Identität_Wittgenstein_Saussure_Magnus Frank - Linguistik

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Universität Duisburg-Essen
Fakultät für Geisteswissenschaften
Institut für Germanistik
Prof. Dr. Ulrich Schmitz
Identität beim „authentischen“ Saussure und dem
„späten“ Wittgenstein
Sprachtheorien gegen mörderische Identitäten
vorgelegt von
Magnus Frank
(2011)
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung ...............................................................................2
Einleitung .......................................................................................3
1. Identitäten ..................................................................................5
2. Identität bei Saussure .................................................................9
2.1 Form und Sinn .................................................................... 10
2.2 Drei falsche Identitäten ....................................................... 13
2.2.a Identität mit sich selbst.................................................. 15
2.2.b Intersubjektive Identität ................................................ 16
2.2.c Identität in der Zeit ........................................................ 17
3. Kontrastive Analyse - Identität bei Wittgenstein.....................19
4. Fazit..........................................................................................23
Literatur........................................................................................26
1
Vorbemerkung
Diese Arbeit entstand im Rahmen des linguistischen Oberseminars „Wittgenstein oder
Saussure“ von Prof. Schmitz im WS 09/10 an der Universität Duisburg-Essen. In
diesem Arbeitszusammenhang ging es vor allem um einen Vergleich des Denkens über
Sprache
des
„späten“
Ludwig
Wittgenstein,
stellvertretend
durch
seine
„Philosophischen Untersuchungen“ (1953), und des „authentischen“ Ferdinand de
Saussures, abseits des „Cours de linguistique générale“ (1931), d.h. der SaussureRezeption, die sich mit seinen unveröffentlichten und nicht autorisierten Schriften
beschäftigt, dabei zu nennen vor allem „Wissenschaft der Sprache“ (2003) und
„Linguistik und Semiologie“ (2003).
Der besseren Lesbarkeit halber werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit folgende
Abkürzungen verwendet werden: LW = Ludwig Wittenstein; PU = Philosophische
Untersuchungen; FdS = Ferdinand de Saussure; WdS= Wissenschaft der Sprache; LuS
= Linguistik und Semiologie.
Da im Folgenden Zitate durch Kursivschreibung gekennzeichnet sind, werden Stellen,
die im Original kursiv gedruckt sind, von mir durch Unterstreichung hervorgehoben.
2
Einleitung
Die Identität ist zunächst eine Frage von Symbolen und sogar von
Äußerlichkeiten. Wenn ich in einem Parlament Menschen sitzen sehe, die
einen mir verwandten Namen tragen, die die gleiche Hautfarbe oder die
gleichen Neigungen bzw. die gleichen Schwächen haben, dann kann ich
mich von ihm [dem Parlament, MF] repräsentiert fühlen.
(Maalouf 2000, S.106)
Ich werde mich in dieser Arbeit mit dem Begriff Identität entlang der Theorien des
„späten“ Wittgenstein und des „authentischen“ Saussures beschäftigen. Dabei kommt
dem Sprechen über Identitäten in den hoch aufgeladenen Debatten um Einwanderer und
ihre Kinder, dabei vor allem muslimische, eine besondere Bedeutung zu (z.B. bei den
Begriffen „der Westen“, „das Abendland“ oder „christlich-jüdische Tradition“). Denn
durch Identitätszuschreibungen im Sinne eines „anders-als“ werden in der Gesellschaft
Grenzziehungen vorgenommen und Privilegien können für bestimmte Gruppen
gesichert werden.
Dieses „anders-als“ stellt in Form des Begriffs Differenz das Fundament
strukturalistischer Forschung dar, für welche gemeinhin Saussure als Begründer gilt.
Durch dessen Hauptwerk „Cours de linguistique générale“ (1931) ist die
strukturgebende Unterscheidung in Bezeichnendes und Bezeichnetes in die Philosophie
und Soziologie des letzten Jahrhunderts eingegangen, herausgehoben sei dabei das
Werk des Ethnologen Claude Lévi-Strauss (vgl. Keller 2011, S. 15).
Dabei ergibt sich eine andere Sichtweise auf das doch recht starre strukturalistische
Moment
Saussures
im
„Cours“,
wenn
man
sich
ausschließlich
mit
den
unveröffentlichten Schriften aus dem Nachlass Saussures beschäftigt. Denn in diesen
liegt sein Denken viel näher an der Sprachtheorie seines vermeintlichen Widersachers
Wittgenstein.
Während
Wittgensteins
Sprachspiel,
als
das
Fundament
der
Gebrauchstheorie der Bedeutung, dem System von Sprache Saussures im „Cours“
(Saussure nennt dieses System langue) entgegen steht, kann in den nachgelassenen
Schriften Saussures hingegen eine Vereinbarkeit seiner (systemisch-)dynamischen
Bedeutungstheorie mit Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung festgestellt
werden.
3
Wie sich das Verhältnis der Sprachtheorien beider Denker entlang des Begiffs Identität
ausgestaltet, soll in dieser Arbeit gezeigt werden. Begründet durch den aktuellen soziopolitischen Relevanzrahmen des Begriffs Identität wurde zudem ein Untertitel für diese
Hausarbeit gewählt, der auf Amin Maaloufs Essay „Mörderische Identitäten“ Bezug
nimmt. In diesem Essay unternimmt Maalouf auf interpersonaler bzw. interkultureller
Ebene
den
Versuch,
die
mörderisch-praktischen
Konsequenzen
von
Identitätszuschreibungen aufzudecken. Dabei geht es ihm vor allem um die realpolitischen Konsequenzen aus vereinfachten Identitätszuschreibungen, bei denen die
personale
Identität
eines
Menschen
auf
National-,
Religions-
und/oder
Ethnozugehörigkeit reduziert wird. Maalouf verlässt dabei nicht das Feld des InIdentitäten-Denkens, sondern plädiert vielmehr für eine Bewusstwerdung der
Komplexität und Vielschichtigkeit des Begriffes Identität. Er selbst, als ein aus dem
Libanon stammender Christ, der Frankreich als sein Zuhause bezeichnet, sieht sich nicht
als komplexen Ausnahmefall einer homogenen Regel; sondern vielmehr entspreche sein
Leben selbst der Regel von Lebenswelten in einer sich immer weiter globalisierenden
und pluralisierenden Welt. Was seinen Fall jedoch besonders macht, ist der Umstand,
dass die im Fokus der diskursiven Aufmerksamkeit stehenden und sich durch ihre
begriffliche Identität vermeintlich ausschließenden Konstruktionen (namentlich:
entweder Christ-Sein und Europäer-Sein oder Muslim-Sein und Orientale-Sein) samt
zugehöriger Attribute ihre Funktionalität verlieren.
Vor diesem Hintergrund wird in dieser Arbeit folgendermaßen vorgegangen werden: In
einem ersten Schritt wird (1.) über die Relevanz des Begriffes Identität für die
Sprachtheorien des „authentischen“ Saussures und des „späten“ Wittgenstein
gesprochen werden, worauf (2.) eine genauere Analyse der Verwendung des
Identitätsbegriffes in der Theorie des „authentischen“ Saussures folgt und an welche
sich (3.) eine kontrastive Analyse des Identitätsbegriffs bei Wittgensteins entlang der
Philosophischen Untersuchungen anschließt (3.). Abschließend werden in einem Fazit
(4.) die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und beurteilt.
4
1. Identitäten
Mit Saussure kann die Frage nach der sozial-praktischen Bedeutung von Identitäten als
wichtig herausgestellt werden, da durch sie die fundamentale Frage nach dem
sinnvollen Vorgehen des Forschers gestellt wird:
[…] [es ist, MF] außerordentlich erstaunlich, daß es von Anfang an
unmöglich ist, über gegebene INDIVIDUEN nachzudenken, um dann
anschließend zu verallgemeinern; [es ist ebenso erstaunlich, MF] daß
man
<als
Sprachwissenschaftler>
im
Gegenteil
mit
der
Verallgemeinerung beginnen muß, wenn man etwas erhalten will, das dem
entspricht, was anderenorts das Individuum ist.
(FdS: WdS, S. 93)
Saussure nimmt dabei den Weg über das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit,
über welches sich für ihn zwei Aussagen treffen lassen. Erstens: Ein möglicher
Identitätsträger ist entweder ein Individuum oder aber etwas Allgemeines; und zweitens:
Das Individuelle hat das Allgemeine zur Bedingung. Das bedeutet, dass zuerst eine
theoretische Verallgemeinerung getroffen wird, bevor aus der Praxis heraus ein
individueller Identitätsträger mit diesem Allgemeinen verglichen und behauptet werden
kann.
Auch Wittgenstein reflektiert diese Arbeit des Forschers. Er tut dies jedoch aus
ganzheitlich-philosophischer Perspektive, wofür zwei Aussagen meiner Ansicht nach
zentral sind:
Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden,
gleichsam verschiedene Therapien.
(LW: PU, §133)
und
Die bürgerliche Stellung des Widerspruchs, oder seine Stellung in der
bürgerlichen Welt: das ist das philosophische Problem.
(ebd., §125)
5
Die bei Saussure erkannte Bedingtheit des Individuellen wird bei Wittgenstein durch die
von ihm beschriebene Stellung des Widerspruchs in der bürgerlichen Welt
problematisiert,
da
das
Bürgertum
klassischerweise
einen
widerspruchsfreien
Vernunftanspruch vertritt. Der Bürger versteht das Individuelle ausschließlich als
Individuelles (so dass für alle Zeiten und Perspektiven gilt: a= a) und nicht als Ergebnis
einer zuvor vollzogenen, wenn auch unbewussten, Verallgemeinerung (wodurch gelte: a
folgt aus einem zeit-, kontext- und subjektabhängigen b; und somit a1 # a2 # a3 #...an).
Denn würde der Bürger sich selbst den Widerspruch zugestehen, dass das Individuelle
durch das Allgemeine bedingt ist, gäbe er sein konservatives Bürgertum und seine (im
Wortsinne!) prädestinierte Stellung auf. Am Beispiel des bürgerlichen Sprechens über
die Begabungen von Kindern lässt sich dies plausibilisieren:
Der Bürger, wie ihn etwa der Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Hauptwerk „Die
feinen Unterschiede“ (1983) zeichnet, sieht in seinem Kind einen zu jeder Zeit mit sich
selbst identischen Träger einer individuellen Begabung, da die Gabe einer Begabung die
eigene vorteilhafte Stellung in der Gesellschaft quasi naturrechtlich legitimiert. Würde
der Bürger stattdessen sehen, dass seine Begabungsannahme aus der meritokratischen
Theorie deduktiv geschlossen wurde, wäre die bürgerliche Stellung aufgrund fehlender
naturgegebener Legitimation in Gefahr und somit die individuelle (Begabungs-)Identität
nicht mehr gegeben. Die naturrechtlich verstandene Begabung müsste dann als
abhängig von sozialisatorischen Faktoren, wie etwa dem familialen Milieu, gesehen
werden. Für die legitime Reproduktion der eigenen Stellung und der seiner Kinder muss
der Bürger somit an die Begabungstheorie und die individuelle Identität seiner Kinder
glauben, weil sich für ihn dadurch kein Widerspruch zwischen der eigenen
privilegierten Stellung in der Gesellschaft und der dahinter liegenden Theorie ergibt.
Wittgenstein spricht mit seiner Kritik an der bürgerlichen Stellung zum Widerspruch
also etwas Gesellschaftskritisches aus, was der (bürgerliche) Saussure für seine
Theoriebildung entlang des Verhältnisses von Individuellem und Allgemeinen deshalb
auch „erstaunlich“ findet. Bezieht man dies auf den aktuellen soziopolitischen
Relevanzrahmen, zeigen sich somit kulturell, religiös oder ethnisch ausgestaltete
individuelle Identitäten, als Konstrukte einer vorhergehenden Kulturtheorie, entlang der
die Subjekte eingeteilt werden können. Kinder von Menschen libanesischer Herkunft,
wie etwa Maalouf, bleiben so in öffentlichen Diskursen qua ihrer Natur (oder auch
6
bürgerlicherweise) Libanesen, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, da die
vorherrschende dichotome Kulturtheorie ihre Subsumierung unter die Gruppe der
autochthonen Bevölkerung in den Nationalgesellschaften der europäischen Länder
unmöglich macht.
In Wittgensteins Werk ist es sodann der zentrale Anspruch an die Philosophie, die als
Therapie fungieren soll, welcher das Denken über Identitäten generell legitimiert. Denn
wenn Philosophie in der Lage ist, nicht-konsistente Identitäten zu entlarven, kann sie, so
Wittgenstein, den einzelnen Menschen in seinem Denken und mit ihm die
gesellschaftliche Kommunikation heilen. Während er diesen Umstand im Tractatus
logico-philosophicus noch durch den rein theoretisch-abstrakten Weg in die
Idealsprache, die keinen Raum mehr für Ungenauigkeiten lässt, vollziehen will, stellt er
in den Philosophischen Untersuchungen das Wissen um die Undefinierbarkeit von
Begriffen als Paradigma für ein geheiltes Bewusstsein heraus und setzt sich selbst somit
als schreibenden Philosophen, der nicht nur abstrakt denkt, in die sozial-praktische
Lebenswelt ein. Es ist „Die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel der Sprache“
(ebd. §110), die in den „Philosophischen Untersuchungen“ aufgedeckt werden soll,
sprich: die inkonsistente Strukturierung unseres Denkens durch einen per Sprache
vermittelten Glauben an Identitäten.
Aus Saussures Werk heraus ergibt sich zudem eine interessante Verbindung zum
Anliegen Maaloufs. Denn indem Maalouf das Denken über Identitäten nicht aufgibt,
sondern für Komplexität plädiert, übernimmt er den Saussureschen Gedanken des
Blickpunktes, auf den im Weiteren genauer eingegangen werden wird. Dieser
Blickpunkt kann meiner Ansicht nach als praktisch-soziale Komponente des Denkens
über Sprache und Identität angesehen werden. Demzufolge kann es kein Leben
außerhalb eines Standpunktes (Blickpunktes) geben, was nach Saussure jedoch von
allzu theoretisch agierenden Denkern unberücksichtigt gelassen wird. Wenn Maalouf
also anstelle einer Absage an ein In-Identitäten-Denken die Bewusstmachung von
Komplexität als politisches Ziel herausstellt, trägt er damit dem Saussureschen
Gedanken des Blickpunktes Rechnung, der die soziale Welt in die theoretische Analyse
von Sprache mit einschließt.
7
In dieser Arbeit wird deshalb versucht werden, sowohl Saussures theoretischsprachwissenschaftliche
und
dabei
sozial-verankerte
als
auch
Wittgensteins
ganzheitlich-sprachphilosophische und dabei heilende Theorie der Identität zu
beschreiben und zugleich auf den aktuellen sozio-politischen Relevanzrahmen zu
verweisen. Vorgreifend kann dabei festgehalten werden, dass die gemeinhin unterstellte
Unvereinbarkeit der Denkweisen Wittgensteins und Saussures über Sprache, die sich
auch in dem ausschließenden „oder“ des Titels des linguistischen Oberseminars
ausdrückte, nicht aufrechterhalten werden kann. Auf den Aspekt der Identität bezogen
kann sogar behauptet werden, dass ein Vergleich Wittgensteins mit dem
„authentischen“ Saussure die Unvereinbarkeit der beiden nicht nur aufhebt, sondern das
„oder“ des Seminartitels in ein „und“ verkehrt, da sich die ausschließende
Negativannahme des „oder“ gemeinhin auf einen Vergleich zwischen dem von den
Saussureschülern Bally und Sechehaye herausgegebenen „Cours de linguistique
générale“
1
und dem „späten“ Wittgenstein2 der „Philosophischen Untersuchungen“
bezog.
Bezieht man diese Theoriediskussion nun auf den Aspekt mörderischer Identitäten, wie
Maalouf sie postuliert, wird deutlich, dass dies in der für den Zusammenhalt der
Gesellschaft wichtigen Frage mündet, inwieweit ein fremd- oder selbstetikettierender
Sprechakt (z. B. „Du bist Orientale“ oder „Ich bin Europäer“) mit einer dahinter
liegenden Struktur der Differenz (sei sie ethnisch, kulturell oder religiös) sinnvoller
Weise korrespondiert oder ob nicht das verallgemeinernde Theoriefundament der
Kulturdifferenz der Wirklichkeit voraus geht und diese einer self-fulfilling prophecy
gemäß zu (Un-)Gunsten mancher Gruppen strukturiert. Daraus ergibt sich weiterhin die
Frage, auf welche Art und Weise und in wieweit eine Reflexion des von Wittgenstein
1
Es soll an dieser Stelle auf den Umstand, dass es sich beim „Cours“ um eine Rekonstruktion der
Mitschriften Dritter (Studenten), die die drei Vorlesungen (1907-1911) Saussures über allgemeine
Sprachwissenschaft besuchten, handelt, hingewiesen werden. (Vgl. das Nachwort von Peter Ernst zur
dritten Auflage der „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft“, S.302 f.)
2
In der Rede vom „frühen“ und „späten“ Wittgenstein sollten beide Hauptwerke (Tractatus logicophilosophicus“ und „Philosophische Untersuchungen“) jedoch nicht abgekoppelt voneinander betrachtet
werden. Denn Wittgensteins Hauptgedanke der „Philosophischen Untersuchungen“, die
Gebrauchstheorie der Bedeutung, die im Sprachspiel seine praktische Ausformulierung erlangt, in
welchem die Bedeutung der Begriffe immer wieder aufs neue aus dem Gebrauch generiert wird, ist ein
Produkt seines gescheiterten positivistischen Versuches im „Tractatus logico-philosophicus“, eine
Sprachwelt zu beschreiben, die nicht sozial-praktisch ist.2 Zusätzlich könnte historisch-biographisch die
Frage aufgeworfen werden, ob nicht auch die Erfahrung von zwei Weltkriegen ihre Spuren im Denken
des einst positivistisch-idealistischen Philosophen hinterlassen hat.
8
eingeführten Sprachspiels als Theorie in der sozial-praktischen Wirklichkeit
therapeutisch wirken könnte.
2. Identität bei Saussure
Durch Bally und Sechehaye wurde bei Saussure eine starke Trennung zwischen
Bezeichnendem (signifiant) und Bezeichnetem (signifié) im Denken über Sprache
postuliert, aus der sich, wenn auch arbiträr, Identitäten (sprachliche Einheiten) ableiten
lassen. So gilt klassischer Weise nach Saussure, dass
[…] die sprachliche Einheit etwas Doppelseitiges ist, das aus der
Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht.
(FdS 2001, S. 77)
Aus dieser dichotomen Unterscheidung kann die Bedeutung des Systems als Grundlage
von Sprache verstanden werden, und aus dem Systemgedanken heraus entwickelte sich
zudem im Späteren die Theorieschule, die allgemein als Strukturalismus bezeichnet
werden kann. Die Schüler und Mitarbeiter Saussures rekonstruieren also im „Cours“
derart das System, und damit ebenso die Begriffe Differenz, Bezeichnendes und
Bezeichnetes, dass der dynamische Aspekt desselben in den Hintergrund geriet und
stattdessen eine sich zwar in der Zeit verändernde, aber doch relativ starre Struktur der
Sprache und ihrer Zeichen angenommen wurde.
In den nachgelassenen Schriften tritt die Dynamik der Struktur von Sprache als System
jedoch in den Vordergrund. Dies geschieht derart deutlich, dass die Grenzen zwischen
der systemischen Sprachwissenschaft Saussures und Wittgensteins Gebrauchstheorie,
die ganz ohne den Systemgedanken auskommt, jedoch als Theorie-Ersatz dafür das
Sprachspiel einführt, oftmals verschwimmen. Dies soll im Weiteren genauer aufgezeigt
werden.
Nachdem im vorangegangen Kapitel die Relevanz des Begriffes Identität aufgezeigt
wurde, soll nun die Verwendung desselben bei Saussure analysiert werden. Dabei wird
in einem ersten Schritt eine Betrachtung der für Saussure fundamentalen
Begrifflichkeiten Form und Sinn erfolgen. Woraufhin drei von Saussure postulierte
9
theoretisch mögliche, jedoch in der Praxis falsche Identitäten und die dazugehörigen
vier Blickpunkte genauer in den Blick genommen werden.
2.1 Form und Sinn
Für Saussure gibt es Bedingungen für das Sprechen über sprachliche Identitäten:
Das absolut Besondere an einer sprachlichen Identität besteht darin, dass
sie die Assoziation zweier ungleichartiger Elemente impliziert.
(FdS: WdS, 76)
Der Begriff Assoziation zeigt dabei die Bedeutung subjektiver Praxis gegenüber
abstrakter Theorie an, denn etwas ist nicht assoziiert, sondern es wird assoziiert. Die
beiden Elemente, von denen Sausure sodann spricht, sind Sinn und Form, die stets
zusammen gedacht werden müssen, wenn Aussagen über Identität getroffen werden
wollen. Ihre Ungleichartigkeit ist dabei keine natürliche Tatsache, sondern ergibt sich
aus dem Ansinnen des Sprachwissenschaftlers, der die „Begriffe klassifiziert, um
anschließend die Formen zu betrachten“. Dies gelingt jedoch nur theoretisch und nicht
widerspruchsfrei praktisch, denn „in beiden Fällen verkennt er das, was
<unzweifelhaft> Gegenstand seiner Untersuchung und seiner Klassifikationen ist,
nämlich <ausschließlich> der Punkt, an dem die beiden Bereiche miteinander
verbunden sind“ (ebd.). Sinn und Form sind somit aufgrund des deduktiven Vorgehens
des Sprachwissenschaftlers nur theoretisch getrennt. Saussures Systembausteine langue,
langage und parole zementieren aufgrund dieser Einsichten keine drei Welten, sondern
stellen lediglich einen Perspektivwechsel (bzw. Blickpunktwechsel, um in Saussures
Terminologie zu bleiben) dar.
Doch nun sollen Form und Sinn genauer betrachtet werden:
Es ist falsch <(und nicht durchführbar)> Form und Sinn einander
entgegenzusetzen. <Dagegen ist es richtig>, lautliche Figur einerseits und
Sinn-Form [forme-sens] andererseits einander entgegenzusetzen.
(FdS: WdS, S. 75)
10
Diese Formulierung steht im Mittelpunkt des Vorwortes von Kapitel „I [Über das
doppelte Wesen der Sprache]“ der „Wissenschaft der Sprache“. Sie trägt den
Hauptgedanken Saussures in Bezug auf Identitätskonstruktionen (Entgegensetzungen),
der im Weiteren einzeln ausformuliert werden soll, voraus.
Dabei kann Form im voran stehenden Zitat nicht als „[…]eine lautliche Figur, die für
das Bewusstsein der Sprecher bestimmt, d.h. zugleich existent und abgegrenzt ist.“
(ebd., S. 98) verstanden werden, wie Saussure es an anderer Stelle formuliert. Wenn es
heißt, dass es falsch sei, „Form und Sinn einander entgegenzusetzen“, dann geschieht
dies, um mit der gängigen Vorstellung zweier Welten (die Welt der materiellen Dinge
und die Welt der Bedeutung) im Sinne einer augustinischen Abbildtheorie zu brechen.3
Saussure bedient sich im o. g. Zitat also zuerst einer für ihn falschen Verwendungsweise
von Form in Funktion einer theoretischen Krücke, um durch ein alltägliches
Verständnis seine Unterscheidung erläutern zu können.4 Anschließend entgegnet er
dieser Denkweise jedoch berichtigend („<Dagegen ist es richtig>“), indem er an die
Stelle einer Sinn(-Welt) und einer Form(-Welt), eine Sinn-Form(-Welt)5 setzt, der sich
von zwei verschiedenen Standpunkten aus nähern lässt: von der Form aus (d. h. von der
lautlichen oder graphischen Figur) oder aber vom Sinn aus (d. h. von der Sinn-Form).
Die zuständigen Wissenschaften wären somit (von der Form aus) die Morphologie6 oder
aber (vom Sinn aus) die Semantik. Beides zusammen fällt unter die Linguistik, oder in
Saussures Worten: unter die Semiologie, welche die Linguistik umschließt.7
3
Wittgenstein zitiert für das kontrastive Einleiten seiner Gebrauchstheorie eine Stelle aus Augustinus’
Confessiones: „So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichneten, die ich
wieder und wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen, aussprechen hörte.“ (LW: PU,
§1).
4
Diesen Gedanken einer theoretischen Krücke entwickele ich in Analogie zum Problem der Rede vom
Ding an sich im philosophischen System Kants. Kant wird meiner Ansicht nach für seine
Erkenntnistheorie ungerechtfertigter Weise vorgeworfen, allein schon durch die Redeweise von „Dingen
an sich“, eine Zwei-Welten-Theorie aufzustellen, der er im späteren auch durch die Einführung der dazu
im Kontrast stehenden „Erscheinungen“ nicht mehr entfliehen könne. Bei Saussure verhält es sich meiner
Ansicht in diesem Fall genauso.
5
Möglich wäre ebenso der Begriff Form-Sinn(-Welt).
6
„Definition: die Morphologie ist die Wissenschaft, die sich mit den Lauteinheiten befaßt, welche einem
Teil der Vorstellung entsprechen, und sie befaßt sich mit der Gruppierung dieser Einheiten“ (FdS: LuS, S.
287).
7
„Man hat herausfinden wollen, ob die Linguistik zur Ordnung der Naturwissenschaften oder zu jener der
historischen Wissenschaften gehört. Sie gehört zu keiner der beiden, sondern zu einer Abteilung der
Wissenschaft, <die, wenn sie nicht existiert, existieren sollte unter dem> Namen Semiologie, das heißt
Wissenschaft der Zeichen oder Untersuchung [étude] dessen, was sich ereignet, wenn der Mensch
versucht, sein Denken mittels einer notwendigen Konvention zu bedeuten“ (FdS: LuS, S. 404).
11
Die Verwobenheit von Sinn und Form macht Saussure auch an anderer Stelle deutlich:
Alles hängt voneinander ab. Man kann in der Morphologie also nicht
unmittelbar von Identität sprechen, wenn man nur die Form oder [nur,
MF] den Sinn betrachtet
(ebd., S. 91)
Saussure problematisiert dies ebenso in Bezug auf seine eigene Tätigkeit als
Sprachwissenschaftler, dessen Tun immer auf <die <außerordentlich> schwierige
<und heikle> Operation hinaus>[läuft, MF], Einheiten zu definieren (ebd., S.86). Von
lautlicher Figur zu sprechen bedeutet demgemäß, (auch als Sprachwissenschaftler) den
Standpunkt der physiologisch-akustischen (lautlichen) Form (Figur) einzunehmen,
womit die soziale Differenz einbezogen ist, denn die lautliche Figur unterscheidet sich
vom Laut dahingehend, dass sie mit Sinn befüllbar wird, der nur im Sozialen denkbar
ist.
Aus diesem Gedankengang ergibt sich ein generelles Problem im Umgang mit den
Schriften des „authentischen“ bzw. des übersetzten „authentischen“ Saussures, welches
auch in dem Umstand, dass die „authentischen“ Textfragmente durch ihn zu Lebzeiten
nicht zur Veröffentlichung freigegeben wurden, deutlich wird. Denn einerseits wird, wie
im vorausgegangenen Abschnitt, in der Rezeption der Fragmente versucht, Saussures
Ausführungen
kohärent
zu
lesen,
andererseits
schaffen
es
gleichartige
Wortverwendungen doch immer wieder, Verwirrung zu stiften. Ein solches Beispiel ist
die Verwendung des Begriffs lautliche Figur:
Die Form außerhalb ihres Gebrauchs <gelten zu lassen>, heißt, sich mit
der lautlichen Figur abgeben, für die Physiologie und Akustik zuständig
sind […], was der beste Beweis für die völlige Unangemessenheit der
Form [de l’être forme] außerhalb ihres Gebrauchs ist.
(ebd., S. 91)
Saussure beschreibt in dieser Formulierung die, in meinen vorherigen Ausführungen im
Sozialen verankerte, lautliche Figur lediglich als das, was ich versucht habe, mit ihm als
12
akustisch-physiologischen Laut zu kennzeichnen. Der sich schwierig gestaltende
Umgang mit den Fragment gebliebenen Nachlasstexten wird daraus ersichtlich.
Es soll deshalb festgehalten werden, dass Form und Sinn in Saussures Theorie zwei
miteinander verwobene Perspektiven (Blickpunkte) auf ein und dasselbe Zeichen
bedeuten. Dieses Zusammenspiel, von dem die Rede über Identitäten abhängt, weil
Identität etwas sich selbst gleich Bleibendes behauptet, ist nach Saussure wiederum
selbst dynamischen Prozessen durch seinen Gebrauch in der sozialen Welt ausgesetzt,
wie im weiteren Verlauf deutlich werden soll. Für gesellschaftliche Zusammenhänge
ergibt sich die Bedeutung des dynamischen Verbundes aus Sinn und Form somit aus der
Frage, inwiefern die Behauptung kultureller Identitäten den dynamischen Aspekt des
Zusammenspiels von Sinn (kulturelle Zuschreibungen und Zugehörigkeiten) und Form
(Etikettierungen wie „deutsch“, „türkisch“ etc.) fatalerweise übersieht.
2.2 Drei falsche Identitäten
Mit Saussure kann zwischen drei theoretisch möglichen Identitäten unterschieden
werden. Eine beispielhafte Aufstellung anhand des Begriffs cantāre finden wir im
Nachlass Saussures:
(1.)
Identität
cantāre
cantāre
(2.)
Identität
cantāre
cantāre
Sinn und Gebrauch
Sinn und Gebrauch
cantāre
chanter
(3.)
Identität
(FdS: LuS, S. 299)
Ich bezeichne die verschiedenen Identitäten im Folgenden erstens als Identität mit sich
selbst, zweitens als Intersubjektive Identität und drittens als Identität in der Zeit.
Zugleich kann mit Saussure jedoch keine der drei genannten Arten von Identität
sinnvoll behauptet werden, wenn damit eine Art vorsozialer „Existenz“ von Begriffen
proklamiert wird, denn „es gibt im Bereich der Morphologie keinerlei andere Identität
als die Identität einer Form in der Identität ihrer Gebrauchsweisen“ (FdS: WdS, S. 91).
Weiterhin ist es nach Saussure „falsch zu meinen, es gebe <irgend>wo Formen <(die
13
für sich selbst)>, außerhalb ihres Gebrauchs existieren) <oder> irgendwo> Begriffe
(<die für sich selbst>, außerhalb ihrer Repräsentation <existieren>)“ (ebd.).
Diese „falsche“ Redeweise von Existenz drückt Saussure durch die Rede vom für sich
selbst aus und entzieht selbiger die Berechtigung. Es hat dadurch den Anschein, als
greife hier Saussure der Gebrauchstheorie Wittgensteins vor, wenn er die „Identität
ihrer Gebrauchsweisen“ als die einzig vorstellbare Identität der Formen gelten lässt.
Der Sprachwissenschaftler Saussure will jedoch im Gegensatz zu Wittgenstein
theoretisch differenzieren – ohne dass diese Differenzierung in der sozialen Praxis
aufrechterhalten werden könnte –, da die Begriffe Form, Zeichen, Bedeutung und
lautliche Figur wichtige Instrumente seiner sprachwissenschaftlichen Theorie
darstellen.
Für Wittgenstein als dem Philosophen, der über Sprache auf einer Metaebene der
sozialen Interaktion nachdenkt, ist es hingegen nicht nötig, diese differenzierten
innersprachlichen Kategorien einzuführen, da von ihm die Bedeutung des Gebrauchs
von Sprache als soziologisches Phänomen besonders betrachtet wird. Ein für
Wittgenstein problematischer Akt innerhalb einer als Therapie fungierenden
Philosophie ist sodann einer, in dem neue Bedeutungen durch Sprecher eingeführt
werden, ohne auf das Gebrauchskorsett der Begriffe zu achten. Wittgenstein wählt für
diesen Umstand den Begriff des Feierns:
Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.
Und da können wir uns allerdings einbilden, das Benennen sei irgend ein
merkwürdiger seelischer Akt, quasi eine Taufe des Gegenstandes.
(LW: PU, §38)
Es ist eine solche Bedeutungstaufe von Zeichen ex nihilo, welche das Sprachspiel zum
Scheitern bringt, da verwendete Laute oder graphische Zeichen nicht sozial, sondern
individuell oder monologisch mit Sinn befüllt werden können. Dass Wittgenstein zudem
ganz allgemein und entpersonalisiert davon spricht, dass „die Sprache“ feiere und nicht
die Sprechenden mit oder in der Sprache, scheint mir ein Verweis auf die seines
Erachtens große Verbreitung dieses Phänomens des Feierns in der Philosophie zu sein.
14
2.2.a Identität mit sich selbst
Für Saussure muss die erste (theoretische) Form der Identität, Identität mit sich selbst,
praktisch aufgegeben werden, „weil es absolut unmöglich ist zu wissen, worum es sich
handelt, außerhalb eines Blickpunkts, den man wählen muss.“ (FdS: LuS, S. 299). Die
Bedeutung eines Begriffes wird also an einen Standpunkt (Blickpunkt) geknüpft, der
vom Sprechenden, der sich als Subjekt innerhalb der sozialen Welt befindet,
notwendiger Weise eingenommen wird:
Man hat unrecht, wenn man sagt: Eine sprachliche Tatsache will von
mehreren Gesichtspunkten aus betrachtet sein; selbst dann, wenn man
sagt, bei dieser sprachlichen Tatsache werde es sich je nach
Gesichtspunkt wirklich um zwei unterschiedliche Gegenstände [choses]
handeln. Denn dann geht man von der Annahme aus, daß die sprachliche
Tatsache außerhalb des Gesichtspunktes gegeben ist.
Man muß sagen: Zu allererst gibt es Gesichtspunkte; <sonst> [ ] {und}
ist es <schlicht> unmöglich, eine sprachliche Tatsache zu <erfassen>.
(FdS: WdS, S. 77)
Doch nicht nur die Bedeutung des Begriffes ist dadurch bestimmt. Der Begriff
insgesamt, von Saussure im vorangegangenen Zitat als sprachliche Tatsache
bezeichnet, konstruiert sich erst durch die Sinnzuschreibung aus einem Blickpunkt
(Gesichtspunkt) heraus und ist losgelöst davon ein Produkt falschen Identitätsglaubens.
Saussure unterscheidet dabei zwischen vier verschiedenen für ihn legitimen
Gesichtspunkten, die eine genauere Betrachtung verdienen und sich auf die drei Arten
der Identität beziehen lassen. Gesichtspunkt I bezieht sich dabei auf die Identität mit
sich selbst, Gesichtspunkt II auf intersubjektive Identität und die Gesichtspunkte III und
IV auf Identität in der Zeit.
Ich beginne mit Blickpunkt I:
I. Gesichtspunkt des Sprachzustandes für sich genommen,
Nicht unterschieden vom Gesichtspunkt eines bestimmten Zeitpunkts […],
[…] [es folgt eine Aufzählung, MF] vom semiologischen Gesichtspunkt
15
[…],[…] vom morphologischen <oder grammatischen> Gesichtspunkt
[…],[…] vom Gesichtspunkt der miteinander verbundenen Elemente.
(Die Identitäten in diesem Bereich sind durch das Verhältnis von
Bedeutung und Zeichen oder durch das Verhältnis der Zeichen
untereinander festgelegt, was keinen Unterschied macht.)
(ebd., S. 79 f.)
Aus diesem ersten Gesichtspunkt (bzw. Standpunkt oder auch Blickpunkt) heraus wird
eine Identitätsbeschreibung zum Ausdruck gebracht, die sich auf „für sich“ gleich
bleibende Bedeutungen oder Zeichen bezieht. Dabei werden weder zeitliche
(chronologische) noch semiologische (zeichentheoretische), noch formabhängige
(morphologische) Unterscheidungen getroffen.
Identität mit sich selbst kommt durch diesen ersten Blickpunkt somit für „das Verhältnis
der Zeichen untereinander“ Bedeutung zu, denn um dieses Verhältnis untersuchen zu
können, muss eine solche Identität postuliert werden.
2.2.b Intersubjektive Identität
Die intersubjektive Identität wird durch den zweiten Gesichtspunkt in ihrer praktischen
Bedeutung erläutert:
II Gesichtspunkt der transversalen Identitäten,
Nicht <unterschieden> vom diachronischen Gesichtspunkt […] vom
phonetischen Gesichtspunkt […] vom Gesichtspunkt der isolierten
Elemente
(Die Identitäten in diesem Bereich sind <zuerst> <notwendig> durch die
des vorhergehenden gegeben; werden aber danach <zur zweiten>
Ordnung sprachlicher Identitäten, die nicht auf die vorhergehende
zurückzuführen ist.)
(ebd., S. 80)
Das
„Transversale“
Nichtzurückführbarkeit
(Quere)
von
dieses
einer
Gesichtspunktes
zweiten
intersubjektiv
besteht
erlangten
in
seiner
„Ordnung
16
sprachlicher Identitäten“ auf den ersten Gesichtspunkt, wobei dieser sich erst aus
Identität mit sich selbst ergibt. Was ist aber mit einer zweiten Ordnung sprachlicher
Identitäten gemeint? Saussure gibt an dieser Stelle nicht viele Hinweise. Im Sinne des
Versuchs einer Herstellung von Kohärenz seines Gedankenganges macht es jedoch
Sinn, diese zweite Ordnung als das durch den intersubjektiven Gebrauch in die
Lebenswelt
getretene
Produkt
der
Identitätsbeschreibung
mittels
des
ersten
Gesichtspunktes zu deuten. Etwa analog zum Verhältnis von Theorie (I.) und Praxis
(II.), in welcher die Praxis auf der Theorie aufbaut, aber darauf folgend eine
eigenständige Sphäre bildet. Bezieht man dies auf unser Beispiel cantāre, so folgt aus
Gesichtspunkt II, dass die intersubjektive Verwendungsweise von cantāre in der
sozialen Lebenswelt mit all ihren Bedingungen diese zweite Ordnung ausmacht, die auf
der in 1. Ordnung angenommenen begrifflichen Identität von cantāre mit sich selbst
aufbaut, aber erst in zweiter Ordnung intersubjektiv an Dynamik gewinnt.
2.2.c Identität in der Zeit
Die
dritte
theoretische
Identität
hängt
schließlich
mit
den
Perspektiven
(Gesichtspunkten) III und IV zusammen, denn „<III und IV ergeben sich aus den
legitimen Sichtweisen [ ] >“ (FdS: WdS, S. 80). Beginnen wir mit dem dritten
Gesichtspunkt:
III.<Anachronischer,
künstlicher,
gewollter>
Gesichtspunkt
[…]
Gesichtspunkt einer PROJEKTION einer Morphologie (oder eines
‚<früheren Sprachzustandes>’) auf eine Morphologie (oder auf einen
anderen, <späteren> Sprachzustand. [schließende Klammer fehlt, MF]
(Mittels
der
Untersuchung
der
transversalen
Identitäten,
II,
zusammengenommen mit der morphologischen Untersuchung des ersten
Zustandes – gemäß I, kann diese Projektion durchgeführt werden).
(ebd.)
Die entscheidende Frage bezüglich des dritten Gesichtspunktes muss sich um die Art
der Beschreibung der von Saussure bewusst durch Großschreibung hervorgehobenen
Projektion drehen. Wie schon in den Blickpunkten I und II sind seine Notizen, und
deshalb wird auch von Notizen gesprochen, auch in diesem Punkt nicht gedanklich
17
abgeschlossen. Fehlende Satzzeichen sind ein weiterer formaler Beleg für die
gedankliche Unabgeschlossenheit.
Der dritte Gesichtpunkt ist eine Konsequenz aus einer legitimen Perspektiveinnahme
der ersten beiden: Legitim, d.h. berechtigt, kann hier nur bedeuten: „den Umständen
angemessen“, „adäquat“, jedoch als Rückschluss auf vorsoziale Identitäten von
Begriffen keinesfalls „erlaubt“. Mit diesem „anachronischen, künstlichen und
gewollten“ Gesichtspunkt werden Identitätszuschreibungen beschrieben, die sich stark
auf das intendierte Herstellen von (Verwandtschafts-) Beziehungen zwischen Begriffen
durch die Sprecher beziehen. Identität in der Zeit lässt sich aus diesem Gesichtspunkt
heraus als etwas durch die Sprecher Projiziertes beschreiben, womit diese
(kommunikative) Zwecke zu erreichen hoffen. Daran schließt der vierte Gesichtpunkt
an:
IV.
<HISTORISCHER>
Gesichtspunkt
der
<Festlegung>
zweier
<aufeinanderfolgender> Sprachzustände, jeweils zunächst für sich allein
betrachtet und ohne einen den anderen unterzuordnenden, gefolgt von der
Erklärung
(ebd., S. 81)
Dieser vierte, nach Saussure ebenso aus den ersten beiden legitimen Sichtweisen
folgende, Gesichtspunkt betrifft die Identität in der Zeit in ihrem Kern. Aus diesem
Gesichtspunkt heraus wird diese angenommen, um auch über verschiedene Zeitpunkte
hinweg sich auf etwas Identisches beziehen zu können. Dabei gilt jedoch theoretisch:
Was cantāre jetzt „ist“, wird es gleich nicht mehr „sein“, angenommen sein jetziges
„Sein“ wäre im Sinne der Identität mit sich selbst jemals feststellbar gewesen. Diese
konditionale Beziehung ist es, auf die Saussure mit seinem Sprechen über legitime
Schlussfolgerungen zwischen den Gesichtspunkten hinaus will.
Saussure resümiert sodann:
[/3] Von diesen vier legitimen Gesichtspunkten (und wir gestehen, daß wir
außerhalb derselben nichts anerkennen) werden allenfalls der zweite und
der dritte kultiviert. [...]
18
Was dagegen <lebhaft> kultiviert wird, ist die beklagenswerte
Verwechslung dieser unterschiedlichen Gesichtspunkte;
(ebd.)
Saussure macht deutlich, dass er sich des Umgangs mit Identitätskonstruktionen in der
sozialen Welt bewusst ist. Unter „kultiviert“ muss m. E. an dieser Stelle „reflektiert“
verstanden werden, denn ähnlich wie bei Wittgenstein kommt durch Saussure im
Weiteren ein therapeutischer Ansatz zum Tragen. Bei Wissenschaftlern, denen die
verschiedenen praktischen Gesichtspunkte des Identitätsdenkens für ihre theoretische
Arbeit nicht bewusst sind, erkennt dieser „einen wirklichen Mangel an Reflexion“
(ebd.), was zur Folge habe, dass sich dieses falsche, „beklagenswerte“, Denken „bis in
Werke hinein, die höchsten wissenschaftlichen Anspruch erheben“ (ebd.), fortsetzt.
Saussure gelingt es allein durch diesen ersten Punkt, wichtige Axiome positivistischer
Wissenschaft aus den Angeln zu heben: Denn die als absolut aus der Wirklichkeit
ablesbar, objektiv vorgestellte, Begriffsbedeutung ist nunmehr durch den Sprechenden
und seine Verortung in der Lebenswelt (später wird Husserl diesen Begriff prägen)
mitbestimmt. Wenn ein Sprecher cantāre gebraucht, hat er somit Einfluss auf die SinnForm des Begriffs. Und verwendet er den Begriff dabei aus einer der vier legitimen
Blickpunkte heraus, ist für Saussure die Möglichkeit gewahrt, das falsche
Identitätsdenken theoretisch wieder einholen zu können. Daraus folgt, dass der
Gebrauch von Begriffen für dieselben konstituierend ist, wodurch Saussure mit
Wittgensteins Theorie in diesem Punkt übereinstimmt.
3. Kontrastive Analyse - Identität bei Wittgenstein
In Wittgensteins Theorie ist die Bedeutung eines Begriffs durch seinen Gebrauch im
Sprachspiel allumfassend erklärt, im Gegensatz zu Saussures Theorie, die ihr
begriffliches Werkzeug für die Erklärung aus der Unterscheidung theoretisch möglicher
Identitäten und legitimer Blickpunkte entnimmt. Was sodann innerhalb eines einzelnen
Sprachspiels passiert, hängt jedoch von der jeweiligen Rolle eines Begriffs ab: „Die
Bedeutung eines Ausdrucks lässt sich demnach nur angeben, indem man die Rolle in
einem Sprachspiel beschreibt“ (Schmidt 2005, S. 242). Schmidt bezieht sich an dieser
Stelle auf §21 der Philosophischen Untersuchungen und hebt Wittgensteins
19
Verwendung des Begriffs der Rolle hervor, der sowohl Funktion als auch Konvention in
sich einschließt und damit eine Brücke zwischen deskriptiver Sprachwissenschaft
(Frage: was passiert im Sprachspiel?) und normativen Sozialwissenschaft bzw.
Philosophie (Frage: wie sollte in den Sprachspielen der Gesellschaft gesprochen
werden?) schlägt. Wittgenstein beschreibt dies anhand der Zwecke und Intentionen,
nach denen man Dinge kategorisiert:
Wie wir aber die Worte nach Arten zusammenfassen, wird vom Zweck der
Einteilung abhängen,- und von unserer Neigung.
Denke an die verschiedenen Gesichtspunkte, nach denen man Werkzeuge
einteilen kann. Oder Schachfiguren in Figurenarten.
(LW: PU, §17)
Die Rolle ist es somit, welche bei Wittgenstein die Funktion des Gesichtspunktes bei
Saussure einnimmt. Ihr funktionaler und konventionaler Charakter stellen dar, was bei
Saussure die Notwendigkeit zur Einnahme einer Perspektive darstellt. Das teleologische
Tun-als-ob es begriffliche Identitäten gebe, wird somit bei Saussure über den
Blickpunkt und bei Wittgenstein über den Begriff der Rolle legitimiert. Beide geben auf
theoretischer Ebene das Denken in Identitäten jedoch auf.
Mit Wittgenstein könnte sodann Saussures Auflistung dreier Formen theoretisch
möglicher Identitäten von Begriffen als nutzlos beschrieben werden, da alle drei
überhaupt Identitäten behaupten. Dabei ließen sich die Identitätsannahmen aus den
verschiedenen Blickpunkten auch als Sprachspiele auffassen, doch ist mit Wittgenstein
die Redeweise von Identitäten m. E. an sich unangebracht, da Wittgenstein mit dem
Identitätsdenken grundlegend brechen will. Wittgenstein demaskiert sodann die erste
Form der Identität (Identität mit sich selbst) radikal durch die Grundhypothese der
Philosophischen Untersuchungen, was er anhand von Augustinus Sprachtheorie und
seiner Abbildtheorie der Bedeutung deutlich macht:
Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung;
nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System.
(LW: PU, §3)
20
Bedeutungen von Wörtern in der Sprache können nach Wittgenstein nicht einfach auf
ihre Funktion als Mittel der Verständigung reduziert werden. Tut man dies, und
Augustinus behauptet es zumindest zu tun, unterstellt man gleichzeitig eine quasi
mechanische
Verwendungsweise
von
Begriffen.
Dies
gleicht
einfacher
Kommunikationsmodelle, die durch den wittgensteinschen Einwand aber doch eher an
binäre Informatik als an menschliche Sprache erinnern: Person A sendet gedankliche
Inhalte (transformiert in Sprache) zum Empfänger, Person B, welche diese wieder in
gedankliche Information umwandelt. In diesem idealtypischen Kommunikationsmodell,
welches in Zusammenhängen, die rein mechanisch funktionieren, seine Berechtigung
finden kann8, werden der für Wittgenstein so wichtige Gebrauch von Sprache und damit
einhergehend, die ihn umgebende soziale Welt außer Acht gelassen. An einer weiteren
Stelle wird dieser Gedankengang gestützt:
Das Paradox [der Ungleichheit von Sinn und Form, MF] verschwindet nur
dann, wenn wir radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere
immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu
übertragen – seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und
Böse, oder was immer.
(ebd., §304)
Denn dass das Sender-Empfänger-Informationsumwandlungsmodell funktioniert,
unterstellt erstens eine bereits bestimmbare Information, zweitens eine regelhafte
Transformation in Sprache, drittens eine ebenso regelhaft von statten gehende
Rücktransformation in gedankliche Information (Wissen) und lässt viertens keinen
Raum, um Situationskontexte von Kommunikation angemessen berücksichtigen zu
können. „Ein ‚innerer Vorgang’ bedarf äußerer Kriterien“ (§580) schreibt
Wittgenstein und nimmt dadurch Bezug auf das Verhältnis von Bewusstsein und
(Um)welt.
Der Hauptkritikpunkt greift jedoch tiefer: Was dem Kommunikationsmodell das
Fundament raubt, ist die Subjektivität, und damit soll das von Christian Wolff kreierte
und für uns selbstverständlich gewordene Kunstwort „Bewusstsein“ gemeint sein.
8
So wie alle Modelle durch ihren Anwendungsbereich bestimmt und vom wissenschaftlichen Subjekt
ihrer Adäquatheit gemäß abgewogen werden müssen und nicht die Wirklichkeit selbst sein können.
21
Die Menschen sagen übereinstimmend: sie sehen, fühlen, etc. (wenn auch
Mancher blind und Mancher taub ist). Sie bezeugen also von sich, sie
haben Bewußtsein.
(ebd., §416)
Gerade durch den selbstverständlichen Umgang mit Sprache verlieren die Sprecher die
Bewusstheit vom eigenen Bewusstsein und somit die Möglichkeit, den Eigenen
Blickpunkt zu reflektieren. Ein Glaube an Identitäten lässt sich mit Wittgenstein daher
als ein Defizit an (philosophischem) Bewusstsein beschreiben. Dieses Defizit wird
aufgehoben, wenn das Sprachspiel als der bedeutungskonstituierende Raum von
Begriffen erkannt wird:
Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre
alltägliche Verwendung [im Sprachspiel, MF] zurück.
(ebd., §116)
Die Bedeutung von cantāre konstituiert sich somit erst durch das Vorhandensein und
Verwendetwerden in der Welt. Eine Identität mit sich selbst kann demnach nicht
gedacht werden, da ein solches Sprechen eine metaphysische Sphäre schafft, die
Wittgenstein gerade umgehen will.
Intersubjektive Identitäten und Identität in der Zeit können mit den gleichen
Argumenten Wittgensteins abgelehnt werden, da die Argumentation das Sprechen über
Identitäten allgemein betrifft. Die von Saussure aufgezählten legitimen Blickpunkte
sind von Wittgenstein in seinem Postulat des Sprachspiels mit aufgenommen. Denn das
Sprachspiel gestaltet sich als ein Spiel aus verschiedenen Perspektiven. Bedingung für
das
Gelingen
ist
lediglich
das
Beziehen
der
Sprechenden
auf
ähnliche
Sprachspielregeln, so dass die Differenz zwischen Meinen und Sagen im Falle des
Missverstehens eingeholt werden kann. Der Begriff Identität wird nicht benötigt.
Wittgensteins Philosophie ist deshalb Therapie: Heilung der Essentialisierung von
Begriffen, Heilung der Idealisierung von Begriffen und Heilung des Identitätsdenkens
durch Relativierung und Kontextualisierung. In dem gescheiterten Tractatus logicophilosophicus versuchte er, das Essentielle, Ideale und Kontextlose in Sprache zu
22
finden, um das Denken zu befrieden; in den „Philosophischen Untersuchungen“ ist es
nun das Bewusstwerden des notwendigerweise relativen Denkens, das diesen geheilten
Zustand erreicht. Wittgenstein vollzog in seinem Denken zudem den Schritt hinein in
die Gesellschaft, in der die Sprache gerade durch ihre intersubjektive Dynamik ihre
größte Kraft, auch für das Denken, entwickelt.
4. Fazit
Es soll gezeigt worden sein, dass den Sprachtheorien Wittgensteins und Saussures in
den
aktuell
hoch
aufgeladenen
Debatten
um
die
Verortung
von
Gesellschaftsmitgliedern, denen eine andere Identität als eine „abendländische“
zugesprochen wird, Relevanz zukommen kann. Denn während auf der einen Seite Amin
Maalouf in seinem Essay „Mörderische Identitäten“ versucht, den vereinfachten
Identitätszuschreibungen durch ein Plädoyer für das Erkennen von Komplexität zu
begegnen, kann mit den Sprachtheorien des „authentischen“ Saussure und des „späten“
Wittgenstein der Begriff Identität generell als problematisch herausgestellt werden.
Da sich die Auseinandersetzung mit den Nachlassschriften des „authentischen“
Saussure schwierig und teilweise auch verwirrend darstellte, ist es meiner Ansicht nach
sinnvoll und legitim, die in dieser Arbeit herausgestellten Ergebnisse für eine bessere
Übersicht anhand aufeinander aufbauender Thesen summarisch wiederzugeben:
1. Die Theorie des Philosophen Wittgenstein benennt das widerspruchsfreie
Denken des Bürgertums als das zentrale gesellschaftliche Problem seiner Zeit;
Saussure entlarvt in seiner Sprachtheorie selbiges Denken anhand der für ihn
„erstaunlichen“ Bedingtheit des Individuellen durch das Allgemeine.
2. Für den authentischen Saussure lässt sich ein Zeichen nicht in Form- und
Sinnwelt trennen. Stattdessen ist dieses unteilbar im Sinne einer Form-Sinn-Welt
bzw. Sinn-Form-Welt; Wittgenstein, als nicht sprachwissenschaftlich agierender
Philosoph, benötigt diese Termini nicht, da sein Sprachspiel als soziale Praxis
von einer Metaebene aus beschreibend ist.
3. Was der Saussure des Cours entlang der Trennlinie zwischen Sinn und Form
beschrieb, wird durch den authentischen Saussure durch den Begriff des
Blickpunktes eingeholt. Durch diesen wird die Betrachtung von Begriffen aus
23
der Sinn- bzw. Formperspektive möglich, ohne zugleich eine Trennung beider
Welten zu behaupten; für Wittgenstein ist dieser Blickpunkt innerhalb des
Sprachspiels
mitbedacht,
da
erst
eine
Perspektiveinnahme
die
Nachvollziehbarkeit der Sprechenden und das Aufeinanderbezugnehmen im
Sprachspiel ermöglicht.
4. Das Zeichen als Form-Sinn-Konstruktion ist für den authentischen Saussure
stets dynamisch, so dass dreierlei theoretisch mögliche Identitätsbehauptungen
von Begriffen (Identität mit sich selbst, intersubjektive Identität und Identität in
der Zeit) in der sozialen Praxis nicht aufrechterhalten werden können; in
Wittgensteins Theorie ist die Behauptung begrifflicher Identitäten funktionslos.
5. Identität mit sich selbst ist für Saussure nicht gegeben, da es keine Zeichen gibt,
die außerhalb ihres Gebrauchs existieren; Wittgenstein stimmt dem zu.
6. Intersubjektive Identität ist für Saussure nicht gegeben, weil der vom
Sprechenden eingenommene Blickpunkt die dynamische Sinn-Form von
Begriffen bestimmt; bei Wittgenstein ist es das Wissen um die Regeln des
Sprachspiels, welches das Gelingen desselben bzw. Verstehen möglich macht.
Dafür wird hingegen keine Annahme intersubjektiver Identität von Begriffen
benötigt.
7. Identität in der Zeit ist durch die Dynamik der Zeichentheorie für Saussure auch
chronologisch nicht haltbar; Wittgensteins Sprachspiel kennt dahingehend nur
seinen eigenen zeitlichen Rahmen, in dem Identitätsannahmen ebenfalls nicht
notwendig sind.
8. Die von Saussure als legitim herausgestellten Blickpunkte, welche sich entlang
der drei theoretisch möglichen Identitätsannahmen ausrichten, schließen die
soziale Praxis in seine sprachwissenschaftliche Theorie mit ein, da der
Blickpunkt den Gebrauch von Begriffen zur Folge hat und sich auch erst aus
diesem heraus rekonstruieren lässt; bei Wittgenstein ist es der Begriff der Rolle,
mit welchem, ähnlich wie bei Saussures Blickpunkt, sowohl die Funktion von
Begriffen im Sprachspiel als auch ihre Befüllung mit Sinn erklärt werden
können.
9. Sowohl Saussure als auch Wittgenstein lehnen die Behauptung begrifflicher
Identitäten ab. Während der authentische Saussure das Denken entlang
begrifflicher Identitäten in der sozialen Praxis durch den Blickpunkt legitimiert,
ist dies für Wittgenstein allenfalls implizit durch das Sprachspiel der Fall, in
24
welchem Identitätsannahmen aus dem Vollzug des Verstehens als legitim
geschlossen werden könnten. Für beide Theoretiker ist somit der Gebrauch von
Begriffen (im Sprachspiel bzw. aus einem Blickpunkt heraus) für eine Theorie
der Bedeutung entscheidend.
Abschließend auf den Untertitel dieser Arbeit rekurrierend lässt sich m. E. daher
behaupten, dass benachteiligende Identitätskonstruktionen von Personen innerhalb
gesellschaftlicher Diskurse mit Wittgenstein und Saussure theoretisch hinterfragt
werden können. Ihr praktisches Zustandekommen innerhalb der intersubjektiven und
institutionellen Sprachspiele könnte sodann rekonstruiert und für eine zukünftige
reflexiv-widerspruchsvolle Praxis fruchtbar gemacht werden.
25
Literatur
Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen
Urteilskraft. Frankfurt a. M.
Keller, Reiner (2011): Diskursforschung. Wiesbaden.
Maalouf, Amin (2003): Mörderische Identitäten. Frankfurt a. M.
Saussure, Ferdinand de (2003): Linguistik und Semiologie. Frankfurt a. M.
Saussure, Ferdinand de (2003): Wissenschaft der Sprache. Frankfurt a. M.
Saussure, Ferdinand de (20013): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft.
Berlin.
Schmidt, Stefan (2005): Die Herausforderung des Fremden. Interkulturelle Hermeneutik
und konfuzianisches Denken. Darmstadt.
Wittgenstein, Ludwig (2003): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.
Wittgenstein, Ludwig (20095): Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus-logico
philosophicus. Frankfurt a. M.
26
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