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ECOLOGICAL PERSPECTIVES FOR SCIENCE AND SOCIETY
18.11.2007
ÖKOLOGISCHE PERSPEKTIVEN FÜR
WISSENSCHAFT UND GESELLSCHAFT
ECOLOGICAL PERSPECTIVES FOR
SCIENCE AND SOCIETY
4 | 2007
WIE DER KLIMAWANDEL TOPTHEMA WURDE | WASTEWATER TREATMENT AT THE SOURCE | REGIONALE FÖRDERUNG ERNEUERBARER ENERGIEN
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WIE DER KLIMAWANDEL TOPTHEMA WURDE
WASTEWATER TREATMENT AT THE SOURCE
REGIONALE FÖRDERUNG ERNEUERBARER ENERGIEN
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www.oekom.de | B 54649 | ISSN 0940-5550 |
GAIAEA 16/4, 241– 320 (2007)
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Überraschender Zufall oder gelungene
wissenschaftliche Kommunikation: Wie kam
der Klimawandel in die aktuelle Debatte?
Heike Egner
2007 ist das Jahr, in dem sich das öffentliche Klima für den Klimawandel gewandelt hat: Noch
nie erfuhr das Thema so viel Resonanz in den unterschiedlichsten Teilbereichen der Gesellschaft.
Dies ist vor allem der Übersetzungsarbeit von Sir Nicholas Stern und den Politpop-Aktionen von
Al Gore zu verdanken. Die Klimaforschung lieferte die wissenschaftliche Gewissheit, dass den
plakativen Aussagen eines Ökonomen und eines Politikers zu trauen ist – im Nachhinein.
Surprising Coincidence or Successful Scientific Communication: How Did Climate Change Enter into
the Current Public Debate? | GAIA 16/4 (2007): 250–254
Keywords: climate change, modern societies, politics, scientific communication
B
undeskanzlerin Angela Merkel reist in der politischen Sommerpause nach Grönland, um sich über das alarmierende Abschmelzen der dortigen Gletscher zu informieren, US-Präsident
George W. Bush lässt sich beim G8-Gipfel (zwar verhaltene, aber
immerhin doch) Zugeständnisse für den Klimaschutz abringen,
Finanzunternehmen legen Nachhaltigkeits- und Klimaschutzfonds für breite Anlegergruppen auf, am 7. Juli 2007 findet unter dem Titel Live Earth – The Concerts for a Climate in Crisis die
bislang größte Benefiz- und Musikveranstaltung der Geschichte statt. Und zu guter Letzt wird die Arbeit am Klimaschutz als
Arbeit für den Weltfrieden verstanden und Al Gore und der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change [IPCC])
erhalten den Friedensnobelpreis 2007. Der Klimawandel ist auf
der Weltbühne der Aufmerksamkeit als ernstzunehmendes Problem angekommen.
Das ist durchaus überraschend. Prognosen, die auf tiefgreifende Veränderungen in einem Zeitraum von einhundert Jahren
hinweisen, werden in einer gegenwartszentrierten Gesellschaft
in der Regel kaum wahrgenommen. Die Tragweite einer scheinbar minimalen durchschnittlichen Erwärmung des Weltklimas
um 0,2 °C pro Jahrzehnt (IPCC 2007 a, S. 12) ist im Alltagsverständnis nur schwer zu vermitteln; in unseren Breiten hätten nur
wenige etwas gegen eine kleine Erwärmung einzuwenden. Auch
hier steht einem Verständnis der komplexen Zusammenhänge
eine allzu große Orientierung an der Gegenwart entgegen. Dies
haben Klimaforscher(innen) in den letzten 20 Jahren immer wie-
Kontakt: Dr. Heike Egner | Geographisches Institut | Johannes
Gutenberg-Universität Mainz | Postfach | 55099 Mainz |
Deutschland | E-Mail: [email protected]
der erfahren müssen, wenn sie versucht haben, ihre Forschungsergebnisse so zu transportieren, dass daraus politische Entscheidungen und gesellschaftliches Handeln entstehen. Zwar gab es
auch kleinere Erfolge (Weingart et al. 2002), erst 2007 aber hat
sich das öffentliche Klima für das Thema Klimawandel gewandelt. Wie kam es dazu? Vor der Beantwortung dieser konkreten
Frage rufe ich einige Zusammenhänge über das Funktionieren
moderner Gesellschaften in Erinnerung.
Kommunikation in der funktional differenzierten
Gesellschaft
Die moderne Gesellschaft besteht aus Teilsystemen, die sich
aufgrund einer bestimmten Funktion ausgebildet haben, um die
Komplexität der Welt soweit zu reduzieren, dass sie zu bewältigen ist. Das politische System etwa soll das gesellschaftliche Miteinander regeln und die Weichen für die gesellschaftliche Entwicklung stellen, das Rechtssystem soll über Recht oder Unrecht
entscheiden, die Wirtschaft die Austausch- und Handelsbeziehungen regeln und die Wissenschaft spezifisches Wissen für die
Gesellschaft bereitstellen. Der Soziologe Niklas Luhmann konstatierte, dass die Teilsysteme – ebenso wie die zugehörigen Organisationen und Institutionen – bei der Bearbeitung ihrer Aufgaben
unter der Anwendung einer binären Leitdifferenz (Code) „arbeiten“. Die Codes schränken die Entscheidungen innerhalb des
betreffenden Teilsystems ein und erleichtern über diese Komplexitätsreduktion die Entscheidungsfindung (Luhmann 1987a). So
beobachtet das politische System seine Umwelt (zu der auch die
anderen gesellschaftlichen Teilsysteme gehören) und trifft seine Entscheidungen unter dem Code Regierung/Opposition, das
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Recht unter dem von Recht/Unrecht, die Wirtschaft unter dem
von Zahlen/Nicht-Zahlen und die Wissenschaft unter dem von
wahr/unwahr (oder vielleicht aktueller: valide/nicht valide). Jedes der Teilsysteme hält zusätzlich Programme bereit, welche
die Handlungsanweisung für die Anwendung des Codes beinhalten.
In der Logik dieser Systemtheorie sind die gesellschaftlichen
Teilsysteme autopoietische und selbstreferenzielle Systeme, das
heißt, jedes System produziert und reproduziert alle Einheiten,
aus denen es besteht, selbst (Maturana und Varela 1973; für die
Konsequenzen bei sozialen Systemen siehe Luhmann 1988) und
bezieht sich überdies bei all seinen Operationen ausschließlich
auf sich selbst und nicht etwa auf ein anderes System und dessen Operationen (von Foerster 1960, Luhmann 1987b, S.57ff.und
593 ff., Luhmann 1988). Die Grundannahmen von Autopoiesis
und Selbstreferenz führen zu einer operativen Geschlossenheit
von Systemen, die den einfachen Import oder Export von Elementen von außen nach innen oder von innen nach außen ausschließen. Das bedeutet nicht, dass die Umwelt eines bestimmten Systems keinerlei Zugang zu dem System hat. Es bedeutet
nur, dass die Umwelt das System allenfalls irritieren und allein
über die spezifische Operationsweise des jeweiligen Systems ein-
bezogen werden kann. Übertragen auf unser Thema heißt das,
dass wissenschaftliche Erkenntnisse (etwa, dass es einen anthropogenen globalen Klimawandel gibt) keineswegs unmittelbar zu
politischen Entscheidungen (zum Beispiel Gesetze, die bestimmte Handlungen unterbinden) führen. Denn einerseits lassen sich
Systeme aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit nur ungern irritieren, am wenigsten vielleicht durch Informationen über die „natürliche Umwelt“, die keine eigene Stimme hat und nicht selbst
kommunizieren kann. Aus systemtheoretischer Sicht ist es unwahrscheinlich, dass die Gesellschaft auf ihre Umwelt reagiert.
Für die Systemerhaltung mag es in den meisten Fällen sinnvoller sein, nicht auf die Umwelt zu reagieren, sondern die eigenen
Operationen voranzutreiben (Luhmann 2004, S. 40 ff.).
Erschwerend kommt andererseits hinzu, dass jedes gesellschaftliche Teilsystem nur aufgrund seiner Eigenfrequenz zur
Resonanz, zur Reaktion, gebracht werden kann. Es hängt also
von den systeminternen Strukturen und Bezügen ab, welche Art
von Resonanz eine Information aus der Umwelt des Systems erzeugt, wenn sie erst einmal die Schwelle der Abwehr überwunden hat, sozusagen als order from noise wahrgenommen wurde.
Die gleiche Information erzeugt so in unterschiedlichen Systemen eine ganz unterschiedliche Resonanz. Für einen ersten
© Wikimedia Commons/Mila Zinkova
Die Gletscher auf Grönland sind im Lauf dieses Jahres zum medienwirksamen Symbol für die Folgen des Klimawandels geworden. Erhöht sich die globale
Durchschnittstemperatur wie vom IPCC vorhergesagt, verlieren die Gletscher weltweit weiter an Volumen. Die dunklen Oberflächen entstehen, wenn durch das
Schmelzen der älteren Schnee- und Firnschichten der Schmutz vergangener Jahre und Jahrzehnte akkumuliert. Da sie mehr Strahlung absorbieren als Schnee,
verstärken sie noch das Abschmelzen.
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grundlegenden Unterschied in der Bewertung einer Information – etwa der wissenschaftlichen Information, dass es einen
anthropogenen Klimawandel gibt – sorgen bereits die zuvor genannten verschiedenen Codes, unter denen die Systeme die Welt
beobachten. Die Anwendung der Leitdifferenzen in den jeweiligen gesellschaftlichen Teilsystemen führt zu einer „unterschiedlichen Qualifizierung von Informationen, weil sie den Informationswert der Information auf unterschiedliche Selektionshorizonte
beziehen“ (Luhmann 1987a, S. 21). Die Ausdifferenzierung aufgrund einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion und die Bearbeitung dieser Aufgaben unter einer spezifischen Leitdifferenz
führen jedoch nicht dazu, dass die Teilsysteme ihren Aufgaben
„optimal“ nachkommen und zu „bestmöglichen“ Ergebnissen
kommen. Weder ist klar, unter welchen Bedingungen sich ein
System soweit irritieren lässt, dass es etwas als Thema behandelt, noch ist eindeutig, wie und mit welchem vermutlichen Ergebnis eine derartige Irritation dann gelöst wird. Zugelassene
Irritationen aus der Umwelt eines Systems sind als eine Art
„Selbstirritation“ zu verstehen, da jedes System nur nach seinen
eigenen Regeln irritierbar ist. Darüber hinaus hängt die Art und
Weise, wie das System auf eine Information aus seiner Umwelt
reagiert, stark davon ab, ob etwas Ähnliches schon einmal Thema war oder nicht. Neue Themen, deren Lösung sozusagen noch
nicht erprobt wurde, haben es damit schwer, überhaupt in der
Gesellschaft Gehör zu finden.
Wie hat es unter diesen Bedingungen ein komplexes Thema
wie der globale Klimawandel geschafft, die Zirkel der sich damit
beschäftigenden Wissenschaften zu verlassen?
Hurrikan „Dean“ am
20. August 2007 vor
der Halbinsel Yucatán:
Es wird erwartet, dass
infolge des Klimawandels tropische
Wirbelstürme häufiger
und zerstörerischer
werden. In seinem
Dokumentarfilm
An Inconvenient Truth
ist es dem inzwischen
zum Friedensnobelpreisträger geadelten
Politiker Al Gore
gelungen, solche
Zusammenhänge für
die Öffentlichkeit verstehbar zu machen.
Eine kurze Geschichte, wie der Klimawandel
in die aktuelle Debatte kam
Den Auftakt zur aktuellen Klimadebatte bildet wohl die Untersuchung des britischen Ökonomen Sir Nicholas Stern (Stern 2006)
über die wirtschaftlichen Folgen einer globalen Klimaerwärmung,
die er als Leiter des volkswirtschaftlichen Dienstes der britischen
Regierung im Auftrag des Premierministers Tony Blair erstellt
hat. Bei seiner Veröffentlichung Ende Oktober 2006 erhielt der
Stern-Review großes Medienecho mit Schlagzeilen wie „Klimawandel bedroht Weltwirtschaft“ (Wirtschaftswoche 31.10.2006) oder
„Vor uns die Sintflut“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.11.2006).
Die britische Zeitung Independent widmete dem Stern-Review in
ihrer Ausgabe vom 31. Oktober 2006 die ersten neun Seiten. Zwischen Berichten und Analysen finden sich dort – unter dem Titel „Stern by Numbers“ – auch die klaren und plakativen Kernaussagen des Berichts, hier in Auszügen (The Independent 2006):
Durch den Klimawandel droht ein Einbruch der weltweiten
Wirtschaftsleistung um bis zu 20 Prozent.
Bis im Jahr 2050 werden etwa 200 Millionen Menschen wegen klimabedingter Verhältnisse (Dürre oder Überschwemmungen) auf der Flucht sein.
Eine durchschnittliche globale Erwärmung um 6 °C bis zum
Ende des 21. Jahrhunderts ist eine plausible Schätzung, wenn
keine Maßnahmen zur Emissionsreduktion ergriffen werden.
Erhöht sich die durchschnittliche Welttemperatur um 2 °C,
werden vier Milliarden Menschen mit Wasserknappheit
zu kämpfen haben,
© NOAA Satellite and Information Service
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wird die Zahl der von Malaria betroffenen Menschen in
Afrika um etwa 60 Millionen steigen,
wird die Zahl der von Hungersnöten betroffenen
Menschen um etwa 200 Millionen steigen,
werden 40 Prozent der Arten weltweit aussterben.
Erhöht sich die durchschnittliche Welttemperatur um 3 °C,
werden sich die landwirtschaftlichen Erträge in Afrika
und im Mittleren Osten um 35 Prozent verringern,
wird die Zahl der von Hungersnöten betroffenen
Menschen um etwa 550 Millionen ansteigen.
Mittelfristig müsste ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts
für Klimaschutzmaßnahmen ausgegeben werden, um den
Kohlendioxidausstoß auf einem bestimmten Niveau zu halten und damit die Folgen des Klimawandels zu begrenzen.
Steigt das Bruttoinlandsprodukt, müssen auch die Ausgaben
steigen.
Etwa zeitgleich zog ein Dokumentarfilm mit unerwartetem Erfolg durch die Welt. An Inconvenient Truth, präsentiert von Al Gore
und produziert von Davis Guggenheim, startete am 24. Mai 2006
in den Kinos in den USA und eroberte rasch Platz drei der weltweit erfolgreichsten Dokumentarfilme (Box Office Mojo 2007).
Mittlerweile wurde der Film mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und wird in Schulen und Hochschulen als Lehrmaterial verwendet. Vor allem nach der Veröffentlichung des IPCC-Berichts
im Februar 2007 (siehe unten) fanden in Deutschland zahlreiche
öffentliche Filmvorführungen bei freiem Eintritt mit anschließender Diskussion mit Politiker(inne)n statt. Der Erfolg des Dokumentarfilms liegt sicherlich auch darin begründet, dass er ein
düsteres und deprimierendes Szenario aufzeigt, es aber schafft,
die Kinogänger(innen) am Ende mit der optimistischen Botschaft
zu entlassen: „Du kannst etwas tun!“ und ihnen eine Reihe von
Handlungsempfehlungen mit auf den Weg zu geben – und das
mit einem Augenzwinkern und ohne moralische Aufladung.
Durchaus eine Leistung bei diesem Thema.
Auf diesem vorbereiteten Feld erschien am 2.Februar 2007 der
erste, am 6. April der zweite und am 4. Mai der dritte und letzte
Teil des neuesten Berichts des IPCC. Darin wurde auf Basis wissenschaftlicher Ergebnisse erstmals festgehalten, dass der Klimawandel eindeutig vom Menschen verursacht wird. Der Bericht
konstatiert: „Most of the observed increase in global average temperatures since the mid-20th century is very likely due to the observed increase in anthropogenic greenhouse gas concentrations“
(IPCC 2007 a, S. 10). Und: „A global assessment of data since
1970 has shown it is likely that anthropogenic warming has had
a discernible influence on many physical and biological systems“
(IPCC 2007 b, S. 2). Der IPCC-Bericht fiel auf gesellschaftlich
fruchtbaren Boden – er bestätigte, was man seit dem Stern-Review bereits zu ahnen begann: Der Klimawandel ist ein ernstzunehmendes Problem, das wir selbst verschuldet haben.
In der Summe waren es also vor allem drei Ereignisse, die das
Klima in die aktuelle Debatte gebracht haben: der Bericht eines
Ökonomen, der Dokumentarfilm eines Politikers und schließlich der zusammenfassende Bericht von Klimaexpert(inn)en. Ich
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wage die Behauptung, dass ohne die beiden Erstgenannten die
Befunde der Klimaexpert(inn)en zwar eine Meldung in den Medien wert gewesen, aber, wie so oft, ungehört verklungen wären.
Für die Wissenschaft ein bitterer Befund.
Verständigung über Systemgrenzen
Was heißt das nun in der Sprache der Theorie? Warum wurden
ein Ökonom und ein Politiker eher gehört als die Klimatolog(inn)en, die sich seit Jahren bemühen, die gleichen Botschaften unters Volk zu bringen und die doch diejenigen sein sollten, denen
man am ehesten die Kompetenz für eine Situationsanalyse des
Klimas und für eine Prognose zuschreibt? Weder der Ökonom
Stern noch der Politiker Gore haben etwas anderes getan als das
IPCC, nämlich bestehende Erkenntnisse der Klimaforschung
zusammenzutragen und öffentlich verfügbar zu machen – nur
weniger differenziert und weniger abgestimmt.
Rufen wir uns zum Verständnis dieser Umstände noch einmal die Aufgaben der gesellschaftlichen Teilsysteme in Erinnerung und bleiben dabei – der Einfachheit halber – bei Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Die Wissenschaft soll spezifisches
Wissen für die Gesellschaft bereitstellen, die Politik das Miteinander regeln und die Zukunft gestalten, die Wirtschaft Tauschvorgänge ermöglichen. Um diese Aufgaben zu bewältigen, bedienen sich die Teilsysteme durchaus auch einander. So gibt die
Politik Studien bei der Wissenschaft in Auftrag, um fundierte und
begründete Entscheidungen treffen zu können. Die Wissenschaft
bearbeitet diesen Auftrag unter Beachtung ihrer Kriterien (Wahrheit und Methode) und liefert detaillierte und differenzierte Ergebnisse an die Auftraggeberin. Für das Politiksystem gehören
die Informationen, die es aus der Wissenschaft erhält, zunächst
jedoch zu seiner Umwelt und sind damit Rauschen. Man kann
vielleicht sogar sagen: Je detaillierter die Informationen, umso
stärker das Rauschen in der Umwelt des Systems und umso unklarer, welche Informationen aus dem Rauschen nun für das
System (in diesem Fall die Politik) relevant sind. Die Praxis zeigt:
Wissenschaftliche Studien im Auftrag der Politik führen selten
zu politischen Entscheidungen, sondern oft nur dazu, dass eine
weitere Studie in Auftrag gegeben wird.
Der Stern-Review war hier erfolgreich: Über das reine Zusammentragen der klimawissenschaftlichen Erkenntnisse hinaus hat
Stern die Befunde der Wissenschaft für ein anderes gesellschaftliches Teilsystem, die Ökonomie, verstehbar gemacht, indem er
die Konsequenzen des Klimawandels in die Sprache der Wirtschaft (unter dem Code Zahlen/Nicht-Zahlen) übersetzt hat. Die
Aussage, dass der Klimawandel bei Fortführung der bisherigen
Wirtschaftsweise in absehbarer Zeit zu einem Einbruch der weltweiten Wirtschaftsleistung um bis zu 20 Prozent führen wird,
macht den Klimawandel für die Ökonomie „berechenbar“; die
Wahrscheinlichkeit, dass sich im Teilsystem Wirtschaft über
Selbstirritation Resonanz erzeugen lässt, erhöht sich dadurch
deutlich. Darüber hinaus hat eine in der Wirtschaft erzeugte Resonanz in der Regel einen starken gesellschaftlichen Effekt. Bei
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der derzeitigen Dominanz der Ökonomie in der Gesellschaft erfährt die Aufnahme einer Information in dem Teilsystem Wirtschaft eine enorme Verstärkung: Was die Wirtschaft angeht, geht
uns alle an. In diesem Sinne verursacht die Irritation der Wirtschaft eine wechselseitig „ansteckende“ Wirkung in anderen Teilsystemen (beispielsweise der Politik). Deren politische Vorgaben
erzeugen wiederum Irritationen in anderen Teilsystemen, etwa
in der Wirtschaft über Grenzwerte oder Technologieförderung,
in der Wissenschaft über Drittmittelförderung oder Stellenbewilligung und im Rechtssystem über neue Gesetzesvorgaben.
Nach dem gleichen Prinzip funktionierte die Kommunikation
Al Gores mit seinem Dokumentarfilm. Auch er trug klimatologische Erkenntnisse zusammen, übersetzte sie in Schaubilder und
Animationen, machte sie so für eine breite Öffentlichkeit konsumierbar und erhöhte damit die Wahrscheinlichkeit der Resonanz
in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen. In der Kombination dieser beiden Übersetzungen wissenschaftlicher Erkenntnisse liegt die Schlagkraft, die das Thema Klimawandel im Winter 2006/2007 in den Fokus der Gesellschaft katapultiert hat. Der
IPCC-Bericht lieferte dann nur noch die notwendige Bestätigung,
dass wir selbst an allem schuld sind.
Konsequenzen für die Wissenschaft
Die Teilsysteme der Gesellschaft funktionieren auf der Grundlage einer jeweils spezifischen Orientierung, die offensichtlich
einer anderen Art von Kommunikation über wissenschaftliche
Erkenntnisse bedürfen, als wir sie bislang betrieben haben. Will
man erreichen, dass aus wissenschaftlichem Wissen gesellschaftspolitisches Handeln entsteht, muss man andere gesellschaftliche
Teilsysteme (bei unserer aktuellen Gesellschaftsform vorzugsweise Wirtschaft und Politik) in Schwingung versetzen und dort
Resonanz erzeugen. Dazu muss sich die Art der wissenschaftlichen Kommunikation am Selbstverständnis des adressierten Systems orientieren. Die Arbeit des Ökonomen Sir Nicholas Stern,
der klimatologische Erkenntnisse in die Sprache der Ökonomie
übersetzte, zeigt dies beispielhaft. Folgt sie seinem Beispiel, begibt sich die Wissenschaft auf eine durchaus riskante Gratwanderung: Orientiert sich ihre Kommunikation zu sehr an den Leitdifferenzen anderer Systeme, droht der Verlust der Akzeptanz
innerhalb der eigenen Gemeinde, denn dort sind wir alle „unserem“ Code verpflichtet. Bleibt die Kommunikation – wie bislang
oft – an der Wissenschaft orientiert, erreicht die Wissenschaft
wahrscheinlich weiterhin wenig. Vielleicht liegt das Geheimnis
in Allianzen mit anderen – fachfremden – Expert(inn)en, mit denen zusammen eine zielgerichtete Formulierung für Politik und
Wirtschaft unter Umständen leichter fällt (was man auch als eine Form der Transdisziplinarität verstehen kann). Was wir nicht
tun sollten, ist darauf zu warten, dass andere – wie Stern oder
Gore – ein Thema aufgreifen und übersetzen. Wenn wir wollen,
dass aus wissenschaftlichen Erkenntnissen gesellschaftspolitisch
relevantes Handeln entsteht, bleibt uns nichts anderes übrig, als
unsere Kommunikation zielgerichteter zu adressieren.
Literatur
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IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change). 2007b. Climate change
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Luhmann, N. 1987a. „Distinctions directrices“. Über Codierung von Semantiken und Systemen. In: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der
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Opladen: Westdeutscher Verlag. 13–31.
Luhmann, N. 1987b. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Luhmann, N. 1988. Selbstreferentielle Systeme. In: Lebende Systeme.
Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Herausgegeben
von F. B. Simon. Berlin: Springer. 47–53.
Luhmann, N. 1995. Was ist Kommunikation? In: Die Soziologie und der
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Opladen: Westdeutscher Verlag. 113–124.
Luhmann, N. 2004. Ökologische Kommunikation. 4. Auflage. Opladen:
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Der anthropogene Klimawandel im Diskurs zwischen Wissenschaft, Politik
und Massenmedien. Opladen: Leske + Budrich.
Eingegangen am 22. August 2007; überarbeitete Fassung
angenommen am 17. Oktober 2007.
Heike Egner
Geboren 1963 in Heidelberg. Studium der
Publizistik, Geografie und Politikwissenschaften an
der Universität Mainz. Promotion in Geografie.
Ihre Habilitationsschrift trägt den Titel „Gesellschaft,
Mensch, Umwelt – beobachtet. Ein Beitrag zur Theorie
der Geographie“. Lehre an den Universitäten Mainz,
Frankfurt am Main und Kassel. Zurzeit Gastprofessorin am Institut für
Geographie und Regionalforschung der Universität Wien.
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