftrag formuliert. Dabei wird dem Bereich der Bildung
häufig der theoretische Vernunftgebrauch, der Kenntniserwerb, das Wissen oder das Erkennen
von Sachstrukturen und Zusammenhängen, dem Bereich der Erziehung der praktische
Vernunftgebrauch, das verantwortliche Handeln und Urteilen, die Ausbildung von
Einstellungen und Werthaltungen oder das Streben nach Wahrhaftigkeit zugeschrieben.
Diese eher analytische Trennung von Bildung und Erziehung läßt sich mit Bezug auf die zu
erziehende und zu bildende Persönlichkeit des Heranwachsenden nicht streng fortsetzen und
durchhalten. Erziehung und Bildung sind sich gegenseitig bedingende und ergänzende Prozesse
unter der Zielsetzung, Kinder und Jugendliche auf die handelnde Bewältigung und Gestaltung
lebens- und alltagsbedeutsamer Aufgabenstellungen in der Gesellschaft vorzubereiten.
Als übergreifende Zielvorstellungen werden in der Bildungsdiskussion – mit unterschiedlicher
Gewichtung und Nuancierung – u.a. die Befähigung zu bzw. Vermittlung von
- grundlegenden fachlichen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten (u.a. in den
Kulturtechniken),
- Demokratiefähigkeit,
- sozialer Verantwortung,
- ethischer Urteils- und Orientierungsfähigkeit,
- Mündigkeit,
- Autonomie und
- Kreativität
genannt.
Es herrscht weitgehend Konsens darüber, daß diese Zielvorstellungen durch Lernen erreicht
werden sollen. Die wenig einheitliche Verwendung des Begriffes Lernen und die damit
korrespondierenden unterschiedlichen Vorstellungen vom Lernen gestatten es, dies
umgangssprachlich zunächst so zu formulieren. Allerdings differieren die Auffassungen vom
Lernen zum Teil erheblich – und davon bleibt auch die Gestaltung schulischer Lehr- und
Lernprozesse nicht unberührt. Die Frage, welche Auffassung vom Lernen denn angemessen ist,
liegt auf der Hand.
In diesem Beitrag sollen verschiedene Vorstellungen des Lernens und ihre impliziten Formen
des Lehrens skizziert werden. Aus der Analyse unterschiedlicher lernpsychologischer Ansätze
soll dann eine Vorstellung von Lernprozessen entwickelt werden, die der Eigentätigkeit und
Eigenverantwortung des Lernenden besonderen Stellenwert zumißt. Damit verbunden ist
insbesondere auch die Frage, wie Lernprozesse in angemessener Weise durch Medien angeregt
und unterstützt werden können.
Im einzelnen werden dazu Vorstellungen vom Lernen
als Veränderung von Verhaltensweisen,
1
Der vorliegende Aufsatz ist die schriftliche Fassung eines Vortrages zur Eröffnung des Modellversuchs
SelMa (Selbstlernen in der gymnasialen Oberstufe – Mathematik) am Landesinstitut für Schule und
Weiterbildung in Soest am 10.03.99.
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als Lernen durh Beobachtung,
als Informationsverarbeitung und als
aktive individuelle Konstruktion von Wissen
als Stationen auf dem Weg zu einer Vorstellung
eigenverantwortetem Lernen thematisiert.
1.
von
selbstgesteuertem
und
Lernen als Veränderung von Verhaltensweisen – die behavioristische Position
Zur Beschreibung der Vorstellung vom Lernen als einer Veränderung von Verhaltensweisen
zunächst eine Situation aus dem Schulalltag:
Jens ist in der achten Klasse. Im Mathematikunterricht ist er in letzter Zeit häufiger vom Lehrer getadelt
worden: Jens ist unsicher und meldet sich nicht, wenn es z.B. darum geht, Ergebnisse während des
Unterrichts vorzustellen. Jens empfindet die Tadelungen des Lehrers als sehr unangenehm und fürchtet
sich davor. Nach einiger Zeit ist es so, daß Jens bereits dann unangenehme Gefühle hat, wenn er an den
Mathematikunterricht denkt oder wenn er seinen Mathematiklehrer sieht.
Wie ist das Verhalten des Schülers zu erklären? – In der behavioristischen Tradition der
Lernpsychologie wird Lernen als ein Vorgang aufgefaßt, der das Verhalten des Individuums
durch äußere Hinweisreize und Verstärkungen steuern und kontrollieren kann. Gegenstand der
Betrachtungen ist allein das beobachtbare Verhalten (vgl. z.B. Gage/ Berliner 1979, S. 79 ff.).
Alles das, was sich zwischen Reizen (als unabhängige Variable) und Reaktionen (als abhängige
Variable) im Organismus des Lernenden abspielt, wird als interner Prozeß einer black box
zugeschrieben, die der Beobachtung nicht zugänglich ist. Phänomene wie Bewußtsein,
seelisch-emotionales Befinden usw. spielen keine Rolle (nur ihre Operationalisierungen in Form
beobachtbaren Verhaltens wie z.B. Furchtreaktionen). Dementsprechend wurden auch viele
Experimente zunächst mit Tieren durchgeführt (vgl. z.B. die Experimente von Pawlow).
Die behavioristisch ausgerichteten Ansätze zur Erklärung des Lernens lassen sich grob in die
klassische Konditionierung (respondentes Lernen, Signallernen) und die operante
Konditionierung (instrumentelles Lernen) unterteilen.
Reize (Stimuli)
Reaktionen
Tadel (UCS)
(UCR) Angstreaktion
Lehrer (NS)
keine emotionale Reaktion
Konditionierung:
Lehrer (NS) tadelt (UCS)
(UCR) Angstreaktion
nachher:
Lehrer (CS)
(CR) Angstreaktion
vorher:
Legende :
NS = neutraler Reiz
UCS = unkonditionierter Reiz
UCR = unkonditionierte Reaktion
CS = konditionierter Reiz
CR = konditionierte Reaktion
Abbildung 1: Klassische Konditionierung/ respondentes Lernen
Die Reaktionen von Jens im genannten Beispiel lassen sich nach dem Modell des klassischen
Konditionierens wie folgt erklären (vgl. z.B. Mietzel 1998, S. 130 ff.):
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Anfänglich haben der Lehrer und der Mathematikunterricht für Jens die Funktion eines
neutralen Reizes (NS), mit dem keine auffälligen emotionalen Reaktionen verbunden sind. Auf
einen ernsten Tadel (unkonditionierter Stimulus UCS) reagiert Jens (reflexartig) mit Furcht und
Angstgefühlen (unkonditionierte Reaktion UCR). Das wiederholte Auftreten des Tadels in
Verbindung mit der fehlenden Mitarbeit im Unterricht führt schließlich dazu, daß bereits die
Anwesenheit des Lehrers oder der Gedanke an Mathematikunterricht (dann als konditionierter
Reiz CS) Angstgefühle auslöst (als konditionierte Reaktion CR). Vereinfacht läßt sich der
Vorgang der klassischen Konditionierung wie in Abbildung 1 darstellen.
Insbesondere Thorndike und Skinner erweiterten das Modell des klassischen Konditionierens
hin zum Modell des operanten Konditionierens (vgl. Skinner 1953). Die Grundannahme ist
dabei, daß bestimmte Verhaltensweisen in Abhängigkeit von ihren Konsequenzen ausgewählt
werden und die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Verhaltensweise damit zusammenhängt, ob
die Konsequenzen als angenehm oder als unangenehm empfunden werden. Das eingangs
genannte Beispiel könnte so geändert werden, daß Jens für seine Bereitschaft, eigene
Ergebnisse im Unterricht vorzustellen, gelobt wird und dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt,
daß er auch in Zukunft das erwünschte Verhalten (sich melden und Ergebnisse vorstellen)
zeigt. Wichtig ist, daß Jens nur dann gelobt wird (Verstärkung), wenn er sich meldet und der
Lehrer ihn auffordert, eine Aufgabe zu präsentieren (diskriminativer Reiz). D.h., der Lernende
muß wissen, welche Konsequenzen eine operante Verhaltensweise unter bestimmten
Bedingungen nach sich zieht (vgl. Abb. 2)2.
(S D ) Aufforderung zum Vortragen
von Aufgabenlösungen
(S +) Lob
(R) Melden ud Vorstellen
von Ergebnissen
verstärkt
Legende:
R = Reaktion
S D = diskriminativer Reiz
S + = positives Reizereignis
(R) Melden ud Vorstellen
von Ergebnissen
Abbildung 2: Operantes Konditionieren/ instrumentelles Lernen
2.
Lernen durch Beobachtung – die lerntheoretische Position
Während die Vertreter der behavioristischen Orientierung zwar nicht ausschließen, daß auch
kognitive Prozesse Verhaltensweisen begleiten, wohl aber daß diese auf das Verhalten einen
Einfluß ausüben, geht man in der sogenannten lerntheoretischen Position davon aus, daß auch
Lernprozesse stattfinden, die nicht unmittelbar im Verhalten zum Ausdruck kommen. Bandura
unterscheidet Lernen und Verhalten und definiert Lernen als den Erwerb symbolischer
Repräsentationen in sprachlicher oder bildhafter Form. Dazu ein Beispiel:
Bandura führte in den 60er Jahren u.a. ein Experiment folgender Art durch: Kindergartenkinder wurden
in drei Gruppen eingeteilt, denen jeweils ein Fernsehfilm gezeigt wurde. In dem Film lag einem
2
Strenggenommen müssen die verschiedenen Formen der Verstärkung (primäre Verstärker, sekundäre
Verstärker) und entsprechende Verstärkungspläne sowie die Auslöschung (Extinktion) unerwünschten
Verhaltens noch differenziert werden. Darauf soll an dieser Stelle der Einfachheit halber verzichtet werden
(vgl. z.B. Gage/ Berliner 1979, S. 79 ff.).
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4
Erwachsenen - Rocky genannt - eine große Puppe im Weg. Die Puppe wurde daraufhin von Rocky
geschlagen und beschimpft. In einer ersten Version des Films wurde Rocky dafür von einem zweiten
Erwachsenen gelobt, in einer zweiten Version für das Verhalten heftig getadelt und in einer dritten
Version geschah nichts weiteres. Als Ergebnis zeigte sich, daß die Kinder, die das belohnte aggressive
Verhalten beobachtet hatten, signifikant mehr aggressive Reaktionen zeigten als die Kinder in den
anderen Gruppen.
(Vgl. Bandura/ Ross/ Ross 1963.)
Bandura zog aus seinen Experimenten den Schluß, daß die Kinder aus der Beobachtung eines
Modells (z.B. Rocky) gelernt haben. Die Tatsache, daß aggressives Verhalten gegenüber der
Puppe gelobt wird, wirkt als Verstärkung, die das Modell originär und der Beobachter
stellvertretend erfährt. Im Gegensatz zum operanten Konditionieren hat die Verstärkung hier
allerdings eine andere Funktion. Sie informiert den Beobachter über den Wert oder die
Angemessenheit bestimmter Verhaltensweisen (vgl. Mietzel 1998, S. 163). In dem Beispiel
Banduras können die Kinder den Schluß gezogen haben, daß aggressives Verhalten erwünscht
ist, weil es belohnt wird (vgl. Abb. 3).
(R M ) Rocky beschimpft und
schlägt Puppe
(S M ) Lob
Beobachter
(R B) Beobachter zeigt
aggressives Verhalten
Legende:
M = Modell
B = Beobachter
Abbildung 3: Observationales Lernen
Beobachtungslernen führt nicht immer zu einer exakten Kopie des beobachteten Verhaltens.
Die Lernenden (Beobachter) entwickeln allgemeine Schemata oder auch kognitive Strategien,
die abstrakter sind als die beobachtete Situation (vgl. den o.g. allgemeinen Schluß).
Vor dem Hintergrund dieser lerntheoretischen Annahmen kann es im Unterricht beispielsweise
äußerst hilfreich sein, eine Divisionsaufgabe nicht nur still vorzurechnen, sondern den
Rechengang explizit zu verbalisieren, um ihn für Beobachter zugänglich zu machen und die
Möglichkeit zu eröffnen, als (erfolgreiches) Modell zu fungieren (vgl. Abb. 4). Die Beobachter
lernen dann im Sinne einer kognitiven Modellierung (vgl. Mietzel 1998, S. 165 f.). Ebenso
kann die sprachliche Repräsentation von Fehlern ein effektives Mittel sein, die Ausbildung
kognitiver Schemata oder Strategien zu erleichtern (zur Entwicklung einer „Fehlerkultur„ in
der Schule vgl. Oser/ Hascher 1997).
Beobachtetes Verhalten wird nach Bandura kognitiv repräsentiert (z.B. als Schema oder als
Stategie, vgl. Abschn. 4) und steht damit für zukünftiges Agieren zur Verfügung. Ob es auch
tatsächlich gezeigt wird, hängt von der Motivation des Lernenden in einer bestimmten
Situation ab.
Bandura unterscheidet neben der direkten Verstärkung eines Verhaltens, das bei der operanten
Konditionierung eine wichtige Rolle spielt, die stellvertretende und die Selbst-Verstärkung. Mit
der letztgenannten Verstärkungsart soll die Frage thematisiert werden, welche Bedeutung die
bisher genannten Formen des Lernens für die Selbststeuerung des Lernvorganges haben.
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Aufgabe
Verbalisierung des Lösungsvorganges
276 : 4 = ?
Ich beginne bei der Zahl 276 ganz links und gehe nach rechts, bis ich eine Zahl
gefunden habe, die gleich 4 oder größer ist.
Ist 2 größer als 4? Nein? Ist 27 größer als 4? Ja.
Also ist meine erste Division 27 geteilt durch 4.
Nun muß ich 4 mit einer Zahl multiplizieren, die entweder 27 oder etwas weniger
ergibt. Ich probiere 5: 5 x 4 = 20. Das ist zu wenig. Also probiere ich 6: 6 x 4 = 24.
Geht 7 auch noch? 7 x 4 = 28. Das ist zuviel. Also ist 6 richtig. ...
276 : 4 = 6
24
3
...
5
Abbildung 4: Sprachliche Repräsentation eines Lösungsvorganges (vgl. Mietzel 1998, S. 166)
3.
Zwischenbilanz: Selbststeuerung im behavioristischen und im lerntheoretischen
Ansatz
Die Frage der Selbsttätigkeit oder der Selbststeuerung des Lernenden spielt in der
behavioristisch orientierten Lerntheorie keine Rolle. Das Verhalten des Lernenden wird dort
als von den Umweltbedingungen abhängig betrachtet. Die Aufgabe des Lehrers besteht vor
allem darin, erwünschten Verhaltensweisen der Schüler positive Konsequenzen folgen zu
lassen und damit eine Annäherung an bestimmte Lernziele zu erreichen. Lernen wird durch
äußere Reizkonstellationen gesteuert, nicht durch den Lernenden selbst.
Anwendung finden solche Überlegungen z.B. im Bereich der neuen Medien in
Übungsprogrammen und einfachen Tutorials: Hier werden dem Lernenden verschiedene
Informationen und Aufgaben als Hinweisreize präsentiert, die ein bestimmtes Verhalten
nahelegen, das positiv verstärkt bzw. belohnt wird, wenn der Lernende dieses Verhalten zeigt
(vgl. z.B. Mandl/ Hron 1989, S. 660 ff.; Weidenmann 1993, S. 4 ff.; Baumgarten/ Payr 1994,
S. 154 ff.). Eine Aufgabe kann z.B. darin bestehen, bei Rechenaufgaben erforderliche
Operationen anzuwenden. Die Belohnung kann als einfache Rückmeldung („richtig„), als
lobender Kommentar oder als Präsentation eines Spiels gestaltet sein. In Abhängigkeit von der
Komplexität der Lernziele wird der Lernweg in einzelne kleine – linear aufeinander folgende –
Lernschritte gegliedert.
Im lerntheoretischen Ansatz Banduras (observationales Lernen) wird der Lernende nicht mehr
als passiver Empfänger von Informationen gesehen, sondern er leistet aktiv einen Beitrag zum
Erreichen von Lernzielen, u.a. in Form von Selbstkontrolle. Ob der Lernende dazu zu
motivieren ist, eine solche Selbstkontrolle auszuüben, hängt vom Vertrauen in seine eigenen
Fähigkeiten (Selbstwirksamkeitserwartungen) ab (vgl. Mietzel 1998, S. 168 ff.). Ein Schüler
wird demnach nur dann bereit sein, Kontrolle über seinen eignen Lernprozeß zu übernehmen,
„wenn er zum einen ‚weiß, wie man das macht‘ (instrumentelles Wissen), und zum anderen
glaubt, die erforderlichen selbst-leitenden Fähigkeiten zu besitzen„ (Mietzel 1998, S. 169). Im
Anschluß an Bandura hat Schunk (1989) ein sozial-kognitives Modell des selbstgesteuerten
Lernens entworfen (vgl. Abb. 5). Die subjektiven Überzeugungen des Lernenden beziehen sich
in diesem Modell auf die Einschätzung der Selbstwirksamkeit und die Einschätzung, ob die
angestrebten Lernziele erreicht werden können oder nicht.
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Überzeugungen des Schülers
Selbststeuernde Prozesse
- Selbstwirksamkeit
- Selbstbeobachtung
- Selbstbewertung
- Selbstreaktion
- Lernziele
Abbildung 5: Das sozial-kognitive Modell des selbstgesteuerten Lernens nach Schunk (1989; vgl. auch Mietzel
1998, S. 169)
Die Einschätzung der Selbstwirksamkeit wird dabei von den bisher erlebten Erfolgen
(Erfahrungen mit ähnlichen Aufgabenstellungen), von stellvertretenden Erfahrungen
(Beobachtung von Bezugspersonen), von ermunterndem Zuspruch und vom physiologischen
Erlebniszustand (z.B. Angst, Aufregung) beeinflußt. Die selbstgesteuerten Prozesse
unterscheidet Bandura in die Beobachtung eigener Leistungsergebnisse, die Bewertung der
eigenen Leistung und die Bestimmung eigener Verhaltenskonsequenzen (vgl. 1977, 1986). So
kann sich ein Schüler beispielsweise in einem eigengesteuerten Lernprozeß Teilziele setzen, das
Erreichen dieser Ziele selbst überwachen und davon abhängig sich selbst belohnen
(Selbstverstärkung).
Die Eigentätigkeit des Lernenden und die dabei ablaufenden inneren Prozesse werden noch
stärker als im sozial-kognitiven Ansatz von den kognitionstheoretisch ausgerichteten
Konzepten betont, der nächsten ‚Stufe‘ auf dem Weg zu einer Vorstellung vom Lernen als
selbstgesteuertem Lernen.
4.
Die kognitive Wende: Lernen als Informationsverarbeitung
Die behavioristische Grundposition betont den Lernenden als ein durch äußere Reize
steuerbares Wesen. In der kognitionstheoretischen Deutung von Lernprozessen wird diese
Haltung überwunden zugunsten eines Individuums, das – vor dem Hintergrund seiner
Erfahrungen, Kenntnisstände und seines Entwicklungsstadiums – Informationen in selektiver
Weise aufnimmt, interpretiert und verarbeitet. Im Gegensatz zum Behaviorismus treten nun die
internen Prozesse in den Vordergrund bzw. in den Fokus der Aufmerksamkeit, die die
Wahrnehmung, Interpretation und Verarbeitung von Informationen beeinflussen. Der jeweilige
Entwicklungs- und Erfahrungsstand des Individuums kann dabei zusammengefaßt werden als
Gesamtheit der dem Einzelnen zur Verfügung stehenden Wahrnehmungs-, Verstehens-,
Deutungs- und Verarbeitungsmuster oder –schemata. Innerhalb der Frage, welche Prozesse
beim Lernenden in der Interaktion zwischen Lernmaterial oder Lernumgebung (als externer
Bedingung) und der kognitiven Struktur (als interner Bedingung des Lernens) entstehen
können oder sollen, lassen sich verschiedene Positionen mit entsprechenden Akzentsetzungen
unterscheiden (vgl. Tulodziecki 1996a, S. 43 ff.).
i) Zunächst kann danach unterschieden werden, ob es schwerpunktmäßig darum geht, eine
bestimmte Wissensstruktur aufzubauen oder um die Entwicklung einer generellen
Problemlösefähigkeit. Für den Aufbau von Wissensstrukturen stellt sich die Frage, wie
interne Prozesse zum Aufbau geordneten Wissens unterstützt werden können. Hierzu
zählen z.B. die geordnete Darbietung von Lernmaterialien in Form von strukturierten
Übersichten, die Orientierung an Vergleichen, die Voranstellung von Einordnungshilfen
(advance organizer; vgl. Ausubel 1963) oder die angemessene Sequenzierung von
Lerninhalten (vgl. Abb. 6; Mietzel 1998, S. 220 ff.).
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Richtungen normativer Moralphilosophie
(Einteilung und Terminologie nach Kohlberg)
Ethik
deontologisch
Orientierung an
Rechten und Pflichten
teleologisch
Orientierung an
Gerechtigkeit und Fairneß
Utilitarismus
egoistischer
Utilitarismus
Bezug: soziale
Bezug: Gewissen,
(normative) Ordnung
Gesinnung
Bezug: Selbst
Perfektionismus
sozialer
Utilitarismus
Bezug: Gruppe
(Bentham, Mill)
Ausrichtung: Streben
nach Harmonie
(Kant, Rawls)
innerhalb des
Individuums
zwischen
Individuen
(Platon, Aristoteles)
Abbildung 6: Beispiel einer Strukturierungshilfe zum Aufbau von Wissensstrukturen
Bei der Entwicklung von Problemlösefähigkeit steht die Frage nach geeigneten
prozeßbezogenen Lernhilfen und förderlichen Rückmeldungen im Vordergrund.
ii) Prozesse der Informationsverarbeitung lassen sich unterscheiden von der
Informationsspeicherung bzw. –repräsentation im Gedächtnis. Hier sind vor allem die
Ansätze der Bedeutungsstrukturen, der Doppelcodierung und der mentalen Modelle
bedeutsam (vgl. Strittmatter/ Seel 1984).
- Grundannahme der Theorie der Bedeutungsstrukturen ist, daß die Erfahrungen des
Individuums (d.h. die subjektiv erlebte Umwelt) in Form von semantischen Netzwerken
mental im Gedächtnis repräsentiert werden. Bedeutungsstrukturen werden als Resultat
von Lernprozessen entwickelt. Sie erlauben die Integration neuer (Umwelt-)Erfahrungen
an bereits vorhandene Strukturen (Assimilation), andererseits können neue Erfahrungen
aber auch dazu führen, daß bereits bestehende kognitive Strukturen verändert werden
(Akkomodation). Bedeutungsstrukturen und semantische Netzwerke stellen begriffliche
Strukturen dar, die wiederum aus begrifflichen Elementen (den Knoten des Netzwerkes)
und ihren Relationen (den Kanten) bestehen (vgl. Abb. 7).
Sogenannte Schemata stellen Teilsysteme in Netzwerken dar. Sie sind
Verallgemeinerungen und Schlußfolgerungen, die einzelne Erfahrungen und Inhalte
übersteigen. Sie repräsentieren prototypisch komplexe Begriffe oder Begriffsstrukturen
oder dienen in Form antizipatorischer Schemata (vgl. Neisser 1976) dazu, zukünftige
Handlungen zu planen und auszuführen. So kann ein Schema Restaurantbesuch z.B.
verschiedene Handlungsabläufe sowie Begriffsstrukturen beinhalten, die es erlauben, sich
‚angemessen‘ in einem Restaurant zu verhalten3.
- Nach der Theorie der Doppelcodierung werden Informationen im (Langzeit-)Gedächtnis
neben der nicht-analogen Form auch in analoger Form, d.h. z.B. als Bilder, gespeichert.
Nach Paivio (1971, 1983) fungieren sowohl Vorstellungsbilder als auch semantische
Netzwerke als Informationsträger (duales Repräsentationssystem). Die Theorie der
Doppelcodierung wird zum Teil auch auf die Hemisphären-Theorie (vgl. Eccles 1979, S.
264, 276) bezogen, wonach der rechten Gehirnhälfte die Verarbeitung von Sprache und
3
Ein solches Schema wird auch als Skript bezeichnet.
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die begriffliche Speicherung, der linken Gehirnhälfte die Verarbeitung und Speicherung
von Bildern zugeschrieben wird. Die Hemisphären werden dabei mit Gegensätzen wie
rational und intuitiv, verbal und visuell, sequentiell und parallel oder digital und analog
attribuiert (vgl. Abb. 8; Oeser/ Seitelberger 1988, S. 87).
Repräsentation in einem propositionalen Netzwerk
Restaurant - Schema
"Karin fährt neue Ski "
EP 1:
In großen Restaurants
muß man vorbestellen
Ski
P1
Eintreten
Platz nehmen
P2
Bestellen
fährt
Karin
neue
EP n:
ggf. mit der Klingel
die Bedienung rufen
Essen
Bezahlen
Legende :
P = Proposition
S = Subjekt
O = Objekt
R = Relation
Eine Proposition beschreibt eine
Beziehung zwischen z.B. einem
Verb und einem Subjekt
EP: individuelle
Erfahrungen
(Restaurant) verlassen
Abbildung 7: Beispiel eines semantischen Netzwerkes (vgl. Anderson 1988; Mietzel 1998, S. 216; Strittmatter/
Seel 1984, S. 10)
Propositionen
Dominante
Hemisphäre
Verbindung zum
Bewußtsein
verbal
linguistische Beschreibung
ideagen
begriffliche
Ähnlichkeiten
Subdominante
Hemisphäre
R
keine derartige
Verbindung
fast nicht-verbal
S
S
musikalisch
Bild- und Musterempfinden
Katze
Boden
visuelle Ähnlichkeiten
zeitliche Analyse
zeitliche Synthese
Detailanalyse
holistisch - Bilder
arithmetisch und
computerhaft
sitzt auf
R
Bildhafte Vorstellung
geometrisch und
räumlich
Abbildung 8: Eigenschaftszuschreibungen in der Hemisphären-Theorie und Doppelcodierung (vgl. Strittmatter/
Seel 1984, S. 11; Mietzel 1998, S. 211)
- In der Theorie mentaler Modelle wird angenommen, daß die Repräsentation von
bestimmten Wirklichkkeitsbereichen oder Problemfeldern nicht an ein Zeichensystem
gebunden ist, sondern auf unterschiedlichen Zeichensystemen und medialen
Darstellungsformen beruht. So bauen mentale Modelle z.B. zu einem großen Teil auf
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Analogiebeziehungen auf (vgl. Collins/ Gentner 1987, S. 243), enthalten
Vorstellungsbilder, abstrakt-amodales Wissen und gespeicherte Wahrnehmungserlebnisse
(Perzepte) (vgl. Seel 1986). Sie sind dynamisch in dem Sinne, daß das Modell jeweils das
Wissen repräsentiert, das bis zum aktuellen Zeitpunkt erworben wurde, und neues Wissen
bestehende Modelle erweitern und verändern kann (vgl. z.B. Dörr/ Seel/ Strittmatter
1986). Insofern bilden mentale Modelle kohärente Wissenseinheiten bzw.
zusammenhängende mentale Repräsentationen von Umweltstrukturen in Netzwerken.
Oben genannte semantische Netzwerke oder auch Schemata können als Formen mentaler
Modelle verstanden werden.
Mentale Modelle können beispielsweise über Zusammenhänge in der Physik gebildet
werden. Das Modell wird dabei aktiviert, wenn es z.B. darum geht, Bewegungsabläufe zu
beschreiben oder vorherzubestimmen (vgl. Abb. 9; McCloskey, M. 1983a; 1983b).
Weiße
Blutkörperchen
Vitamin C
zerstören
bekämpft
Mentales Modell zu
Bewegungsabläufen
Viren
Erkältungen
Wissensnetzwerk
Preis
sitzt auf
R
Angebot
S
Katze
R
S
Boden
Abbildung 9: Mentale Modelle und Wissensnetzwerke
iii)Eine dritte Unterscheidung kognitionstheoretischer Ansätze schließlich läßt sich danach
treffen, ob die Ausprägung bestimmter bereichsspezifischer kognitiver Strukturen oder
allgemeine
Entwicklungsaspekte
im
Vordergrund
stehen.
Allgemeine
entwicklungstheoretische Ansätze beziehen sich z.B. auf die intellektuelle und die sozialmoralische Entwicklung. So beschreiben Schroder/ Driver/ Streufert (1975) beispielsweise
zunächst inhaltsunabhängige Niveaus kognitiver Strukturiertheit oder Komplexität, die ein
Individuum als Folge seiner aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt erreichen kann.
Ein ähnlicher, ebenfalls kognitionstheoretisch ausgerichteter Entwicklungsgedanke, findet
sich bei Kohlberg, der verschiedene Stufen der moralischen Urteilsfähigkeit beschreibt (vgl.
1974, 1981; Herzig 1998, S. 54 ff.)
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5. Zweite Zwischenbilanz: Konsequenzen für die Gestaltung von Lehr- und
Lernprozessen
Betrachtet man Lernen als aktive Verarbeitung von Informationen im Sinne der zitierten
kognitionstheoretischen Ansätze, dann ist mit dieser Sichtweise die grundsätzliche Annahme
verbunden, daß beim Lernen eine Wechselwirkung zwischen Umweltgegebenheiten
(Umweltreizen) und internen Verarbeitungsprozessen stattfindet. Lernprozesse können – so
eine implizite Folge dieser Grundposition – durch Instruktion angeregt, unterstützt und in
gewisser Weise gesteuert werden. Ziel ist es dabei, dem Lernenden didaktisch strukturierte und
aufbereitete Inhalte zu präsentieren und durch geeignete Hilfestellungen, Aufgaben und
Rückmeldungen die Aufnahme, Interpretation und Verarbeitung dieser Inhalte zu erleichtern.
- Im Hinblick auf Prozesse der Informationsverarbeitung ist es beispielsweise ratsam, Inhalte
in strukturierter und übersichtlicher Form zu präsentieren, z.B. durch Verwendung von
Vorstrukturierern (advance organizern, s.o.) oder durch die Anordnung von Begriffen in
strukturierten Hierarchien oder durch die Präsentation von Inhalten in sequentiellen
Einheiten.
- Mit Bezug auf die Theorie der Bedeutungsstrukturen empfiehlt es sich, begriffliche Elemente
nicht isoliert, sondern in Beziehung zu anderen Elementen darzustellen und die
Verbindungen auch explizit transparent zu machen. Dadurch wird es dem Lernenden
erleichtert, Anknüpfungspunkte zu bestehenden Begriffsstrukturen zu finden und neues
Wissen in Form der Assimilation anzugliedern und zu integrieren oder bestehende
Strukturen in Form der Akkomodation an die Bedingungen der Umwelt anzupassen und zu
verändern.
- Die Theorie der Doppelcodierung legt es nahe, Inhalte nicht nur in symbolischer Form zu
codieren bzw. zu präsentieren, sondern zusätzlich noch in abbildhafter Form.
- Nach dem Konzept der mentalen Modelle schließlich sollte ein Inhalt hinsichtlich aller
möglicher Komponenten analysiert und als komplexer, zusammenhängender
Wirklichkeitsbereich dargestellt werden. Bezüge zu Wahrnehmungserfahrungen oder
lebensweltlichen Aspekten erleichtern den Aufbau oder die Veränderung bzw. Korrektur
mentaler Modelle.
Die genannten Konsequenzen aus den kognitionstheoretischen Überlegungen zum Lernen
legen es quasi nahe, bestimmte Funktionen bei der Präsentation und dem Arrangement von
Inhalten bzw. Lernmaterialien auch Medien zu verwenden. Die Palette verwendbarer Medien
reicht dabei von traditionellen Medien (Tafel, Flip-Chart, Arbeitstransparent, Unterrichts- oder
Lehrfilm, ...) bis hin zu neuen elektronischen (computerbasierten) Medien (PC,
Telekommunikationsdienste, Multimedia, ...). Dem Einsatz von Medien dürfte daher bei der
Gestaltung von (unterrichtlichen) Lehr- und Lernprozessen eine besondere Rolle zukommen
(vgl. dazu Abschn. 10).
In noch viel stärkerem Maße wird die Eigentätigkeit des Lernenden von einem Ansatz betont,
nach dem Erkenntnisse individuelle Konstruktionen von Wirklichkeit auf der Basis von
subjektiven Erfahrungsstrukturen sind.
6. Der konstruktivistische Ansatz: Lernen als individuelle Konstruktion von
Wirklichkeit
Eine neue Akzentuierung haben die kognitionstheoretischen Ansätze durch die
konstruktivistische Orientierung erhalten. Konstruktivisten betonen noch stärker die Prozesse
der individuellen Wahrnehmung und Verarbeitung von Erlebnissen. Die Diskussion um
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konstruktivistische Ansätze wird in der Literatur sehr breit gefächert geführt; es gibt
inzwischen viele Spielarten konstruktivistischer Couleur, so daß von einer einheitliche Theorie
oder einer sich auf einen einheitliche theoretischen Gegenstand beziehenden Diskussion nicht
mehr ausgegangen werden kann. König/ Zedler (1998) unterscheiden als zunächst unabhängig
voneinander entstandene Richtungen den methodischen Konstruktivismus (vgl. Kamlah/
Lorenzen 1996) und den radikalen Konstruktivismus (vgl. Maturana/ Varela 1987; Glasersfeld
1996). Insbesondere der radikale Konstruktivismus ist in vielen Wissenschaftsdisziplinen
rezipiert und weiterentwickelt worden (vgl. König/ Zedler 1998, S. 224 ff.).
In Anlehnung an Stork (1995) wird im folgenden eine Unterscheidung getroffen, die für die
Diskussion der Bedeutung des Konstruktivismus in der Schule von elementarer Bedeutung ist:
den Konstruktivismus im erkenntnistheoretischen Sinne und den Konstruktivismus im
lerntheoretischen Sinne.
i) Die erkenntnistheoretische Deutung des Konstruktivismus kann auf Immanuel Kant
zurückgeführt werden. Nach Kant exisitieren Gegenstände nicht unabhängig von unserer
Beobachtung „an sich„, sondern nur als Bewußtseinsinhalte. Es mag zwar sein, daß es eine
bewußtseinsunabhängig existierende Welt gibt, der Mensch hat hierzu aber keinen Zugang.
Der Erkenntnisprozeß des Individuums wird nach Kant durch „reine„ (d.h. frei von
Erfahrung) Anschauungsformen und Verstandesbegriffe gesteuert, z.B. Raum und Zeit,
Einheit, Vielheit, Wechselwirkung und Notwendigkeit. Diese Formen und Begriffe sind
nicht aus Erfahrungen gewonnen, sondern a priori da. Sie helfen, Sinneseindrücke zu
ordnen, zu bündeln und die Gegenstände als Gedankendinge aufzubauen. Betrachten wir
beispielsweise einen Baum, so sehen wir zunächst eine Mannigfaltigkeit von Blättern,
Stamm, Rinde, Ästen usw. Mit Hilfe der Verstandeskategorien Einheit, Vielfalt und Ganzes
wird aus der Mannigfaltigkeit überhaupt erst die Einheit Baum als Gegenstand. „Man sieht,
warum man diese Position ‚konstruktivistisch‘ nennt: Aus einem ‚Gewühl von
Empfindungen‘ werden durch die Anschauungsformen Raum und Zeit – und das sind
Verstandeskräfte – Wahrnehmungen und Vorstellungen; aus diesen werden durch
kategoriale Verarbeitung – wohlgemerkt mit den Kategorien des Verstandes – Gegenstände
und Substanzen„ (Stork 1993, S. 17).
ii) Die lerntheoretische Deutung des Konstruktivismus stellt ebenfalls die Frage in den
Vordergrund, wie bestimmte Vorstellungen, Begriffe, Regeln und Zusammenhänge vom
Lernenden ausgebildet und entwickelt werden. Allerdings – und dies ist der entscheidende
Punkt – wird die Frage, in welchem Verhältnis die individuellen Konstrukte zur Wirklichkeit
stehen, ausgeklammert. Diese Frage ist rational nicht beantwortbar (vgl. Stork 1995, S. 17;
Glasersfeld 1998, S. 504). Damit wird die konstruktivistische Debatte für die Schule
fruchtbar. Denn hier geht es um die Frage, welche Rolle die Lehrpersonen spielen, welcher
Einfluß gemeinschaftlichen, sozialen Lernprozessen zugeschrieben wird oder wie die
Entwicklung ‚gesellschaftlich geteilten‘ Wissens sichergestellt werden kann. Derartige
Überlegungen sind im erkenntnistheoretischen konstruktivistischen Sinne nicht von Belang.
Im radikalen Konstruktivismus wird das Ziel verfolgt, Wissen zu gewinnen, das „viabel„
(vgl. Glaserfeld 1998, S. 506) ist, d.h. das menschliches Handeln anleitet und
Problemlösungen in der Realität ermöglicht: „Handlungen, Begriffe und begriffliche
Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für
die wir sie benutzen„ (Glasersfeld 1996, S. 43). Implizit unterstellt der erkenntnistheoretisch
radikale Konstruktivismus die Unstrukturiertheit der Welt vorab einer jeden
Konstruktionsleistung eines denkenden Subjekts (vgl. Meinefeld 1998, S. 551). Damit ist
insbesondere die Frage aufgeworfen, welcher Stellenwert solchen Wissensstrukturen
zukommt, die das Selbstverständnis einzelner wissenschaftlicher Disziplinen ausmachen
(scientific community), und ob bzw. wie diese in schulischen Zusammenhängen aus
Neue Lehr- und Lernformen
12
individuellen Konstruktionsleistungen entwickelt werden können (shared realities,
gemeinsames Wissen oder konsensuelle Bereiche).
Es klang bereits an, daß die radikale Auffassung des Konstruktivismus dem Primat der
Instruktion in den behavioristisch und auch kognitionstheoretisch orientierten Ansätzen das
Primat der Konstruktion gegenüberstellt. Wie aber ist der individuelle Konstruktionsprozeß
beschaffen und welche Möglichkeiten oder Erfordernisse bietet ein lerntheoretisch
verstandener Konstruktivismus im Hinblick auf die Anregung oder Unterstützung solcher
Prozesse? – Diese Fragen lassen sich unter Rückgriff auf Jean Piaget, der sowohl für den
lerntheoretischen als auch den erkenntnistheoretischen Standpunkt als Referenz dient, angehen.
7. Lernen als Konstruktion: Jean Piaget
Nach Piaget stellt das Lernen einen ständigen Anpassungsprozeß dar, in dem das Individuum in
der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt versucht, im kognitiven „Gleichgewicht„ zu
bleiben. Dazu ein Beispiel:
Ein Schüler verfügt über ein Schema, das es ihm erlaubt zu erklären, warum weißes Licht, das durch
eine farbige Glasscheibe fällt, vom Betrachter als gelbes, blaues, rotes oder andersfarbiges Licht
wahrgenommen wird. Das gleiche Schema –die subtraktive Farbmischung und der dabei relevante
Absorptionsvorgang – ist geeignet, die Mischung von z.B. blauer und gelber Malfarbe zu grüner Farbe
zu erklären. Wenn nun aber der Schüler in einem Experiment oder in der Natur beobachtet, daß die
Überlagerung von blauem und gelbem Licht weißes Licht ergibt, ist er verwundert: Zum einen stimmt
die Beobachtung mit seinen bisherigen Erfahrungen nicht überein, zum anderen ist auch eine Erklärung
des Phänomens mit seinen bisherigen Kenntnissen nicht möglich.
In der Terminologie Piagets bedeutet das Beispiel, daß der Schüler über solche
Wissensstrukturen und Zusammenhänge in Form von Schemata verfügt, die es ihm erlauben,
bestimmte Phänomene aus der Umwelt mit Hilfe der subtraktiven Farbmischung zu erklären
und zu deuten. Ein Schema wird bei neuen Anforderungen aus der Umwelt, z.B. bei der
Beobachtung neuer Phänomene, aktiviert und zur Erklärung des Phänomens herangezogen.
Gelingt die Deutung mit Hilfe des Schemas, spricht Piaget von Assimilation – im obigen
Beispiel ist die Erklärung der Mischung von Malfarben als Assimilationsprozeß zu verstehen.
Wird das Individuum aber mit einer ‚Problemstellung‘ aus seiner Umwelt konfrontiert, die mit
Hilfe der bisherigen kognitiven Strukturen oder Schemata nicht zu ‚bewältigen‘ ist, dann
müssen bestehende Strukturen erweitert, verändert oder neue Strukturen ausgebildet werden.
Piaget spricht in diesem Falle von Akkomodation. Die Erfahrung, daß das eigene Denken und
Handeln mit der Lebens(um)welt in Konflikt gerät, bildet den eigentlichen Entwicklungsmotor,
der das Individuum veranlaßt, neue Strukturen zu bilden und wieder in einen
Gleichgewichtszustand (Äquilibration) mit der Umwelt zu gelangen4. Im genannten Beispiel
veranlaßt die Beobachtung den Schüler, ein neues Schema – in diesem Fall die additive
Farbmischung – auszubilden, um auch diese Beobachtung zufriedenstellend erklären zu
können.
Die Prozesse der Assimilation und Akkomodation wurden bereits bei der Beschreibung der
kognitionstheoretischen Ansätze hervorgehoben, ohne sie dort als konstruktivistisch zu
bezeichnen. Bedeutet dies nun, daß Piaget eigentlich kein konstruktivistischer Denker – im
4
Strenggenommen müßte der Handlungsbegriff hier präzisiert werden. Piagets Konzept der Akkomodation ist
dreistufig: Eine vom Subjekt wahrgenommene Situation wird assimiliert und löst eine bestimmte Handlung
aus, z.B. Operationen eines Schemas (d.h. geistige Handlungen). Das Individuum erwartet, daß die Handlung
zu einem gewohnten Ergebnis führen wird. Tritt dies nicht ein, ist es perturbiert, d.h. es ist eine Störung des
inneren Gleichgewichts eingetreten, die durch Akkomodationsprozesse zu beseitigen versucht wird.
Neue Lehr- und Lernformen
13
doppelten Sinne des Wortes – ist oder daß die kognitionstheoretischen Ansätze eigentlich
konstruktivistische Ansätze sind?
Zunächst einmal ist festzuhalten, daß die Rezeption der Arbeiten Piagets durch den radikalen
Konstruktivismus nicht ganz unproblematisch ist (vgl. Meinefeld 1998, S. 551). Im radikalen
Konstruktivismus wird der Erkenntnisprozeß „weitgehend als eine Einbahnstraße vom
erkennenden Subjekt zur Realität„ (ebd.) entworfen, während für Piaget die Wechselwirkung
zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Objekt eine besondere Rolle spielt: „Das
Ergebnis des Erkenntnisprozesses ist daher für Piaget nicht ein Konstrukt, das nur der Logik
des erkennenden Systems folgt, sondern in ihm sind sowohl konstruktive als auch realistische
Elemente enthalten. Indem die Kategorien an der Welt entwickelt werden, enthalten sie auch
Informationen über die Welt – Wahrnehmungsstrukturen existieren nicht vor der
Wahrnehmung, sondern sie werden erst in der Auseinandersetzung mit der Realität aufgebaut„
(ebd., Hervorhebungen im Orig., B.H.).
Die kognitionstheoretischen Ansätze heben sich von einer konstruktivistischen Sichtweise
weniger in den Grundannahmen eines (auch) konstruierenden oder konstruktiven Subjekts ab
als in den Folgen der Ansätze für Lehr- und Lernprozesse. Während kognitionstheoretische
Ansätze Instruktionen z.B. durch Lehrpersonen in ihre Betrachtungen integrieren, ist im
strengen Sinne des Konstruktivismus Lernen ein Selbstorganisationsprozeß, bei dem
Informationen als Unterstützung angeboten werden können, anleitende Maßnahmen aber nicht
vorgesehen und nicht theoriekonform wären.
8. Die „pragmatische Wende„: Lernen zwischen Instruktion und Konstruktion
Mittlerweile zeichnet sich zwischen den Polen konstruktivistischer und instruktionaler Ansätze
eine „gemäßigte„ Zwischenposition ab, die von Merrill (1991) als Instruktionales Design der
zweiten Generation bezeichnet wird. Nach Weidenmann (1993) übernimmt diese Position
„vom Konstruktivismus die Einsicht in die Bedeutung von handelndem Lernen in komplexen
Situationen und Problemräumen. Gleichzeitig wird unterstellt, daß ein Lernender hierfür
adäquate mentale Modelle oder andere elaborierte kognitive Strukturen braucht, deren Erwerb
sich durch Instruktion erleichtern läßt, welche das benötigte Wissen explizit darstellt und
organisiert„ (S.12). Reinmann-Rothmeier/ Mandl (1997) charakterisieren die gemäßigte
Position durch folgende Annahmen:
„(1) Nicht die äußere Realität ist uns zugänglich, sondern die Wirklichkeit, also das, was etwas
in uns bewirkt.
(2) Unsere Welt ist nicht bestimmt von linearer Kausalität, sondern von komplexer
Wechselwirkung.
(3) Objektivität ist nicht möglich, wohl aber Intersubjektivität, indem wir uns mit anderen
verständigen.
(4) Denken, Lernen und Wissenserwerb, das bedeutet nicht, Vorgegebenes abzubilden,
sondern Eigenes zu gestalten„ (S. 100).
Die Grundannahmen der angesprochenen pragmatischen Zwischenposition legen für die
Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen eine Verbindung von Instruktion und Konstruktion
nahe. Selbstgesteuertes Lernen bedarf nach dieser Auffassung einerseits der Anleitung und
Unterstützung, andererseits aber können flexible Wissensstrukturen – d.h. eben nicht „träges„
Wissen – nur über die eigene Konstruktionsleistung entwickelt werden.
Was bedeutet dies konkret im Hinblick auf Lehr-und Lernsituationen bzw. im Hinblick auf
Lernumgebungen?
Neue Lehr- und Lernformen
14
Aus der gemäßigt-konstruktivistischen Position lassen sich grundlegende Gestaltungsprinzipien
ableiten (vgl. Reinmann-Rothmeier/ Mandl 1997, S. 103 f.; Mandl/ Gruber/ Renkl 1995;
Gräsel/ Bruhn/ Mandl/ Fischer 1997; Mandl/ Reinmann-Rothmeier/ Gräsel 1998, S. 18 f.):
- Lernprozesse sollten von authentischen Problemsituationen ausgehen, die für den Lernenden
aufgrund ihrer Relevanz und ihrer gegenwärtigen oder zukünftigen Bedeutsamkeit Anreiz
bieten, sich mit bestimmten Fragestellungen auseinanderzusetzen und neues Wissen oder
neue Fertigkeiten zu erwerben.
Damit verbunden ist die Annahme, daß Wissen immer in bestimmten Situationen
kontextgebunden erworben wird. Die Situationen prädeterminieren bereits, in welchen
Situationen das Wissen später angewendet werden kann. „Authentizität der Lernprobleme
bedeutet daher, daß diese die zentralen Merkmale der Anwendungssituation enthalten, d.h.
inhaltlich in ihrer Komplexität nicht reduziert sind und auch Informationen enthalten, die für
die Lösung des Problems nicht bedeutsam sind„ (Gräsel/ Bruhn/ Mandl/ Fischer 1997, S. 6).
- Damit kontextspezifisch erworbenes Wissen nicht auf einzelne Situationen in der
Anwendung beschränkt bleibt, sollte derselbe Inhalt in unterschiedliche Kontexte eingebettet
werden, um den Transfer und den flexiblen Umgang von und mit Wissen zu erleichtern.
Neben multiplen Kontexten sollten auch unterschiedliche Blickwinkel oder Aspekte auf
einen Inhalt berücksichtigt werden (multiple Perspektiven).
- Lernen ist ein Prozeß, der neben der individuellen und selbstgesteuerten Konstruktion von
Wissensstrukturen oder Schemata immer in soziale Kontexte eingebettet ist.
Lernumgebungen sollten daher kooperatives Lernen und Problemlösen unterstützen,
Gruppen- und Teamprozesse ermöglichen und teamorientierte Handlungsprozesse fördern.
Dabei spielt insbesondere der Prozeß der sprachlichen Aushandlung eine Rolle, in dem
gemeinsames Wissen konstruiert wird. Die Entwicklung und der Vergleich verschiedener
Perspektiven auf einen Gegenstand im Rahmen des collobarative learning stellen einen
solchen sozialen Kontext dar.
- Lernen erfordert die instruktionale Unterstützung durch Lehrende in Form von Anregen,
Modellieren und Anleiten, Unterstützen und Beraten.
Die hier aufgeführten Anforderungen an die Gestaltung von Lernumgebungen auf der Basis des
„situierten„ Lernens zeigen hohe Affinitäten zu Forderungen und Empfehlungen an die
allgemeine Gestaltung von Unterricht. Diese sollen im folgenden aufgenommen und unter der
Perspektive einer konstruktivistisch-orientierten Unterrichtsgestaltung betrachtet werden.
9. Konstruktivistisch orientierte Unterrichtsgestaltung
Aus didaktischer und pädagogisch-psychologischer Sicht können an die Gestaltung von
Unterricht in allgemeiner Form folgende Forderungen gestellt werden (vgl. Tulodziecki 1996b,
S. 48 ff.; 84ff.):
1. Lernprozesse sollten von einer für die Lernenden bedeutsamen Aufgabenstellung ausgehen.
Solche Aufgaben sollten Bezüge zur Erfahrungs- und Vorstellungswelt aufweisen, sie sollten
die Bedürfnisse der Lernenden ansprechen, sie sollten einen Neuigkeitswert besitzen, einen
angemessenen
Schwierigkeitsgrad
aufweisen
und
zur
exemplarischen
und
handlungsrelevanten Erschließung eines Inhalts geeignet sein5.
5
Bei der Postulierung authentischer Kontexte wird neben der Frage der Relevanz und Authentizität von
Problemen und Situationen betont, daß die Lernenden durch die Probleme ‚betroffen‘ sein müssen. Dieser
Hinweis ist insofern wichtig, als daß die Frage der Betroffenheit mitunter hinter die in den Vordergrund
gestellten lebensweltlichen Bezüge zurücktritt. Aus der Lebenswelt sind eben nur die Problemstellungen
authentisch, die auch eine entsprechende Betroffenheit beim Lernenden erzeugen.
Neue Lehr- und Lernformen
15
Die Aufgabenstellungen können dabei als Problemstellungen, als Entscheidungsfälle, als
Gestaltungsaufgaben oder als Beurteilungsaufgaben angelegt sein.
- Ein Problem kann z.B. in der Aufgabe bestehen, für ein Produkt eine Verpackung zu
finden, so daß für einen möglichst großen Inhalt eine möglichst geringe Menge an
Verpackungsmaterial benötigt wird.
- Ein Entscheidungsfall liegt vor, wenn Jugendliche sich z.B. in die Lage einer
Geschäftsführung versetzen sollen, in der verschiedene Maßnahmen beraten werden, um
Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze zu sichern.
- Eine Gestaltungsaufgabe ist gegeben, wenn Schülerinnen und Schüler eine
Versuchsanordnung entwerfen sollen, mit deren Hilfe ein z.B. physikalische Phänomen auf
mögliche Gesetzmäßigkeiten hin untersucht werden kann.
- Eine Beurteilungsaufgabe kann beispielsweise darin bestehen, eine Serienfolge des
Fernsehens zu analysieren und daraufhin zu bewerten, ob die dort gezeigten
Lebensvorstellungen und Verhaltensweisen – z.B. Anwendung von Gewalt zur
Durchsetzung eigener Interessen – angemessen sind oder nicht.
2. Unterricht sollte bereits vorhande Wissensstrukturen, Schemata, Fertigkeiten und Kenntnisse
von Jugendlichen ansprechen, aktivieren und aufnehmen, um von dort eine Integration,
Ausdifferenzierung, Erweiterung, Ergänzung oder Revidierung zu erreichen6.
3. Lernende sollten im Unterricht die Gelegenheit haben, sich aktiv und kooperativ mit einer
Aufgabenstellung auseinanderzusetzen, indem sie selbständig Lösungswege unter
Verwendung relevanter Informationen erwägen, entwickeln und erproben. Lösungsentwürfe,
die nicht zum Ziel führen, sollten zum Anlaß genommen werden, unangemessene
Vorstellungen oder fehlerhafte Schlußfolgerungen aufzunehmen und die damit verbundenen
Wissens- und Denkstrukturen zu ändern.
4. Unterricht sollte die Formulierung, den Vergleich und die reflektierende Diskussion
unterschiedlicher Lösungen ermöglichen. Darüber hinaus ist eine Systematisierung und
Anwendung angemessener Kenntnisse und Fähigkeiten geboten.
Vergleicht man die beschriebenen Anforderungen an Unterricht aus der allgemeinen Didaktik
und diejenigen aus der Perspektive einer gemäßigt-konstruktivistischen Auffassung von
Lernen, so stellt man Übereinstimmungen und Verbindungen fest. In der hier vertretenen
Ausrichtung einer Didaktik auf Handlungs- und Entwicklungsorientierung sind diese
verbindenden Bezüge nicht zufällig, sondern ergeben sich aus ähnlichen Grundauffassungen:
- Der Eigentätigkeit und der Selbststeuerung des Lernens wird ein hoher Stellenwert
zugemessen. Gleichzeitig wird die anleitende, betreuende und unterstützende Funktion von
Lehrkräften als notwendig betont.
- Die Veränderung, Ausdifferenzierung oder der Neuerwerb kognitiver Strukturen geschieht
in Anknüpfung an bereits bestehende Schemata. Bedeutsame, komplexe Aufgabenstellungen
mit lebensweltlichen Bezügen und handlungsrelevanten Inhalten bringen bestehende
Erklärungs- und Deutungsmuster ins Wanken, erzeugen kognitive Konflikte und werden
dadurch zu intrinsischen Motivatoren, neue Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu
erwerben.
- Lernen erfordert zwar den Vollzug individueller Denkoperationen, bleibt aber ein sozialer
Prozeß. Er ist – auf einer Makroebene – nicht nur in ein soziokulturelles Umfeld eingebettet,
sondern – auf einer Mikroebene, z.B. im Klassenrahmen – darauf angewiesen, eigene
6
Ausubel faßt dies prägnant in der Formulierung zusammen: „Wenn wir die ganze Psychologie des
Unterrichts auf eine Prinzip reduzieren müßten, würden wir dies sagen: Der wichtigste Faktor, der das
Lernen beeinflußt, ist das, was der Lernende bereits weiß. Dies ermitteln Sie, und dann unterrichten Sie Ihren
Schüler„ (Ausubel/ Novak/ Hanesian 1980, S. 5).
Neue Lehr- und Lernformen
16
Konstruktionen und Vorstellungen zu verbalisieren und mit denen anderer Individuen zu
vergleichen. Dieser kommunikative Austausch erlaubt die Schaffung gemeinsam geteilten
Wissens und ermöglicht es der Lehrperson, instruktionale Schritte in Form von weiteren
Informationen oder der Präsentation wirksamer Schemata auf der Grundlage der
beobachteten (weil verbalisierten) Vorstellungen zu entwerfen.
Die Darstellung der Anforderungen an gemäßigt-konstruktivistisch ausgerichtete
Lernumgebungen erfordert – um Mißverständnisse zu vermeiden – eine zusammenfassende
Klarstellung: Im erkenntnnistheoretischen Sinn bedeutet Konstruktion Eigentätigkeit des
Lernenden in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Diese eigenständige Konstruktion
von Strukturen ist nicht angeleitet und nicht extern kontrolliert, insbesondere ist sie in ihren
Ergebnissen nicht prognostizierbar. Konstruktion im lerntheoretischen und didaktischen Sinne
meint aber die eigenständige Konstruktion von Strukturen in besonderen Lernumgebungen, in
denen Lernprozesse durch instruktionale Prozesse begleitet werden. Solche Umgebungen sind
bereits Konstruktionen von Lehrenden, in die Vorstellungen z.B. über subjektive Theorien von
Lernenden eingeflossen sind unter der Zielperspektive, durch das besondere Design der
Lernumgebung Konstruktionsprozesse zu fördern oder zu erleichtern. Insofern beinhaltet der
didaktische Konstruktionsbegriff auch die normative Komponente, daß der Lernende
eigenständig Konstruktionsprozesse beim Lernen durchführen soll.
Die Auseinandersetzung mit komplexen Aufgabenstellungen, das Erwägen und Erproben
möglicher Lösungswege, die Präsentation von Ergebnissen, die Visualisierung eigener
Vorstellungen die Erarbeitung relevanter Informationen, der diskursive Austausch mit anderen
Lernenden – all dies sind Prozesse, die insbesondere durch Medien begleitet und unterstützt
werden können. Abschließend soll daher noch einmal die Frage aufgegriffen werden, welcher
Stellenwert den Medien, insbesondere auch neuen Medien, in konstruktivistisch orientierten
Lehr- und Lernprozessen zukommt.
10. Konstruktivismus und Medien
Bei der Darstellung kognitionstheoretisch ausgerichteter Ansätze des Lernens wurde schon
deutlich, daß Medien bei der Präsentation von Inhalten eine bedeutsame Rolle spielen könnten.
So legt die Theorie der Doppelcodierung es nahe, bestimmte Inhalte symbolisch (verbal) und
ikonisch (abbildhaft) zu codieren. Dies ist in traditioneller Form mit Büchern möglich, ebenso
aber auch mit audiovisuellen oder solchen Medien, die multimodal und multicodale
Eigenschaften vereinen (Multimedia). Die Funktion des Mediums wird in diesem
Zusammenhang aber eher darin gesehen, die Speicherung und Verankerung von Inhalten im
Gedächtnis zu unterstützen. Die Annahme, daß Informationen im Langzeitgedächtnis ikonisch
und symbolisch repräsentiert werden, führt dazu, Informationen auch in dieser Form für den
Lernenden zu codieren mit dem Ziel, daß dieser sie zum einen besser behält und zum anderen
besser mit z.B. vorhandenen Begriffsstrukturen verknüpfen kann.
Aus (gemäßigt) konstruktivistischer Sicht kommt den Medien nun insbesondere die Funktion
zu, eigenständige Denkoperationen im Sinne von Konstruktionen anzuregen und zu
unterstützen. Dies kann in zweierlei Hinsicht geschehen (vgl. auch Herzig/ Tulodziecki 1998):
a) Medien können Informationen präsentieren und bieten damit für den Lernenden Wissenselemente dar, die in individuelle Konstruktionen einfließen. Sie reichern die ‚informationelle‘
Umwelt an und ermöglichen es dem Individuum, relevante Informationen auszuwählen und
in seine gedanklichen Strukturen zu integrieren. Außerdem können über Medien komplexe
Aufgabenstellungen dargeboten werden, die z.B. kognitive Konflikte künstlich (didaktisch)
Neue Lehr- und Lernformen
17
evozieren, um die Lernenden zur Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten zu
motivieren.
So kann ein Lernender beispielsweise auf einer CD-ROM – als hypermedialer Arbeitsumgebung – zu Pflanzen und Tieren der Alpenregionen Informationen finden, die es ihm
erlauben, den Zusammenhang zwischen Tourismus und der Veränderung von Lebensräumen
heimischer Tiere zu erschließen. Eine solche hypermediale Arbeitsumgebung ermöglicht und
erfordert selbsttätiges und selbstkontrolliertes Lernen. Allerdings enthält auch hier die
Auswahl der Inhalte sowie die z.B. in Form von Hyperlinks präfigurierten Zusammenhänge
eine instruktionale Komponente. Sie deuten auf Zusammenhänge hin, verweisen auf die an
einer bestimmten Stelle für relevant gehaltenen Informationen und leiten damit ggf. nicht
nur die Wahrnehmung von Informationen, sondern auch die begriffliche oder inhaltliche
Strukturbildung des Lernenden. Konstruktion in hypermedialen Lernumgebungen ist
insofern immer auch Rekonstruktion von Konstruktionen, die von Designern der
Lernumgebung geschaffen wurden. Die instruktionale Komponente, die in der Gestaltung
und Modellierung der Arbeitsumgebung enthalten ist, kann allerdings nicht verhindern, daß
Lernprozesse in unkontrollierter – und das bedeutet hier auch in nicht selbstkontrollierter –
Form ablaufen. Das bekannte Phänomen des „lost in hyperspace„ deutet darauf hin, daß
auch diese medial unterstützen Lernprozesse einer unterrichtlichen Begleitung bedürfen. Ein
hypermediales oder hypertextuelles Angebot ist nichtlinear und erhält durch die Bearbeitung
des Lernenden eine neue, individuelle Struktur. Diese individuell konfigurierten Strukturen
bedürfen der Rückkopplung im Unterricht, insbesondere des Austausches mit den
Konstruktionen, Entwürfen und Verständnissen anderer Lernender. Nicht zuletzt sollen
dadurch auch metakognitive Fähigkeiten grundgelegt werden, die langfristig auf das Ziel
gerichtet sind, z.B. eigene Navigations- und Selektionsstrategien zu beobachten, zu
reflektieren und im Hinblick auf Zielgerichtetheit (in bezug auf eine Aufgaben- oder
Problemstellung) zu verbessern. Die Modellierung der Lernumgebung kann solche Prozesse
z.B. durch die Visualisierung von Metastrukturen erleichtern. Metakognitionen helfen auch,
das Vertrauen in eigene Fähigkeiten zu erhöhen und damit die Prozesse der Selbststeuerung
zu fördern (vgl. Abschn. 3).
Die Darbietung komplexer authentischer Situationen durch Medien bietet sich überall dort
an, wo die Konfrontation mit realen Situationen aus pragmatischen, ökonomischen oder
ethischen Gründen nicht möglich ist.
b) In einer zweiten Variante können Medien dazu dienen, eigene Konstruktionen
durchzuführen und gedankliche Vorstellungen in ihren Konsequenzen zu erproben. Dies
trifft vor allem für solche Bereiche zu, in denen Lernen in realen Zusammenhängen nicht
möglich oder nicht verantwortbar ist, also z.B. bei betriebswirtschaftlichen, politischen oder
chemischen und physikalischen Prozessen. Beispiele solcher Medien sind fallbasierte
Computerlernprogramme, Simulationen und Planspiele oder Experimentierumgebungen. So
kann beispielsweise eine physikalische Experimentierumgebung dazu dienen, den Einfluß
einzelner Parameter auf physikalische Phänomene in virtuellen Experimenten zu
untersuchen. Ausgehend von Erkenntnissen an Realexperimenten können so gedankliche
Konstruktionen oder Vorstellungen auf ihre Angemessenheit hin überprüft werden.
Allerdings ist einschränkend zu diesem Beispiel zu sagen, daß durch solche virtuellen
Experimente in der Regel keine Erschließung neuer Phänomenbereiche angestrebt wird oder
werden kann, sondern daß der (didaktische) Schwerpunkt vielmehr in der Erweiterung,
Vertiefung oder Anwendung von Kenntnissen liegt (vgl. Heuer 1996, S. 10). Insofern
könnte man auch hier von Wissens-Rekonstruktionen sprechen.
Insgesamt ist auch in konstruktivistisch ausgerichteten und gestalteten Lehr- und
Lernprozessen – mit oder ohne mediale Unterstützung – der didaktische Kontext ein
Neue Lehr- und Lernformen
18
entscheidendes Kriterium für Unterricht, der Kinder und Jugendliche zu einem
selbstbestimmten, sachgerechten, kreativen und sozialverantwortlichen Handeln befähigen soll.
Selbsttätigkeit, eigengesteuertes und eigenverantwortliches Lernen sind hierbei eine conditio
sine qua non.
Abschließend noch eine Bemerkung zum ‚Selbstlernen‘: Man mag über die glückliche oder
unglückliche Wortwahl bzw. Begriffsverwendung streiten, insbesondere darüber, ob Lernen
nicht immer vom Individuum selbst durchgeführt wird. Eines zeigt der Begriff doch deutlich
an: der Gedanke des selbstgesteuerten, eigeninitiativen, konstruktiven Lernens läßt die
Übertragungsmetapher, also die Annahme, Wissen könne durch einfache Vermittlung oder
Präsentation in die Köpfe der Lernenden übertragen werden, als hinreichend unangemessen
erscheinen.
Neue Lehr- und Lernformen
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