Seite 1 16/4 (2007): 241– 320 18:56 Uhr ECOLOGICAL PERSPECTIVES FOR SCIENCE AND SOCIETY 18.11.2007 ÖKOLOGISCHE PERSPEKTIVEN FÜR WISSENSCHAFT UND GESELLSCHAFT ECOLOGICAL PERSPECTIVES FOR SCIENCE AND SOCIETY 4 | 2007 WIE DER KLIMAWANDEL TOPTHEMA WURDE | WASTEWATER TREATMENT AT THE SOURCE | REGIONALE FÖRDERUNG ERNEUERBARER ENERGIEN 000_Umschlag_Montage_lv:Layout 1 WIE DER KLIMAWANDEL TOPTHEMA WURDE WASTEWATER TREATMENT AT THE SOURCE REGIONALE FÖRDERUNG ERNEUERBARER ENERGIEN GAIA is available online at www.ingentaconnect.com www.oekom.de | B 54649 | ISSN 0940-5550 | GAIAEA 16/4, 241– 320 (2007) 250_254_Egner 17.11.2007 18:27 Uhr Seite 250 250 Überraschender Zufall oder gelungene wissenschaftliche Kommunikation: Wie kam der Klimawandel in die aktuelle Debatte? Heike Egner 2007 ist das Jahr, in dem sich das öffentliche Klima für den Klimawandel gewandelt hat: Noch nie erfuhr das Thema so viel Resonanz in den unterschiedlichsten Teilbereichen der Gesellschaft. Dies ist vor allem der Übersetzungsarbeit von Sir Nicholas Stern und den Politpop-Aktionen von Al Gore zu verdanken. Die Klimaforschung lieferte die wissenschaftliche Gewissheit, dass den plakativen Aussagen eines Ökonomen und eines Politikers zu trauen ist – im Nachhinein. Surprising Coincidence or Successful Scientific Communication: How Did Climate Change Enter into the Current Public Debate? | GAIA 16/4 (2007): 250–254 Keywords: climate change, modern societies, politics, scientific communication B undeskanzlerin Angela Merkel reist in der politischen Sommerpause nach Grönland, um sich über das alarmierende Abschmelzen der dortigen Gletscher zu informieren, US-Präsident George W. Bush lässt sich beim G8-Gipfel (zwar verhaltene, aber immerhin doch) Zugeständnisse für den Klimaschutz abringen, Finanzunternehmen legen Nachhaltigkeits- und Klimaschutzfonds für breite Anlegergruppen auf, am 7. Juli 2007 findet unter dem Titel Live Earth – The Concerts for a Climate in Crisis die bislang größte Benefiz- und Musikveranstaltung der Geschichte statt. Und zu guter Letzt wird die Arbeit am Klimaschutz als Arbeit für den Weltfrieden verstanden und Al Gore und der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change [IPCC]) erhalten den Friedensnobelpreis 2007. Der Klimawandel ist auf der Weltbühne der Aufmerksamkeit als ernstzunehmendes Problem angekommen. Das ist durchaus überraschend. Prognosen, die auf tiefgreifende Veränderungen in einem Zeitraum von einhundert Jahren hinweisen, werden in einer gegenwartszentrierten Gesellschaft in der Regel kaum wahrgenommen. Die Tragweite einer scheinbar minimalen durchschnittlichen Erwärmung des Weltklimas um 0,2 °C pro Jahrzehnt (IPCC 2007 a, S. 12) ist im Alltagsverständnis nur schwer zu vermitteln; in unseren Breiten hätten nur wenige etwas gegen eine kleine Erwärmung einzuwenden. Auch hier steht einem Verständnis der komplexen Zusammenhänge eine allzu große Orientierung an der Gegenwart entgegen. Dies haben Klimaforscher(innen) in den letzten 20 Jahren immer wie- Kontakt: Dr. Heike Egner | Geographisches Institut | Johannes Gutenberg-Universität Mainz | Postfach | 55099 Mainz | Deutschland | E-Mail: [email protected] der erfahren müssen, wenn sie versucht haben, ihre Forschungsergebnisse so zu transportieren, dass daraus politische Entscheidungen und gesellschaftliches Handeln entstehen. Zwar gab es auch kleinere Erfolge (Weingart et al. 2002), erst 2007 aber hat sich das öffentliche Klima für das Thema Klimawandel gewandelt. Wie kam es dazu? Vor der Beantwortung dieser konkreten Frage rufe ich einige Zusammenhänge über das Funktionieren moderner Gesellschaften in Erinnerung. Kommunikation in der funktional differenzierten Gesellschaft Die moderne Gesellschaft besteht aus Teilsystemen, die sich aufgrund einer bestimmten Funktion ausgebildet haben, um die Komplexität der Welt soweit zu reduzieren, dass sie zu bewältigen ist. Das politische System etwa soll das gesellschaftliche Miteinander regeln und die Weichen für die gesellschaftliche Entwicklung stellen, das Rechtssystem soll über Recht oder Unrecht entscheiden, die Wirtschaft die Austausch- und Handelsbeziehungen regeln und die Wissenschaft spezifisches Wissen für die Gesellschaft bereitstellen. Der Soziologe Niklas Luhmann konstatierte, dass die Teilsysteme – ebenso wie die zugehörigen Organisationen und Institutionen – bei der Bearbeitung ihrer Aufgaben unter der Anwendung einer binären Leitdifferenz (Code) „arbeiten“. Die Codes schränken die Entscheidungen innerhalb des betreffenden Teilsystems ein und erleichtern über diese Komplexitätsreduktion die Entscheidungsfindung (Luhmann 1987a). So beobachtet das politische System seine Umwelt (zu der auch die anderen gesellschaftlichen Teilsysteme gehören) und trifft seine Entscheidungen unter dem Code Regierung/Opposition, das www.oekom.de/gaia | GAIA 16/4 (2007): 250–254 250_254_Egner 17.11.2007 18:27 Uhr Seite 251 251 FORUM Recht unter dem von Recht/Unrecht, die Wirtschaft unter dem von Zahlen/Nicht-Zahlen und die Wissenschaft unter dem von wahr/unwahr (oder vielleicht aktueller: valide/nicht valide). Jedes der Teilsysteme hält zusätzlich Programme bereit, welche die Handlungsanweisung für die Anwendung des Codes beinhalten. In der Logik dieser Systemtheorie sind die gesellschaftlichen Teilsysteme autopoietische und selbstreferenzielle Systeme, das heißt, jedes System produziert und reproduziert alle Einheiten, aus denen es besteht, selbst (Maturana und Varela 1973; für die Konsequenzen bei sozialen Systemen siehe Luhmann 1988) und bezieht sich überdies bei all seinen Operationen ausschließlich auf sich selbst und nicht etwa auf ein anderes System und dessen Operationen (von Foerster 1960, Luhmann 1987b, S.57ff.und 593 ff., Luhmann 1988). Die Grundannahmen von Autopoiesis und Selbstreferenz führen zu einer operativen Geschlossenheit von Systemen, die den einfachen Import oder Export von Elementen von außen nach innen oder von innen nach außen ausschließen. Das bedeutet nicht, dass die Umwelt eines bestimmten Systems keinerlei Zugang zu dem System hat. Es bedeutet nur, dass die Umwelt das System allenfalls irritieren und allein über die spezifische Operationsweise des jeweiligen Systems ein- bezogen werden kann. Übertragen auf unser Thema heißt das, dass wissenschaftliche Erkenntnisse (etwa, dass es einen anthropogenen globalen Klimawandel gibt) keineswegs unmittelbar zu politischen Entscheidungen (zum Beispiel Gesetze, die bestimmte Handlungen unterbinden) führen. Denn einerseits lassen sich Systeme aufgrund ihrer Selbstbezüglichkeit nur ungern irritieren, am wenigsten vielleicht durch Informationen über die „natürliche Umwelt“, die keine eigene Stimme hat und nicht selbst kommunizieren kann. Aus systemtheoretischer Sicht ist es unwahrscheinlich, dass die Gesellschaft auf ihre Umwelt reagiert. Für die Systemerhaltung mag es in den meisten Fällen sinnvoller sein, nicht auf die Umwelt zu reagieren, sondern die eigenen Operationen voranzutreiben (Luhmann 2004, S. 40 ff.). Erschwerend kommt andererseits hinzu, dass jedes gesellschaftliche Teilsystem nur aufgrund seiner Eigenfrequenz zur Resonanz, zur Reaktion, gebracht werden kann. Es hängt also von den systeminternen Strukturen und Bezügen ab, welche Art von Resonanz eine Information aus der Umwelt des Systems erzeugt, wenn sie erst einmal die Schwelle der Abwehr überwunden hat, sozusagen als order from noise wahrgenommen wurde. Die gleiche Information erzeugt so in unterschiedlichen Systemen eine ganz unterschiedliche Resonanz. Für einen ersten © Wikimedia Commons/Mila Zinkova Die Gletscher auf Grönland sind im Lauf dieses Jahres zum medienwirksamen Symbol für die Folgen des Klimawandels geworden. Erhöht sich die globale Durchschnittstemperatur wie vom IPCC vorhergesagt, verlieren die Gletscher weltweit weiter an Volumen. Die dunklen Oberflächen entstehen, wenn durch das Schmelzen der älteren Schnee- und Firnschichten der Schmutz vergangener Jahre und Jahrzehnte akkumuliert. Da sie mehr Strahlung absorbieren als Schnee, verstärken sie noch das Abschmelzen. GAIA 16/4 (2007): 250–254 | www.oekom.de/gaia > 252 17.11.2007 FORUM 18:28 Uhr Seite 252 Heike Egner grundlegenden Unterschied in der Bewertung einer Information – etwa der wissenschaftlichen Information, dass es einen anthropogenen Klimawandel gibt – sorgen bereits die zuvor genannten verschiedenen Codes, unter denen die Systeme die Welt beobachten. Die Anwendung der Leitdifferenzen in den jeweiligen gesellschaftlichen Teilsystemen führt zu einer „unterschiedlichen Qualifizierung von Informationen, weil sie den Informationswert der Information auf unterschiedliche Selektionshorizonte beziehen“ (Luhmann 1987a, S. 21). Die Ausdifferenzierung aufgrund einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion und die Bearbeitung dieser Aufgaben unter einer spezifischen Leitdifferenz führen jedoch nicht dazu, dass die Teilsysteme ihren Aufgaben „optimal“ nachkommen und zu „bestmöglichen“ Ergebnissen kommen. Weder ist klar, unter welchen Bedingungen sich ein System soweit irritieren lässt, dass es etwas als Thema behandelt, noch ist eindeutig, wie und mit welchem vermutlichen Ergebnis eine derartige Irritation dann gelöst wird. Zugelassene Irritationen aus der Umwelt eines Systems sind als eine Art „Selbstirritation“ zu verstehen, da jedes System nur nach seinen eigenen Regeln irritierbar ist. Darüber hinaus hängt die Art und Weise, wie das System auf eine Information aus seiner Umwelt reagiert, stark davon ab, ob etwas Ähnliches schon einmal Thema war oder nicht. Neue Themen, deren Lösung sozusagen noch nicht erprobt wurde, haben es damit schwer, überhaupt in der Gesellschaft Gehör zu finden. Wie hat es unter diesen Bedingungen ein komplexes Thema wie der globale Klimawandel geschafft, die Zirkel der sich damit beschäftigenden Wissenschaften zu verlassen? Hurrikan „Dean“ am 20. August 2007 vor der Halbinsel Yucatán: Es wird erwartet, dass infolge des Klimawandels tropische Wirbelstürme häufiger und zerstörerischer werden. In seinem Dokumentarfilm An Inconvenient Truth ist es dem inzwischen zum Friedensnobelpreisträger geadelten Politiker Al Gore gelungen, solche Zusammenhänge für die Öffentlichkeit verstehbar zu machen. Eine kurze Geschichte, wie der Klimawandel in die aktuelle Debatte kam Den Auftakt zur aktuellen Klimadebatte bildet wohl die Untersuchung des britischen Ökonomen Sir Nicholas Stern (Stern 2006) über die wirtschaftlichen Folgen einer globalen Klimaerwärmung, die er als Leiter des volkswirtschaftlichen Dienstes der britischen Regierung im Auftrag des Premierministers Tony Blair erstellt hat. Bei seiner Veröffentlichung Ende Oktober 2006 erhielt der Stern-Review großes Medienecho mit Schlagzeilen wie „Klimawandel bedroht Weltwirtschaft“ (Wirtschaftswoche 31.10.2006) oder „Vor uns die Sintflut“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.11.2006). Die britische Zeitung Independent widmete dem Stern-Review in ihrer Ausgabe vom 31. Oktober 2006 die ersten neun Seiten. Zwischen Berichten und Analysen finden sich dort – unter dem Titel „Stern by Numbers“ – auch die klaren und plakativen Kernaussagen des Berichts, hier in Auszügen (The Independent 2006): Durch den Klimawandel droht ein Einbruch der weltweiten Wirtschaftsleistung um bis zu 20 Prozent. Bis im Jahr 2050 werden etwa 200 Millionen Menschen wegen klimabedingter Verhältnisse (Dürre oder Überschwemmungen) auf der Flucht sein. Eine durchschnittliche globale Erwärmung um 6 °C bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ist eine plausible Schätzung, wenn keine Maßnahmen zur Emissionsreduktion ergriffen werden. Erhöht sich die durchschnittliche Welttemperatur um 2 °C, werden vier Milliarden Menschen mit Wasserknappheit zu kämpfen haben, © NOAA Satellite and Information Service 250_254_Egner www.oekom.de/gaia | GAIA 16/4 (2007): 250–254 250_254_Egner 17.11.2007 18:28 Uhr Seite 253 253 FORUM wird die Zahl der von Malaria betroffenen Menschen in Afrika um etwa 60 Millionen steigen, wird die Zahl der von Hungersnöten betroffenen Menschen um etwa 200 Millionen steigen, werden 40 Prozent der Arten weltweit aussterben. Erhöht sich die durchschnittliche Welttemperatur um 3 °C, werden sich die landwirtschaftlichen Erträge in Afrika und im Mittleren Osten um 35 Prozent verringern, wird die Zahl der von Hungersnöten betroffenen Menschen um etwa 550 Millionen ansteigen. Mittelfristig müsste ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Klimaschutzmaßnahmen ausgegeben werden, um den Kohlendioxidausstoß auf einem bestimmten Niveau zu halten und damit die Folgen des Klimawandels zu begrenzen. Steigt das Bruttoinlandsprodukt, müssen auch die Ausgaben steigen. Etwa zeitgleich zog ein Dokumentarfilm mit unerwartetem Erfolg durch die Welt. An Inconvenient Truth, präsentiert von Al Gore und produziert von Davis Guggenheim, startete am 24. Mai 2006 in den Kinos in den USA und eroberte rasch Platz drei der weltweit erfolgreichsten Dokumentarfilme (Box Office Mojo 2007). Mittlerweile wurde der Film mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und wird in Schulen und Hochschulen als Lehrmaterial verwendet. Vor allem nach der Veröffentlichung des IPCC-Berichts im Februar 2007 (siehe unten) fanden in Deutschland zahlreiche öffentliche Filmvorführungen bei freiem Eintritt mit anschließender Diskussion mit Politiker(inne)n statt. Der Erfolg des Dokumentarfilms liegt sicherlich auch darin begründet, dass er ein düsteres und deprimierendes Szenario aufzeigt, es aber schafft, die Kinogänger(innen) am Ende mit der optimistischen Botschaft zu entlassen: „Du kannst etwas tun!“ und ihnen eine Reihe von Handlungsempfehlungen mit auf den Weg zu geben – und das mit einem Augenzwinkern und ohne moralische Aufladung. Durchaus eine Leistung bei diesem Thema. Auf diesem vorbereiteten Feld erschien am 2.Februar 2007 der erste, am 6. April der zweite und am 4. Mai der dritte und letzte Teil des neuesten Berichts des IPCC. Darin wurde auf Basis wissenschaftlicher Ergebnisse erstmals festgehalten, dass der Klimawandel eindeutig vom Menschen verursacht wird. Der Bericht konstatiert: „Most of the observed increase in global average temperatures since the mid-20th century is very likely due to the observed increase in anthropogenic greenhouse gas concentrations“ (IPCC 2007 a, S. 10). Und: „A global assessment of data since 1970 has shown it is likely that anthropogenic warming has had a discernible influence on many physical and biological systems“ (IPCC 2007 b, S. 2). Der IPCC-Bericht fiel auf gesellschaftlich fruchtbaren Boden – er bestätigte, was man seit dem Stern-Review bereits zu ahnen begann: Der Klimawandel ist ein ernstzunehmendes Problem, das wir selbst verschuldet haben. In der Summe waren es also vor allem drei Ereignisse, die das Klima in die aktuelle Debatte gebracht haben: der Bericht eines Ökonomen, der Dokumentarfilm eines Politikers und schließlich der zusammenfassende Bericht von Klimaexpert(inn)en. Ich GAIA 16/4 (2007): 250–254 | www.oekom.de/gaia wage die Behauptung, dass ohne die beiden Erstgenannten die Befunde der Klimaexpert(inn)en zwar eine Meldung in den Medien wert gewesen, aber, wie so oft, ungehört verklungen wären. Für die Wissenschaft ein bitterer Befund. Verständigung über Systemgrenzen Was heißt das nun in der Sprache der Theorie? Warum wurden ein Ökonom und ein Politiker eher gehört als die Klimatolog(inn)en, die sich seit Jahren bemühen, die gleichen Botschaften unters Volk zu bringen und die doch diejenigen sein sollten, denen man am ehesten die Kompetenz für eine Situationsanalyse des Klimas und für eine Prognose zuschreibt? Weder der Ökonom Stern noch der Politiker Gore haben etwas anderes getan als das IPCC, nämlich bestehende Erkenntnisse der Klimaforschung zusammenzutragen und öffentlich verfügbar zu machen – nur weniger differenziert und weniger abgestimmt. Rufen wir uns zum Verständnis dieser Umstände noch einmal die Aufgaben der gesellschaftlichen Teilsysteme in Erinnerung und bleiben dabei – der Einfachheit halber – bei Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Die Wissenschaft soll spezifisches Wissen für die Gesellschaft bereitstellen, die Politik das Miteinander regeln und die Zukunft gestalten, die Wirtschaft Tauschvorgänge ermöglichen. Um diese Aufgaben zu bewältigen, bedienen sich die Teilsysteme durchaus auch einander. So gibt die Politik Studien bei der Wissenschaft in Auftrag, um fundierte und begründete Entscheidungen treffen zu können. Die Wissenschaft bearbeitet diesen Auftrag unter Beachtung ihrer Kriterien (Wahrheit und Methode) und liefert detaillierte und differenzierte Ergebnisse an die Auftraggeberin. Für das Politiksystem gehören die Informationen, die es aus der Wissenschaft erhält, zunächst jedoch zu seiner Umwelt und sind damit Rauschen. Man kann vielleicht sogar sagen: Je detaillierter die Informationen, umso stärker das Rauschen in der Umwelt des Systems und umso unklarer, welche Informationen aus dem Rauschen nun für das System (in diesem Fall die Politik) relevant sind. Die Praxis zeigt: Wissenschaftliche Studien im Auftrag der Politik führen selten zu politischen Entscheidungen, sondern oft nur dazu, dass eine weitere Studie in Auftrag gegeben wird. Der Stern-Review war hier erfolgreich: Über das reine Zusammentragen der klimawissenschaftlichen Erkenntnisse hinaus hat Stern die Befunde der Wissenschaft für ein anderes gesellschaftliches Teilsystem, die Ökonomie, verstehbar gemacht, indem er die Konsequenzen des Klimawandels in die Sprache der Wirtschaft (unter dem Code Zahlen/Nicht-Zahlen) übersetzt hat. Die Aussage, dass der Klimawandel bei Fortführung der bisherigen Wirtschaftsweise in absehbarer Zeit zu einem Einbruch der weltweiten Wirtschaftsleistung um bis zu 20 Prozent führen wird, macht den Klimawandel für die Ökonomie „berechenbar“; die Wahrscheinlichkeit, dass sich im Teilsystem Wirtschaft über Selbstirritation Resonanz erzeugen lässt, erhöht sich dadurch deutlich. Darüber hinaus hat eine in der Wirtschaft erzeugte Resonanz in der Regel einen starken gesellschaftlichen Effekt. Bei > 250_254_Egner 254 17.11.2007 FORUM 18:28 Uhr Seite 254 Heike Egner der derzeitigen Dominanz der Ökonomie in der Gesellschaft erfährt die Aufnahme einer Information in dem Teilsystem Wirtschaft eine enorme Verstärkung: Was die Wirtschaft angeht, geht uns alle an. In diesem Sinne verursacht die Irritation der Wirtschaft eine wechselseitig „ansteckende“ Wirkung in anderen Teilsystemen (beispielsweise der Politik). Deren politische Vorgaben erzeugen wiederum Irritationen in anderen Teilsystemen, etwa in der Wirtschaft über Grenzwerte oder Technologieförderung, in der Wissenschaft über Drittmittelförderung oder Stellenbewilligung und im Rechtssystem über neue Gesetzesvorgaben. Nach dem gleichen Prinzip funktionierte die Kommunikation Al Gores mit seinem Dokumentarfilm. Auch er trug klimatologische Erkenntnisse zusammen, übersetzte sie in Schaubilder und Animationen, machte sie so für eine breite Öffentlichkeit konsumierbar und erhöhte damit die Wahrscheinlichkeit der Resonanz in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen. In der Kombination dieser beiden Übersetzungen wissenschaftlicher Erkenntnisse liegt die Schlagkraft, die das Thema Klimawandel im Winter 2006/2007 in den Fokus der Gesellschaft katapultiert hat. Der IPCC-Bericht lieferte dann nur noch die notwendige Bestätigung, dass wir selbst an allem schuld sind. Konsequenzen für die Wissenschaft Die Teilsysteme der Gesellschaft funktionieren auf der Grundlage einer jeweils spezifischen Orientierung, die offensichtlich einer anderen Art von Kommunikation über wissenschaftliche Erkenntnisse bedürfen, als wir sie bislang betrieben haben. Will man erreichen, dass aus wissenschaftlichem Wissen gesellschaftspolitisches Handeln entsteht, muss man andere gesellschaftliche Teilsysteme (bei unserer aktuellen Gesellschaftsform vorzugsweise Wirtschaft und Politik) in Schwingung versetzen und dort Resonanz erzeugen. Dazu muss sich die Art der wissenschaftlichen Kommunikation am Selbstverständnis des adressierten Systems orientieren. Die Arbeit des Ökonomen Sir Nicholas Stern, der klimatologische Erkenntnisse in die Sprache der Ökonomie übersetzte, zeigt dies beispielhaft. Folgt sie seinem Beispiel, begibt sich die Wissenschaft auf eine durchaus riskante Gratwanderung: Orientiert sich ihre Kommunikation zu sehr an den Leitdifferenzen anderer Systeme, droht der Verlust der Akzeptanz innerhalb der eigenen Gemeinde, denn dort sind wir alle „unserem“ Code verpflichtet. Bleibt die Kommunikation – wie bislang oft – an der Wissenschaft orientiert, erreicht die Wissenschaft wahrscheinlich weiterhin wenig. Vielleicht liegt das Geheimnis in Allianzen mit anderen – fachfremden – Expert(inn)en, mit denen zusammen eine zielgerichtete Formulierung für Politik und Wirtschaft unter Umständen leichter fällt (was man auch als eine Form der Transdisziplinarität verstehen kann). Was wir nicht tun sollten, ist darauf zu warten, dass andere – wie Stern oder Gore – ein Thema aufgreifen und übersetzen. Wenn wir wollen, dass aus wissenschaftlichen Erkenntnissen gesellschaftspolitisch relevantes Handeln entsteht, bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Kommunikation zielgerichteter zu adressieren. Literatur Box Office Mojo. 2007. Documentary movies. www.boxofficemojo.com/genres/ chart/?id=documentary.htm (abgerufen 26.07.2007). IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change). 2007a. Climate change 2007. The physical science basis. Contribution of working group I to the fourth assessment report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Herausgegeben von S. Solomon, D. Qin, M. Manning, Z. Chen, M. Marquis, K. B. Averyt, M. Tignor, H. L. Miller. Cambridge, UK: Cambridge University Press. IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change). 2007b. Climate change 2007. Impacts, adaptation and vulnerability. Contribution of working group II to the fourth assessment report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Herausgegeben von M. L. Parry, O. F. Canziani, J. P. Palutikof, P. J. van der Linden, C. E. Hanson. Cambridge, UK: Cambridge University Press. Luhmann, N. 1987a. „Distinctions directrices“. Über Codierung von Semantiken und Systemen. In: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Soziologische Aufklärung 4. Herausgegeben von N. Luhmann. Opladen: Westdeutscher Verlag. 13–31. Luhmann, N. 1987b. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, N. 1988. Selbstreferentielle Systeme. In: Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Herausgegeben von F. B. Simon. Berlin: Springer. 47–53. Luhmann, N. 1995. Was ist Kommunikation? In: Die Soziologie und der Mensch. Soziologische Aufklärung 6. Herausgegeben von N. Luhmann. Opladen: Westdeutscher Verlag. 113–124. Luhmann, N. 2004. Ökologische Kommunikation. 4. Auflage. Opladen: Leske + Budrich. Maturana, H. R., F. J. Varela. 1973. Autopoiesis. The organization of the living. Report 9.4, Biological Computer Laboratory. Urbana-Champaign, Illinois: Department of Electrical Engineering, University of Illinois. Stern, N. 2006. Stern review on the economics of climate change. www.hm-treasury.gov.uk/independent_reviews/stern_review_economics_ climate_change/sternreview_index.cfm (abgerufen 28.11.2006). The Independent. 2006. Stern by Numbers. 31.10.2006. http://environment.independent.co.uk/climate_change/ article1943315.ece (abgerufen 15.02.2007). von Foerster, H. 1960. On self-organizing systems and their environments. In: Self-organizing systems. 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