Klinikum Nürnberg Ethik-Bericht Klinikum Nürnberg 2011 – 2014 Herausgegeben von Vorstand und Ethikforum des Klinikums Nürnberg EthikBericht_11-14.indd 1 11.11.14 10:48 Inhaltsverzeichnis: Einführung Ethikprojekt 1 2 Aktivitäten und Angebote im Klinikum Nürnberg Ethikforum 5 Ethikcafe 7 Ethikberatung - ZME - Ethikkreis 10 Fortbildungen 14 Fernlehrgang 16 Veranstaltungen 17 Klinische Ethik – Forumsmitglieder publizieren Die Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebung – Langzeiterfahrungen mit einer hausinternen Leitlinie im Krankenhaus (Christof Oswald) 21 Zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge – Schwierige intensivmedizinische Entscheidungen am Lebensende (Prof. Dr. Frank Erbguth) 31 Der Ethikreis der 4. Medizinischen Klinik – Evaluation 1999 – 2011 (Dr. Stephan Kolb) 42 Medizingeschichte – Initiative zum Ärztetag 2012 61 Im Gedenken an die Opfer der Medizin im Nationalsozialismus 62 Nürnberger Erklärung des Deutschen Ärztetages 2012 64 The art of medicine Apologising for Nazi medicine: a constructive starting point 65 Anhang – Wichtige Grundlagen und Dokumente 67 Nürnberger Kodex 1947 67 Ethik-Code Klinikum Nürnberg 1999 68 Empfehlungen zum Umgang mit Schwerstkranken 69 Impressum Herausgeber: Klinikum Nürnberg, Prof.-Ernst-Nathan-Str. 1, 90419 Nürnberg V.i.S.d.P.: Dr. Stephan Kolb | Gestaltung: Jo Meyer | Titelfoto: Rudi Ott Druck: optimum. Druckdienstleistungen Nürnberg | Auflage: 500, November 2014 EthikBericht_11-14.indd 2 11.11.14 10:48 Einführung Viele Kolleginnen und Kollegen im Klinikum Nürnberg engagieren sich seit Jahren rund um das Thema „Ethik“. Sie reflektieren die eigene Arbeit und bilden sich weiter, entwickeln Leitlinien, bieten Diskussionsforen und helfen nicht zuletzt im Rahmen der Klinischen Ethikberatung unseren Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden, Patienten und Angehörigen in konkreten Entscheidungsnöten. In einem Krankenhaus der maximalen Versorgungsstufe mit nahezu der gesamten Bandbreite moderner Medizin und Pflege finden sich jeden Tag aufs Neue schwierige medizinische, pflegerische und ethische Herausforderungen: nicht nur auf den hochtechnisierten Intensivstationen, der Palliativstation, dem Dialysebereich, der Einheit für Schwerbrandverletzte oder in den beiden Notaufnahmen im Klinikum Nord und im Südklinikum, sondern auch in den vielen anderen Fachabteilungen und Stationen des Klinikums. Die Beschäftigung mit ethischen Fragen ist daher naheliegend, notwendig und wichtig und wir freuen uns darüber, dass sich hierzu in den vergangenen 15 Jahren eine regelrechte Tradition entwickelt hat. Wie die einleitende Entstehungsgeschichte der Befassung mit Ethik zeigt, hat das Klinikum Nürnberg dieses Themenfeld frühzeitig erkannt und auf den Weg gebracht. Über die Aktivitäten aus den Jahren 2011 bis 2014 informiert Sie der vorliegende Bericht. Im ersten Teil bietet dieser Bericht einen Überblick zu den verschiedenen Angeboten innerhalb des Klinikums und erläutert die involvierten Gremien und Arbeitszirkel. Im zweiten Teil dokumentiert er zu einigen ausgewählten Themen eine Reihe lesenswerter Veröffentlichungen von Mitgliedern des Ethikforums. An dieser Stelle danken wir allen Kolleginnen und Kollegen im Klinikum Nürnberg, die sich in den Ethik-Gremien und der Ethikberatung engagieren, sehr herzlich! Sie legen damit eine wichtige Grundlage für die Entwicklung und Vertiefung einer ethisch reflektierten Arbeit von uns allen! Allen Leserinnen und Lesern dieses Ethikberichts wünschen wir interessante Erkenntnisse und nützliche Anregungen! Dr. Alfred Estelmann Prof. Dr. Frank Erbguth Richard Schuster Dr. Stephan Kolb Vorstand Klinikum Nürnberg 1. Vorsitzender Ethikforum 2. Vorsitzender Ethikforum Geschäftsführer Ethikforum 1 EthikBericht_11-14.indd 1 11.11.14 10:48 Ethikprojekt – Ursprung der Aktivitäten Die im Folgenden beschriebenen ersten Aktivitäten zur Unternehmensethik und klinischen Ethik am Klinikum Nürnberg entstanden lange vor der Dynamik durch die Einführung des DRG-Systems. Fallzahlsteigerung, Verweildauer, PCCL oder Casemix waren noch kein gebräuchliches Alltagsvokabular, als sich die Leitung des Klinikums 1998 entschloss, ein eigenes Ethikprojekt zu initiieren, d.h. zunächst eine umfassende qualitative Mitarbeiterbefragung in Auftrag zu geben. Die Ergebnisse der Befragung begründeten in den Folgejahren eine Reihe von Maßnahmen und Initiativen, mit denen das Klinikum die Debatte moralischer Fragen und damit auch die ethische Kompetenz seiner Mitarbeiter systematisch fördern wollte. Von Anfang an war damit eine Initiative gemeint, „die nicht nur die klassischen Fragen der Medizin- und Pflegeethik betraf, sondern auch Aspekte der Unternehmenskultur wie Führung, Kommunikation und Transparenz.“1 Ein erster Meilenstein war 1999 die Entwicklung eines Ethik-Codes2 für das Klinikum, der die Würde des Patienten und seine stets individuelle Situation in den Mittelpunkt stellte und zum Maßstab des Handelns machte. Vor dem Hintergrund der historischen Bedeutung Nürnbergs in der Medizingeschichte verweist der Ethik-Code auf den Nürnberger Kodex von 19473 mit seinem ersten und prägenden Prinzip des „informed consent“; dem Prinzip, dem auch in dieser Arbeit eine besondere Bedeutung zukommt, da es eines der Kernprinzipien der Ethikberatung und der von ihr geförderten gemeinsamen Entscheidungsfindung darstellt. Der Ethik-Code, so heißt es in seiner Präambel, wurde im Klinikum in einem „offenen Diskussionsprozess“ erarbeitet. Seine ethischen Grundsätze stellten keine endgültigen Festlegungen dar, sondern blieben einer „lebendigen Überprüfung und Weiterentwicklung“ unterworfen. Damit stelle der Code eine Art „öffentliche Selbstverpflichtung“ dar und schaffe verbindliche Grundlagen aller Handlungen und Entscheidungsprozesse im Arbeitalltag. Ergänzt werde der Ethik-Code durch einen Verhaltenskodex für alle Mitarbeiter, der nicht nur den angestrebten Umgang mit Patienten und Angehörigen betreffe, sondern auch den Umgang der Beschäftigten untereinander und vor allem das Verhalten der Führungskräfte. Neben dem Verhaltenskodex brachten der damalige Vorstand Klaus Wambach und die Personalvertretung des Klinikums auch eine gemeinsame Vereinbarung zur Konfliktvermeidung und Konfliktbewältigung auf den Weg, eine für Krankenhäuser bis dahin unübliche Form der Selbstverpflichtung in Fragen der Unternehmenskultur. Neben der ambitionierten Initiierung derartiger Dokumente und Leitbilder waren es vor allem die praktischen Konsequenzen und Aktivitäten des Ethikprojektes, die für den Alltag der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter spürbar und relevant wurden: Ethische Themen wurden fortan systematisch in die pflegerischen Fort- und Weiterbildungen (z.B. Stationsleitungslehrgänge) aufgenommen; eigene Ethikseminare für Mitarbeiter aller Berufsgruppen wurden veranstaltet, zwei berufsgruppenübergreifende Lehrgänge für Führungskräfte organisiert sowie das Angebot von Supervision, Coaching und Teamentwicklung personell verstärkt und ab 2002 als dauerhaftes internes Dienstleistungsangebot des „Centrums für Kommunikation Information Bildung“ etabliert. Ziel der Aktivitäten war es, mit dem Ethikprojekt auch die Unternehmenskultur im beschriebenen Sinne positiv zu beeinflussen. 1 Erbguth/Fichtner/Sieber (2007), S. 157. 2 Wehkamp (1999) und (2001). Ethik-Code Klinikum Nürnberg – Siehe Anhang 3 Nürnberger Kodex 1947 – Siehe Anhang 2 EthikBericht_11-14.indd 2 11.11.14 10:48 Um die bisherigen und zukünftigen Aktivitäten zur Ethik im Klinikum nachhaltig sicherzustellen und weiterzuentwickeln, berief Klinikumsvorstand Klaus Wambach in der Folge ein klinikübergreifendes Ethikkomitee, das „Ethikforum“. Laut seiner Geschäftsordnung setzt sich das derzeit vierzehnköpfige Gremium nicht nur aus internen Mitarbeitern unterschiedlicher Hierarchien aus Medizin, Pflegedienst, Zentralen Diensten und den Servicebereichen zusammen, sondern bindet auch externe Expertise sein. So wirken eine pensionierte Richterin und ein Vorstandsmitglied der AOK-Mittelfranken seit seiner Gründung im Ethikforum des Klinikums mit.3 Geleitet wird das Ethikforum derzeit von zwei Vorsitzenden und organisiert von einer Geschäftsführung. Nach einer intensiven Aufbauphase in den ersten Jahren hat das Ethikforum wieder verstärkt seit 2009 verschiedene inhaltliche Impulse gesetzt, so eine Veranstaltung zur Unternehmenskultur, die Überarbeitung interner Handlungsempfehlungen sowie öffentliche Informationsveranstaltungen zum Patientenverfügungsgesetz im Jahr 2009 und den entsprechenden Urteilen des Bundesgerichtshofes im Jahr 2010. Um neben der klinikspezifischen Ethikberatung in der Medizinischen Klinik 4, die bereits seit dem Jahr 1997 besteht, auch eine klinikumsweite und zentral erreichbare Ethikberatung aufzubauen, beauftragte das Ethikforum 2003 zunächst eine Befragung von Ärzten und Pflegenden zum Thema „Patientenbetreuung und Entscheidungen am Lebensende“ durch die Medizinethikerin Prof. Dr. Stella Reiter-Theil aus Basel.4 An der schriftlichen Befragung nahmen Beschäftigte aus den Bereichen Intensivmedizin, Onkologie, Palliativmedizin, Geriatrie und Neurologie teil. Im Ergebnis zeigte die Befragung über alle Abteilungen und Berufsgruppen hinweg eine Unzufriedenheit bezüglich folgender Aspekte: - Fehlen schriftlicher hausinterner Leitlinien - Fehlen von Ansprechpartnern - Befürchtung von rechtlichen Konsequenzen - Personalknappheit und Zeitmangel - Kommunikationsschwierigkeiten der Berufsgruppen Im Hinblick auf die hier benannten Defizite entwickelten das Ethikforum und die Klinikumsleitung daraufhin im Jahr 2004 in Anlehnung an die Vorschläge der Bundesärztekammer gemeinsam mit der Nürnberger Hospizakademie und der Seelsorge am Klinikum Nürnberg die „Empfehlungen zum ethischen Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden“.5 Nach diesen vorbereitenden Aktivitäten initiierten das Ethikforum und sein damaliger Geschäftsführer Roland Fichtner im Jahr 2004 auch die Einführung der klinikumsweiten Ethikberatung, mit der die Rahmenbedingungen und die Qualität gemeinsamer Entscheidungsfindungen in schwierigen akuten Versorgungssituationen verbessert werden sollte. Mit seiner Zentralen Mobilen Ethikberatung (ZME) hat das Ethikforum für das Klinikum Nürnberg eine Ethikberatung auf den Weg gebracht, die klinikumsweit und kurzfristig, wenn nötig auch binnen weniger Stunden, stattfindet und in der speziell geschulte Mitarbeiter aus Medizin, Pflege, Seelsorge und Sozialdienst aktiv sind. 3 Klinikum Nürnberg (2007) 4 Reiter-Theil (2003) Es handelt sich um einen internen Ergebnisbericht im Klinikum Nürnberg. 5 Siehe Anlage 3 EthikBericht_11-14.indd 3 11.11.14 10:48 Die folgende aktuelle Übersicht (Stand Oktober 2014) stellt abschließend die grundsätzliche Struktur der Gremien dar sowie die vom Ethikforum ausgehenden Aktivitäten am Klinikum Nürnberg. Vorstand Leitungskonferenz Ethikforum 14 interne und externe Mitglieder vom Vorstand berufen aus Medizin, Pflege, Seelsorge, Zentralen Diensten u.a. 1. und 2. Vorsitzender Geschäftsordnung und Geschäftsführung ca. vier Treffen im Jahr bearbeitet und begleitet u.a. folgende Schwerpunktthemen ZME Ethikcafé Grundsätze Bildung Initiativen Zentrale Mobile Ethikberatung KNN/KNS Angebot für den Erfahrungsaustausch Empfehlungen z.B. zum Umgang mit Sterbenden Vorträge, Seminare, Fernlehrgang Ethikberater Sterberaum PEG Betriebsethik etc. Gemeinsame Veranstaltungen von Vorstand und Ethikforum 2010: Zwischen Ethik und Monetik 2011: Führung und Mitarbeitergespräche 2012: Visitenkultur und Kommunikation 2013: Organspende und Transplantationsmedizin 4 EthikBericht_11-14.indd 4 11.11.14 10:48 Ethikforum – Impulse und Diskussionen Auch in Nürnberg sind die wichtigsten Aufgaben des sich vierteljährig treffenden Forums die Veranstaltung von Fort- und Weiterbildungen zu ethischen Themen, die Entwicklung klinikumseigener ethischer Empfehlungen und Richtlinien sowie die Initiierung und Begleitung ethischer Angebote, wie der Ethikberatung oder der Ethik-Cafés. Das unabhängige Forum kann darüber hinaus von Beschäftigten, Patienten und Angehörigen involviert und um die Befassung bzw. Stellungnahme zu vorgebrachten Themen gebeten werden, es wird aber auch selbst initiativ, bestimmt seine eigene Agenda und setzt entsprechende Prioritäten. So ist das Ethikforum z.B. von niedergelassenen Ärzten zum klinikumsinternen Umgang mit dem Thema „PEG-Magensonde“ angefragt worden, es hat die Initiativen am Klinikum zur Einrichtung und Gestaltung von Sterbezimmern unterstützt und sich gegenüber der Klinikumsleitung um eine offene Diskussion des wachsenden Spannungsfeldes zwischen Ethik, Ökonomie und Mitarbeiterzufriedenheit eingesetzt. In der Anfangszeit wurde das Ethikforum irrtümlich von Seiten verschiedener Kliniken um die Genehmigung von Studien und Forschungsvorhaben ersucht. Dies ist ausdrücklich nicht sein Aufgabengebiet, sondern Tätigkeitsbereich entsprechender Ethik-Kommissionen. Insgesamt befindet sich das Ethikforum damit in jenem inhaltlichen Rahmen, den die internationale Literatur für Klinische Ethikkomitees seit Jahren vorschlägt. Dem Grunde nach kann sich auch das Ethikforum im Klinikum Nürnberg mit sehr verschiedenen Themen befassen, sofern dabei Fragen behandelt werden, die im weitesten Sinne der klinischen Ethik zuzordnen sind. Da es bis heute keine verbindlichen Kriterien einer wissenschaftlichen Untersuchung Klinischer Ethikkomitees gibt, fehlt es an überprüfbaren Kriterien für ihre Evaluation. Letztlich müssen sich sämtliche Einrichtungen im Umfeld eines Krankenhauses – und damit auch eine solche Institution – daran messen lassen, ob und wie sie sich auf die Qualität der Krankenversorgung positiv auswirken. Die Zusammensetzung des Ethikforums soll die Hierarchieebenen und Bereiche des Klinikums angemessen widerspiegeln und externe Expertise einbinden. Derzeit – im Mai 2012 – besteht das Ethikforum aus einem interdisziplinären Team von 14 Mitgliederinnen und Mitgliedern. Das Ethikforum wurde zunächst vom Chefarzt der Psychiatrie, Herrn Prof. Dr. Dr. Günter Niklewski, geleitet; später übernahm der Chefarzt der Geriatrie, Prof. Dr. Cornel Sieber diese Funktion; seit dem Sommer 2011 leiten Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Frank Erbguth, Chefarzt der Klinik für Neurologie, und Pfarrer Richard Schuster, Mitglied der ökumenischen Krankenhausseelsorge im Südklinikum das Forum. Die Geschäftsführung obliegt Dr. Stephan Kolb und in organisatorischen Belangen wird die Leitung des Ethikforums von Frau Cornelia Sternberg-Lautner aus dem Sekretariat des Bereichs Unternehmensentwicklung unterstützt. 5 EthikBericht_11-14.indd 5 11.11.14 10:48 Die folgende Grafik bietet einen Überblick über die Mitglieder des Ethikforums und deren unterschiedliche Disziplinen und Tätigkeitsbereiche (Stand November 2014). Prof. Dr. Frank Erbguth 1. Vorsitzender Pfarrer Richard Schuster 2. Vorsitzender Mitglieder klinischer Bereich Externe Mitglieder Mitglieder der zentralen Dienste u.a. Dr. Dirk Debus Oberarzt Hautklinik Hauttumorzentrum Carola Glenk Pfarrerin Roland Fichtner Leitung Personal management Christof Oswald Pflegedienstleitung Ethikkreis 4. Med. Norbert Kettlitz AOK Bayern Dr. Stephan Kolb Leitung Unternehmensentwicklung Martin Röttinger Krankenpflege ZME Elisabeth Senft-Wenny Richterin a.D. Christiane Lehner Vertrauensperson Schwerbehinderte Adriane Yiannouris Krankenpflege Koordination ZME Horst-Dieter Stein Personalrat 6 EthikBericht_11-14.indd 6 11.11.14 10:48 Ethikcafé – Einstieg ohne Schwellenangst Neben den dezidierten Beratungsmodellen wie etwa der Klinischen Ethikberatung existieren an vielen Krankenhäusern auch „niederschwellige“ offene Strukturen, in denen betroffene Ärzte, Pflegende, Seelsorger oder andere Mitarbeiter und nicht zuletzt Patienten oder Angehörige ihre Anliegen vortragen und diskutieren können. Diese eher informellen Angebote können dazu beitragen, spätere explizite Beratungsformen vorzubereiten oder diese zu ergänzen. Eine Fallberatung im eigentlichen Sinn kann hier nicht stattfinden, wohl aber die Einübung einer moderierten Reflexion und damit die Sensibilisierung für die Relevanz und Vorteile gemeinsamer ethischer Diskurse. Die offenen Formen haben eine wichtige Funktion im Sinne der Fort- und Weiterbildung in ethischer Kompetenz. Sie eignen sich aber auch als Gelegenheit und Ort, um an ethischen Fragen interessierte Mitarbeiter anzusprechen und für eine spätere Mitarbeit im Rahmen von Ethik-Projekten zu gewinnen. Mit dieser Zielsetzung wurde am Klinikum im Jahr 2007 das Ethik-Café entwickelt, zu dem auch 2011 bis 2014 die Beschäftigten des Klinikums zweimal pro Jahr im Klinkum Nord und Südklinikum eingeladen waren. Was Sie schon immer über Patientenverfügungen wissen wollten – Zahlen, Daten, Fakten und die Empfehlungen des Ethik Forums Unter diesem Titel fand das inzwischen 8. Ethikcafé am 22. Februar 2011 im Klinikum Nürnberg Süd und am 1. März 2011 im Klinikum Nürnberg Nord für jeweils 2 Stunden statt. Christof Oswald, damals Pflegerische Stationsleitung in der Klinik für Nephrologie, hielt zur Einstimmung einen Impulsvortrag, in dem er in seiner Funktion als Mitglied des Ethikforums die rechtlichen Aspekte darlegte sowie die Überlegungen des Forums hinsichtlich der Patientenverfügung. Die Resonanz und Atmosphäre der meist kleinen Veranstaltungen war positiv. Die teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen kamen aus Medizin, Pflege, Seelsorge und Verwaltung. Es zeigte ich, dass gerade das Thema „Patientenverfügung“ immer wieder auf Interesse stößt, weil die Kollegen im klinischen Alltag oft mit Patientenverfügungen konfrontiert werden und der Umgang damit durchaus mit Unsicherheiten verbunden ist; aber auch, weil es sich um ein Thema handelt, welches auch im privaten Umfeld immer wichtiger wird. Kein Land in Sicht – Umgang mit der Überlastungsanzeige Am 20. September 2011 im Südklinikum und am 27. September 2012 im Nordklinikum ging es jeweils um die damals neu eingeführte Dienstanweisung der Klinikumsleitung zum Thema „Umgang mit Überlastungsanzeigen“. Frau Angelika Öhlschläger vom Personalrat hielt ein einführendes Referat. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass das Instrument der Überlastungsanzeige allein nicht ausreiche, um spürbare Entlastung zu schaffen. Es wird als unerlässlich angesehen, frühzeitig präventive Ausfallkonzepte zu erarbeiten und abgestimmte Handlungsmuster für die Abteilungen und Kliniken zu definieren. 7 EthikBericht_11-14.indd 7 11.11.14 10:48 Angehörige im Krankenhaus Auch im Jahr 2012 setzten die Kolleginnen und Kollegen des Ethik-Cafés ihr Angebot fort – am 13. März und 20. März 2012 und mit Alois Hirth und Judith Krukenberg vom Marketing und den Patientenvertreterinnen Frau Bungartz, Frau Haider und Frau Yiyit sowie den Teilnehmenden u.a. aus den Abteilungen der Herzchirurgie, Endoskopie, OP, Seelsorge, Geriatrie und Gefäßchirurgie. Moderiert wurde durch die Kolleginnen Judith Berthold, Christina Lehner, Martin Röttinger und Sabine Salinger. Dabei zeigte sich einmal mehr, dass viele verstärkt den Eindruck gewinnen, wie der Anspruch der Patienten und Angehörigen im Krankenhaus steige und für wie dringend entsprechende Schulungen gehalten werden – womöglich schon während der Ausbildung. Lässt keine Fragen offen!? – Das neue Transplantationsgesetz Im Oktober 2012 fanden erneut zwei weitere Ethik-Cafés statt, diesmal mit den Referentinnen Frau. Dr. Bamberger und Frau Dr. Grammenos, besucht von Kolleginnen und Kollegen u.a. aus der Rechtsabteilung, Radiologie, Neurologie und der Seelsorge. Von der ersten Abklärung einer Organentahme bis zur tatsächlichen Entnahme wurden alle wichtigen Aspekte angesprochen und in der Gruppe lebhaft diskutiert, u.a. juristische Voraussetzungen, die spezielle Situation von Unfallopfern, das Procedere zur Feststellung des Hirntodes, das weitere Vorgehen nach dem Hirntod, die Rolle der Deutschen Stiftung Organtransplantation, den Umgang mit Angehörigen und auch den Pflegenden Brennt unsere Flamme noch? Schutz vor Resignation und Frustration im Klinikalltag In Zeiten der Diskussion um ausgebrannte Beschäftigte ein naheliegendes Thema, das am 16. April und 23. April 2013 jeweils im Klinikum Nord und Südklinikum zunächst differenziert dargelegt und dann lebhaft diskutiert wurde. So referierte etwa im Norden Dr. Andrea Eisenberg, Oberärztin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie über die Definition von Burn-Out, entsprechende Symptome, die Phasen von Burn-out, innere und äußere Ursachen sowie Behandlungsansätze und Prophylaxe. Die anschließende Diskussion befasste sich unter anderem mit der Frage der zunehmenden Vereinzelung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und dem mangelnden Austausch untereinander. Eine entsprechende Anlaufstelle für Mitarbeiter wurde thematisiert und sollte weiter verfolgt werden. Mythos und/oder Realität der Palliativstation Am 8. und 15. Oktober 2013 steht die Palliativstation des Klinikums im Mittelpunkt der Ethikcafes in den beiden Standorten im Norden und Süden Nürnbergs. Nach der Begrüßung stellte die verantwortliche Oberärztin Dr. Hofmann-Wackersreuther die typischen Patienten, Abläufe und die verschiedenen Ansätze der Therapie auf der Palliativstation vor. Immer wieder wurde klar, dass nur durch ein multidisziplinäres Team eine professionelle Behandlung auf einer Palliativstation möglich ist. Auch der Unterschied zu einem Hospiz, etwa im Bezug auf die Aufnahmekriterien, wurde diskutiert. Stationsleitung Frau Beyerlein erläuterte den Stationsablauf aus der Sicht der Pflegenden – von den verschiedenen pflegerischen Tätigkeiten bis hin zur Selbstpflege und verschiedenen Angeboten von Supervision und gemeinsamen Teamunternehmungen. Ein großer Schwerpunkt der Arbeit, so Beyerlein, sei die Angehörigenbetreuung, die gerade nach dem Tod eine besondere Bedeutung hätte. 8 EthikBericht_11-14.indd 8 11.11.14 10:48 Was heißt denn hier Sterbehilfe? Mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen aus Pflege, Physiotherapie, Seelsorge, Apotheke und Personalrat standen am 18. und 25. März 2014 das erneut aktuelle Thema „Sterbehilfe“ auf dem Programm der beiden Ethikcafes in Nord und Süd. An beiden Standorten führte Judith Berthold aus dem Centrum für Kommunikation Information Bildung (cekib) ins Thema ein und erläuterte die oftmals missverständlich und auch falsch benutzen Begriffe wie „Aktive Sterbehilfe“, „Tötung auf Verlangen“, „Passive Sterbehilfe“, „Beihilfe zum Suizid“ oder „Indirekte Sterbehilfe“. Unter Einbezug der Regelungen in Belgien, der Schweiz und in den Niederlanden und immer wieder ausgehend von beruflichen und persönlichen Erfahrungen erlebten die Teilnehmerinnen eine sehr lebhafte Diskussion. Es konnte dabei der Bogen von der Intensivmedizin bis zu Vorstellungen zur palliativen Geriatrie gespannt werden. Die Teilnehmerinnen zeigten sich erneut zufrieden mit dem Angebot des Ethikcafes. Kontakt zum Ethik-Café Die Termine des Ethik-Cafés werden auf Handzetteln in den Postfächern im Klinikum Nord und Süd verteilt und stehen im Intranet unter der Rubrik „Projekte & QM“. Für weitere Fragen wenden Sie sich bitte an: Klinikum Nürnberg Nord, Centrum für Kommunikation Information Bildung Judith Berthold M.A., Telefon 398-3788 [email protected] Klinikum Nürnberg Süd, Kinderklinik Sabine Salinger, Telefon 398-2217 [email protected] 9 EthikBericht_11-14.indd 9 11.11.14 10:48 Ethikberatung Aufgaben, Ziele, Ablauf Die rasante Entwicklung der Medizin, insbesondere der Intensivmedizin, verlangt von Patienten, Angehörigen, Ärzten und Pflegenden gerade am Ende des Lebens häufig schwierigste Entscheidungen. Um diese oft ambivalent erlebten Situationen im Sinne aller Beteiligter zu tragfähigen Lösungen zu führen, verbreitet sich seit den 1990er Jahren auch in Deutschland das Instrument der Klinischen Ethikberatung. In Form moderierter Gespräche fördert sie gemeinsame Entscheidungsfindungen unter professioneller Moderation. Seit 2006 wird die Einrichtung einer Klinischen Ethikberatung von der Zentralen Ethikkommission an der Bundesärztekammer explizit empfohlen. Der „Ethikkreis“ der Medizinischen Klinik 4 im Klinikum Nürnberg praktiziert sie bereits seit 1997. Auch das zweite Angebot von Ethikberatung im Klinikum, die Zentrale Mobile Ethikberatung (ZME) besteht bereits seit 2004 und kann auf große Erfahrung aufbauen. Inzwischen bietet bundesweit etwa jedes fünfte Krankenhaus Ethikberatungen an. Für den Ablauf des eigentlichen Beratungsgespräches gibt es eine Vielzahl publizierter Vorschläge, die sich meist auf die folgenden Grundprinzipien konzentrieren: Jedes Beratungsgespräch sollte in der einen oder anderen Form eine Eröffnung, Informationssammlung, Formulierung des ethischen Konfliktes, Diskussion der ethischen Fragestellung und einen Abschluss enthalten. Die verschiedenen Modelle setzen dabei lediglich eigene Akzente bzw. Schwerpunkte oder sie unterscheiden sich durch die chronologische Anordnung der genannten Gesprächsteile. Ethische Fallbesprechungen sind vor allem ein kommunikativer Prozess, bei dem ethische Inhalte im Mittelpunkt stehen. Daher ist neben der kommunikativen Kompetenz die fachliche sowie die methodische Expertise der Prozessgestaltung wichtig. Gerade der Moderation kommt im Gespräch eine zentrale Rolle zu. Dabei unterscheidet sich das Gespräch im Rahmen einer Ethikberatung deutlich von den ansonsten üblichen Besprechungsformen im Krankenhaus oder auf der Station. Es verlangt vor allem Haltungs- und Wertevermittlung statt Information und Wissensvermittlung. Zentrale Mobile Ethikberatung Am Klinikum Nürnberg existieren traditionell zwei Angebote der Ethikberatung. Während die nephrologische Klinik und ihre Stationen seit 1997 von einem internen Ethikkreis, dem sogenannten Ethikkreis der 4. Medizin, beraten wird, steht für alle anderen Kliniken des Hauses seit 2004 die Zentrale Mobile Ethikberatung (ZME) für Ethikberatungen zur Verfügung. Die Zentrale Mobile Ethikberatung bietet Hilfestellungen in ganz konkreten Entscheidungssituationen, in denen unter den Beteiligten keine Einigkeit oder Ungewissheit dahingehend besteht, welches Vorgehen für den Patienten das Beste ist. Die Ethikberatung kann u.a. folgende Aspekte beinhalten: - Fragen der Therapiebegrenzung oder Therapieeinstellung - Klärung des Patientenwillens - Interpretation von Patientenverfügungen - Einsatz von PEG-Sonden - Hilfestellung in Konfliktfällen 10 EthikBericht_11-14.indd 10 11.11.14 10:48 Seit 1. Februar 2004 stehen für die Lösung derartiger Fragen Ansprechpartner, sogenannte Ethikberater zur Verfügung, die alle eine spezielle Zusatzausbildung zur Ethikberatung absolviert haben. Die Ethikberatung kann prinzipiell von jedem gerufen werden, von Ärzten, Pflegenden, Patienten, Angehörigen oder auch von anderen Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern des Klinikums. Die Beratungsgruppe der Ethikberatung ist interdisziplinär besetzt (Pflege, Medizin, Seelsorge, Psychologen, Verwaltung, externe Mitglieder), womit vielfältigste Kompetenzen in die Beratung mit einfließen und eine umfassende Feldkompetenz geschaffen wird. Ziel der Ethikberatung ist es, mithilfe von Moderation und Analyse zu einer konkreten Lösung der ethischen Fragestellung zu gelangen. Aus der Ethikberatung resultiert entweder eine einvernehmliche Vereinbarung (Konsens) oder eine Empfehlung für das weitere Vorgehen. Zentrale Mobile Ethikberatung Klinikum Nürnberg Nord Medizin Zentrale Dienste Pflege Dr. Andrea Eisenberg Judith Berthold Martin Röttinger Psychosomatik Centrum Kommunikation Information Bildung Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. Bernd Langenstein Gastroenterologie Carina Stadtmüller Intensivmedizin Elisabeth Fischer (extern) Klinikseelsorgerin Bettina Schmitkunz Pneumologie Gertrud E. Müller Organisationsentwicklung Klinikum Nürnberg Süd Medizin Pflege Dr. Jutta Bamberger Anästhesie / Intensivmedizin Uwe Müller Nephrologie Sabine Salinger Kinderklinik Joachim Süßenbach Anästhesie/Intensivmedizin Adriane Yiannouris Kardiologie 11 EthikBericht_11-14.indd 11 11.11.14 10:48 Die zentralen Ethikberater sind an beiden Standorten jeweils über eine feste Telefonnummer bzw. einen bekannten Funkpiepser erreichbar. Sie können von Mitarbeitern, Patienten und Angehörigen eingeschaltet werden, klären nach Kontaktaufnahme zunächst Beratungsanlass bzw. Ausgangssituation und initiieren dann eine Ethikberatung, an der im Regelfall zwei Berater teilnehmen. Einer von beiden dokumentiert die Beratung anschließend als Ergebnisprotokoll. Sämtliche Aufgaben rund um die Ethikberatung – vom ersten Telefonkontakt, über die inhaltliche Vorbereitung der Beratung, die Moderation und Gesprächsführung bis zur Nachbereitung im Sinne des Protokolls und/oder abschließender oder weiterführender Gespräche – werden zwar in der Regel während der Kernarbeitszeit, formal aber außerhalb der Dienstzeit erbracht und eigens vergütet. Damit bestätigt das Klinikum die Bedeutung, die es diesem Engagement beimisst. Die zentralen Ethikberater des Klinikums wurden entweder durch die geförderte Teilnahme am Fernlehrgang „Ethikberater/in im Gesundheitswesen“ oder durch eine mehrtägige Schulung durch die Medizinethikerin Prof. Stella Reiter-Theil von der Universität Basel für diese Aufgabe vorbereitet. Damit sind einige der Ethikberater/innen konzeptionell im Sinne des oben geschilderten Basler Modells für Ethikberatung geschult worden. In den ersten Jahren wurde die zentrale Ethikberatung pro Jahr zu etwa 10 bis 15 Fällen hinzugezogen. Bis heute ist diese Zahl leicht gestiegen und entspricht damit den Erfahrungen anderer vergleichbarer Kliniken in Deutschland, wie im sechsten Kapitel der Arbeit noch gezeigt wird. Bei jährlich über 90.000 voll- und teilstationären Patienten weist dies auf die institutionellen und womöglich auch „kulturellen Hürden“ hin, die einer breiteren Nutzung vielerorts noch im Wege stehen. Oft fehlt es bereits an der notwendigen Zeit, die Beteiligten (Mitarbeiter, Angehörige, Patienten) zu einem gemeinsamen und ungestörten Termin zusammenzubringen. Daneben erfordert es Selbstbewusstsein, Standvermögen und eine gewisse Unabhängigkeit, um als ärztliches oder pflegerisches Mitglied eines Stationsteams eine Ethikberatung im Kollegenkreis trotz der nicht seltenen Bedenken und Widerstände vorzuschlagen bzw. durchzusetzen. Und drittens bleibt die Zentrale Mobile Ethikberatung ungeachtet ihrer Informationsbroschüre und der Informationen im hauseigenen Intranet zunächst ein weitgehend anonymes Angebot, dessen Akteure in einem Krankenhaus von der Größe des Nürnberger Klinikums Wiebekannt nur langsam erreiche werden. n Als Ang ehörige Telefon: Sie uns ? wenden Si Das Eth Vorsitz: beitend m Nürn ik Forum Prof. Dr. Frank Er bg berg uth Als Mitar e rufen Frau Yian Sie nouris: Tel. -11 Frau Ster 84 15 od nberg-La er utner: Te l. -37 97 Kliniku e si (0911) 39 ch bitte 8 -11 84 an 15 (Frau (0911) 39 Yiannour 8 -37 97 is) oder (Frau St oder erbi ernbergtten Sie La di ut e Anford ner) über die erung vo zuständi n Ethikb ge Statio eratung n. bitte Mitarbei te beratun nde finden im g zur Vo In rbereitu tranet eine Ch Projekte ng für ih eckliste und QM –> Ethik r Telefo –> ZME ngesprä Ethikch: Koordin a tion d er ZME: Adriane Yiannour is, Koor adriane dinatorin .yiannou , Tel. 39 ris@klin 8 -11841 ikum-nue 5 rnberg.d Weitere e In formatio nen fin ichen den dem gle Pfad od Über un er im In Sie im Intranet s –> Hilfe ternet u unter n, Initiat Nürnberg nter: iven und –> ZME Angebo te –> Et hik im Kl inikum ZME – Z en Impressu m: Herausge ber: Klinik um Nürnb V.i.S.d.P.: erg, Pro Peter Pet f.-Ernst-N rich | Fot Druck: die athan-Str o: Rudi druckerei . 1, 9041 Ott, Haral .de | Au 9 Nürnb d Sippel flage: 2.0 erg | Gesta 00 Oktobe ltung: Jo r 2014 Meyer Ethikbterale Mobile ra im Klin ikum Nü tung rnb erg 12 EthikBericht_11-14.indd 12 11.11.14 10:48 Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4 Entstanden aus der Dialyseberatung, bildete sich der Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4 bereits 1997 und bot sich Mitarbeitern, Patienten und Angehörigen an, um Hilfestellung in Konfliktfällen zu geben, bei Entscheidungen zu vermitteln und Beistand in schwierigen Situation zu leisten. Hieraus entwickelte sich das Angebot einer Klinischen Ethikberatung, die bis heute von sieben Mitarbeitern aus Pflege, Medizin und Seelsorge getragen wird. Die Beratung erfolgt mindestens zu zweit und besteht meist aus zwei Teilen: einem Gespräch mit den betreuenden Ärzten und Pflegenden, um den Hintergrund differenziert zu klären; und einem zweiten Gespräch mit Patienten und Angehörigen, der eigentlichen Ethikberatung. Deren Ergebnis wird dokumentiert und dem Behandlungsteam übermittelt, das am Beratungsgespräch selbst nicht notwendigerweise teilnehmen muss. Auf der Grundlage von 262 Beratungsprotokollen aus den Jahren 1999 bis 2011 wurde die bisherige Beratungspraxis mittels eines eigens entworfenen Analysebogens deskriptiv-quantitativ ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass an jeder zweiten Beratung der Patient selbst teilgenommen hat, wenn auch nur zu 43% kontaktfähig. Der Patientenwille war in 58% der Fälle direkt oder indirekt bekannt und eindeutig, in 19% der Fälle war er ambivalent. 59% der Gespräche verliefen unstrittig, 36% dagegen kontrovers. In 89% der Beratungen konnte ein Konsens erzielt werden, in 96% wurde eine Empfehlung ausgesprochen. Insgesamt wurden 331 Empfehlungen gegeben. Von den 163 Empfehlungen zur Dialyse votierten 81 für eine Fortsetzung und 82 für eine Beendigung; ein Ergebnis, das die Ausgewogenheit der Beratungen durch den Ethikkreis deutlich bestätigt. olderE thikkr eisNep hro 20.11. 2006 13:14 Uhr Seite Ein Beis Aus den meist kurzen Protokollen lassen sich keine Gesprächsverläufe nachvollziehen. Daher bleiben leider der Kern dessen, was sich im Verlauf der Gespräche vollzieht, und die Genese von Meinungsänderungen unklar. Wohl aber lässt sich zeigen, dass der Ethikkreis mit seinen Ethikberatungen ein patientenorientiertes Angebot etabliert hat, das in fast allen Fällen zu einem Konsens führt. Ob die gefundenen Entscheidungen letztlich hilfreich, belastbar und dauerhaft waren, können nur künftige Befragungen aller Beteiligten zeigen. 1 piel n Patien t, der se lbst nic nstlich ht ansp ernährt rechbar werden. ist, soll gensond Dazu mü e angeleg sste ein t werden h nicht e PEG. Die An sicher, o gehörig b diese Patiente en sind Maßnah n entsp m e dem Wil richt. len Ethikkrei s sucht das Ges ese Frag p rä ch mit al e zu klär len Betei en – als genen B ligten, Basis ei ehandlu ner gem ng. einsam können chen un Sie uns Kliniku Nephro log Die besondere Nähe des Ethikkreises zu den Kolleginnen und Kollegen der Klinik – ähnlich wie bei einem Liaisondienst – scheint ein erfolgverspreberg chendes Modell von Ethikberatung zu sein und sollte weitere Verbreitung finden. Eine ausführliche Darstellung des Ethikkreises findet sich ab Seite 42. m Nürn ie Leitender Arzt: Prof Pflegedi enstleitu . Kai-Uwe Ecka rdt ng: Werne r Ruder erreic hen? re Statio n oder d chuster irekt üb er er, Klinik seelsorg e 398 -50 10 s über Ih han in, Dialy seberatu ng 98 -51 2 0 Bei sch w – wir he ierigen Entsch eidunge lfen Ihn Ein Gesp n en rächs- des Eth und Bera tungsan gebot s der M edizinis chen Kli nik 4 ikkreise nberg.d e ein Unter nehmen Ihrer Sta dt 13 EthikBericht_11-14.indd 13 11.11.14 10:48 Fortbildungen – Wissen, Methoden, Selbstreflektion Dank der Koordination der Zentralen Mobilen Ethikberatung (ZME) durch Kolleginnen und Kollegen aus dem Kreis der Beratenden, findet inzwischen auch eine kontinuierliche Fortbildung statt. Zunächst hatte der Diakon Bertram Linsenmeyer die Koordination inne, im September 2011 übernahm die Krankenschwester Adriane Yiannouris die Aufgabe. Insgesamt fanden in den Jahren 2011 bis 2014 pro Jahr ca. vier Sitzungen der ZME und 2-3 Fortbildungen statt. Für die Fortbildungen der ZME konnten jeweils erfahrene Ethikberater gewonnen werden: Dr. Gerald Neitzke von der Medizinischen Hochschule Hannover und Dr. Uwe Fahr, Ethikberater, Erwachsenenbilder und Coach. Die Fortbildungen dienten einerseits der praktischen Fallarbeit und Supervision zurückliegender Ethikberatungen – hierzu stellen Mitglieder der Gruppe jeweils einen entsprechenden Fall vor, andererseits wurde auch die Dokumentation von Ethikberatungen thematisiert – ein für die klinische Transparenz und spätere Evaluation wichtiger Aspekt. Insofern tragen die aktuellen „Empfehlungen für die Dokumentation von Ethik-Fallberatungen“ der Arbeitsgruppe „Ethikberatung im Krankenhaus“ der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) dazu bei, ein lange bestehendes Vakuum zu füllen. Die Empfehlungen wurden 2011 von Dr. Uwe Fahr im Namen der Arbeitsgruppe publiziert und bieten eine hilfreiche Orientierung für die unterschiedlichen hier dargestellten Formen von Ethikberatung. Dr. Fahr stellte die Empfehlungen im Rahmen einer Fortbildung in Nürnberg persönlich vor. Empfehlungen für die Dokumentation von Ethik-Fallberatungen Grundsätzlich unterscheiden die Empfehlungen der „Akademie für Ethik in der Medizin“ zwischen einer externen Dokumentation im Sinne von Ergebnisberichten und einer internen Dokumentation als Aufzeichnung des Beraters. Auf der Basis grundsätzlicher Einordnungen zu Fallberatungen allgemein, der angestrebten „Konsensorientierung der Ethikberatung“, dem „Schutz von Beratungen“ und der Definition möglicher „Ratsuchender“, nennen die Empfehlungen die Ziele einer Dokumentation: „Orientierung und Erinnerungsfunktion“, „Absicherung“, „Qualitätssicherung“, „Ausbildung von Ethikberatern“ und „Tätigkeitsnachweis“ – und geben konkrete Anhaltspunkte für den „Ergebnisbericht“. Der Ergebnisbericht solle Angaben enthalten zu - Datum, Ort und Dauer der Beratung - Namen und Funktion der Teilnehmer - Ethische Fragestellung(en) - Aktuelle medizinische, pflegerische, psychosoziale Situation - Wünsche, Wertvorstellungen, erklärter/mutmaßlicher Wille des Patienten - Ergebnis der Beratung/Begründung (erzielter Konsens oder Divergenzen) 14 EthikBericht_11-14.indd 14 11.11.14 10:48 Die AEM-Empfehlungen betonen die Vertraulichkeit der Dokumentation und stufen sie als „Bestandteile der Krankenunterlagen“ ein. „Als solche wenden sie sich an alle, die an der Behandlung/Versorgung beteiligt sind und entsprechende Einsichtsrechte in die jeweiligen Unterlagen haben.“ Daher sei die Vertraulichkeit der Beratung zu wahren und in der Dokumentation auf solche Zitate zu verzichten, die einzelnen Personen eindeutig zugeordnet werden könnten. „Eine wichtige Ausnahme stellten Äußerungen über den mutmaßlichen Patientenwillen dar.“ Es wird den Beratern empfohlen, die Dokumentation selbst zu erstellen und vor allem Ergebnisse mit praktischen Konsequenzen für die Versorgung des Patienten ausdrücklich schriftlich festzuhalten. Der Ergebnisbericht sollte den Beteiligten „zur Kenntnis“ gegeben werden, bevor er den Krankenunterlagen hinzugefügt wird. Und es wird empfohlen, den Bericht durch den Protokollanten unterschreiben zu lassen. Für die Form regt die Arbeitsgruppe der AEM gegliederte Erhebungsbögen (Dokumentationsbögen) an, die durch ihre Struktur eine Arbeitserleichterung bieten könnten und ggf. schon eine erste Bestätigung des Berichtes direkt im Anschluss an die Beratung ermöglichen. Auch Aufbewahrung, Datenschutz und Einsichtsrecht thematisiert die Arbeitsgruppe ausdrücklich. Hier betonen die Empfehlungen die Einhaltung der Schweigepflicht, eine Aufbewahrung analog den ärztlichen Aufzeichnungen von zehn Jahren und das Einsichtsrecht betroffener Patienten bzw. Betreuer oder Bevollmächtigter. Insgesamt sind die Empfehlungen der Akademie ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Standardisierung von Ethikberatungen. Newsletter Ethikforum – ein weiteres Angebot Die Mitglieder des Ethikforums beschäftigen sich auch zwischen den Sitzungen mit medizinethischen Themen und Fragestellungen bzw. mit aktueller Berichterstattung darüber. Schon bisher gab es dafür intern einen Email-Verteiler. Wer daran Interesse hat, kann sich über aktuellen Publikationen, Zeitungsartikel, Kommentare, Veranstaltungen und andere Informationen zum Thema Ethik in der Medizin informiert lassen und den eigens dafür initiierten Newsletter bestellen. Er wird in loser Folge, meist unkommentiert und ohne Anspruch auf Vollständigkeit vom Ethikforum zur Verfügung gestellt und per Email versendet. Anmeldungen bitte per E-Mail an Cornelia Sternberg-Lautner unter: cornelia.sternberg@ klinikum-nuernberg.de 15 EthikBericht_11-14.indd 15 11.11.14 10:48 Fernlehrgang Berater/in für Ethik im Gesundheitswesen Die Möglichkeiten der modernen Medizin werfen bei Therapie und Behandlung immer wieder ethische Fragen auf. Doch angewandte Ethik spielte bisher in der Ausbildung von Berufen im Gesundheitswesen kaum eine Rolle. Dabei ist ethisches Wissen für die tägliche Arbeit im Gesundheitswesen zur Klärung von kritischen Situationen und der Entwicklung von Qualität unablässig. Jenseits von spezifischem Fachwissen sind zusätzliche Kenntnisse von ethischen, juristischen, psychologischen und praktischen Aspekten nötig, damit komplexe Entscheidungen mit Patienten und Angehörigen befriedigend besprochen und vereinbart werden können. Ethik-Berater können an dieser Stelle eine Lotsen-Funktion übernehmen, die zwar keine Entscheidungen abnimmt, aber moderierend und verantwortlich versucht, zwischen den unterschiedlichen Interessen zu vermitteln und somit bei den Beteiligten (Angehörige, Patient, Mediziner, Pflege) für Entlastung sorgt. Der Kurs Der cekib-Fernlehrgang »Berater/in für Ethik im Gesundheitswesen«, die in Kooperation mit der Akademie Ethik in der Medizin e.V. in Göttingen angeboten wird, dient insgesamt der Wissensvermittlung von • Grundlagen aus Ethik und angewandter Ethik, • ethischen Fragen und Problemkreisen aus der Medizin- und Pflegepraxis, • ethischer Organisationsentwicklung und • Klinischer Ethikberatung. Der Fernlehrgang fördert das Problembewusstsein für ethische Fragestellungen im Gesundheitswesen und vermittelt praktische Kenntnisse in der Anwendung für die ethische Unternehmensentwicklung und die Klinische Ethikberatung. Das Praxis-Training der Präsenzphase vertieft und ergänzt die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten mit Blick auf die Ethikberatung in unterschiedlichen Settings. Zielgruppe Der Lehrgang spricht besonders alle Personen an, die sich an der Entwicklung der Ethik in ihrem Unternehmen aktiv beteiligen möchten oder andere Unternehmen, Einzelpersonen, Gruppen und Teams beraten wollen. Umfang 31 Lehrbriefe + 4 Tage Praxistraining in Nürnberg, begleitende Online-Lernplattform im Internet Dauer ca. 1 Jahr Präsenztage 3 Tage Praxistraining in Nürnberg + 1 Prüfungstag (gekoppelt) Kosten 2.190,– Euro (1.990,– Euro für cekib-Partnerhäuser) Kontaktperson für Rückfragen Judith Berthold M.A. (Kursleiterin) [email protected] 16 EthikBericht_11-14.indd 16 11.11.14 10:48 Veranstaltungen von Ethikforum und Klinikumsvorstand Seit 2010 laden der Vorstand des Klinikums und der Vorsitzende des Ethikforums einmal jährlich zu einer gemeinsamen Veranstaltung für die Kolleginnen und Kollegen des Klinikums ein. Ziel der Veranstaltung ist es, für wichtige ethische Themen eines Krankenhauses zu sensibilisieren und Diskussionsprozesse innerhalb des Klinikums anzuregen. Die Zielgruppen dieser Veranstaltungen sind daher ausdrücklich alle Berufsgruppen und Hierarchien des Klinikums und seiner Töchter. In der ersten Veranstaltung im Jahr 2010 stand der Spagat zwischen „Ethik und Monetik“ im Mittelpunkt – der wirtschaftliche Druck auf Krankenhäuser und die damit verbundenen Auswirkungen auf Arbeit und Atmosphäre. Prof. Dr. Arne Manzeschke von der Universität Bayreuth hatte vor weit über 100 Zuhörerinnen und Zuhörern einen anregenden Impulsvortrag gehalten, in dem er auch auf die Dynamik der gegenseitigen Erwartungen von Führungskräften und Mitarbeitern einging. Von der positiven Resonanz auf diese Veranstaltung motiviert, fanden auch in den Jahren 2011 bis 2014 gemeinsame Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen statt. Am 4. Oktober 2011 luden Dr. Estelmann als Vorstand und Prof. Erbguth als neuer Vorsitzender des Ethikforums zum Thema „Führung und Mitarbeitergespräche“ zu einer methodisch eher unkonventionellen Veranstaltung ein. Führung und Mitarbeitergespräche Zunächst referierte Dr. Wolfgang Mache, Psychologe und Chefarzt der Fachklink für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Bezirkskrankenhaus Regensburg. Er hatte sich schon als Oberarzt mit Fragen der Führung intensiv befasst und systematisch das anlassfreie Mitarbeitergespräch in seinem Verantwortungsbereich eingeführt. Mache berichtete sehr praxisnah über die Vorteile dieses regelmäßigen Rituals, aber auch über die vielen Vorurteile gegenüber dem Instrument. Anschließend eröffnete die Moderatorin Dorothea Lehmann aus Bamberg eine sogenannte Fishbowl – einen kleinen Kreis im Zentrum der Veranstaltung, der erst unter sich diskutiert und dabei beobachtet wird, in den man später aber auch ein- oder aussteigen kann. Die Veranstaltung belegte mit vielen Beispielen, weshalb es die Einführung von Mitarbeitergesprächen für beide Seiten – Führungskräfte und Mitarbeiter – eigentlich unverzichtbar ist. Sie zeigte aber auch, dass Uneinigkeit bei der Umsetzung bestand: Kann die Einführung verordnet werden oder sollte sie auch freiwilliger Basis erfolgen? Kommunikation als Handwerk Kommunikation ist eben doch ein echtes Handwerk. Und wer es drauf hat, spart sich und seinen Mitmenschen richtig viel Zeit. Oder anders gesagt: Es gibt ein paar einfache Regeln, um scheinbar schwierige Situationen auch in wenigen Minuten zu meistern. Die Anspielung auf die 5-Minuten-Terrine passte also genau. Der Flyer für die gemeinsame Veranstaltung von Vorstand und Ethikforum am 30. Oktober 2012 hatte nicht zu viel versprochen: Der Nachmittag war eine echte Lehrstunde – und unterhaltsam obendrein! Mit einigen nachdenklichen, aber eben auch kurzweiligen und inspirierenden Einblicken in die Welt der Klinik eröffneten zunächst die Krankenschwester Adriane Yiannouris aus der Kardiologie und der Stationsleiter Christof Oswald aus der Nephrologie das Thema. Anschließend entführte Dr. Susanne Gutberlet, Oberärztin in der Klinik für Psychoso- 17 EthikBericht_11-14.indd 17 11.11.14 10:48 matik und Psychotherapie, die Teilnehmenden auf eine „kleine Reise“: Was braucht der Mensch in einer fremden Umgebung? Oder auf uns bezogen: Was brauchen Patienten und auch neue Mitarbeiter, wenn sie ins Krankenhaus kommen? Die Antwort erschien banal, aber doch nachvollziehbar. „Drei Begriffe braucht man dafür nur im Sinn zu haben.“, so Gutberlet: Orientierung, Wissen und Beziehung. Die brauche jeder – und nicht die unausgesprochene und abgrenzende Haltung „Sprich mich bloß nicht an!“ Aber Susanne Gutberlet beschreibt auch Stolpersteine und mögliche Hemmnisse, die manche Kommunikation erschweren oder gar verhindern: Der Unmut, in seinen Arbeitsabläufen immer wieder unterbrochen zu werden; der Konzentrationsverlust, der damit einhergeht; oder auch die gefühlte oder tatsächliche Überforderung. Die im Kommunikationstraining erfahrene Oberärztin hält dem aber entgegen, dass offenbar noch immer das Gerücht umgehe, gute Kommunikation koste in jedem Fall viel Zeit. „Dabei braucht es oft nur die kleinen Gesten, d.h. ganz banal Höflichkeit, ein nettes Zeichen der Freundlichkeit, damit diese drei Begriffe anfangen zu leben.“ Diesen Hinweis greift später der Prof. Manfred Langewitz, der Leiter der Psychosomatik an der Universitätsklinik in Basel auf und spielt ihn in vielen Situationen durch, vor allem Situationen aus dem Stationsalltag. Ob die Pause in einem Gespräch, das Spiegeln von Emotionen oder die Einleitung eines Gesprächs – das Wissen um die verschiedenen Interventionswege kann sehr konkret zu mehr Sicherheit und Zeit verhelfen. Kliniku m Nürn Ethikfo rum berg Empathie Das Eth ikfo zur Ethik rum und der V o veranst altung a rstand laden S ie herzli m 30.10 ch .2012 e in: „Keine Zeit?!“ Kommun ikation im Klini kalltag 30.10.2 012, 17:0 0 – 20:0 Klinikum 0 Uhr Nord, Pe rsonalsp eisesaal ein Unte rnehmen Ihrer Stad t 18 EthikBericht_11-14.indd 18 11.11.14 10:48 Fakten und Positionen zur Transplantationsmedizin Am 12. November 2013 fand die jährliche Veranstaltung von Vorstand und Ethikforum des Klinikums Nürnberg erstmals als öffentlicher Vortragsabend im Marmorsaal der Nürnberger Akademie statt. Die Nürnberger Zeitung nahm die Ankündigung auf und berichtete vorab: „Wie soll ich mich entscheiden?“ Fehler sind passiert, es wurden Konsequenzen daraus gezogen Oben ein blauer Streifen, dann ein orangefarbenes Feld mit dem Bundesadler, darunter helles Gelb – mittlerweile dürfte ihn jeder kennen: den Organspendeausweis. Trotzdem tragen ihn noch immer viel zu wenige bei sich. Drei Experten wollen morgen bei einer Veranstaltung Entscheidungshilfe leisten, darunter Professor Frank Erbguth, Chefarzt der Klinik für Neurologie und Vorsitzender des Ethikforums im Klinikum Nürnberg. Nürnberger Zeitung: Seit dem Skandal Anfang des Jahres ging die Zahl der Organspenden um rund 20 Prozent zurück. Was hat sich seither gesetzlich verbessert? Erbguth: Es sind verschiedene Sicherheitsvorkehrungen von der Krankenhausgesellschaft, von der Bundesärztekammer und im Transplantationsgesetz getroffen worden, so dass ein Missbrauch nicht mehr möglich ist. Zum Beispiel das Sechsaugenprinzip: Es sind nicht mehr ein oder zwei, sondern mindestens drei Menschen, die Patienten auf die Warteliste setzen. Außerdem wird jedes Transplantationszentrum innerhalb von drei Jahren unangemeldet kontrolliert. Darum könnte man auch mal ein bisschen gnädig sein mit dem Transplantationssystem und sagen: Es sind Fehler passiert. Es wurden Konsequenzen daraus gezogen und jetzt ist das System besser und transparenter. Aber das Misstrauen bleibt leider. Der Sinn der Veranstaltung ist deshalb zu sagen: Habt wieder Vertrauen! Nürnberger Zeitung: Jetzt schreiben die Kassen ihre Versicherten an, um sie mit dem Thema zu konfrontieren. Mit Erfolg? Erbguth: Ich fürchte, ehrlich gesagt, nicht viel. Die Krankenkassen bitten in dem Schreiben um eine Entscheidung. Aber Sie können den Brief auch einfach nehmen und den Organspendeausweis in den Papierkorb werfen. Nürnberger Zeitung: Es bleibt immer noch die Angst davor, dass Hirntote gar nicht tot sind. Erbguth: Die Feststellung des Hirntodes gehört zu den akribischsten Diagnostiken, die es in der Medizin gibt, und ist absolut sicher. Beim klassischen Leichentod passiert es in Deutschland pro Jahr etwa dreimal, dass scheinbar Tote plötzlich in der Leichenhalle zu husten anfangen – das regt niemanden auf. Beim Hirntod gibt es solche Fälle nicht. Die zweite Frage lautet: Ist Hirntod gleichbedeutend mit dem Tod des Menschen? In Deutschland haben sich der Staat und die Kirchen dafür entschieden. Manche Kritiker finden das unangemessen und es wird debattiert. Aber für mich ist ein Hirntoter ein innerlich Geköpfter. Nürnberger Zeitung: Was hindert uns daran, das zu glauben? Erbguth: Der Hirntote sieht nicht aus wie eine klassische Leiche, sondern, weil er beatmet wird, noch sehr rosig. Den Leichentod können wir aufgrund der sinnlichen Erfahrung gut akzeptieren, den Hirntod müssen wir verstehen. Wer hirntot ist, wacht nicht mehr auf. Es geht um Menschen – lassen Sie es mich ganz drastisch formulieren –, in deren Schädel Zellmatsch ist. In der Natur folgt auf den Hirntod automatisch der Herz- 19 EthikBericht_11-14.indd 19 11.11.14 10:48 Kreislauf-Stillstand. Die Intensivmedizin hat den Hirntod erst möglich gemacht, indem sie Luft in den Körper pumpt und nach dem Hirntod das Herz am Stillstehen hindert. Nürnberger Zeitung: Wie viele Menschen warten in Deutschland auf ein Organ? Erbguth: Ungefähr 12000. Jeden Tag sterben drei Leute auf der Warteliste. Wenn irgendwo ein Terrorist jeden Tag drei Menschen erschießen würde, wäre die Gesellschaft empört. Natürlich darf es keine Verpflichtung zur Organspende geben. Aber es ist ein gesellschaftliches Thema, mit dem man sich auseinandersetzen sollte. Das ist der Sinn unserer Veranstaltung. Ein begründetes Nein ist uns lieber, als sich um eine Entscheidung zu drücken. Nürnberger Zeitung: Wie viele Hirntote gibt es? Erbguth: Etwa 0,8 Prozent der Sterbefälle in Deutschland sterben über den Hirntod. Wenn Sie also von etwa 6500 Hirntoten ausgehen, und selbst wenn alle einen Organspendeausweis bei sich hätten, wäre das Problem noch nicht gelöst. Deshalb muss man darauf hinweisen, dass Organspenden auch von Lebenden geleistet werden können. Die öffentlichen Fälle wie SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzender Frank-Walter Steinmeier und DGB-Chef Michael Sommer zeigen das. Und Herr Steinmeier sieht ja eigentlich noch ganz munter aus. Nürnberger Zeitung: Wie viele Deutsche spenden ihre Organe? Erbguth: Hier kommen 15 Totspenden auf eine Million Einwohner. In Spanien, das ist der Spitzenreiter, sind es 35. Nürnberger Zeitung: Woher kommt der Unterschied? Erbguth: In Spanien und Österreich gibt es eine Widerspruchslösung: Es wird davon ausgegangen, dass ein Mensch der Spende zustimmt, es sei denn, er widerspricht. Die deutsche Regelung besteht aus einer aktiven Zustimmung. Außerdem hat Spanien ein sehr gut organisiertes Aufklärungssystem. Obwohl es sich um ein konservatives, klassisch katholisches Land handelt, stehen 85 Prozent der Bevölkerung hinter dem Konzept Organspende. Nürnberger Zeitung: Ist der Organspendeausweis Voraussetzung für eine Spende? Erbguth: Nein. Es können auch Angehörige in Vertretung zustimmen. Aber stellen Sie sich das mal vor, wie groß die Belastung für den Ehepartner und die Kinder einer für hirntot erklärten 40-jährigen Frau ist, die vom Arzt auf das Thema Organspende angesprochen werden. Wenn die Frau im Ausweis der Organspende zugestimmt oder widersprochen hat, entlastet sie mit der Vorausentscheidung ihre Familie. Fragen: Kathrin Walther 20 EthikBericht_11-14.indd 20 11.11.14 10:48 Veröffentlichungen Die Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebung – Langzeiterfahrungen mit einer hausinternen Leitlinie im Krankenhaus Christof Oswald Einführung Mit dem Verzicht auf Wiederbelebung (VaW), als Option zur Therapiebegrenzung am Lebensende, bewegen wir uns in einem der klassischen Spannungsfelder klinisch angewandter Medizinethik. Die Begrenzung der medizinischen Therapie erzeugt neben ethischen, juristischen und kommunikationstheoretischen Implikationen auch ganz konkrete Schwierigkeiten in der Praxis. Dazu zählen Mängel der Kommunikation und der Transparenz ethischer Entscheidungen im therapeutischen Team. Kann die Implementierung und Umsetzung einer hausinternen Leitlinie diese Problemlage verbessern? Die 4. Medizinische Klinik für Nephrologie (Med 4) am Klinikum Nürnberg setzt seit Ende 2004 die Empfehlung zur „Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebung (VaW)“ in der klinischen Praxis um.I Die Evaluationsstudie, mit der die neunmonatige Erprobung der VaW-Anordnung begleitet wurde, belegte die Förderung der Kommunikation und Transparenz im Behandlungsteam und konnte, als weiteren Benefit, die Explikation der Entscheidungsgründe zum VaW aufzeigen.II In der Nephrologie in Nürnberg hat sich das VaW-Modell in der Praxis dauerhaft etabliert. Dies wirft die Frage nach den Erfolgsfaktoren einer nachhaltigen Umsetzung auf, die aus unserer Praxis heraus beantwortet werden soll. Grundsätzliches Die Anordnung zum VaW ist eine vorweg getroffene Entscheidung, im Falle eines HerzKreislauf-Stillstandes von lebenserhaltenden Maßnahmen wie Herzdruckmassage, Intubation, künstlicher Beatmung oder von medikamentöser und elektrischer Behandlung abzusehen. Die Entscheidung darüber treffen der Patient oder der behandelnde Arzt. Aus ethischer Sicht lässt sich der VaW aus deontologischer und aus teleologischer Perspektive vor dem Hintergrund der „Principles of Biomedical Ethics“ (autonomy, nonmaleficence, beneficence, justice) gerechtfertigt werden.III Der Arzt seinerseits soll nur die Behandlung anbieten, für die er auch eine medizinische Indikation sieht. Deontologisch, aus der Recht- und Pflichtenethik heraus betrachtet, wird der medizinische Behandlungsauftrag durch die Ablehnung des Betroffenen limitiert. Zudem endet die Behandlungspflicht des Arztes, wenn keine Therapieindikation (mehr) vorliegt. Diese fehlt teleologisch, mit Blick auf das Behandlungsziel dann, wenn eine Wiederbelebung dem Patienten statt einem Nutzen, d.h. einer entsprechenden Überlebenschance und -qualität, eine Leidensverlängerung als Schaden in Aussicht stellt. Weiterhin sollte die Allokation begrenzter medizinischer Ressourcen i. S. der Verteilungsgerechtigkeit nur bei entsprechender Indikation durchgeführt werden. Ein zentraler Begriff im Zusammenhang mit der Rechtfertigung zum VaW in Deutschland ist die Achtung der Menschenwürde.IV Aus der Warte der Fürsorgeethik sollte neben der rationalen auch eine emotionale Auseinandersetzung stattfinden.V 21 EthikBericht_11-14.indd 21 11.11.14 10:48 Juristisch gründet der VaW in Deutschland auf der im Grundgesetz garantierten Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 GG), der Freiheit der Person (Art. 2. Abs. 1 GG) und der körperlichen Unversehrtheit (Art.2, Abs. 2 GG). Im strafrechtlichen Spannungsfeld bewegt sich der VaW zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der Fürsorgepflicht des Arztes. Eine vom Patienten abgelehnte Therapie stellt, wenn Sie dennoch durchgeführt wird, gemäß § 223 StGB Körperverletzung dar, während die ungerechtfertigte Verweigerung ärztlicher Hilfe als unterlassene Hilfeleistung gemäß § 323c StGB sanktioniert werden kann. Die Bedeutung der Patientenautonomie wurde zuletzt auch durch die Regelung der Patientenverfügung im Betreuungsgesetz (§§ 1901a, 1901b, 1901c, 1904 BGB) unterstrichen. Zusammenfassend ist somit der VaW aus ethisch-rechtlicher Sicht begründet, wenn 1. der Patient eine Reanimation ablehnt oder 2. die medizinische Indikation für eine Reanimation fehlt. Kommunikationstheoretisch ist die Beziehungsebene für die Sachebene als zumeist unbewusste Metakommunikation maßgeblich.VI Die Patienten-Arzt-Beziehung ist vom asymmetrischen Kompetenzvorsprung des Arztes geprägt. Dies gilt ähnlich in seiner Beziehung zum Pflegeteam. Im Gegensatz zum analytischen Mediziner verfügen Pflegende aber über eine ganzheitliche, von zahlreichen Patientenkontakten geprägte Wahrnehmung, die eher den Menschen im Leben, denn das Leben im Menschen betrachtet. Daher verfügen Pflegende über weitreichendere Möglichkeiten, die über die Sachaussage hinausgehenden, Schulz von Thun´schen Dimensionen der Kommunikation zu entschlüsseln, als ihre medizinischen Kollegen. Mit Blick auf die Organisation Krankenhaus ist zudem zu beachten, dass es auch die Strukturen und Hierarchien in der Klinik sind, die Kommunikation hemmen oder fördern.VII Die Kommunikation im Team sollte konsensorientiert und dialogisch angelegt sein. Die Merke: Der VaW ist mit der Selbstbestimmung unverstellte Wahrnehmung gleichberechtigter Meides Patienten oder mit dem Fehlen der nungen und Positionen führt eher zur besten Lömedizinischen Indikation zu rechtfertigen. sung als diskursive Rhetorik und Debattierkunst.VIII Stand der Forschung Die, mit dem Therapieverzicht am Lebensende befasste Ethicus-Studie untersuchte von 1999-2000 die entsprechende Praxis auf 37 Intensivstationen in 17 europäischen Ländern. Während die Mortalität bei 13,5% lag, waren immerhin 72,6% aller eingeschlossenen Patienten von Therapielimitationen betroffen. Diese reichten von der Wiederbelebung mit letalem Ausgang (20%) und dem Verzicht (38%) bzw. Abbruch (33%) lebensverlängernder Interventionen bis zur aktiven Beschleunigung des Sterbeprozesses (2%).IX 2001 ergab eine Schweizer Todesfallanalyse zur Häufigkeit und Art der Behandlungsbegrenzungen, dass die im Krankenhaus Verstorbenen von 43% aller Therapiebegrenzungen und vor allem von der Limitation der Intubation (90%) und der Wiederbelebung (81%) betroffen waren. Dabei schätzten die behandelnden Mediziner die damit verbundene Lebensverkürzung kaum höher als einen Monat.X In 2002 sahen von 503 befragten Klinikärzten in Bochum und Magdeburg 82% den Patientenwillen als wichtig an, 54,4% versuchten diesen jedoch in ihrem Sinne zu beeinflussen. Der Patientenverfügung wurde der Vorrang vor dem Willen des Arztes oder der Angehörigen gegeben. Hierarchisch höherstehende Ärzte waren der Entscheidungsfindung im Team weniger zugeneigt, als ihre untergeordneten Kollegen.XI Eine 2001 durchgeführte Erhebung bei den Mitarbeitern der Medizinischen Hochschule Hannover zur Behandlung ethischer Konflikte zeigte die Notwendigkeit, die Transparenz und die Kommunikation zwischen den Berufsgruppen zu verbessern.XII Wie Dörries 2005 i. R. 22 EthikBericht_11-14.indd 22 11.11.14 10:48 einer bundesweiten Krankenhausbefragung feststellte, verfügten 14% aller deutschen Krankenhäuser über die Institution einer klinischen Ethikberatung bzw. waren dabei, solche Strukturen zu etablieren.XIII Dass Therapieentscheidungen impliziten Einflüssen unterliegen, wie dem Patientenalter oder den erwarteten Behandlungskosten, belegte eine Interviewstudie mit 56 Ärzten und Pflegenden, die 2007 in der Schweiz durchgeführt wurde. Die Autorinnen stellten sich daher die Frage, inwieweit die formelle Strukturierung der Entscheidungsprozesse durch Leitlinien, zur Explikation der Entscheidungen beitragen könnte.XIV Auch die VaW-Order selbst, steht in der Diskussion, als unabhängiger Mortalitätsprädiktor zu wirken. Die Annahme, Patienten mit einer VaW-Order hätten ohnehin geringere Überlebenschancen, könnte i. S. einer self-fulfilling-prophecy dazu führen, dass diese Patient deshalb schlechter therapiert werden und schließlich tatsächlich häufiger versterben als Patienten ohne VaW-Anordnung. Die zumeist US-amerikanische Datenlage kommt nicht zu diesem Ergebnis. Allerdings ist im neurologischen Bereich eine gewisse Gelassenheit geboten. So ergab eine aktuelle Arbeit von Zahuranec und Kollegen bei 487 Patienten mit hämorrhagischem Insult, dass innerhalb der ersten 24 Stunden getroffene VaWEntscheidungen mit einer Verdoppelung der Mortalität einhergingen.XV Eine 2007 erfolgte Betrachtung von 8233 Schlaganfallpatienten in 234 Kliniken Californiens zeigte jedoch auch, dass die Kliniken, die häufig frühe Therapieverzichtsentscheidungen getroffen hatten, zugleich insgesamt relativ geringe Kosten für die Diagnostik und Therapie bei hämorrhagischem Insult aufwiesen. Insofern war es weniger entscheidend, ob ein VaWEntschluss vorhanden war oder nicht, sondern in welcher Klinik die Patienten versorgt wurden.XVI Die ökonomische Komponente spielte hier offensichtlich eine zentrale Rolle. Inwieweit diese Studien auf die Entscheidungskultur in deutschen Krankenhäusern übertragbar sind, bleibt kritisch zu diskutieren. Resümierend bleibt zu sagen, dass eilig getroffenen VaW-Entscheidungen ebenso problematisch zu bewerten sind wie eine unterentwickelte ethische Kommunikationskultur. Forschungsergebnisse über die Auswirkung der Anwendung strukturierter Entscheidungsprozesse und Leitlinien in deutschen Krankenhäusern wurden, abgesehen von den Merke: Entscheidungen zur Therapiebegrenzung führen nachfolgend vorgestellten Erfahrungen am Klinikum zu ethischen Konflikten im interdisziplinären Behandlungs- Nürnberg, bislang nicht publiziert. Die zunehmende team, wenn sie nicht ausreichend kommuniziert und Auseinandersetzung mit dem VaW in den deutschen transparent gemacht werden. Kliniken lässt allerdings auf eine zunehmende Datenlage hoffen. Die Evaluation der Einführung der VaW-Anordnung als klinikinterne Leitlinie Die „Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebung (VaW-Anordnung)“ ist eine Empfehlung, die das Klinische Ethikkomitee des Universitätsklinikums Erlangen 2003 in Kooperation mit der juristischen Fakultät und dem Institut für Medizinethik entwickelt und online veröffentlicht hat. Die Leitlinie, die von 2009 bis 2010 überarbeitet wurde, beschreibt, neben grundlegenden Begriffsbestimmungen zum VaW und seinen Rahmenbedingungen, die Kommunikation und die konsensorientierte Entscheidungsanbahnung mit dem Patienten, seinen Angehörigen und dem Behandlungsteam. Der Beschluss zum VaW, seine Rechtfertigungsgründe und alle Termine der geführten Gespräche, werden auf einem Formular (Abb. 1) mit Ankreuzoptionen und Freitextfeldern dokumentiert. Die VaW-Entscheidung wird schließlich durch die Unterschrift des Arztes und ggf. des Patienten in Kraft gesetzt und ist täglich zu evaluieren. In der Med 4 wird dies auf der Intensivstation so praktiziert. Auf den Allgemeinstationen wurde stattdessen ein Ree- 23 EthikBericht_11-14.indd 23 11.11.14 10:48 valuationsintervall von 3-4 Tagen eingeführt. Als Teil der Krankenunterlagen können alle für die Versorgung des Patienten zuständigen Personen jederzeit auf die VaWDokumentation zugreifen. Merke: Die VaW-Anordnung dokumentiert die zu unterlassenden Maßnahmen, die Termine aller relevanten Gespräche, die konkreten Entscheidungsgründe und die regelmäßig wiederkehrenden Neubewertungen der Entscheidung. Abb. 1: Das VaW-Formular Ausgangslage 2004 – 2005 waren in der Med 4 in Nürnberg 29 ärztliche und 118 pflegerische Kolleginnen und Kollegen auf vier Allgemeinstationen und einer Intensiveinheit tätig. Der Chefarzt der Nephrologie am Klinikum Nürnberg ist zugleich ärztlicher Leiter der Nephrologie des Universitätsklinikums Erlangen. Kommunikations- und Transparenzmängel zum VaW im therapeutischen Team führten zu redundanten Auseinandersetzungen, zu nicht mehr indizierten Intensivzuweisungen und sogar zu Reanimationen, die nicht mehr vorgesehen waren. Nach entsprechender Recherche und Diskussion im Ethikkreis der Med 4, wurde die Erlanger VaW-Anordnung am 28.10.2004 in der Klinik implementiert. Die Erprobung erstreckte sich über einen Zeitraum von neun Monaten und wurde vom 01.11.2004 bis zum 31.07.2005 wissenschaftlich begleitet. In dieser Zeit wurden bei 4718 Patienten 118 VaW-Anordnungen in Kraft gesetzt. 24 EthikBericht_11-14.indd 24 11.11.14 10:48 Fragestellung Als Entscheidungsgrundlage für eine dauerhafte Implementierung musste die Evaluationsstudie zeigen, ob die Anwendung der VaW-Anordnung die Kommunikation über den VaW und die Transparenz der Entscheidung sichern kann. Dazu sollten Ärzte wie Pflegekräfte am Entscheidungsprozess teilnehmen. Auch für die nicht an diesem Prozess beteiligten Mitarbeiter sollten die Gründe des VaWs nachvollziehbar sein. Schließlich war die Praxistauglichkeit des VaW-Verfahrens und dessen Akzeptanz in der Mitarbeiterschaft zu untersuchen. Methode Bei allen 118 VaW-Anordnungen wurden die Parameter Teambesprechung, Reevaluationsintervall und die dokumentierten Entscheidungsgründe zur Operationalisierung der Kommunikation und Transparenz mit einer statistischen Dokumentationsanalyse untersucht. Zudem wurden die Patienten- und Angehörigengespräche, die vorliegenden Betreuungen oder Vollmachten und der Entlassungsstatus betrachtet. Zur EDV-technischen Verarbeitung wurde das Statistikprogramm NSD-Stat, Version 1,3 verwendet. Diese quantitative Untersuchung wurde durch qualitative, teilstandardisierte Leitfadeninterviews mit acht Ärzten und acht Pflegekräften verschiedener Hierarchieebenen ergänzt. Die Interviews wurden zwischen Juni und Juli 2005, zum Abschluss der Erprobungsphase, auf der Intensivstation und auf zwei Allgemeinstationen durchgeführt, tontechnisch aufgezeichnet, transkribiert und schließlich durch eine zusammenfassende Inhaltsanalyse ausgewertet. Dabei wurden die Allgemeinstationen mit der höchsten und mit der niedrigsten VaW-Anordnungsrate einbezogen. Die Fragen des Leitfadeninterviews fokussierten, nach einer Eröffnungsfrage, die Beteiligung am Entscheidungsprozess, die Nachvollziehbarkeit der VaW-Gründe, den Nutzen und die Tauglichkeit des Modells in der praktischen Anwendung und die Meinung der Befragten zur dauerhaften Einführung der VaW-Anordnung (Tab. 1). 1. Bei einem Patienten soll eine Entscheidung zum Verzicht auf Wiederbelebung getroffen werden. Was ist Ihnen dabei besonders wichtig? 2. In Ihrem Arbeitsbereich wurden mehrere VaW-Anordnungen getroffen. Hatten Sie den Eindruck, dass alle von der Entscheidung betroffenen Personen in den Entscheidungsprozess mit einbezogen wurden? Welche Gründe haben Sie für Ihren Eindruck? 3. Haben Sie sich selbst ausreichend informiert und in den Entscheidungsprozess eingebunden gefühlt und worauf begründet sich Ihre Meinung? 4. Hat das VaW-Konzept Ihrer Meinung nach Vorteile oder Schwächen gegenüber der vorherigen Praxis? 5. Haben Sie zurückblickend den Eindruck, dass in Ihrem Arbeitsbereich relativ viele bzw. relativ wenige VaW-Anordnungen getroffen wurden? Welche Gründe sehen Sie dafür? 6. Empfanden Sie das Instrument der VaW insgesamt als hilfreich und anwenderfreundlich und was würden Sie gerne am Verfahren oder der Dokumentation verändern? 7. Würden Sie eine dauerhafte Einführung des Konzepts befürworten? Tab. 1: Interviewleitfaden 25 EthikBericht_11-14.indd 25 11.11.14 10:48 Die Verschränkung beider Methoden diente der Ergebnisvalidation. Die relativ kleine Stichprobe der Interviewteilnehmer (16%) ist den begrenzten personellen Studienressourcen geschuldet. Die daher nicht repräsentativen Resultate entfalten, in der Kombination mit den quantitativen Statistikdaten, dennoch ausreichend verwertbare Aussagekraft. Die Erhebung wurde von der Hamburger Fernhochschule betreut. Diskussion Folgende Hypothesen wurden als Gradmesser einer erfolgreichen Einführung und Umsetzung der VaW-Anordnung in der Med 4 formuliert: 1. Bei zwei Drittel aller VaW-Verfahren in der Klinik findet eine Kommunikation der Entscheidungsprozesse im Team statt. 2. Bei zwei Drittel aller VaW-Verfahren in der Klinik sind die Entscheidungsprozesse transparent, d.h. dauerhaft nachvollziehbar. 3. Zwei Drittel der befragten Mitarbeiter halten das VaW-Konzept für praxistauglich und befürworten die Dauereinführung des VaW-Verfahrens. Dokumentenanalyse Von 118 VaWs wurden 49 auf der Intensivstation und 69 im allgemeinstationären Bereich angeordnet. 73,7% wurden aufgrund der fehlenden medizinischen Indikation, 11,9% i. S. der Patientenautonomie und 14,4% aufgrund beider Rechtfertigungsgründe eingerichtet. Eine klinische Ethikberatung erfolgte bei 6,8% der VaW-Fälle. Bei 44,2% der VaW-Anordnungen fanden Gespräche mit dem Betroffenen und/oder mit seinem Betreuer, respektive Bevollmächtigten, statt. Die Angehörigen wurden bei 78,8% der VaWFälle einbezogen. 21% der VaWs erfolgten ohne entsprechende Gespräche. Bei 66,1% der VaW-Patienten kam es im Krankenhaus zum Exitus letalis. 4,2% wurden hausintern bzw. -extern verlegt und 29,7% der Patienten konnten nach Hause (16,1%) oder in eine stationäre Pflegeeinrichtung (13,6%) entlassen werden. Eine Dokumentation von Teamgesprächen lag bei 62,7% der VaW-Fälle vor. Die regelhafte Reevaluation war bei 42,3% der Fälle dokumentiert. Die Angabe von frei formulierten Entscheidungsgründen lag bei 74,6% der VaW-Anordnungen vor. Damit wurde die erste Hypothese anhand der Teamgesprächserfassung verifiziert, was angesichts der erfassten Reevaluationen nur zum Teil möglich war. Die zweite Hypothese zur Frage der Transparenz konnte durch die Zahl der dokumentierten Entscheidungsgründe nachdrücklich bestätigt werden. Die dritte Hypothese entzieht sich der quantitativen Dokumentationsanalyse und wird i. R. der Befragungen in den Blick genommen. Leitfadeninterview Die erste der sieben offenen Fragen diente der thematischen Annäherung und wurde nicht ausgewertet. „Bei einem Patienten soll eine Entscheidung zum Verzicht auf Wiederbelebung getroffen werden. Was ist Ihnen dabei besonders wichtig?“ Die zweite Frage „In Ihrem Arbeitsbereich wurden mehrere VaW-Anordnungen getroffen. Hatten Sie den Eindruck, dass alle von der Entscheidung betroffenen Personen in den Entscheidungsprozess mit einbezogen wurden? Haben Sie Gründe für Ihren Eindruck?“, wurde von den allgemeinstationär tätigen Ärzten bestätigt, während ihre intensivmedizinischen Kollegen hier etwas zurückhaltender reagierten. Im Gegensatz dazu monierten einige allgemeinstationär Pflegende eine z. T. mangelnde Einbindung, während andere von sehr positiven Erlebnissen berichteten. Dieses heterogene Bild zeichneten auch die Intensivpflegekräfte, die allerdings oftmals den Anstoß für die Annäherung an einen VaW gaben. Manchmal, so wurde kritisiert, werden die Pflegekräfte nur über getroffene 26 EthikBericht_11-14.indd 26 11.11.14 10:48 Entscheidungen informiert. Damit konnte die eingangs formulierte These zur Teamkommunikation aus ärztlicher Sicht relativ eindeutig verifiziert werden, während dies aus pflegerischer Perspektive nur zum Teil gelang. Die dritte Frage „Haben Sie sich selbst ausreichend informiert und in den Entscheidungsprozess eingebunden gefühlt und worauf begründet sich Ihre Meinung?“, fokussierte im ersten Abschnitt die Transparenz der VaW-Entscheidung, der zweite Teil der Frage zielte auf die partizipative Kommunikation. Die Ergebnisse entsprachen den zu Frage 2 gemachten Äußerungen. Während sich die entscheidungstragenden Ärzte stets gut eingebunden und informiert fühlten, gingen die Pflegenden nur auf den Partizipationsaspekt der Frage ein und äußerten sich analog zu den Resultaten der zweiten Frage. Die vierte Frage „Hat das VaW-Konzept Ihrer Meinung nach Vorteile oder Schwächen gegenüber der vorherigen Praxis?“, führte bei allen Befragten zu einem übereinstimmenden Ergebnis. Als Vorteile wurden die klar strukturierte Dokumentation, die die Entscheidungsgründe explizit darlegt und die redundante Reevaluation der VaW-Anordnung benannt. Für den Konfliktfall fühlten sich die Ärzte, aufgrund der schlüssigen VaW-Dokumentation, juristisch besser aufgestellt. In der Zusammenschau der Fragen 2 und 3 wurde die zweite Hypothese, aufgrund der großen Zustimmung der Interviewpartner zur Frage der Entscheidungstransparenz, klar verifiziert. Die Fragen 4, 5 und 6 dienten dazu, die Praxistauglichkeit, den Nutzen und die Anwenderfreundlichkeit des VaW-Verfahrens darzustellen und lauteten wie folgt: „Hat das VaW-Konzept Ihrer Meinung nach Vorteile oder Schwächen gegenüber der vorherigen Praxis? (Frage 4) „Haben Sie zurückblickend den Eindruck, dass in Ihrem Arbeitsbereich relativ viele bzw. relativ wenige VaW-Anordnungen getroffen wurden? Welche Gründe sehen Sie dafür?“ (Frage 5) „Empfanden Sie das Instrument der VaW insgesamt als hilfreich und anwenderfreundlich (…)?“ (Frage 6) In Anbetracht der positiv bewerteten Dokumentation hielt die Mehrheit der Mediziner den damit verbundenen Aufwand für vertretbar und sah ihn als Sicherheitsschwelle gegen übereilte Entscheidungen an. Die Verantwortung des zuletzt behandelnden Arztes dürfe aber – so eine Bemerkung aus dem Intensivbereich – nicht übersehen werden. Während die Allgemeinmediziner in ihren Bereichen anfangs eine gewisse Zurückhaltung beim angeordneten VaW wahrzunehmen glaubten, sah man im Intensivbereich keinerlei hemmende Effekte. Alle befragten Ärzte kamen zu dem Schluss, dass die VaW-Anordnung insgesamt hilfreich und anwenderfreundlich sei. Eine Intensivpflegekraft stellte fest, dass eine über den VaW hinausreichende Therapiebegrenzung nur unzureichend abzubilden sei. Die Allgemeinpflege hätte mehr VaW-Anordnungen für angezeigt gehalten, während die Intensivpflege die Zahl der VaW-Entscheidungen als angemessen betrachtete. Der Nutzen und die Anwenderfreundlichkeit der VaW-Anordnung wurden von der großen Mehrheit der Pflegekräfte bestätigt. Eine Pflegekraft einer Normalstation war generell gegen einen Therapieverzicht und somit auch gegen den VaW eingestellt. Der zweite Teil der sechsten Frage „(…) was würden Sie gerne am Verfahren oder an der Dokumentation ändern?“ ergab folgende Anregungen. Auf der Intensivstation wurde vorgeschlagen, die Reevaluation auf der Tageskurve am Bett zu dokumentieren. Weiter sollte die Aufhebung einer VaW-Anordnung klar und unmissverständlich kommuniziert werden. Die Intensivpflegekräfte hofften auf eine fortschreitende Entwicklung der Teamkommunikation. 27 EthikBericht_11-14.indd 27 11.11.14 10:48 Die Forderung nach der Praxistauglichkeit i. S. der Hypothese 3 wurde durch die Bestätigung der Handhabbarkeit des VaW-Verfahrens und der erneuten Bestätigung seiner transparenzsichernden Wirkung verifiziert. „Würden Sie eine dauerhafte Einführung des Konzepts befürworten?“ Dieser siebten Frage stimmten 15 von 16 Interviewteilnehmern größtenteils sehr nachdrücklich zu. Manche zeigten sich überrascht, dass man darüber noch nachdenken könnte. Die Pflegekraft, die einen Therapieverzicht generell ablehnte, wollte sich zu dieser Frage nicht festlegen. Die Akzeptanzfrage der Hypothese 3 konnte somit eindeutig bestätigt werden. Erfolgsfaktoren einer gelungenen Praxis Die gelungene Einführung der VaW-Anordnung in der Med 4 am Klinikum Nürnberg und deren nachhaltige Umsetzung über die Jahre hinweg, wirft die Frage nach den dafür verantwortlichen Erfolgsfaktoren auf. Aus unserer Erfahrung kamen bei uns folgende Faktoren positiv zum Tragen: 1. Gemeinsame Vision Am Beginn der Einführung des VaW-Verfahrens stand die gemeinsame Vision einer Linderung des gemeinsamen defizitbedingten Leidensdrucks. 2. Verantwortung der Leitung Vor und während der Einführung haben sich die pflegerischen und ärztlichen Führungskräfte „top down“ klar für die VaW-Anordnung ausgesprochen. In der Praxis waren sie bemüht, mit gutem Beispiel voranzugehen und auf die konsequente Umsetzung der Leitlinie zu achten und diese ggf. auch einzufordern. 3. Engagement der Mitarbeiter Im Gegenzug hat die engagierte Mitwirkung der Mitarbeiter „bottom up“ dafür gesorgt, dass über VaW-Anordnungen nachgedacht, diese eingerichtet, regelmäßig evaluiert und auch dokumentiert wurden. 4. Ethikkreis als Moderator und Motor Der Ethikkreis der Med 4 gab nicht nur die Initialzündung zur Implementierung sondern moderierte auch den Einführungsprozess und die Einbindung der Entscheidungsträger und aller Mitarbeiter und sorgt sich seitdem auch um den Fortbestand des VaW-Verfahrens. 5. Ständiger Kontakt in der Erprobungsphase Ein wichtiges motivationsstützendes Element war das stets spürbare Interesse an der wertvollen Mitwirkung der Mitarbeiter, das durch meine persönlichen Kontakte als Leiter der Evaluationsstudie konkretisiert wurde. So konnte ich als Adressat für alle Fragen und Unklarheiten auch manchen Ärger aufgreifen und ausräumen. 6. Übersichtlichkeit im Setting Der überschaubare Rahmen der Med 4 gab uns die Möglichkeit, die Implementierung engmaschig zu begleiten und auftretende Störungen und Probleme zeitnah zu bearbeiten. Das umschriebene Setting war zugleich Voraussetzung für die wissenschaftliche Begleitung. 7. Nutzen überwiegt Aufwand Da alle Mitarbeiter im Krankenhaus nur über begrenzte Zeit- und Kraftressourcen verfügen, musste die VaW-Anordnung ihre Daseinsberechtigung in der utilitaristischen Abwägung von Aufwand und Nutzen beweisen, was dank der geistigen Vorarbeit der Kollegen in Erlangen gelungen ist. 28 EthikBericht_11-14.indd 28 11.11.14 10:48 8. Laufender Fortbildungsbedarf Für eine nachhaltige Verankerung und für die Sicherung des Überlebens des VaW-Modells besteht ein laufender Fortbildungsbedarf in der Klinik. Auch angesichts der laufenden Mitarbeiterfluktuation ist es notwendig das Wissen Merke: Die nachhaltige Implementierung der VaW-Anordnung um das VaW-Verfahren, dessen ethisch-rechtliche bedarf der Begleitung des Einführungsprozesses und der Grundlagen und dessen Abgrenzung zu weiteren laufenden Bemühung um den Fortbestand der Umsetzung Formen der Therapiebegrenzung immer wieder auf im überschaubaren Setting. den aktuellen Stand zu bringen. Schlussfolgerung Die Rechtfertigung eines VaW ist in zweifacher Hinsicht – durch die Selbstbestimmung des Patienten oder bei Fehlen einer medizinischen Indikation – möglich. Im Prozess der Entscheidung für eine VaW-Anordnung, die vom zuletzt behandelnden Arzt verantwortet werden muss, ist die Einbindung aller Beteiligten, vom Patienten, über seine Angehörigen, bis hin zu den pflegerischen und ärztlichen Kollegen i. S. eines gleichberechtigten Dialogs dringend anzuraten. Dazu kann die VaW-Anordnung beitragen und darüber hinaus für die Sicherstellung der notwendigen Transparenz im Behandlungsteam sorgen, wie wir für unsere Klinik belegen konnten. Die Dokumentation bildet den Entscheidungsprozess und die entsprechenden Gründe für den VaW auch für Nichtbeteiligte dauerhaft nachvollziehbar ab. Dadurch werden weitere Diskussionen und die Reevaluation der Entscheidung nicht überflüssig, im Gegenteil! Es kommt allerdings zu einer Strukturierung und Systematisierung der vormals gelegentlich heftigen und häufig redundanten Auseinandersetzungen. Darüber lässt sich eine Reihe von Faktoren identifizieren die, die Implementierung wie das Langzeitüberleben der Leitlinie begünstigen. Dazu gehören eine gemeinsame Vision, die Übernahme von Leitungsverantwortung, das Engagement der Mitarbeiter oder ein Ethikkomitee als moderierenden Motor. Die Med 4 am Klinikum Nürnberg ist ein Praxisbeispiel dafür, dass der leitliniengestützte Umgang mit dem Verzicht auf Wiederbelebung nutzbringend gelingen kann. Dennoch kann die Einführung der VaW-Anordnung nicht jedes Problem im Zusammenhang „endof-life therapy“ beseitigten. Damit würde man sowohl die Wirkung dieser Leitlinie überschätzen, Merke: Die VaW-Anordnung sichert die Kommunikation als auch die Menschen, die damit umgehen. Auch und Transparenz im interdisziplinären Team und führt zur bei uns treten immer noch Kommunikations- und Explikation der Entscheidungsgründe. Gleichwohl kann Betreuungsbrüche auf. Diese müssen im Einzelfall die Leitlinie das Fehlen einer ethischen Gesprächskultur bewältigt und manchmal auch einfach ausgehalten nicht substituieren. werden. In der Med 4 am Klinikum Nürnberg geht die VaW-Anordnung 2011 in das siebte Praxisjahr. Am Klinikum wurde die Implementierung der VaW-Anordnung seinerzeit mit großem Interesse aufgenommen und vom Ethikforum zur Anwendung empfohlen. Eine konkrete Übertragung auf andere Fachbereiche gelang in den ersten Jahren allenfalls sporadisch. Mittlerweile erleben wir allerdings einen Dammbruch auf den anderen Intensivstationen des Hauses, die nun mit Nachdruck an der Einführung der VaW-Anordnung arbeiten. Auch in der deutschen Krankenhauslandschaft sind hier Veränderungen spürbar, wie uns die zahlreichen Anfragen und Kontakte zeigen. Angesichts der enormen medizinethischen und -juristischen Entwicklung der vergangenen Jahre, gepaart mit der zunehmenden Multimorbidität und Chronifizierung einer alternden Gesellschaft, findet die Notwendigkeit zunehmend Beachtung, geordnet entwickelte Einzelfallentscheidungen zum VaW herbeizuführen. 29 EthikBericht_11-14.indd 29 11.11.14 10:48 Literatur ARBEITSGRUPPE THERAPIEBEGRENZUNG: Empfehlungen für die Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebung (VaW). Aktualisierte Fassung der Version 2.1: Januar 2004. Leitlinie des Ethikkomitees am Universitätsklinikum Erlangen. (2010) Online im Internet: http://www.uk-erlangen.de/ e1768/e2332/e6087/e6090/inhalt6091/Ethik_vaw-andordnung.pdf [Stand: 16.03.11]. OSWALD C: Die „Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebung“ im Krankenhaus. Ethik in der Medizin 20 (2008) 110-121. BEAUCHAMP T, CHILDRESS J: Principles of Biomedical Ethics. 5. Auflage, Oxford University Press, Oxford New York (2001). 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Solche Themen bestimmen mittlerweile etwa 30% der Visitengesprächszeit auf Intensivstationen und Top-Journals wie der Lancet und das New England Journal of Medicine widmen der Problematik ganze Artikelserien und Editorials [8, 26, 28]. Die Themenformulierung mag die Erwartung wecken, es gäbe einen „schönen Kompromiss“ in dieser Frage, eine Art „Königsweg“ des Umgangs mit Patientenverfügungen. Aber Fragen des Lebens und Sterbens im Krankenhaus entziehen sich den einfachen Antworten und so kann im Folgenden nur versucht werden, unterschiedliche Eckpunkte und Facetten des Themas zu beleuchten. 2. Das Szenario In den genannten Polen Autonomie und Fürsorge spiegelt sich die öffentliche Bewertung der Intensivmedizin als solcher wieder. Es geht um zwei Ängste: Selbstbestimmung äußert sich als Angst der Menschen vor zu viel Medizin – da wird Selbstbestimmung als Abwehrrecht gegen Medizin verstanden, gegen den befürchteten Verlust an Würde. Fürsorge äußert sich als Angst vor zu wenig Medizin – hier wird gefürchtet, es werde verfrüht zum therapeutischen Rückzug geblasen oder sogar zu Tode gespritzt – nicht zuletzt auch begleitet von ökonomischen Zwängen. In den Niederlanden gibt es als Gegenwehr zur ärztlichen Euthanasiepraxis mittlerweile eine „Credo-Card“ mit der Botschaft: „docter mach mich nijet dodd“ (Doktor töte mich nicht!). Im deutschen Gesetzgebungsverfahren zur Patientenverfügung hatte sich der sogenannte StünkerEntwurf durchgesetzt, der die Patientenautonomie in den Vordergrund stellte – der unterlegene Entwurf des Abgeordneten Bosbach wollte der Selbstbestimmung Grenzen setzen zu Gunsten eines kategorischeren Lebensschutzes. Im Jahr 2010 hatten 38% der über 70-Jährigen Bundesbürger eine Patientenverfügung verfasst [15]. Diese ist seit 2009 gesetzlich geregelt und wird in der Praxis fast ausschließlich als antizipierende Abwehrfestlegung genutzt: dies zeigte sich in einer Stichprobe von Patientenverfügungen von 30 konsekutiven Patienten auf der neurologischen Intensivstation in Nürnberg in denen 29 mal (97%) ausschließlich Verzichtsverfügungen ohne Einforderungen an die kurative Medizin ausgesprochen wurden. Solche Einforderungen wären eigentlich angesichts der ständigen Diskussion um Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen eher zu erwarten. Darin drückt sich ein tiefes Mißtrauen gegenüber Ärzten aus, wenn es um eine angemessene Medizin geht – es wird eine Übertherapie befürchtet. Man könnte auch sagen: hatten die Menschen im 19. Jahrhundert Angst vor dem Scheintot, so haben sie heute Angst vor einem Scheinleben. 3. Intensivmedizin als Klischee für maßlose Medizin Als klischeebehaftetes Paradebeispiel für maßlose Medizin muss insbesondere die Intensivmedizin herhalten, besonders hier wird ein gnadenloses Zuviel an Medizin unterstellt. Die Schlagworte sind: „seelenlose Apparatemedizin“ und „Sterben zwischen Maschinen und Schläuchen“. Ein Zitat von Heiner Geißler gibt diese Ängste stellvertretend wieder: 31 EthikBericht_11-14.indd 31 11.11.14 10:48 „Die Intensivstation wird zur Hölle der Einsamkeit, zum Absturz der Seele ins Nichts, zur wissenschaftlichen Versuchsstation und Folterkammer“ [14]. Interessant dabei ist jedoch, dass es in nahezu allen aufsehenerregenden und medienbeachteten Gerichtsverfahren zu Therapieabbrüchen überhaupt nicht um intensivmedizinische High-Tech-Interventionen wie Beatmung, Dialyse, oder Katecholamin-Perfusoren ging, sondern um das technologisch eher dürftige Schläuchlein der perkutanen endoskopische Gastrostomie (PEG) und die damit verbundene künstliche Ernährung. Zwar hat High-Tech Intensivmedizin diese Verläufe erst möglich gemacht – aber in allen diesen Fällen wie Terry Schiavo in den USA, oder Eluana Englaro in Italien, oder im BGH-verhandelten Fall Küllmer von 2010 – auf den hier noch eingegangen wird – war die initiale intensivmedizinische Behandlung nie in Frage gestellt worden. Diese Fälle betrafen schwere zerebrale Schädigungen. In der momentanen öffentlichen Meinung wandert momentan denn auch die Rolle des „Bad Guy“ von der Intensivmedizin weg in Richtung der PEG. 4. Eckpunkte ärztlichen Handelns im Kontext der Patientenverfügung 4.1. Ärztliches Handeln als Körperverletzung Rechtlich gesehen stellt jede diagnostische und therapeutische Handlung an einem Patienten primär eine Körperverletzung dar; legitimiert wird sie durch zwei Voraussetzungen: die erste ist die Indikation – die zweite ist die Einwilligung. Die Indikation steht hierarchisch über der Einwilligung; besteht keine Indikation, ist der Patientenwille diesbezüglich unerheblich. Dass fürsorglich gemeintes Handeln rein juristisch primär ein Delikt darstellt, ist für den durch Ideale und durch das Berufsethos des Helfens geprägten Arzt- und Pflegeberuf oft eine schwer nachvollziehbare Herausforderung [11]. 4.2. Ethische Grundlagen ärztlichen Handelns Lange Zeit galt Lebenserhalt um jeden Preis als unumstößliches ärztliches Handlungsprinzip im Sinne einer deontologischen Ethik (= Pflichtethik). Die pflichtethisch begründete Maximaltherapie hat Christoph Wilhelm Hufeland 1806 eindrücklich beschrieben: »Der Arzt soll und darf nichts anderes tun, als Leben erhalten, ob es ein Glück oder Unglück sei, ob es Wert habe oder nicht, dies geht ihn nichts an. Und maßt er sich einmal an, diese Rücksicht in sein Geschäft mit aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staate« [18]. Anders als die deontologische Ethik fragt die teleologische Ethik (neben der »utilitaristischen Ethik« und »Verantwortungsethik« eine Form der konsequenzialistischen Ethik) nach Handlungszielen und -folgen. Solche sind nach Beauchamp und Childress [1]: • Wohl des Patienten (Benefizienz) • Nicht-Schaden (Non-Malefizienz) • Gerechtigkeit • Autonomie Spätestens seit durch Anwendung der modernen Medizin der Lebenserhalt zum gutgemeinten Wohle des Patienten gravierende Folgen haben kann, tritt das ethische Grundgebot des „Nicht-Schadens“ in Konkurrenz zum Gebot des Lebenserhalts. Und in einer pluralen Wertegesellschaft sieht der eine Patient im Lebenserhalt per se noch einen Nutzen, während ein Anderer ihn als Zufügung von Schaden und Leid für sich empfindet. Dadurch tritt notgedrungen das Autonomieprinzip in den Vordergrund, welches sich nicht mehr an der rein medizinischen Bewertung von Therapiezielen orientiert, sondern an den Präferenzen des Betroffenen, auch wenn dies dem Arzt im Einzelfall unverständlich erscheint. Dies hat in eindrucksvoller Weise das Deutsche Reichsgericht 1894 im Urteil gegen einen Arzt ausgedrückt , der von einem Patienten wegen eines lebensrettenden 32 EthikBericht_11-14.indd 32 11.11.14 10:48 aber eben nicht gewünschten Eingriff verklagt wurde: »So gewiss ist der derselbe Kranke auch befugt, der Anwendung jedes Heilmittels, seien es innerlich wirkende Medikamente, seien es äußere operative Eingriffe, rechtswirksame Weigerung entgegenzusetzen, auch wenn dies dem Arzt unvernünftig erscheint.« (RGSt 25, 375). Mag diese Abwehr ärztlich-fürsorglichen Handelns beim Einwilligungsfähigen zwar nicht immer nachvollziehbar – aber wenigstens authentisch und damit eher akzeptabel sein, so besteht bei einer Patientenverfügung eines Nicht-Mehr Einwilligungsfähigen doch oft der Zweifel, ob der zuvor geäußerte Ablehnungswunsch aus gesunden Tagen in der aktuellen Situation noch Bestand habe. Es ist insbesondere bei neurologischen und onkologischen Erkrankungen empirisch mehrfach belegt worden, dass Menschen in schwerer Erkrankung ihre Überlebenspräferenzen unerwartet doch an die neue Situation adjustieren [10]. So berechtigt das Unwohlsein der Ärzte an ihnen zugemuteten therapiebegrenzenden Vollzug einer Patientenverfügung auch sein mag, so ist doch ganz pragmatisch festzustellen: wenn ein Mensch seine Autonomie für den Fall einer schweren Erkrankung durch eine Verfügung antizipierend wahrnehmen will, lädt er sich die Bürde des Irrtums auf. Daher ist eine verstärkte Aufklärung der Patienten bei der Abfassung von Verfügungen wünschenswert, damit die Tragweite einer Verfügung in unterschiedlichen Erkrankungssituationen verstanden werden kann. Die Ethik heute orientiert sich nicht mehr am „Lebenserhalt um jeden Preis“ – sondern fragt nach Handlungszielen – der Respekt vor dem antizipierenden Willen des Patienten ist Teil des Handlungsziels. Auch für die Indikationsstellung ist nicht mehr der Lebenserhalt allein oberstes Behandlungsziel. Dies findet sich so in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung [7]: »Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht daher nicht unter allen Umständen. Es gibt Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sind. Dann tritt eine palliativmedizinische Versorgung in den Vordergrund«. 4.3. Verhältnis zwischen Autonomie und Fürsorge Das Verhältnis zwischen Autonomie und Fürsorge wurde bereits ansatzweise skizziert. Der manchmal erweckte Eindruck eines grundsätzlichen Gegensatzpaares ist jedoch nicht zutreffend: ärztliche Fürsorge ist nicht beendet oder aufgehoben, wenn sich ein Patient gegen eine weitere lebenserhaltende oder kurativen Therapie wendet oder wenn für eine solche keine Indikation mehr besteht. Floskeln des Arztjargons wie „austherapiert“ oder „wir können dann nichts mehr für sie tun“ sind obsolet, weil nicht mehr mögliche oder nicht mehr gewollte kurative Fürsorge sich in palliative Fürsorge umwandeln muss – auch in der Intensivmedizin [25]. Dabei handelt es sich um eine Therapiezieländerung mit Aufgabe des kurativen Ziels und eventuellem Abbruch entsprechender Therapiemodalitäten zugunsten einer palliativmedizinischen Zielsetzung. Selbstbestimmtheit darf nicht in ein Sich-Selbst-Überlassen-Werden umschlagen – das wäre eine zynische Interpretation von Patientenautonomie. 4.4. Therapieabbruch durch Unterlassung und aktives Handeln Durch Umfragen ist belegt, dass Ärzte oft fürchten, der Abbruch einer invasiven Maßnahme – beispielsweise einer Beatmung oder Sondenernährung stünde in gefährlicher Nähe zur verbotenen „aktiven Sterbehilfe“. Für unproblematischer wird das „Nicht-Beginnen“ gehaltern – weil es „passiv“ erscheint [9]. Es kann aber weder unter medizinischer noch unter ethisch-moralischer Betrachtung einen Unterschied darstellen, einen Patienten in einer bestimmten Situation beispielsweise nicht zu intubieren oder ihn in der identischen Erkrankungs- und Prognosekonstellation – zu extubieren. „Passiv werden“ in einer ausweglosen oder vom Patienten nicht mehr gewollten Situation kann nicht anders bewertet werden als „passiv bleiben“. Es geht – ethisch gesprochen – um „Geschehen- 33 EthikBericht_11-14.indd 33 11.11.14 10:48 lassen durch Tun“. Diese Sicht hat erfreulicherweise im Jahr 2010 der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) bestätigt. In dem vielbeachteten Urteil ging es um das Durchschneiden einer PEG (BGH 2 StR 454/09): das Landgericht Fulda hatte zunächst den Münchner Medizinrechtler Wolfgang Putz wegen versuchten Totschlags erstinstanzlich verurteilt, weil er einer Betreuerin den Rat gegeben hatte, die PEG-Ernährung ihrer 76-jährigen Mutter im langjährigem Wachkoma unter Berufung auf deren Willen durch „aktives Tun“ – nämlich mittels Durchschneiden der Sonde zu beenden. Das betreuende Heim hatte sich geweigert, die Ernährung zu beenden. Das Landgericht hatte zwar die fortgesetzte Ernährung durch das Heim als gesetzwidrige Körperverletzung angesehen, hatte aber gemeint, dagegen dürfe man sich nicht durch Tötung wehren. Dem widersprach der BGH: es handele sich bei der „aktiven Beendigung“ nicht um Tötung – sondern um Sterbenlassen und sprach den Rechtsanwalt vollumfänglich frei. Die Richter formulierten, dass es bei einem medizinischen Therapieabbruch unerheblich sei, ob er durch Nicht-Beginnen oder Beenden geschehe. Damit besteht beim Therapieabbruch auf der Intensivstation endlich Rechtssicherheit und im Gegensatz zu einigen Kommentatoren dürfte sich das BGH-Urteil – gerade im Kontext von Patientenverfügungen – nicht lebensfeindlich sondern (über-) lebensförderlich auswirken. Ein Fall soll dies erläutern: unser neurologisches Intensivteam war mit der Verfügung eines 65-jährigen bewusstlosen Patienten mit einer lebensbedrohlichen Hirnblutung konfrontiert, der eine Trepanation zur Anlage einer externen Liquordrainage benötigte. Der Betroffene hatte aber in einer Verfügung festgelegt, dass er bei „dauerhafter Bewusstlosigkeit und bleibender schwerer Behinderung“ nicht lebensverlängernd behandelt werden wollte. Die als Betreuerin eingesetzte Ehefrau und die Tochter konnten für die Einwilligung in die Operation gewonnen werden, weil sie die 40%-ige Chance auf ein Überleben zwar mit Halbseitenlähmung – aber erhaltenem Bewusstsein und moderater Behinderung – im Sinne ihres Ehemanns wahrnehmen wollten. Sie willigten in die Behandlung aber nur ein, weil wir ihr versicherten, dass wir für den zu etwa 25% anzunehmenden Fall eines bleibenden Bewusstseinsverlusts bereit wären, dann die bereits eingeleiteten lebensverlängernden Maßnahmen abzubrechen – notfalls auch eine Sondenernährung – um der Patientenverfügung dann bei mehr prognostischer Klarheit Rechnung zu tragen und Geltung zu verschaffen. Ein halbes Jahr später kam die Familie zu Besuch in die Klinik und alle Beteiligten einschließlich des Patienten waren rückblickend mit der Entscheidung und dem Vorgehen sehr zufrieden. Manche Patienten oder ihre Betreuer werden sich nur dann auf riskante Kämpfe um eine Lebensverlängerung einlassen, wenn wir Ärzte ihnen vermitteln, dass wir eine einmal begonnene Therapie im Fall des Scheiterns auch wieder abbrechen werden. 4.5. Der schlechte Informationsstand von Ärzten und Richtern Weil der Informationsstand vieler Intensivärzte über die ethisch-juristische Faktenlage bei Therapieabbrüchen dürftig ist, wird oft aus Angst vor vermeintlich drohenden juristischen Sanktionen eine unreflektierte Maximaltherapie propagiert und durchgeführt. Dafür sprechen jedenfalls unterschiedliche Befragungs-Ergebnisse, in denen unter anderem auch neurologische Chefärzte zu einem hohen Prozentsatz beispielsweise in einer palliativen Extubation oder der Morphingabe bei terminaler Dyspnoe aktive Sterbehilfe vermuteten [4]. Aktuelle Befragungen an bayerischen Ärzten bestätigen diese Ergebnisse [31]. Auch die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Ärztlichen Sterbebegleitung oder die Empfehlungen zum Umgang mit Patientenverfügungen sind nur mangelhaft präsent [6, 7]. Es ist leider anzunehmen, dass sich in Deutschland ständig Assistenzärzte, Oberärzte und Chefärzte gebotenen Therapieverzichten aufgrund solcher Fehleinschätzungen widersetzen und dem einen oder anderen mit sich ringenden Angehörigen bei der Frage nach einer Einwilligung zur PEG-Anlage erklärt wird, man 34 EthikBericht_11-14.indd 34 11.11.14 10:48 dürfe beispielsweise die 94-jährige komatöse Mutter nach mehreren Schlaganfällen doch nicht „verhungern“, „verdursten“ oder im Falle einer anstehenden Extubation nicht „ersticken“ lassen. Zusätzliches Unbehagen bereiten dann noch Umfrageergebnisse, nach denen auch deutsche Vormundschaftrichter – inzwischen Betreuungsrichter genannt – über die Fakten des Erlaubten und Verbotenen ebenso miserabel informiert waren wie die Ärzte und beispielsweise 35% die Beendigung einer Beatmung fälschlicherweise für aktive Sterbehilfe hielten [27]. Hier besteht durchaus die Hoffnung, dass die neue Gesetzeslage zur Patientenverfügung sowohl die Richter als auch die Ärzte zur besseren Informiertheit zwingt. 4.6. Regelungen im sogenannten „Patientenverfügungsgesetz“ Die gesetzliche Regelung in den Paragraphen §§ 1901 ff bzw. 1904 BGB war kein Wunschkind der Ärzte, die Verfügung war und ist umstritten und eine Äußerung des Herzchirurgen Bruno Reichert in der Wochenzeitung „Die Zeit“ verdeutlicht die Skepsis: „… ich verstehe diese Diskussion nicht. Sie ist zu weiten Teilen absurd. Wenn Patient oder Angehörige von Patienten kommen und sagen, Herr Doktor, hier ist eine Patientenverfügung, dann sage ich, sie können sie ruhig in ihrem Nachtkästchen lassen, sie interessiert mich nicht; …. wir behandeln ihn, solange wir eine Chance sehen, dass dieser Mensch überlebt….. Wenn nun ein Angehöriger kommt und sagt, der Patient hat in seiner Verfügung geschrieben, er wolle nicht abhängig sein von Maschinen: soll ich den Patienten deswegen umbringen? Nein ich ignoriere das.“ [24] Das „3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts“ enthält in den Paragraphen §§1901 und 1904 BGB eine sehr angemessene Rollenverteilung zwischen dem Fürsorge- und Autonomieprinzip [4]. Es ist vom Grundsatz her dialogisch angelegt und macht den Arzt gerade nicht zum willenlosen Vollstrecker von niedergeschriebenen oder mutmaßlichen Autonomiepräferenzen [13]. So ist rein von der Rechtssystematik her gedacht ja gar nicht der Arzt der primäre Adressat der Patientenverfügung, sondern der Vertreter im Willen – also der Vorsorgebevollmächtigte oder Betreuer. Der behandelnde Arzt – so heißt es wörtlich – „prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist“. „Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme gemeinsam unter Berücksichtigung des Patientenwillens als Grundlage für die zu treffende Entscheidung“. Dem Betreuer ist die Aufgabe gegeben, zu prüfen, ob die Festlegungen einer Verfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen, die er natürlich auch nur mit Hilfe des Arztes beurteilen kann. Besteht Konsens, so ist die Entscheidung nicht gerichtlich überprüfungspflichtig – im Dissensfall ist das Betreuungsgericht anzurufen – das sind meistens Fälle, in denen der Arzt es inakzeptabel findet, die verfügten Unterlassungen zu „vollstrecken“, weil er beispielsweise glaubt, dass die in der Verfügung gemeinte Erkrankungskonstellation im Moment nicht oder noch nicht besteht – beispielsweise der dauerhafter und unwiederbringliche Verlust des Bewusstseins. Über die juristischen Aspekte und praktischen Probleme des neuen Gesetzes wurde aktuell auch im anästhesiologischen Schrifttum differenziert berichtet [29]. 5. Zum Umgang mit Patientenverfügungen 5.1. Indikationsstellung Die uns gesetzlich zugewiesene Aufgabe der Indikationsstellung müssen wir selbstbewusst nutzen. So schwierig das im Einzelfall sein kann, so sind wir doch zu einer Position eines begründeten Ja oder Nein zur Indikation lebensverlängernder Maßnahmen aufgerufen. Ärzte indizieren bei sich selbst oft kritischer als bei ihren Patienten: so lehnten in einer Studie 57% der Ärzte bestimmte Intensivmaßnahmen in vorgegebenen Szenarien für sich selbst ab, 90% hätten sie aber ihren Patienten zugemutet [16]. Gerade im Zuge der Patientenverfügungs-Diskussion ist eine Krise der ärztlichen Bereitschaft zur dezi- 35 EthikBericht_11-14.indd 35 11.11.14 10:48 dierten Indikationsstellung festzustellen in dem Sinne, dass primär der Patientenwille zum vorrangigen Maßstab für Therapieentscheidungen wird. Dies ist in einem vor dem Landgericht Mannheim verhandelten Fall so weit gegangen, dass ein Arzt eine wegen ständigem Erbrechen gar nicht mehr mögliche PEG-Ernährung einer multimorbiden soporösen Patientin nicht etwa aus mangelnder Indikation abbrach, sondern eine Patientenverfügung fälschte, weil er glaubte, damit sei sein Therapieverzicht besser legitimiert (1 Kls 200 Js 34036/04). Eine etwas mildere Form der Scheu zur Indikationsstellung ist klinischer Alltag in der Neurologie: da berichtet ein Assistenzarzt in der Frühkonferenz von der Aufnahme eines 75jährigen bewusstlosen Patienten mit ausgedehnter letztlich infauster Hirnstammblutung: er habe angesichts der progredienten Dyspnoe die begleitenden Ehefrau gefragt, ob sie denn für oder gegen eine Intubation und Beatmung sei. Als wenn die arme emotional verstörte Ehefrau hier eine gute Ratgeberin sein könnte. Die Therapiestrategie muss primär über die Indikationsfrage entschieden werden, die der Assistent seinem Oberarzt und nicht der Ehefrau zu stellen hat. Zumindest muss es versucht werden. Es entspricht falsch verstandener Patientenautonomie, wenn Ärzte ihre Verantwortung zur Indikationsstellung in lebensbedrohlichen Situationen auf Patienten oder deren Angehörige verlagern, in dem diese nach ihren „Wünschen“ gefragt werden und sich die Ärzte nur als Anbieter einer unverbindlichen Pluralität an „Möglichkeiten“ verstehen. Die ärztliche Haltung soll sich nicht auf eine allgemeine distanziert deskriptiv-fachliche Ebene zurückziehen, sondern sollte normative Elemente z.B. eine durchaus „väterlich wohlmeinende Bevormundung“ nicht verbergen; vielleicht funktioniert die Arzt-Patienten-Beziehung manchmal so wie die zwischen einem erfahrenen Bergführer und einem bergunkundigen Touristen. Das belässt dem Arzt eine fachlich unterfütterte fürsorgliche Positionierung, die allerdings nicht ohne Rückbindung und Verzahnung mit den Präferenzen des Patienten in praktisches Handeln umsetzbar ist [30]. 5.2. Sicherheit und Unsicherheit von Prognosen: Die Stellung einer Indikation für eine bestimmte Maßnahme ist abhängig von einer möglichst verlässlichen Einschätzung der Prognose und die ist zweifelsohne oft schwierig zu treffen. Wenn man den schlechten Verlauf vorhersehen könnte, wäre manche Abbruchsentscheidung leichter. Wann ist der „point of no return“ erreicht, den die angloamerikanische Literatur mit „futility“ bezeichnet. In der intensivmedizinischen Literatur wurden die prognostische Genauigkeit sowohl bei score-basierten als auch bei klinisch-intuitiven Vorhersagen evaluiert [12, 23]. Die Ergebnisse für Score-Systeme wie APACHE II, SOFA oder SAPS sind insbesondere in mittleren Score-Bereichen widersprüchlich. Aber es existieren durchaus in den oberen und unteren Skalenbereichen „Cut-Offs“ – bei denen die Überlebens- oder Sterbensrate jeweils fast 100% beträgt und die somit zusammen mit intuitiven Einschätzungen eine verlässliche Entscheidungsbasis darstellen könnten. Die intuitiven Vorhersagen alleine sind auch auf den ersten Blick stark irrtumsbelastet. In einer aktuellen Publikation erwiesen sich auf einer internistischen Intensivstation getroffene Vorhersagen eines tödlichen Verlaufs nur bei knapp der Hälfte als zutreffend – die andere Hälfte der vermeintlichen Todeskandidaten hatte wider Erwarten überlebt [20]. Allerdings wurde die Prognoseeinschätzung in den ersten Behandlungstagen abgegeben und zwar von allen Befragten separat – eine kritische Diskussion fand nicht statt. Prognosen sind und bleiben irrtumsbehaftet – aber es gibt genug Patienten wo sie eindeutig möglich sind, vor allem wenn man einige Zeit abwartet. An dieser Stelle soll auf eine Prognose-Problematik aufmerksam gemacht werden, die insbesondere bei schweren Hirnschädigungen zum Tragen kommt: durch die Zergliederung des Behandlungsablaufs in Akut-Intensivstation und Frührehabilitations-Beatmungs-Station werden fast alle Patienten mit schwereren Hirnblutungen oder SchädelHirn-Trauma, die nach 10 oder 14 Tagen Intensivstation noch leben tracheotomiert in 36 EthikBericht_11-14.indd 36 11.11.14 10:48 die Früh-Reha verlegt. Das Team der Akut-Intensivmedizin erlebt sinnlich keine Langzeitverläufe mehr und die unerwartet guten Verläufe bleiben ihm verborgen. Dennoch soll gerade der Akut-Intensivarzt eine verlässliche Prognose abgeben. Zu Beginn meiner Ausbildung in der Intensivmedizin in den 80er Jahren betrug die mittlere Verweildauer in einer neurologischen Uniklinik 21 Tage – mittlerweile sind es 5? . Ich kann mich doch an einige erstaunlich positive Verläufe erinnern, die nach ihrer Intensivbehandlung noch wochenlang in der Klinik zu verfolgen waren. Wenn heute die Ärzte während der kürzeren Verweildauer nur noch die anfangs schlechten und tödlichen Verläufe persönlich erleben – vielleicht auch wegen früh umgesetzter Patientenverfügungen – besteht die Gefahr der Generierung einer Self-fulfilling-Prophecy. Mit ihr verstärken sich negative Prognoseerfahrungen und führen zu reduziertem Engagement, was wiederum eine Zunahme fataler Verläufe zur Folge hat. Dies kann im Zweifelsfall zu einer intensivtherapeutischen Abwärtsspirale führen. Die neurologische Intensivmedizinerin Kira Becker aus Seattle hat dies in einer Studie bei 87 Patienten mit Hirnblutungen eindrucksvoll nachweisen können [2]; auch andere Studien zeigte ähnliche Auswirkungen therapielimitierender Verhaltens, beispielsweise auch die Anwendung von „Verzicht auf WiederbelebungsAnordnungen“ („Do-not-resuscitate-Orders“; DNR-Orders) [17, 32]. 5.3. Transparenz und Dokumentation schwieriger Entscheidungen Intensivstationen funktionieren nur in Teamarbeit. Werden Therapieabbrüche von Ärzten intransparent vollzogen, kann sich das in drastischer Weise rächen: mehrere Ärzte die durchaus indizierte Behandlungsabbrüche ohne ausreichende Kommunikation und Transparenz vorgenommen hatten, wurden von Angehörigen des Pflegepersonals verklagt und landeten vor Gericht. Verwiesen sei hier auf den Magdeburger Strafprozess gegen Prof. Dr. Dr. Paul Schönle, Träger des Bundesverdienstkreuzes und einen der renommiertesten deutschsprachigen Rehabilitations-Wissenschaftler. Es ging um die Beendigung einer Beatmung – Schönle wurde schließlich freigesprochen – seinen Chefarztposten hatte zu diesem Zeitpunkt aber bereits verloren [22]. Ein solches Verhalten von Pflegekräften ist auf den ersten Blick vielleicht verwunderlich, da aus den meisten Befragungen und auch aus unseren Alltagserfahrungen hervorgeht, dass Intensivpflegekräfte eher finden, dass Ärzte in Grenzsituationen „zu viel“ therapieren. Auf den zweiten psychologischeren Blick sind die Klagen aber nachvollziehbar und können nur als dringender Appell zu maximaler Transparenz schwieriger Entscheidungen auf der Intensivstation verstanden werden. Die inzwischen institutionell in Kliniken verankerten Ethikkonsile und –beratungen sowie von einem klinischen Ethik-Komitee unterstützte ethische Fallberatungen leisten hier wichtige Hilfe [3]. Zur Transparenz gehört auch eine angemessene Dokumentation: erfolgt sie nicht, kann es im Streitfall kritisch werden; zu denken ist hier an den Prozess wegen mehrfachen Mordes gegen die Ärztin Dr. Bach in Hannover. Die diametral unterschiedlichen Bewertungen ihrer Medikamentengaben durch die anästhesiologischen Gutachter waren unter anderem darin begründet, dass Nichts zu den Motiven und Umständen der hohen vermeintlich palliativ indizierten Medikamentendosierungen dokumentiert war. Nach mehreren Jahren des schwierigen Prozesses hat sich Frau Dr. Bach schließlich zu Beginn des Jahres 2011 suizidiert. Das Thema Ärzte und Pflegekräfte ist auch deswegen interessant, weil es Entwicklungen einer Pflege-Ethik gibt, die in Abgrenzung von ärztlicher Ethik manche Therapieverzichte als einen Tabubruch des pflegerischen Ethos ansehen – das zeigte sich in einigen Fällen, wo es um die Einstellung der PEG-Ernährung ging: sowohl im berühmten Kemptner-Fall 1994 als auch im Traunsteiner-Fall des Peter K. 2005 waren sich zwar Arzt und Betreuer über die Beendigung der Ernährung einig, Pflegekräfte wollten diese Unterlassung jedoch im Widerstand gegen eine ärztliche Anordnung nicht vollziehen bzw. haben auch hier Anzeige erstattet. Dies dürfte sich in Zukunft noch zu einem spannenden Diskussi- 37 EthikBericht_11-14.indd 37 11.11.14 10:48 onsthema entwickeln, das hier nur angerissen werden kann. 5.4. Behandlungskultur im „Zeitalter“ von Patientenverfügungen Vielleicht nicht ganz zufällig fällt die Patientenverfügungsdebatte in eine Zeit in der Patienten „Kunden“ und Ärzte „Leistungserbringer“ genannt werden. In dieser medizinischen Werkvertragsmentalität bestehen hohe Ansprüche an die Machbarkeit im Bereich Gesundheit. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat einmal gesagt, dass der ehemalige Gott in Weiß vom Thron gestoßen werde und von mit Internetausdrucken bewaffneten Patienten vor sich hergetrieben werde. Der Arzt als tief verunsicherter Akteur in einem Dschungel von Patienten-Ansprüchen, Gerichtsentscheiden und Leitlinien, die ihm von der Hypertonie bis zum Fußpilz vorschreiben, was zu tun sei. Dem gegenüber treten Patientenforderungen nach grenzenlosen Wunscherfüllung. In diesen konkreten Utopien ist der Wunschtod die logische Konsequenz des Wunschkindes. Wer die Machbarkeit von ewiger Jugend und Schönheit in irdischen Paradiesbildern nährt oder propagiert, der wird auch die Wegmachbarkeit menschlichen Lebens mitdenken, wenn menschliches Leben an Grenzen gerät und brüchig wird. Ein „memento mori“ – bedenke, dass Du sterblich bist – würde uns in unseren Machbarkeitsphantasien nicht schaden. Und diese Kulturfragen zu Leben und Sterben berühren auf zweierlei Weise das Thema Patientenverfügung. Einerseits ist es durchaus zu begrüßen, dass Menschen in den Zeiten der Todesverdrängung ein gewisses „memento mori“ pflegen, wenn sie eine Verfügung ausfüllen. Andererseits bedeutet das Verfassen einer Verfügung oft gar keine echte persönliche Auseinandersetzung mit Sterben und Tod, sondern eine Art vertragliche „Entsorgungsregelung“ für den Fall brüchiger Hängepartien zwischen Leben und Tod. Diese sind offensichtlich in unserer Vorstellung schwer auszuhalten und haben keinen Platz in der Entweder-oder Mentalität des Lebens und Sterbens. Im klinischen Alltag ist auch das zu spüren: schon am ersten Behandlungstag drängen manche Angehörigen, den Schlaganfall des Patienten nicht lebensrettend zu therapieren – oft in Übereinstimmung mit unserer ärztlichen Entscheidung. Wehe, wenn sich der Patient aber dann als stabil erweist, vielleicht gerade wegen unserer fehlenden Interventionen. Da wird schnell die vorwurfsvolle Frage laut, warum der Kranke trotz Patientenverfügung denn immer noch lebe. In einer Kultur des schnellen Alles oder Nichts bleiben die auch in der Intensivmedizin notwendigen Tugenden einer Bereitschaft zum Abwarten und zur Geduld in problematischen und prognostisch unklaren lebensbedrohlichen Situationen auf der Strecke. Ärzte müssen die Menschen heute beraten über das, was eine Patientenverfügung in solchen Situationen bedeuten kann und dabei auch ihre Einstellungen zu jenen schweren Krankheitsphasen plastisch thematisieren, die aktuell im Deutschen Ärzteblatt als „Chronisch kritische Krankheit“ bezeichnet wurden [21]. Intensivmedizin hat es möglich gemacht, dass man heutzutage beatmet zuhause grundsätzlich gut überleben kann – und einige Menschen darin durchaus eine akzeptable Lebensqualität erkennen. Darüber müssen wir und die Gesellschaft reden und diskutieren. Ärzte müssen aufklären über die Zustände schwerer Behinderung zwischen Leben und Tod, damit jeder Einzelne informiert seine Entscheidungen treffen kann. Neben einem „Memento mori“ kann auch ein „Memento vulnerabilis esse“ stehen. 38 EthikBericht_11-14.indd 38 11.11.14 10:48 6. Zusammenfassung und Ausblick Wie jede medizinische Maßnahme, so beinhalten auch Patientenverfügungen Chancen und Risiken. Die Chancen sind zu sehen in • der Wahrung der Selbstbestimmung • einer Entlastung der Stellvertreter • erleichterter Orientierung für den Arzt • vermehrtem Druck zur Informiertheit der Beteiligteneiner Bahnung ja sogar einem Zwang zum Dialog zwischen Arzt und dem Patientenvertreter Die konkreten Risiken und Gefahren der Patientenverfügung liegen in ihrer potentiellen Missverständlichkeit und Fehlinterpretierbarkeit. In ihrem Gefolge könnten sich leise und unbemerkt generelle Erosionen unseres intensivmedizinischen Engagements und der Behandlungskultur schwerer Krankheiten entwickeln. Um solche Entwicklungen zu bemerken und zu verstehen, ist eine wissenschaftliche Begleitforschung über den Umgang mit und die Folgen von Patientenverfügungen notwendig. Es ist zu begrüßen, dass sich das Thema aus den Nischen betulicher ethischer Kamingespräche heraus in den intensivmedizinischen Alltag hineinemanzipiert hat und zum Gegenstand einer wissenschaftlich unterfütterten ethischen Diskurskultur wird. Eine kompetente intensivmedizinische Behandlung darf und muss Spielräume bei schwierigen Entscheidungen zwischen Autonomie und Fürsorge nützen; sie muss Sterben lassen können, wo dies geboten ist oder vom einzelnen Patienten mehr oder weniger nachvollziehbar eingefordert wird. Das bedeutet die Implementierung palliativmedizinischer Kultur und Kompetenz auch auf Intensivstationen. Würden sich die Intensivmediziner hier verweigern, stärkte dies nur die Verfechter einer aktiven Rolle der Ärzte beim Sterben. Das balancierte Ausloten zwischen Autonomie und Fürsorge bedarf jedoch der Informiertheit über die ethischen und juristischen Aspekte der intensivmedizinischen Therapie. Zusammen mit einer ständigen offen geführten Diskussion im Behandlungsteam sollte dies dazu führen, dass der Umgang mit komplexen ethisch brisanten Situationen nicht mehr länger defensiv als „manchmal unvermeidbar“, sondern offensiv als originäre intensivmedizinische Aufgabe betrachtet wird. Ein Intensivteam muss dafür genauso gut und professionell gerüstet sein, wie für das Management einer Reanimation oder eines Multiorganversagens. Dabei werden Konflikte, Verwerfungen und Fehlentscheidungen nicht ausbleiben; Irrtum auf hohem Niveau – aus dem man auch lernen kann – gehört zum Arztberuf und ist ein Teil des Spannenden und Herausfordernden der Intensivmedizin. Eine solche Formulierung mag etwas pathetisch erscheinen und deswegen sei darauf hingewiesen, dass auch eine Portion an ironischer Gelassenheit in den Dingen des Lebens und Sterbens auch im intensivmedizinischen Alltag nicht schadet. Auf dem Friedhof in Kramsach in Österreich findet sich mit einer GrabkreuzInschrift ein Beispiel für diese Gelassenheit: „Hier ruht mein Arzt Herr Grimm. Und alle die er heilte neben ihm“. Fazit für die Praxis Das neue „Patientenverfügungsgesetz“ (§§ 1901a-c, 1904 BGB; § 287 FamFG) fordert eine dialogische Entscheidung zwischen dem Arzt und dem Vertreter des Patienten unter Berücksichtigung der konkreten Prognose und der darauf bezogenen konkreten Festlegungen bzw. mutmaßlichen Prioritäten des Patienten. Die Achtung vor der Selbstbestimmung des Patienten bedeutet keinen Verzicht auf eine dezidierte und kritische ärztliche Indikationsstellung: bei ausreichend sicherer Aussichtslosigkeit ist ein Therapieverzicht bereits aus „mangelnder Indikation“ gerechtfertigt und bedarf nicht der Einbeziehung des Patientenwillens. Dem Autonomieprinzip soll eine fürsorg- 39 EthikBericht_11-14.indd 39 11.11.14 10:48 lich ausgerichtete Intensivmedizin („Ethics of care“) an die Seite gestellt werden, die bei Aussichtlosigkeit kurativer Maßnahmen und dem dann nicht mehr angemessenem Lebenserhalt „um jeden Preis“ eine palliative Therapie durchführt. Ein strafrechtlich erlaubter Therapieverzicht umfasst auch „aktive“ Beendigungen nicht (mehr) indizierter oder nicht (mehr) eingewilligter invasiver Maßnahmen wie beispielsweise Beatmung, Dialyse oder Ernährung. Ethikkonsile oder -beratungen erleichtern die Entscheidungsfindung in schwierigen Situationen. Literatur: [1] Beauchamp TL, Childress JF (2001) Principles of Biomedical Ethics. Oxford University Press, New York, Oxford. [2] Becker KJ, Baxter AB, Cohen WA et al. (2001) Withdrawal of support in intracerebral hemorrhage may lead to self-fulfilling prophecies. Neurology 56:766-772. [3] Bein T, Graf BM (2012) Ethische Fallberatung in der Intensivmedizin. 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XIII DÖRRIES A, HESPE-JUNGBLUT K: Die Implementierung klinischer Ethikberatung in Deutschland. Ergebnisse einer bundes- weiten Umfrage bei Krankenhäusern. Ethik in der Medizin 19 (2007) 184-156. XIV ALBISSER SCHLEGER H, REITER-THEIL S: Alter und Kosten – Faktoren bei Therapieentscheiden am Lebensende? Eine Analyse informeller Wissensstrukturen bei Ärzten und Pflegenden. Ethik in der Medizin 19 (2007) 103-119. XV ZAHURANEC DB, MORGENSTERN LB, SÁNCHEZ BN, ET AL.: Do-not-resuscitate orders and predictive models after intracerebral hemorrhage. Neurology 75 (2010) 626-633. XVI HEMPHILL C III: Do-not-resuscitate orders, unintended consequences, and the ripple effect. Critical Care 11 (2007) 121. Korrespondenzadresse Christof Oswald, Fachkrankenpfleger für Intensivpflege, Dipl. Pflegewirt (FH) Klinikum Nürnberg, Breslauer Str. 201, 90471 Nürnberg, [email protected] 41 EthikBericht_11-14.indd 41 11.11.14 10:48 Klinische Ethikberatung im Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4 – Fallevaluation für den Zeitraum von 1999 bis 2011 Stephan Kolb, Nürnberg 1. Zur Entwicklung des Nürnberger „Ethikkreises“ Die Geschichte der Klinischen Ethikberatung beginnt dramatisch als Diskussion über Leben und Tod im Auftrag eines Krankenhauses: Sieben „Auserwählte“, die aber lieber unerkannt und anonym bleiben wollten, mussten Anfang der 1960er Jahre im amerikanischen Seattle immer wieder darüber entscheiden, welche Patienten mit Nierenversagen die seltene Möglichkeit einer Nierenersatztherapie kommen sollten – und damit eine Überlebens chance – und wer nicht.6 Bei einem Faktor von etwa 1 zu 50-100 bedeutete der Platz auf der Warteliste der Dialyse für viele Nierenkranke nichts anderes als den baldigen Tod. Insofern ist nachvollziehbar, dass die sieben Mitglieder des offiziellen „Kidney Dialysis Selection Committee“, besser bekannt als „Life and Death Committee“, in Seattle Wert darauf legten, nicht namentlich erwähnt zu werden oder öffentlich entscheiden zu müssen. Dennoch erlangte die kleine Gruppe – ein Chirurg, ein Pfarrer und fünf Bürger, darunter nur eine Frau – in der amerikanischen Öffentlichkeit als „God Committee“ schon bald eine zweifelhafte Berühmtheit.7 Auch wenn das Seattle-Komitee nicht mit der heutigen Klinischen Ethikberatung vergleichbar ist: Die hier bereits anklingenden organisatorischen Fragen der Besetzung, Transparenz und Entscheidungsbefugnis von Ethikkomitees und ähnlichen Beratungsgremien werden bis heute auch in der Debatte um die Methoden und Modelle der Klinischen Ethikberatung kontrovers diskutiert. Gerade in den 60er und 70er Jahren warfen die rasanten Fortschritte der Medizin am Anfang oder am Ende des Lebens immer schwierigere ethische Fragen auf. Intensiv- und „Apparatemedizin“, Organtransplantation wie auch Reproduktionsmedizin stellten Ärzte und letztlich die Gesellschaft vor neue ethische Herausforderungen: Sollte das, was technisch möglich war, auch gut sein? Mit seiner Entstehung und Geschichte bildet auch der Nürnberger Ethikkreis der Nephrologie die Entwicklung der modernen Medizin und Intensivmedizin ab, insbesondere der Nierenersatztherapie. Gerade die Möglichkeiten der Dialyse bedeuteten von Anfang an neben hilfreichen Therapieoptionen auch schwerwiegende Konflikte – in den 1960er Jahren zunächst die Verteilung weniger Dialyseplätze, heute etwa die Entscheidungen über das Fortführen oder Beenden einer Therapie. Diese für Patienten und Angehörige wie Ärzte und Pflegende, belastende Situation hat im Klinikum Nürnberg ein Beratungsangebot hervorgebracht, das inzwischen seit 15 Jahren erfolgreich eingesetzt wird: Der „Ethikkreis“ der Medizinischen Klinik 4. Zunächst hatte sich 1989 eine Dialyseberatung aus Ärzten und Pflegenden gebildet, die bei schwierigen Entscheidungen allen Beteiligten beratend und begleitend zur Seite stand. Sie vermittelte medizinische Informationen, klärte über die verschiedenen Nierenersatzverfahren auf und beriet in beruflichen wie auch psychosozialen Fragen. In den Jahren 1992 und 1995 gaben dann zwei besonders schwierige Einzelfälle den Anlass für ein außerordentliches Beratungsgespräch zur sogenannten „Dialyse nach Werten“, zu dem die Dialyseberatung jeweils auch Ärzte, Pflegende, Patienten und Angehörige einlud – dies wurde zur Geburtsstunde der späteren Ethikberatung. „1992 führten wir in unserer Klinik erstmals eine Ethikberatung in großem Kreise durch. Der Patient mit allen diabetischen Spätfolgen (Amputationen, schwere Einschränkung der Herzleistung, starke Sehschwäche und Kreislaufprobleme an der Dialyse) war ausgelaugt durch mehrere Jahre Dialyse und hatte keine Kraft mehr, er wollte die Behandlung beenden und äußerte diesen Wunsch bei jeder Dialyse. Trotz mehrerer Gespräche war 6 Frewer (2008). 7 Alexander (1962). 42 EthikBericht_11-14.indd 42 11.11.14 10:48 er nicht von diesem Wunsch abzubringen. In einer Beratung mit Angehörigen, Ärzten und Pflegenden von Station und Dialyse sowie unserem Dialyseberatungsteam konnten wir uns zur damaligen Zeit aus Angst vor juristischen Konsequenzen nicht zu einem klaren Abbruch der Behandlung entscheiden. Der Beschluss dieser Besprechung (Ethikberatung) war die Entscheidung, eine, Dialyse nach Laborwerten‘ durchzuführen.“8 Die „Dialyse nach Werten“ begann oft dann, wenn eine Dialyse für die Patienten zur kaum erträglichen Belastung geworden war. Zunächst wurden einzelne Dialysen ausgelassen, was bereits zum starken körperlichen Abbau und zum Tod führen konnte. Bei akuter Überwässerung oder zu hohem Kaliumgehalt folgte eine verkürzte Dialyse, dann wurde erneut ausgesetzt. Zur juristischen Absicherung der verantwortlichen Ärzte wurden fortlaufend Laborparameter bestimmt. Diese sogenannte „Dialyse nach Werten“ war aus vielen Gründen problematisch, da den Patienten nur vordergründig geholfen wurde. Sie erhielten zwar weniger Dialysen, erholten sich aber kaum und litten unter einem verlängerten Leiden und Sterben. Vor diesem Hintergrund entstand 1997 der Ethikkreis der 4. Medizinischen Klinik, der sich vor allem schwierigen Entscheidungen bei akuten und chronisch Kranken widmen sollte. 2. Struktur des Beratungsangebotes Zum Start der Ethikberatung formulierten die Beteiligten ein internes Informationsblatt,9 in dem es heißt: „Die langjährigen Erfahrungen von einigen Arbeitskollegen im Dialysebereich und auf der Intensivstation wollten wir auch anderen Stationen der Medizinischen Klinik 4 anbieten. Als Konfliktfelder kristallisierten sich an unserer Klinik heraus: Dialyseabbruch, Dialysebeginn, Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen.“ Der Ethikkreis ist interdisziplinär zusammengesetzt und bewusst hierarchiefrei. Seit 1999 Jahren sieben Mitarbeiter an, - die verantwortliche Pflegekraft der Dialyseberatung - ein Pfarrer der evangelischen Klinikseelsorge - eine Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin/Psychosomatik - ein Internist und Oberarzt - zwei weitere Mitarbeiter/innen aus dem Pflegedienst - eine Diabetesberaterin Die ersten vier der Kollegen beraten regelmäßig. Der Ethikkreis trifft sich einmal im Monat zu inhaltlichen, organisatorischen und fallbezogenen Klärungen, und einmal pro Woche lädt die Dialyseberatung zu einer Fallbesprechung ein, an der auch Kollegen des Ethikkreises teilnehmen und sich gegenseitig supervidieren. 8 Aus der Abschlussarbeit Heidi Stephans im Fernlehr- gang Ethikberater im Gesundheitswesen: „Kritische Betrachtung der Vorgeschichte, Entwicklung und Arbeitsweise des Ethikkreises der Med. Klinik 4 am Klinikum Süd in Nürnberg“. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. 9 Dies umfasst ein vierseitiges Leitbild, das neben einer Das Angebot des Ethikkreises steht allen Personen offen, die am Behandlungs- und Betreuungsprozess beteiligt sind, etwa Patienten, Angehörige, Pflegende oder Ärzte. Ein besonderes Charakteristikum des Nürnberger Ethikkreises ist seine große Nähe zum Stationsalltag. Die Schwester der Dialyseberatung besucht täglich sowohl die Dialysestation als auch die Normalstationen und steht damit in regelmäßigem Kontakt zu den pflegerischen und ärztlichen Kollegen. Die hier typischen Krankheiten – insbesondere Diabetes mellitus und chronisches Nierenversagen – bringen es mit sich, dass sie viele Patienten bereits seit Jahren persönlich kennt, begleitet und ihren Krankheitsverlauf eng mitverfolgt. Standortbestimmung auch die Schwerpunkte der bisherigen Beratungsarbeit nennt und das Thema Behandlungsabbruch näher erläutert. Das Papier mit den mobilen Telefonnummern der Beteiligten diente als klinikinterne Information. 43 EthikBericht_11-14.indd 43 11.11.14 10:48 Die Initiative zu einer Ethikberatung entsteht oft während der täglichen Visiten der Dialyseberaterin, wenn diese von Ärzten oder Pflegenden darauf hingewiesen wird, dass sich bald die Notwendigkeit einer Ethikberatung abzeichnen könnte. Dabei sprechen sie häufiger Ärzte als Pflegende an, insbesondere Stationsärzte. Pflegende werden ebenfalls aktiv, zeigen aber in der Regel eher Zurückhaltung, u.a. aus Unsicherheit wegen möglicher Reaktionen innerhalb des Teams. Bei vielen Kontakten wird deutlich, dass die Möglichkeit einer Ethikberatung im Rahmen der Visite erörtert worden ist.10 Wenn die konkrete Anfrage einer Ethikberatung erfolgt ist, kontaktiert die Schwester der Dialyseberatung zunächst eine weitere Person aus dem Ethikkreis. Sofern die Patienten nicht längst bekannt sind, informieren sich beide im Sinne der Auftragsklärung vorab bei den jeweiligen Ärzten und Pflegenden nach dem medizinischen und pflegerischen Stand der Patienten, den Handlungsoptionen, ihren Prognosen und dem sozialen Umfeld. Das Beratungsgespräch selbst, das meist ohne die verantwortlichen Ärzte und Pflegenden stattfindet, führen oft zwei Berater – möglichst unterschiedlichen Geschlechts – und in einer möglichst ungestörten Atmosphäre. Bei bettlägerigen Patienten in Zweibettzimmern werden die jeweils anderen Patienten für den Zeitraum des Gesprächs in ein anderes Zimmer oder auf den Gang gefahren. Wenn die Patienten mobil sind, findet das Gespräch gesondert in einem anderen Raum statt. Zu Beginn des Gesprächs stellen sich die Berater zunächst in ihrer Rolle vor, wobei die Institution und der Begriff „Ethikkreis“ immer explizit genannt werden, um allen Beteiligten den Rahmen des Gesprächs transparent zu machen. Eine eindeutige Rollenverteilung der Beratenden gibt es nicht, im Gegenteil: Beide Berater ergänzen sich im Verlauf des Gesprächs, indem sie es der Situation überlassen, zu wem der beiden der Patient oder die Angehörigen schneller einen Kontakt und die notwendige Nähe aufbauen. Gerade bei Patienten, die nur noch mühsam kommunizieren können, eher müde oder geschwächt sind und am Gespräch evtl. nur mit geschlossenen Augen teilnehmen können, spielt selbst der Klang der Stimme der Berater eine wichtige Rolle, vor allem bei der persönlichen Kontaktaufnahme und den ersten Gesprächsmomenten. „Wir vergessen da auch oft unsere eigentliche Profession“, so die Dialyse¬beraterin über ihre Gesprächsführung im Rahmen der Ethikberatung.11 Beide Berater sind durch die entsprechende Vorinformation von Ärzten, Pflegenden und der Krankenakte in der Lage, den Patienten und ihren Angehörigen oder Betreuern medizinische Fragen und Fragen zur Prognose zu beantworten. Häufig berühren die Fragen den Sterbeprozess und das Sterben selbst: „Wie lange wird es dauern?“ – „Wird es größere Schmerzen geben?“ – „Was werde ich davon mitbekommen?“ Das Gespräch des Ethikkreises endet meist mit einer ausdrücklichen Empfehlung. Der Ethikkreis spricht zunächst mit dem behandelnden Team, um ihm nach der Beratung eine konkrete Empfehlung zu geben, die auch schriftlich in der Akte dokumentiert wird. Im Anschluss daran, in der Regel noch am selben Tag, wird ein Protokoll verfasst, das vom Protokollanten und grundsätzlich auch vom zweiten Berater unterzeichnet sowie in der Krankenakte abgeheftet wird. In der Regel wird das Ethikprotokoll auch im Entlassungsbrief ausdrücklich erwähnt. Der Ethikkreis hat sich zudem bei der Erarbeitung von Leitlinien12 engagiert. Der Einsatz einer „Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebung“ (VaW), angelehnt an ein Verfahren am Erlanger Universitätsklinikum, wurde im Jahr 2004 für die Medizinische Klinik 4 adaptiert und im Rahmen eines Projektes eingeführt. Nach einer neunmonatigen Erprobung und einer anschließenden Evaluation wurde sie ab 2005 in der Regelversorgung der Klinik etabliert.13 10 Persönliche Mitteilung der Dialyseberaterin im Rahmen eines Interviews im November 2010. 11 Persönliche Mitteilung 2011 12 McGee (2001). 13 Oswald (2008) sowie Oswald (2009) als Evaluationsstudie. 44 EthikBericht_11-14.indd 44 11.11.14 10:48 3. Evaluation der Beratungsfälle – Kollektiv und Methoden Die systematische Auswertung der Ethikberatungen in der Medizinischen Klinik 4 am Klinikum Nürnberg bezieht sich auf den Zeitraum zwischen Januar 1999 und September 2011. Für diesen Zeitraum liegen 262 schriftlich dokumentierte Protokolle vor, wobei zum Teil ein einzelnes Protokoll mehrere Beratungen bzw. Einzelgespräche dokumentiert. Die Protokolle wurden überwiegend von vier Personen geschrieben, etwa die Hälfte von der verantwortlichen Pflegekraft der Dialyseberatung. Nahezu alle 262 Protokolle wurden handschriftlich von den teilnehmenden Kollegen des Ethikkreises unterschrieben. Keines der Protokolle trägt eine Unterschrift anderer Gesprächsteilnehmer. Die Protokolle verteilen sich entsprechend der folgenden Tabelle ungleichmäßig auf die untersuchten Jahre. Zu Beginn fanden vergleichsweise wenige Beratungen statt oder wurden als solche dokumentiert, in den Jahren 2007 und 2008 bewirkte vermutlich eine klinikinterne Befragung zu ethischen Fragen im Berufsalltag den deutlichen Anstieg der Beratungen. In die Untersuchung wurden diejenigen Protokolle einbezogen, die ein stattgefundenes Beratungsgespräch dokumentieren. Fünf Protokolle geben lediglich den Klärungsprozess der Vorbereitung der Beratung wieder, z.B. ein Informationsgespräch mit Ärzten oder Pflegenden. Das eigentliche Beratungsgespräch mit Mitgliedern des Ethikkreises fand dann nicht statt, da die Patienten unmittelbar nach dem Vorbereitungsgespräch verstarben. Diese Protokolle wurden daher nicht berücksichtigt. Andere Gründe für einen abgebrochenen Beratungsprozess fanden sich nicht. Vor diesem Hintergrund schließt die vorliegende Untersuchung von den 262 Protokollen insgesamt 257 Protokolle ein. Abb. 1: Anzahl der Protokolle pro Jahr (1/1999 bis 9/2011) Für ihre Auswertung wurden die weitgehend unstrukturierten Protokolle zunächst chronologisch nummeriert und anhand eines für die Untersuchung entworfenen Auswertungsbogens analysiert. Der Bogen umfasst neben dem Jahr der Protokollierung drei Kategorien von personen-, fall- und gesprächsbezogenen Angaben. Diese Unterscheidung erfolgt zur besseren Beurteilung der Gespräche. Wegen des begrenzten Umfangs vieler Protokolle war eine genauere sprachliche Untersuchung der Beratungen nicht sinnvoll. Um dennoch einen differenzierten Eindruck von den Protokollen zu ermöglichen, werden sie auszugsweise zitiert; inhaltliche Verfälschungen sollen dabei möglichst vermieden werden, daher wurden die Auszüge redaktionell nicht bearbeitet. 4. Ergebnisse der Ethikberatungen Die Verteilung der Geschlechter ist nahezu ausgewogen: 51% der Patienten waren männlich, 49% weiblich. In der Altersverteilung ergibt sich folgendes Bild: 39% der Patienten gehörten zur Altersgruppe zwischen 80 und 89 Jahren, gefolgt von 30% der Patienten zwischen 70 und 79 Jahren. Lediglich 5% der Patienten waren 49 Jahre alt oder jünger, 7% der Patienten allerdings auch über 90 Jahre alt. Abb. 2: Anzahl der Ethikberatungen je Altersgruppe Zur quantitativen Erfassung der wesentlichen Fragestellungen wurden nach einer Sichtung der Protokolle sechs inhaltliche Schwerpunkte gebildet, wobei auch mehrfache Zuordnungen möglich waren. Ihre Festlegung orientierte sich am untersuchten Patientenkollektiv. Es ergaben sich dabei folgende Themen: - Fragen zur Dialyse - Allgemeine Therapiefragen - Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen (VaW) - Ernährung bzw. Anlegen einer Magensonde (PEG) - Fragen der Pflege bzw. Unterbringung in Heim oder Hospiz - Sonstige Themen 45 EthikBericht_11-14.indd 45 11.11.14 10:48 Zu den 257 untersuchten Protokollen wurden anhand des Auswertungsbogens insgesamt 312 thematische Zuordnungen und Anlässe getroffen, allein 181 (d.h 70% der Protokolle) zum Thema „Dialyse“, gefolgt von 52 (20%) Zuordnungen zu „Allgemeine Therapiefragen“, 25 zu „Ernährung/PEG“, 22 zu „Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen/VaW“, 17 zum Thema „Pflege, Heim, Hospiz“ und 15 weitere Zuordnungen zu „sonstigen Themen“. Die Ethikberatungen des Ethikkreises fanden wie beschrieben zweigeteilt statt: Zunächst führen die Ethikberater ein Informations- oder Vorgespräch mit den involvierten Ärzten und Pflegenden, von denen in vielen Fällen auch die Initiative zur Ethikberatung ausgeht. Dann folgt das eigentliche Beratungsgespräch, das entsprechend der Protokolle von beiden Seiten in unterschiedlichen Besetzungen geführt wird. Die häufigsten Konstellationen auf Seiten der Anfragenden sind: - Patient und Angehörige (z.T. als Betreuer) 33% - allein Angehörige (z.T. als Betreuer) 27% - allein Patient 14% - Patient, Angehörige und Mitarbeiter 10% - allein Mitarbeiter (von der Station) 5% - Angehörige und Mitarbeiter 7% - andere Settings 4% Abb. 3: Anzahl der Fragestellungen pro Themenschwerpunkt Jeder Patient wird persönlich aufgesucht und an mehr als der Hälfte der Ethikberatungen (57%) nimmt der Patient auch selbst teil. Die dabei ermittelten kommunikativen Einschränkungen sind Gegenstand des nächsten Abschnitts. Auf Seiten des Ethikkreises verteilt sich das Engagement für den Zeitraum von Januar 1999 bis September 2011 auf insgesamt sieben Personen (vier Ärzte, zwei Pflegekräfte und ein Seelsorger), von denen eine der Pflegekräfte, der Seelsorger und zwei Ärzte ca. 90% der Ethikberatungen durchgeführt haben. Über die größte Erfahrung verfügt die für Dialyseberatung verantwortliche Pflegekraft. Sie ist in 230 der 257 Protokolle (89%) als Teilnehmende genannt und hat viele der Gespräche dokumentiert, wobei sehr viele Protokolle gemeinsam verfasst werden. Die Teilnahme des Ethikkreises an den 257 untersuchten Ethikberatungen gliedert sich wie folgt: - Pflegekraft/Seelsorger 46% der Beratungen - Pflegekraft/Arzt 32% der Beratungen - Seelsorger/Pflegekraft/Arzt - Arzt/Seelsorger - andere Konstellationen 9% der Beratungen 10% der Beratungen 3% der Beratungen Die Ärzte des Ethikkreises sind dabei nicht als Behandler, sondern als Ethikberater tätig. Die Gespräche finden fast immer zu zweit statt. Da an mindestens jeder zweiten Ethikberatung auch die Patienten selbst teilnehmen, ist eine mögliche körperliche oder geistige Einschränkung ihrer Teilnahme in Betracht zu ziehen. Aus den Protokollen ist erkennbar, dass die Fähigkeit zu Orientierung und Kontaktaufnahme in 43% der Fälle gegeben war. Diese Fähigkeit wurde entweder ausdrücklich erwähnt oder konnte aus den Gesprächsschilderungen indirekt geschlossen werden: „Am Anfang war Frau B. noch kontaktfähig und örtlich und zeitlich orientiert“ (Protokoll 17). In 19% der Fälle waren laut Protokollen die Orientierung und Kontaktfähigkeit der Patienten nur eingeschränkt vorhanden: „Sie selbst ist kontaktierbar, kann sich aber nicht mehr äußern“ (Protokoll 57). In 26% der Gespräche waren laut Beratungsprotokollen die Orientierung und Kontaktfähigkeit der Patienten nicht gegeben bzw. nicht möglich: „Der Patient war zu diesem Zeitpunkt schon dement“ (Protokoll 71). Oder: 46 EthikBericht_11-14.indd 46 11.11.14 10:48 „[...] führten wir ein ausführliches Gespräch mit dem Ehemann von Frau E. (zugleich ihr Betreuer) über das weitere medizinische Vorgehen bei seiner Frau. Sie selbst war nicht mehr kontaktfähig. Auf einfache Aufforderungen, z.B. die Augen zu öffnen, hat sie nicht eindeutig reagiert.“ (Protokoll 40) „Hier war der Patient nicht kontaktfähig. Wiederholt war es bei versuchter Kontaktaufnahme zu einem scheinbaren Wahrnehmen der Gesprächspartner gekommen. Nach kurzer Zeit hat der Patient aber jeweils die Augen geschlossen. Eine augenblickliche Willensäußerung war nicht zu eruieren.“ (Protokoll 29) In weiteren 12% der Fälle fanden sich in den Protokollen zu den Aspekten Orientierung und Kontaktfähigkeit keine eindeutig verwertbaren Aussagen. Sie fehlten entweder vollständig oder waren missverständlich und zu einem kleineren Teil auch widersprüchlich formuliert. In Ergänzung der Frage nach Orientierung und Kontaktfähigkeit der Patienten stellte sich die Frage nach dem Vorliegen bzw. der Kenntnis eines ausdrücklichen Patientenwillens. Dieser galt bei der Auswertung der Protokolle dann als bekannt, wenn er durch den teilnehmenden Patienten im Gespräch selbst geäußert, von den Angehörigen oder Betreuern indirekt geschildert und gemutmaßt wurde oder wenn er in Form einer Patientenverfügung vorlag – mit der Einschränkung, dass weder der mutmaßliche Wille noch eine Äußerung im Rahmen einer Patientenverfügung stets mit der vorliegenden Situation eindeutig übereinstimmen muss, was in vielen Gesprächen wiederum zu Kontroversen führen kann. In mehr als der Hälfte der untersuchten Protokolle (58%) wird der Patientenwille im hier genannten Sinne als „bekannt“ und „eindeutig“ beschrieben: „Heute führten wir mehrere Gespräche mit Frau T. hinsichtlich weiterer medizinischer Maßnahmen bei fortgeschrittener pAVK durch. Frau T. äußerte mehrfach klar, dass sie keine weiteren Maßnahmen (diagnostischer oder operativer Art) wünscht und umgehend wieder ins Pflegeheim zurückverlegt werden möchte. Hingegen wünscht sie die weitere Durchführung ihrer chronischen Dialysebehandlung.“ (Protokoll 102) In 19% der Fälle galt der Patientenwille als „ambivalent“ und „uneindeutig“: „Herr D. schwankt in seinen Aussagen sehr. So äußerte er, dass er nicht mehr könne, er auf keinen Fall in das von der Nichte avisierte Heim gehen wolle. Zu einer exakten Aussage jedoch, die Dialyse zu beenden, konnte sich der Patienten nicht durchringen. Diese Ambivalenz ist dem Patienten jedoch bewusst. Sein letzter Satz war die Bitte um Entschuldigung, dass er sich nicht entscheiden könne.“ (Protokoll 11) „Herr H. ist uns schon seit mehreren Wochen bekannt und es wurden [...] viele Gespräche geführt, in denen er schon immer sehr schwankend war und konkrete schon gefasste Entscheidungen mehrmals änderte.“ (Protokoll 184) In 23% der Fälle wird der Patientenwille als „unbekannt“ festgehalten oder es fehlten in den Protokollen entsprechende Angaben bzw. Informationen: „Ein schriftlicher Wille des Patienten liegt nicht vor. Die Patientenverfügung wurde laut Aussage der Familie von seinen Angehörigen verfasst. Der Patient war zu diesem Zeitpunkt schon dement. Ein mutmaßlicher Wille zum Dialyseabbruch wurde vom Patienten nicht geäußert. Auch in anderen Dingen überließ er die Entscheidungen seiner Ehefrau.“ (Protokoll 71) Lückenhaft sind die Protokolle bezüglich der Angaben zum Vorliegen einer Patientenverfügung. Erst seit der Überarbeitung des Dokumentationsbogens „Ethikkreis“ im Jahr 2009 wird das Vorliegen einer Patientenverfügung im Protokoll systematisch abgefragt und festgehalten. Insgesamt findet sich daher in 67% der Fälle keine Erwähnung einer Verfügung oder einer Vorsorgevollmacht und nur in 16% der Fälle wird das Vorliegen 47 EthikBericht_11-14.indd 47 11.11.14 10:48 einer Patientenverfügung ausdrücklich bestätigt. In 17% der Fälle wird das Fehlen einer Verfügung erwähnt. In der überwiegenden Zahl der Fälle (64%) hat die eigentliche Ethikberatung innerhalb eines einzigen Gesprächs stattgefunden, in fast jedem dritten Fall (29%) waren es zwei bis drei Gespräche und in 7% der Fälle mehr als drei Beratungs¬gespräche. Der umfangreichste Beratungsprozess fand im Sommer 2011 statt mit insgesamt neunzehn Einzelgesprächen innerhalb von acht Wochen. Schätzungsweise beziehen sich die hier ausgewerteten 257 Protokolle auf etwa 430 einzelne Beratungsgespräche. Grundsätzlich versuchen die Ethikberater, den Kontakt auch nach dem Beratungsprozess in geeigneter Form zu halten. Der Gesprächsverlauf kann den Charakter und das Grundverständnis der Beratung widerspiegeln, sofern er sich aus den Protokollen angemessen nachvollziehen lässt. Angesichts der zum Teil sehr kurzen und prägnanten Protokolle, die weniger Verlaufsals Ergebnisprotokolle darstellen, ist dies – wie oben beschrieben – nur eingeschränkt möglich. Dennoch enthalten die Protokolle hilfreiche Informationen und weiterführende Hinweise: In der Mehrheit (59%) vermitteln sie einen unstrittigen Gesprächsverlauf, 36% der Beratungen verliefen dagegen kontrovers und 5% waren nicht eindeutig zuzuordnen. Unstrittig meint hier einen Verlauf der Beratung, in dem sich bei den Beteiligten weder intra- noch interpersonelle Konflikte oder Ambivalenzen zeigen, die das Gespräch prägen und einer gemeinsamen oder vom Patienten gefällten Entscheidung entgegenstehen. Bei unstrittigen Gesprächsverläufen scheint die Beratung eher der Bestätigung bzw. Vergewisserung und/oder Dokumentation vorliegender Haltungen zu dienen: „Wie schon in vorherigen Kontakten angesprochen, empfand Frau R. die Dialyse immer als Belastung. Im Rückblick scheint Frau R. in den Wochen vor ihrer Einlieferung ins Krankenhaus von Bekannten und der Familie Abschied genommen zu haben. Sie wollte nie ein Pflegefall sein. Es wurde deutlich, dass Frau R. in ihrem augenblicklichen Zustand keine weiteren lebensverlängernden Maßnahmen und keine Dialyse mehr will. Die Familie bittet auch ausdrücklich darum, nur noch schmerzstillende und ihr Leid lindernde Medikamente zu verabreichen.“ (Protokoll 47) Gegenüber diesen unstrittigen Ethikberatungen verliefen 36% der protokollierten Gespräche bzw. Beratungen kontrovers. Unter kontroversen Gesprächen sind hier solche zu verstehen, in deren Verlauf unterschiedliche oder auch gegensätzliche Auffassungen der Beteiligten sowie ihre Ambivalenzen sichtbar wurden und teils bestehen blieben. In den als kontrovers bezeichneten Gesprächen: - zeigen sich gegensätzliche Vorstellungen: „Frau W. gab uns gegenüber an, dass ihr Exehemann, mit dem sie jedoch immer noch eine gute Beziehung hält, ihr gegenüber Todeswünsche ausgesprochen habe. Er wünsche auch nicht, reanimiert zu werden, so wie er nicht an irgendwelchen Schläuchen hängen wolle. [...] Nachdem mit Frau W. ein Gespräch geführt worden war, meldete sich der gemeinsame Sohn und sprach sich gegen eine VaW-Anordnung aus. Er befürwortete, dass bei seinem Vater alle möglichen Behandlungsmaßnahmen durchgeführt werden sollten, was im Gegensatz zu oben angeführten Willensäußerungen stand.“ (Protokoll 63) - finden auffallende Themenwechsel statt: „Seit sie im betreuten Wohnen lebt und vermehrt in den letzten Wochen äußerte sie häufig, nicht mehr leben zu wollen. Dabei sprach sie nie von einem Dialyseabbruch. Im gemeinsamen Gespräch mit der Patientin fragten wir konkret nach einer VaW. Die Patientin reagierte unruhig und wechselte das Thema.“ (Protokoll 138) 48 EthikBericht_11-14.indd 48 11.11.14 10:48 - wird ein besonderer Entscheidungsdruck aufgebaut: „Wir erhielten den Auftrag, mit dem Sohn und Bevollmächtigten der Patientin zu sprechen, weil der trotz einer aussichtslosen Situation auf eine weitere Dialyse und eine Verlegung auf eine Intensivstation gedrängt hatte. Wir führten ein Gespräch mit dem Sohn und anschließend mit der Patientin. Im dem Gespräch zeigte sich, dass der Sohn unter einem massiven Druck von Seiten der Mutter steht, sie zu retten.“ (Protokoll 160) - findet offensichtlich Verdrängung statt: „Wir wurden von der Station gerufen, um mit der Familie des Herrn S. über die Aussichtslosigkeit seiner Erkrankung und seinen mutmaßlichen Willen zu weiteren Dialysen zu eruieren. Zunächst hatten die vier Kinder des Patienten große Schwierigkeiten, die Verdrängung der schweren Erkrankungen aufzugeben. Im Laufe des Gespräches konnten sie sich mit dem Sterben des Vaters auseinander setzen und ihre Trauer zulassen.“ (Protokoll 139) - gibt es eine starke Zurückhaltung bzw. Abwehr des Patienten: „Frau E. gab an, dass der Patient mit ihr nicht sprach, so dass sie keine Informationen erhielt bezüglich des weiteren Vorgehens. Auch mit uns sprach der Patient wenig, er äußerte auf Nachfragen nur mit Ja und Nein, wobei eine große Aggressivität spürbar war.“ (Protokoll 180) - zeigen sich psychische Auffälligkeiten: „Inhalt der Beratung war ihre Ablehnung jeglicher Behandlung. In dem Gespräch hatten wir den Eindruck, dass Frau V. trotz ihrer starken Willensäußerungen, die Behandlung abzubrechen, nicht gefühlskongruent sei. Wir hatten die Vermutung, Frau V. sei depressiv und baten, einen Psychiater hinzuzuziehen und vorerst die Behandlung weiter zu führen.“ (Protokoll 154) - gibt es medizinische Verständnislücken: „Inhalt der Beratung war die Information zur Dialyse und die Frage des Dialysebeginns. Frau S. wehrte sich vehement gegen die Dialyse und ließ keine Argumente zu. Es war sehr schwer, einen Zugang zu ihr zu finden. Auch die Tochter war anfangs gegen die Dialyse, verstand aber im Laufe des Gespräches die Lebensbedrohung.“ (Protokoll 157) Da ein erheblicher Anteil der Ethikberatungen in diesem Sinne kontrovers verlief, stellt sich zwangsläufig die Frage, mit welchem Ergebnis die Gespräche endeten und ob es zu einer gemeinsamen Konsensbildung kam. In 89% der Fälle bestand den Protokollen zufolge in bzw. nach den Beratungen des Ethikkreises ein ausdrücklicher Konsens zwischen den Beteiligten oder konnte ein solcher im Verlauf mehrerer Gespräche erreicht werden. Konsens meint dabei am Gesprächsende eine übereinstimmende Einschätzung der Gesamtsituation. Manchmal braucht eine Konsensbildung allerdings Zeit. Das folgende Protokoll dokumentiert zwei Ethikberatungen, durch die sich erst im Verlauf einer Woche eine gemeinsam getragene Entscheidung langsam entwickelte: „[...] führten wir ein Gespräch mit Herrn J. und mit seinem Neffen (Betreuer), Herrn B. Zunächst wirkte der Patient müde und abwesend, auf Ansprache öffnete er die Augen und war ansprechbar, gab Angaben zum Befinden und antwortete auf unsere Fragen. Besonders stark reagierte er auf die Fragen zur Beziehung zu seinem Neffen. Er drückte sein Vertrauen ihm gegenüber deutlich aus. Wir sprachen die Dialyse an, zunächst schloss er die Augen und reagierte nicht. Überraschenderweise sagte er dann sehr klar, er könne sich nicht vorstellen, dreimal in der Woche zu dialysieren, wäre aber im Moment mit einem mal einverstanden, um es zu versuchen. Auch der Neffe stimmte dem Versuch einer Dialysebehandlung zu. Für ihn war es eine Entlastung, dass Herr J. selbst eine Aussage getroffen hat. Empfehlung: Herr J. wird weiter von 49 EthikBericht_11-14.indd 49 11.11.14 10:48 uns begleitet. Der Betreuer kümmert sich um einen Hospizplatz. Je nach Zustand des Patienten sollte über die weitere Dialyse in den nächsten Tagen noch einmal beraten werden.“ (Protokoll 54) Im gleichen Protokoll ist eine acht Tage später erfolgte Beratung dokumentiert: „[…] Nach unserem Eindruck zieht sich der Patient seit letztem Freitag immer mehr zurück, reagiert nicht mehr auf Ansprache. Schon in der letzten Woche berichtete uns der Neffe, dass Herr J. lebensverlängernde Maßnahmen sowie eine Magensonde oder PEG ablehne, wenn dadurch nur sein Sterbeprozess verlängert würde. Übereinstimmend fanden wir, dass jetzt der Zeitpunkt eingetreten ist, den der Neffe uns beschrieben hat.“ (Protokoll 54) 2% der Protokolle waren hier nicht beurteilbar, in 9% war eine Konsensbildung laut Dokumentation nicht möglich. Zur Illustration folgt hier das Beispiel eines 87jährigen Patienten mit fraglichem Dialyseabbruch: „Herr H. äußerte sich zufrieden über die Dialyse, erkundigte sich, wie er von zu Hause aus an die Dialyse gelange, wie lange er noch in der Klinik dialysieren müsse und wie häufig und lange er bei Dr. Y. dialysieren müsse. Er habe die Dialyse gut vertragen, was auch die Dialysestation bestätigt. Nach dem Wochenende legte Herr H. ein Schreiben vor, in dem er nochmals auf seine Patientenverfügung aufmerksam machte, und im Gegensatz zu den Äußerungen der Vorwoche beschrieb, dass er die Dialysebehandlung körperlich nicht durchstehen könne. Dies sei im Einverständnis mit seiner Familie niedergeschrieben worden. [...] führten wir nochmals ein Gespräch mit Herrn H., in dem der Patient stereotyp und emotionslos seinen Wunsch, die Dialyse abzubrechen wiederholte. Gerade diese Emotionslosigkeit ist auffallend. Sie steht in deutlichem Gegensatz zu dem lebendigen Interesse an der Dialyse in der Vorwoche. Geradezu gebetsmühlenartig wiederholt der Patient seinen Abbruchwunsch. Der Patient wurde noch einmal über die Todesfolge bei Dialyseabbruch aufgeklärt. Da er jedoch bei vollem Bewusstsein ist und geschäftsfähig, muss seinem Willen entsprochen werden. (Protokoll 77) In fast allen Beratungen (96%) standen am Ende eine oder mehrere konkrete Empfehlungen. Wie in den Protokollauszügen zum Thema Konsens gezeigt, konnte auch in Fällen mangelnder Konsensbildung eine Empfehlung erfolgen. Nur in 4% der Beratungen ist eine solche Empfehlung nicht vermerkt. In Anbetracht der oft komplexen medizinischen, pflegerischen und psychosozialen Situation vieler Patienten enden nicht alle Beratungen mit einer einzigen Empfehlung: In den 257 untersuchten Protokollen sind insgesamt 331 Empfehlungen enthalten. Diese Aussagen wurden für den Auswertungsbogen zu 16 Einzelthemen gebündelt, denen die Empfehlungen zugeordnet wurden. Mindestens 287 der 331 Empfehlungen (87%) beziehen sich auf Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Lebensende; dies sind die Aussagen zum Beginnen, Fortführen oder Beenden einer Dialyse, zum Befürworten oder Ablehnen einer VaW-Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen, zum Legen einer Magensonde (PEG) zur künstlichen Ernährung, zur Überweisung in Hospiz oder Palliativmedizin bzw. zur Fortsetzung weiterer Gespräche bezüglich eines Therapieendes. Abb. 4: Empfehlungen in der Ethikberatung – Übersicht (n = 331) Damit bestätigt der inhaltliche Schwerpunkt der Empfehlungen die beschriebenen Fragestellungen und korrespondiert mit den Ergebnissen der Mitarbeiterbefragung14. Die Differenz zwischen der Anzahl der Fragestellungen und der Anzahl der Empfehlungen pro Themenschwerpunkt ist darauf zurückzuführen, dass im Verlauf vieler Gespräche zu der eigentlichen Ausgangsfrage weitere relevante Aspekte hinzukamen und damit auch die Zahl der Empfehlungen beeinflussten. 14 Zu den Ergebnissen der Mitarbeiterbefragung vgl. Kolb 2012 50 EthikBericht_11-14.indd 50 11.11.14 10:48 Von besonderem Interesse sind die insgesamt 163 Empfehlungen bezüglich der Dialyse, da sich hier bestimmte Entscheidungstendenzen des Ethikkreises in Bezug auf das Fortführen oder Beenden von Behandlungen zeigen könnten. Das Ergebnis ist bemerkenswert ausgewogen: Es finden sich 81 Empfehlungen zur Fortsetzung oder dem Beginn einer Dialyse und 82 zum Abbruch. Im Sinne einer Empfehlung zur Fortsetzung von Behandlungen wurde eine VaWAnordnung (Anordnung zum Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen) in vier Fällen ausdrücklich abgelehnt, in 23 Fällen wurde die VaW-Empfehlung ausgesprochen. In 23 Fällen wurde eine Fortführung sonstiger Behandlungen empfohlen, in 23 Fällen wurde sie nicht empfohlen. Zweimal wurde die Anlage einer Magensonde (PEG) empfohlen, in 18 Fällen dagegen abgelehnt. Zu den Themen Dialyse, Verzicht auf Wiederbelebungsmaßnahmen (VaW), Legen einer Magensonde (PEG) und sonstigen Therapien, bei den es eher um Fragen am Lebensende, d.h. um das Fortführen oder die Beendigung medizinischer oder pflegerischer Prozeduren ging, wurden wie erwähnt 287 Empfehlungen abgegeben. Davon sind mindestens 177 Empfehlungen (62%) eher einer Empfehlung zum Verzicht bzw. zur Beendigung einer Behandlung zuzuordnen, 110 Empfehlungen (38%) eher dem Fortführen von Therapiemaßnahmen. Insofern ist allgemein eine gewisse Tendenz erkennbar, bei Entscheidungen am Lebensende eher den Verzicht zu empfehlen, wobei dies speziell bei den Entscheidungen für oder gegen eine Dialyse gerade nicht gilt. Angesichts der häufig sehr dynamischen Krankheitsverläufe enden nicht alle Beratungsprotokolle mit einer abschließenden Empfehlung der Ethikberater. In 30 Protokollen (12%) wird daher von den Beratern die Empfehlung für ein weiteres Gespräch ausgesprochen. Untersuchung Beratungen Studienzeitraum La Puma (1987) 27 1985 – 1986 Brennan (1988) 73 1974 – 1986 Perkins (1988) 44 1984 – 1985 La Puma et al. (1988) 51 1986 – 1987 La Puma et al. (1992) 104 1988 – 1989 Andereck (1992) 44 1985 – 1991 Orr, Moon (1993) 46 1990 – 1991 Schenkenberg (1997) 150 1987 – 1996 Waisel et al. (2000) 39 1998 Schneidermann et al. (2003) 551 2000 – 2002 Forde et al. (2005) 31 1996 – 2002 Swetz et al. (2007) 255 1995 – 2005 Fukuyama et al. (2008) 22 2006 – 2007 Nilson (2008) 53 2002 Opel et al. (2009) 71 1996 – 2006 Kolb (2012) 257 1999 – 2011 5. Diskussion der Protokollanalysen Die vorliegende Auswertung der 257 schriftlich dokumentierten Ethikberatungen aus den Jahren 1999 bis 2011 basiert auf einem vergleichsweise seltenen Datenbestand. National wie international liegen bislang fünfzehn Auswertungen Klinischer Ethikberatungen vor, allerdings zum Teil mit geringen Fallzahlen (n = 22) wie die folgende Tabelle zeigt. Zwar wird eine steigende Zahl Klinischer Ethikinstitutionen und Ethikdienste an Krankenhäusern einschließlich Klinischer Ethikberatung beschrieben, die Anzahl der Beratungen pro Einrichtung und Jahr ist jedoch meist gering sowie die Dokumentation nur teilweise systematisch. Auch im Nürnberger Ethikkreis begann die Protokollierung der Beratungen erst zwei Jahre nach ihrem Beginn. Zur besseren Übersicht zeigt Tabelle 5 einen Überblick über vergleichbare Arbeiten zu Klinischen Ethikberatungen aus den vergangenen 25 Jahren.15 Tab. 1: Übersicht zu Studien, Zeiträumen und Beratungsfällen16 15 Swetz (2007). 16 Vgl. Literaturliste. Alle genannten Arbeiten sind für die Diskussion ausgewertet und angeführt. 51 EthikBericht_11-14.indd 51 11.11.14 10:48 Viele dieser Studien analysieren lediglich einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren. Nur die Arbeiten zu Ethikberatungen einer pädiatrischen Klinik (Opel 2009) und in der Mayo Klinik (Swetz 2007) umfassen einen Zeitraum von einem Jahrzehnt. Obgleich dagegen die Gesamtzahl der Nürnberger Beratungen vergleichsweise hoch ist, erscheint die Anzahl der Protokolle bzw. Beratungen pro Jahr eher relativ niedrig. Im Studienzeitraum von 1999 bis 2011 wurden durchschnittlich 18 Ethikberatungen pro Jahr registriert. Sowohl die niedrigste Anzahl pro Jahr (zwei im Jahr 1999) als auch die höchste Anzahl (48 im Jahr 2008) stellen Ausnahmen dar. Insgesamt zeigt die von Jahr zu Jahr kontinuierlich steigende Anzahl der Protokolle, dass die Ethikberatung im achten Jahr nach Beginn ihrer Einführung mindestens einmal im Monat stattfand, im zehnten Jahr etwa alle zwei Wochen und während zwei Jahren sogar fast wöchentlich.17 In den Jahren 2007 und 2008 nahm die Anzahl der Beratungen plötzlich zu und verdoppelte sich nahezu, vermutlich ausgelöst durch eine klinikweite Befragung zum Umgang mit ethischen Themen im Stationsalltag im Sommer 2007. Diese Befragung von allen Ärzten und Pflegenden rief besondere Aufmerksamkeit hervor und führte den Mitgliedern des Ethikkreises zufolge auch subjektiv zu steigenden Nachfragen. Der Effekt hat sich ab 2009 zwar wieder zurückgebildet, mittelfristig könnte sich das Niveau in der Medizinischen Klinik 4 bei jährlich 20 bis 25 Beratungen etablieren. Die Anzahl der jährlichen Beratungen in Nürnberg liegt damit im Rahmen vergleichbarer Angebote in Europa oder in den USA . In Umkehrung der oft verwandten Methode, über qualitative zu quantitativen Analysen zu gelangen, basiert diese Arbeit zunächst auf einer quantitativ-deskriptiven Methode, die durch offene Begleitinterviews und persönliche Mitteilungen ergänzt wurde. Da es bei der Ethikberatung an standardisierten und publizierten Evaluationsinstrumenten fehlt, stellt der hier benutzte Auswertungsbogen kein veröffentlichtes oder validiertes Instrument dar, sondern wurde eigens für die vorliegenden Protokolle konzipiert. Seine Struktur hat sich jedoch an den in der vorangegangenen Tabelle genannten Publikationen angelehnt. Insgesamt liefern die hier untersuchten Beratungen ein aufschlussreiches Bild über die bisherigen Beratungen durch den Nürnberger Ethikkreis und geben hilfreiche Hinweise für ihre Weiterentwicklung bzw. für das allgemeine Verständnis von Ethikberatungen und ihre Evaluation. Eine 2010 publizierte internationale Metaanalyse von Jan Schildmann zu Forschungsmethoden und Erfolgskriterien Klinischer Ethikberatung belegt die geringe Anzahl von Veröffentlichungen zu Evaluationsfragen und damit das weitgehende Fehlen einer differenzierten Grundlage für weiterführende wissenschaftliche Debatten.18 Die Arbeit ging der Frage nach, „which outcomes of evaluation studies on clinical ethics consultation have been published in the literature?“. Als Schlüsselbegriffe wurden „outcome“, „clinical ethics consultation“ und „evaluation studies“ definiert. Im Rahmen einer PubMedAnalyse für den Zeitraum von 1970 bis 2007 erfüllten von 159 Erstfunden letztlich nur 14 Arbeiten die Einschlusskriterien. Diese Arbeiten – einige sind in Tabelle 1 bereits erwähnt – lassen sich methodisch wie folgt unterscheiden. - zwölf der gefundenen Arbeiten nutzten einen quantitativen Ansatz, - zwei arbeiteten qualitativ in Form halbstrukturierter Interviews. Auch die Zielgruppen und Studienteilnehmer der 14 Arbeiten unterscheiden sich deutlich. Die beiden qualitativen Studien erkunden die Erfahrungen und Zufriedenheit von ärztlichen Mitarbeitern mit der Ethikberatung,19 fünf der zehn quantitativen Arbeiten 17 Den Angaben der Beteiligten zufolge sind in Nürnberg ermitteln die Perspektiven von Patienten und Gesundheitspersonal,20 drei der quantitativen Studien nur die Sicht der Mitarbeiter21 und eine der quantitativen Arbeiten 19 Perkins (1998) und Forde (2005). in den ersten Jahren einzelne Ethikberatungen nicht dokumentiert worden. Das Gesamtbild wird allerdings durch diese Einschränkung nicht wesentlich verändert. 18 Schildmann (2010). 20 Schneidermann (2000), (2003) und (2006), Cohn (2007), McClung (2007). 21 La Puma (1988) und (1992), Orr/Moon (1993). 52 EthikBericht_11-14.indd 52 11.11.14 10:48 befragte Patienten und Angehörige zu ihren Erfahrungen mit der Ethikberatung.22 Zwei der Arbeiten sind randomisiert-kontrollierte Studien, auf die bereits im dritten Kapitel hingewiesen wurde. Über die Darstellung und Begründung des methodischen Vorgehens innerhalb der 14 untersuchten Arbeiten zur Klinischen Ethikberatung stellt der Autor nüchtern fest: „The publications identified in this review neither provide information on the process of operationalizing the criteria to evaluate CEC nor do they indicate values regarding content validity or reliability of the instruments used in the studies.“23 Während Mitte der 90er Jahre bereits gezeigt werden konnte, dass national wie international vergleichsweise viele Arbeiten zu Implementierung, Arbeitsweisen und Häufigkeit – also zu strukturellen und prozessualen Aspekten – der Klinischen Ethikberatung veröffentlicht wurden,24 konzentrierte sich Schildmann in seiner hier zitierten Arbeit erstmals auf die konkreten klinischen Auswirkungen von Ethikberatungen. „The focus of this study on outcomes reflects the current awareness and interest in clinical medicine to judge the value of interventions on the basis of their impact on clinical practise. Moreover, outcomes are frequently used to justify the resources allocated to health care services. In this respect providers of CEC frequently are already, and probably increasingly will be, asked to present the practical impact of their work.“25 Auch wenn „practical impact“ begrifflich vage bleibt, ist der Bedarf an konkreten Aussagen über Wirkung und Relevanz von Ethikberatungen offensichtlich. Umso wichtiger erscheint es, angemessene Methoden zur Evaluation Klinischer Ethikberatung zu entwickeln und zu diskutieren. In den bisherigen Publikationen, so die Metaanalyse, könnten subjektive und objektive Kriterien zur Bewertung unterschieden werden. Subjektive Kriterien würden die Bewertung der Teilnehmenden wiedergeben, objektive Kriterien dagegen Parameter wie Intensivtage, Beatmungsstunden, Mortalität oder Kosten messen. Eine der Studien analysierte mögliche finanzielle Auswirkungen der Ethikberatung.26 Die Frage, ob sich die Ethikberatung dieselben Kriterien auferlegen sollte, die im Sinne einer evidenzbasierten Medizin gelten, bleibt aus meiner Sicht allerdings zu diskutieren. Auch die hier vorliegende Studie zeigt hinsichtlich ihrer Methodik eine Reihe von Limitierungen. So untersucht sie weder die klinische Relevanz der Beratungen durch den Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4, noch hinterfragt sie die Relevanz oder Wirkung der Beratung für die teilnehmenden Ärzte und Pflegende, wie Patienten, Angehörigen oder Betreuer. Hier bietet sich an, durch künftige Studien – etwa in Form retrospektiver qualitativer Interviews – das Gesamtbild der Beratungsanalyse noch abzurunden. Analog zu anderen Studien ist es hierzu erforderlich, die Beteiligten nach einer angemessenen Zeit erneut zu kontaktieren. 22 Orr (1996). 23 Schildmann (2010), S. 209. 24 Tulsky/Fox (1996). 25 Schildmann (2010), S. 211. 26 Schneidermann (2003). 27 Allgemein zur Frage der Beteiligung von Patienten an Ethikberatungen: Reiter-Theil, S.: Das Ausbalancieren der Perspektiven oder: (wie) kann und soll man Patienten und Angehörige in die Klinische Ethikberatung einbeziehen? In: Ethikkonsultation heute – vom Modell zur Praxis, hg. von R. Stutzki; K. Ohnsorge; S. ReiterTheil. Wien u.a. 2011, S. 169-184. Der Ethikkreis der Medizinischen Klinik 4 wurde inspiriert durch die Erfahrungen in der Dialyseberatung der Klinik, die sich Patienten mit drohender oder bestehender Dialysepflichtigkeit widmet und diese vor allem in ihrer Krankheitsbewältigung begleitet. In dieser Tradition steht auch die Ethikberatung der Klinik, die damit den Patienten – und seine Angehörigen – ausdrücklich in den Mittelpunkt stellt. Ausgehend von dieser Orientierung am Patienten und seinen Bedürfnissen, stellt sich für die Ethikberatung die Frage nach der konkreten Teilnahme des Patienten an der Beratung, nach seiner Orientierung und Kontaktfähigkeit und der direkten oder indirekten Kenntnis des Patientenwillens bzw. dem Vorliegen einer Patientenverfügung. Für die weitere Bewertung der Beratungen sind mir diese Aspekte wichtig, da ich die informierte Teilnahme bzw. Vertretung des Patienten als ein wesentliches Kriterium für den Erfolg und die Sinnhaftigkeit der Beratung erachte.27 Vor diesem Hintergrund ist positiv zu werten, dass an jeder zweiten Beratung des Ethik- 53 EthikBericht_11-14.indd 53 11.11.14 10:48 kreises auch der Patient selbst physisch teilgenommen hat – entweder allein, gemeinsam mit Familienangehörigen oder in Einzelfällen auch mit anderen Personen, z.B. einem Betreuungsbevollmächtigten. Den Protokollen zufolge waren die Patienten in fast jedem zweiten aller dokumentierten Fälle (43%) auch orientierungs- bzw. kontaktfähig und konnten so aktiv an den Beratungen teilnehmen sowie ihre Vorstellungen, Wünsche oder Ängste selbst artikulieren. In fast jedem fünften Fall waren die Patienten nur eingeschränkt kontaktfähig und in 26% der Fälle nicht kontaktfähig. Damit haben auch einige eingeschränkt kontaktfähige Patienten an einer Ethikberatung teilgenommen, was aber dem Selbstverständnis von Ethikberatungen und dem Ethikkreises entspricht: im Zweifelsfall eher die Einbindung der Patienten zu versuchen, als sie auszuschließen. Für die zentrale Frage dieser Arbeit ist entscheidend: In Dreiviertel aller untersuchten Fälle war der Wille der Patienten bekannt, auch wenn er in jedem fünften Fall ambivalent und uneindeutig war. Ambivalente wie eindeutige Präferenzen der Patienten waren daher sowohl durch die indirekte Schilderung von Angehörigen oder Betreuern als auch durch die persönliche Schilderung durch die Patienten selbst bekannt und konnten im Zuge der Beratung berücksichtigt werden. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass jede dritte Beratung nur mit Angehörigen und dem Team stattfinden konnte, so dass damit der Patientenverfügung oder Betreuungsvollmacht eine besondere Bedeutung zukommt. Bedenklich erscheint daher, dass in über 80% der Fälle eine Patientenverfügung oder Vollmacht nicht erwähnt oder nicht vorhanden ist und nur in wenigen Fällen ausdrücklich bestätigt wird. Wenngleich im Einzelfall Patientenverfügungen oder Betreuungsvollmach¬ten vorgelegen haben können und lediglich nicht ausdrücklich erwähnt wurden, verweist die große Zahl fehlender Dokumente doch auf ein weiterhin anhaltendes Defizit bezüglich ihrer Verbreitung und Anwendung.28 Insgesamt zeigt die Auswertung der Protokolle, dass die Ethikberatungen in einem Rahmen stattfanden, der in vielen Fällen eine orientierte und bewusste Teilnahme der Patienten grundsätzlich ermögliche. Neben der Entlastungsfunktion für das ärztliche und pflegerische Personal stellt diese Orientierung an den Bedürfnissen von Patienten und Angehörigen ein wesentliches Merkmal der Beratungen durch den Nürnberger Ethikkreis dar. Hier wird der Teilnahme des Patienten und seines familiären Umfelds sowie der Ergründung und Umsetzung seines Willens besondere Bedeutung beigemessen. Damit versucht der Ethikkreis die Autonomie des direkt oder indirekt beteiligten Patienten und damit das Prinzip des „shared-decision-making“ auf der Basis einer informierten Zustimmung, des „informed consent“ zu stärken. Die Initiative zur Beratung durch den Ethikkreis geht offensichtlich auch in Nürnberg vor allem von Ärzten aus. Diese subjektiven Beobachtungen der Berater wird gerade durch die Protokolle der letzten zwölf Monate (1. Oktober 2010 bis 30. September 2011) bestätigt. Demnach kam von 35 Beratungen in diesem Zeitraum die Initiative zu 80% von Ärzten. Dies bestätigt auch die bisherige Literatur, nach der einerseits eine ärztliche Skepsis gegenüber der Ethikberatung beschrieben wird, andererseits auch die oft mehrheitliche Initiative zur Beratung durch Ärzte.29 Dies gilt vor allem dann, wenn Ärzte in ihrer Ausbildung mit ethischen Fragen konfrontiert wurden oder sich in der Thematisierung ethischer Kontroversen geübt fühlen.30 Ein wichtiger Erfolgsfaktor für das Gelingen von Ethikberatungen ist die Qualifikation der Beratenden. Diese ist im Nürnberger Ethikkreis durch den Dreiklang aus Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Supervision und Erfahrung sichergestellt. Für den Mitarbeiter der Seelsorge gehört die Beratungskompetenz zur Grundausbildung, die Kolleginnen und Kollegen der Pflege und Medizin verfügen über verschiedene Fort- und Weiterbildungen, in denen die Beratungskompetenz einen wichtigen Stellenwert einnimmt, und insbeson- 28 Siehe aber auch die kritische Diskussion zur möglichen „vorauseilenden“ Therapielimitierung durch den Einsatz von Patientenverfügungen (self-fulfilling prophecy), vgl. dazu Erbguth (2008). 29 Fox (2007), Gill (2004), Schenkenberg (1997), La Puma (1987), (1988) und (1992), Nilson (2008). 30 Hurst (2007). 54 EthikBericht_11-14.indd 54 11.11.14 10:48 dere die Pflegekraft der Dialyseberatung, die an fast allen Ethikberatungen teilnimmt, hat eigens den Fernlehrgang „Ethikberater/in im Gesundheitswesen“ absolviert. Sie alle nehmen zudem regelmäßig an Fallsupervisionen teil und blicken auf eine nunmehr über zehnjährige Erfahrung zurück. Insofern verfügt der Nürnberger Ethikkreis bezüglich der Qualifikation über sehr gute Voraussetzungen, die er im Sinne der „Kernkompetenzen für Ethikberatung“31 kontinuierlich aufrecht erhält. Die Auswertung der 257 Beratungsprotokolle des Nürnberger Ethikkreises zeigt, dass die Geschlechts- und Altersverteilung der Patienten erwartungsgemäß ist und auch das oft multimorbide Patientenkollektiv einer internistischen Klinik mit Schwerpunkt Nephrologie widerspiegelt. Auch die Beratungsanlässe entsprechen den Erwartungen: 181 von 312 Anlässen (70%) beziehen sich auf das Thema Dialyse, wobei Mehrfachnennungen möglich waren. Dieser Beratungsschwerpunkt ist einerseits auf das Fachgebiet der Klinik zurückzuführen, andererseits darauf, dass eine in der Ethikberatung sehr aktive Mitarbeiterin für die Dialyseberatung verantwortlich ist, woraus sich in positiver Hinsicht gewisse Synergie-Effekte ergeben dürften. Dennoch ist die Ethikberatung in der Medizinischen Klinik 4 keine „erweiterte Dialyseberatung“. Die Vielzahl der unterschiedlichen Beratungsanlässe spricht eher für einen breiten Einsatz des Ethikkreises. Seit seiner Entstehung hat sich die Beratung zu einem Angebot entwickelt, das nicht nur zu wenigen Themen und von wenigen „Insidern“ genutzt wird. Diese Einschätzung wird auch von den beteiligten Beratern geteilt, die auf Beratungsnachfragen aus dem Dialysebereich, von unterschiedlichen Allgemeinstationen und der Intensivstation berichten.32 Auch die Themenvielfalt bestätigt den breiten Einsatz, etwa zu Fragen des „Verzichts auf Wiederbelebungsmaßnahmen“, der „Ernährung bzw. PEG“ oder der „Überweisung in Pflege, Heim oder Hospiz“. Insgesamt lässt sich feststellen, dass den Klinischen Ethikberatungen in der Mehrzahl konkrete und zeitkritische Anlässe zugrunde lagen, sie aber auch aufgrund sonstiger Therapiefragen und zu einer Vielzahl anderer Fragestellungen eingeholt wurden. Diese Erfahrungen werden auch international von nahezu allen in Tabelle 1 genannten Studien bestätigt. Der hohe Anteil der unstrittiger Gesprächsverläufe könnte den Eindruck vermitteln, dass es einer Ethikberatung womöglich gar nicht bedurft hätte. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Beratung nicht notwendigerweise eine Meinungsverschiedenheit der Teilnehmenden oder eine Ambivalenz des Patienten und damit eine konflikthafte Situation oder Kontroverse zum Ausgangspunkt haben muss. Sie kann vielmehr auch der gemeinsamen Vergewisserung in einer schwierigen Entscheidungssituation dienen und die so getroffene Entscheidung dauerhafter und damit belastbarer machen. Kontrovers und konflikthaft verliefen dagegen 36% der Gespräche, was mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen vergleichbar ist.33 Insgesamt zeigt sich immer wieder der prozesshafte Charakter vieler Beratungen durch den Ethikkreis: - eine Tendenzentscheidung ist seit längerem getroffen (hier: Shuntanlage) - Ambivalenzen und eine Abkehr von der Entscheidung kommen auf - krankheitsbedingte Veränderungen wirken sich auf den Patienten aus - Familienangehörige (hier der Sohn) bauen starken Entscheidungsdruck auf - medizinische Informationen sind für die Meinungsbildung oft wichtig - Entscheidung und Beratung benötigen mehrere Tage und Gespräche 31 ASHB (1998), (2011). 32 Interview des Autors mit der Krankenschwester Heidi Stephan, November 2010. 33 Siehe u.a. Swetz (2007) und Nilson (2008). 55 EthikBericht_11-14.indd 55 11.11.14 10:48 Die Tatsache, dass es im Verlauf der Ethikberatung zu einem ausdrücklichen Gesprächsergebnis und einer Konsensbildung gekommen ist, lässt Rückschlüsse auf den Prozess der Gesprächsführung zu. Eine Aussage zur argumentativen Stringenz und zur moralischen Bewertung des jeweiligen Konsenses ist nicht möglich. Im Extremfall können hypothetisch auch Konsensfindungen erfolgen, die den allgemein verbreiteten Werten und Normen der jeweiligen Gemeinschaft oder Gesellschaft diametral entgegenstehen. Die Konsensfindung allein ist damit kein Gütekriterium einer Ethikberatung. Sie sagt weniger aus über das Ergebnis der Beratung als über den Beratungsprozess und die stattgehabte Prozessqualität. Im Nürnberger Ethikkreis wird das eigentliche Beratungsgespräch bisher nicht strikt standardisiert geführt, etwa mit der Einhaltung einer strengen Reihenfolge wie im Nijmwegener Modell34. Aber es werden dennoch alle dort genannten Dimensionen berücksichtigt bzw. zur Sprache gebracht und vor allem wird der Position bzw. dem Willen des Patienten ausreichend Raum gegeben und besondere Bedeutung beigemessen. Eines der Protokolle zeigt dies besonders anschaulich. Im Konflikt zwischen Patient und Familie legt das Beratungsteam in einem Vorgespräch mit Angehörigen ausdrücklich Wert darauf, den Willen des Patienten zum Ausgangspunkt der eigentlichen Ethikberatung zu machen: „Die Familie machte deutlich, den Willen des Vaters akzeptieren zu wollen. Zugleich machten sie aber deutlich, dass sie die Entscheidung nicht teilen könnten. Sie wünschten, dass wir sie unterstützen, den Vater zu weiteren Dialysen zu drängen. Wir vereinbarten, im Gespräch mit dem Patienten selbst, zuerst ihn zu Wort kommen zu lassen und ihm zuzuhören. [...] Herr K. betonte seine Verbundenheit mit der Familie und dass er trotzdem die Dialyse abbrechen werde.“ (Protokoll 214) Fast alle Ethikberatungen (96%) endeten nicht nur mit einer Konsensbildung, sondern münden in eine oder mehrere Empfehlungen des beratenden Teams. Besondere Beachtung verdienen die Empfehlungen zur Dialyse, da es sich dabei um eine der häufigsten Behandlungsprozeduren der Klinik handelt. Daher stellt sich die Frage, ob bei den dialysebezogenen Empfehlungen des Ethikkreises bestimmte Tendenzen erkennbar sind: Ist die Verteilung zwischen eher zustimmenden und eher ablehnenden Empfehlungen ausgewogen oder berät der Ethikkreis auffallend häufig in eine bestimmte Richtung? Bemerkenswert ist, dass die untersuchten Protokolle im Ergebnis eine bemerkenswert gleiche Verteilung zwischen der Empfehlung zum Dialyseabbruch (82) und der Empfehlung zum Beginn oder zu einem Fortsetzen der Dialyse (81) zeigen. Diese Ausgewogenheit ist sekundär auch für den „Ruf“ bzw. das „Image“ des Ethikkreises wichtig, unterstreicht sie doch seine inhaltliche oder „ideologische“ Unabhängigkeit. Damit entspricht die Initiierung einer Beratung nicht der vorweggenommenen Entscheidung. Sie ist kein „Feigenblatt“ für den Therapieabbruch. Unabhängig von den Empfehlungen zur Nierenersatztherapie lässt sich aus den Protokollen des Ethikkreises insgesamt eine gewisse Tendenz hinsichtlich der Beendigung von Behandlungsmaßnahmen ableiten. Diese Tendenz ist allerdings nicht so deutlich, dass sie negative Auswirkungen auf das „Image“ des Kreises und seine Empfehlungen hätte. Die denkbare und beschriebene35 Instrumentalisierung Klinischer Ethikberatung zur Herbeiführung und Übermittlung schwieriger Entscheidungen beim Therapieabbruch kann mit den vorliegenden Daten nicht bestätigt werden. Die hier gelebten partizipativen Entscheidungen entsprechen auch den Vorstellungen der Renal Physicians Association (RPA) und der American Society of Nephrology (ASN). Beide Verbände haben im Jahr 2000 Leitlinien zum „Shared Decision-Making in the Appropriate Initiation of and Withdrawl from Dialysis“ formuliert.36 Damals war das Instrument der Ethikberatung zu neu, als dass es explizit erwähnt worden wäre. Dem 34 Steinkamp N, Gordjin B (2005) 35 Vgl. Frewer (2008) 36 Renal Physicians Association and American Society of Nephrology (2000) und (2010). 56 EthikBericht_11-14.indd 56 11.11.14 10:48 Geist und den Zielen der Klinischen Ethikberatung entsprechen die 2010 erneut überarbeiteten Leitlinien sehr wohl. Für den Nürnberger Ethikkreis wie auch für andere Ethikberatungen, ist es bislang nicht gelungen, das eigentliche Gespräch genauer zu evaluieren und zu analysieren. Hier könnten ausführliche Verlaufsprotokolle oder im Idealfall auch Tonmitschnitte eine noch differenziertere inhaltliche und sprachliche Analyse von Gesprächsverläufen erlauben. Aufgrund der vorliegenden Protokolle ist es kaum möglich, eine semantische Textanalyse durchzuführen, um etwa Hinweise auf das Beratungsverständnis der Beratenden („Patient ist uneinsichtig“) oder auch der Patienten und Angehörigen („Er möchte, dass die notwendigen Entscheidungen von den Ärzten getroffen werden“) und ihre darauf gründende Kommunikation zu erhalten. Insofern bleibt die Beratungssituation selbst eine – gelegentlich als „black-box“37 bezeichnete – „Unbekannte“. 6. Schlussüberlegungen: Zur Struktur der Beratung in einer Krisensituation Letztlich stellen sich immer wieder dieselben Fragen: Erfolgt eine gemeinsame Beratung oder wird ein (Experten-)Rat erteilt? Ist der gefundene Konsens das Ergebnis von Kommunikation im Sinne kooperativer Entscheidungsfindung („shared-decision-making“) oder eher von paternalistisch geprägten Gesprächssituationen? Werden Beratung und Begleitung durch den Ethikkreis und seine Empfehlungen von den Ratsuchenden – Patienten, Angehörige oder Teammitglieder – und den Beratenden selbst als eine Art nicht hinterfragbarer „Expertenrat“ oder aber kollegiales Konsil empfunden? Ist das Beratungsangebot wirklich ergebnisoffen und hierarchiefrei? Sowohl die Protokolle als auch ergänzende mündliche Mitteilungen zeigen, dass es sich beim Nürnberger Ethikkreis um eine Mischung aus „Rat“ und „Beratung“ handelt. Von Seiten der Station (Ärzten wie Pflegenden) wird die Ethikberatung als eine Dienstleistung im Sinne eines Konsils erbeten – auch in den letzten Jahren wird immer wieder der offizielle Konsilantrag als Protokollbogen genutzt. Das eigentliche Beratungsgespräch dient dann der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit Patienten bzw. Angehörigen und nutzt das vorher erhobene Wissen sowie die Einschätzung der behandelnden Ärzte und Pflegenden. Persönlich nehmen diese aber nur in etwa jedem zehnten Fall an der Ethikberatung teil. Damit unterscheidet sich die Beratungsform des Ethikkreises von vielen anderen Formen der Ethikberatung, und die Vorteile dieses (Sonder-)Modells gilt es gegenüber den Nachteilen abzuwägen. Als nachteilig erscheint die mangelnde Teilnahme der Ärzte und Pflegenden am eigentlichen Beratungsgespräch, da so ein wichtiger Bestandteil der ärztlichen und pflegerischen Versorgung – psychosoziale Begleitung und Beratung – an andere Personen delegiert wird. Dies könnte langfristig die Zuständigkeit der verantwortlichen Ärzte und Pflegenden auf die medizinischen und pflegerischen Aspekte der Versorgung reduzieren, die moralischen, psychischen und sozialen Aspekte vernachlässigen und damit das auf Vertrauen, Nähe und Empathie basierende Arzt-Patienten-Verhältnis verändern sowie letztlich auch wichtige kommunikative Lerneffekte in schwierigen Entscheidungssituationen verhindern. Dieser Tendenz könnte insofern Vorschub geleistet werden, da die beteiligten Ärzte die schwierige und oft schlechte Kommunikation mit Patienten und Angehörigen als belastend beschreiben. Sollte sich hier eine Tendenz zur Vermeidung durchsetzen, könnte diese im schlechtesten Fall durch das Angebot der Ethikberatung noch verstärkt und verfestigt werden. Mit einer Delegation der Beratung und der oft als schwierig erlebten Kommunikation mit Patienten und Angehörigen an andere „klinische Experten“ könnte sich auch im psychosozialen Bereich die fachliche „Aufspaltung“ des Patienten und die 37 Frewer (2008), S. 59. 57 EthikBericht_11-14.indd 57 11.11.14 10:48 damit einhergehende Spezialisierung fortsetzen. Dem Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung und Begleitung des Patienten, wie sie die psychosomatische Medizin beschreibt, und einer „sprechenden Medizin“ würde damit wohl entgegengewirkt. Die Vorteile des Modells der „geteilten Beratung“ sind aber ebenso offensichtlich: Unter den genannten Rahmenbedingungen des Krankenhauses findet diese Form der Ethikberatung nicht nur in der Theorie, sondern auch praktisch und in relevanter Anzahl statt. Denn die Vereinbarung einer Beratung setzt nicht nur die flexible und kurzfristige Verfügbarkeit der Beratenden voraus, sondern vor allem die der anderen Teilnehmer, nicht zuletzt der ärztlichen und pflegerischen Mitarbeiter. Gerade letztere finden aber auch wegen der geschilderten Arbeitsverdichtung im klinischen Alltag immer weniger Zeit für ausführliche Gespräche jenseits der Stationsroutine. Das zweiteilige Beratungsangebot entlastet dagegen spürbar (es wurde mit diesem Argument auch eingeführt) und liefert zugleich eine fundierte Empfehlung, die alle wesentlichen Dimensionen – medizinisch, pflegerisch, rechtlich, psychosozial – angemessen berücksichtigt. Danksagung Für die engagierte Unterstützung bei der Entstehung dieser Analyse und für die vielen hilfreichen Informationen danke ich Herrn Privatdozent Dr. Bernd Höffken, einem der Initiatoren des Nürnberger Ethikkreises, sowie den langjährigen und teilweise noch heute aktiv Mitwirkenden Heidi Stephan, Dr. Perdita Dobe-Tauchert, Dr. Hans Leidig, Christof Oswald, Hannelore Kraska-Junker und Richard Schuster. Herrn Professor Andreas Frewer danke ich für die vielen inhaltlichen Hinweise und seine wissenschaftliche Unterstützung und Florian Bruns für seine Anregungen zu dieser Veröffentlichung! 58 EthikBericht_11-14.indd 58 11.11.14 10:48 Literatur Alexander S (1962): They Decide Who Lives, Who dies. Medical Miracle Puts a Moral Burden on a Small Community. In: Life 9, S.102-125. American Society for Bioethics and Humanities (ASBH) (1998): Core Competencies for Health Care Ethics Consultations. Glenview, IL. 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Im engsten Kreis arbeiteten an der Redaktion die Medizinhistoriker Prof. Volker Roelcke (Gießen), Prof. Dr. Paul Weindling (Oxford), Prof. Dr. Renate Wittern-Sterzel (Erlangen) und die Nürnberger IPPNWler Dr. Stephan Kolb, Dr. Horst Seithe und Prof. Dr. Hannes Wandt. Ein Dank geht an dieser Stelle auch an die Kollegen um Prof. Dr. Karl-Heinz Leven und Prof. Dr. Andreas Frewer vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der FAU Erlangen für weitere redaktionelle Anregungen. Anschliessend wurden binnen kürzester Zeit zahlreiche namhafte Medizinhistoriker, Medizinethiker, Kliniker und Forscher aus ganz Deutschland um Erstunterzeichnung gebeten. Der Deutsche Ärztetag 2012 griff das Thema daraufhin auf, eine Gruppe von Delegierten übernahm den Appell und die vorgeschlagene Erklärung als offiziellen Antrag und der Ärztetag stimmte ihm als eigener Erklärung im Rahmen seiner ersten Arbeitssitzung in der Nürnberger Meistersingerhalle einstimmig zu. Über diese – gerade für die wenigen noch lebenden Opfer der NS-Medizin und ihre Angehörigen – wichtige offizielle Entschuldigung der Deutschen Ärzteschaft wurde in Deutschland nur begrenzt berichtet. International griffen vor allem einige renommierte medizinische Fachjournale wie das Journal of the American Medical Association (JAMA) oder das Lancet die Erklärung auf. Es bleibt abzuwarten, ob den hehren Worten des Deutschen Ärztetages 2012 auch tatsächlich konkrete Taten folgen. 61 EthikBericht_11-14.indd 61 11.11.14 10:48 ,P*HGHQNHQDQGLH2SIHUGHU0HGL]LQLP1DWLRQDOVR]LDOLVPXV 1UQEHUJLP0DL 6HKUJHHKUWH'DPHQXQG+HUUHQ'HOHJLHUWH GHU'HXWVFKHbU]WHWDJWDJWQDFK-DKUHQZLHGHULQ1UQEHUJDP2UWGHVbU]WHSUR]HVVHV 'LHVLVWHLQHJXWHXQGZLFKWLJH*HOHJHQKHLWIUGLHGHXWVFKHbU]WHVFKDIW]XLKUHU KLVWRULVFKHQ 9HUDQWZRUWXQJ XQG GHU VFKXOGKDIWHQ 9HUVWULFNXQJ LKUHU 9RUJlQJHURUJDQLVDWLRQ LQGDVQDWLRQDOVR]LDOLVWLVFKH8QUHFKWVV\VWHPRIIL]LHOO6WHOOXQJ]XQHKPHQ'HQZHQLJHQQRFK OHEHQGHQ XQG GHQ YLHOHQ OlQJVW YHUVWRUEHQHQ 2SIHUQ GHU 0HGL]LQ LP 1DWLRQDOVR]LDOLVPXV JHEKUW HLQH XPIDVVHQGH (UNOlUXQJ GHU 'HXWVFKHQ bU]WHVFKDIW PLW HLQHU RIIL]LHOOHQ XQG DXVGUFNOLFKHQ%LWWHXP9HU]HLKXQJ'LHVHVWHKWELVKHXWHQRFKDXV 9RUGHP+LQWHUJUXQGGHU$XVIKUXQJHQGHV0HGL]LQKLVWRULNHUV3URI'U5LFKDUG7RHOOQHU]XU 0HGL]LQ LP 1DWLRQDOVR]LDOLVPXV XQG GHU Ä/DVW GHU /HKUH³ DXI GHP 'HXWVFKHQ bU]WHWDJ LQ %HUOLQ VRZLH GHU (QWVFKOLHXQJ GHV 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VLFK HQWJHJHQ LKUHP +HLODXIWUDJ GXUFK YLHOIDFKH 0HQVFKHQUHFKWVYHUOHW]XQJHQ VFKXOGLJ JHPDFKW KDEHQ JHGHQNHQ GHU QRFK OHEHQGHQ XQG GHU EHUHLWV YHUVWRUEHQHQ 2SIHUVRZLHLKUHU1DFKNRPPHQXQGELWWHQVLHXP9HU]HLKXQJ x :LU YHUSIOLFKWHQ XQV DOV 'HXWVFKHU bU]WHWDJ GDUDXI KLQ]XZLUNHQ GDVV GLH ZHLWHUH KLVWRULVFKH )RUVFKXQJ XQG $XIDUEHLWXQJ YRQ GHQ *UHPLHQ GHU EXQGHVUHSXEOLNDQLVFKHQbU]WHVFKDIWDNWLYVRZRKOGXUFKGLUHNWHILQDQ]LHOOHDOV DXFK GXUFK LQVWLWXWLRQHOOH 8QWHUVWW]XQJ ZLH HWZD GHQ XQEHVFKUlQNWHQ =XJDQJ]XGHQ$UFKLYHQJHI|UGHUWZLUG 64 EthikBericht_11-14.indd 64 11.11.14 10:48 Perspectives The art of medicine Apologising for Nazi medicine: a constructive starting point See Online for appendix 722 In May, 2012, the German Medical Association (Bundesärztekammer) apologised for medical atrocities under National Socialism. Although long overdue, the apology is necessary and commendable, not least because survivors of medical atrocities and persecution are still living. German medicine between 1933 and 1945 saw a colossal breach of the ethics of patient care: doctors initiated and implemented an estimated 350 000 coerced sterilisations, the killing of some 260 000 people with mental illness or disabilities, and an estimated 25 000 human experiments that led to the deaths of more than 2000 research subjects. Doctors selected individuals for slave labour or death at Auschwitz, and took part in the development and use of methods to kill people, such as by poison gas, fatal injections, starvation diets, and electrocution. Tens of thousands of bodies of the executed were delivered to German medical institutes for teaching and research, and in some departments bodies of Nazi victims were still used for these purposes until at least 1990, and in some cases for longer. The apology by the German Medical Assembly has opened a new chapter in the German medical profession’s engagement with its Nazi past. What has already become known as the Nuremberg Declaration 2012 goes beyond all previous declarations with regard to medicine under National Socialism. This long overdue official apology recognises how physicians had a major role in atrocities under National Socialism. The full significance of the declaration will become apparent with further disclosures— an apology needs to be informed by full disclosure of evidence for which the apology is being made. It has been 33 years since the German Medical Association last held its annual assembly in Nuremberg—in a city that is associated with both National Socialism and Nazi medicine. It was in this city that the Nuremberg Racial Laws were proclaimed in 1935, that the Nazi Party rallies were held, and that the Nuremberg Doctors’ Trial was held in 1946–47 that laid bare physicians’ crimes against humanity. Although the process of coming to terms with the past has not always been easy, the city of Nuremberg has found various ways of engaging with its Nazi past. Since 1996, the Nuremberg Group of the International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW) has organised international congresses on “Medicine and Conscience“ to explore questions on the history and ethics of medicine. Together with three medical historians, the IPPNW group drafted the petition endorsed by 42 doctors and historians. The petition was the verbatim text for the Nuremberg Declaration 2012 which the German Medical Association’s assembly passed (appendix). The situation in Germany was long one of denial and disassociation from medical crimes. In the late 1940s, the West German Medical Association (the forerunner of the German Medical Association) shifted responsibility for Nazi medicine to a small group of 350 criminal doctors, while contending that mainstream medicine had proceeded conscientiously and ethically in its duty to patients. The 2012 apology marks a crucial change in the recognition of abuses that involved the profession and its organisations. What has to be recognised is that coercive medical measures under National Socialism were not initiated by fanatics or pseudoscientists but were implemented by scientifically informed physicians as part of efforts to reform systems of health care and public health, and to develop medical research on an experimental basis. Under National Socialism, the medical profession expanded its power, influence, and status. What is so disturbing is that it has taken the German medical profession so long to accept the evidence of this past. Evidence was documented in the immediate aftermath of the war by the physician Alexander Mitscherlich, with his assistant Fred Mielke, and by the psychiatrist Alice PlatenHallermund, and then later by a mounting body of work by medical historians that reconstructed the institutions and systems of Nazi medicine and identified victims. In addition to this evidence, the German Medical Association was confronted by the dignified statement of the medical historian Richard Toellner at its Berlin meeting in 1989, when he outlined the position of institutionalised abuse by the mainstream of the profession. Yet the profession remained headstrong in ignoring this evidence. To ask why the profession sought to bury the evidence (literally when it came to Nazi victims’ body parts) is to identify factors that have had a powerful influence on German medicine. What has been at stake is professional honour and authority. Accepting the evidence of misconduct was deemed to dishonour the medical profession collectively, as well as to denigrate senior figures within the profession. The presentation of evidence was deemed a breach of collegiality. Thus when a junior doctor, Hartmut Hanauske-Abel, published work in The Lancet in 1986 on medicine and National Socialism, his evidence of a link to atomic weapons research was not empirically questioned but he was denounced for dishonouring the German medical profession. Effectively, professional misconduct on a colossal scale was being covered up. This protective mechanism meant senior figures from the wartime generation continued in office during the 1950s and 1960s. If junior doctors ventured into the institute or hospital cellars to examine past records, they did so at considerable risk to their careers. German laws on data www.thelancet.com Vol 380 August 25, 2012 65 EthikBericht_11-14.indd 65 11.11.14 10:48 protection and privacy backed up such suppression. A situation thus arose in which the professional leadership enforced silence on issues of medical atrocities, whilst a dissident grassroots movement campaigned to make evidence accessible. In the early 1990s, the German Medical Association refused to fund a publication of the Nuremberg Doctors’ Trial documents. In response, psychiatrist Klaus Dörner appealed directly to health professionals and hundreds of individual physicians gave personal donations, which made the publication of a superb teaching resource possible in 1999. More recently, an instance of professional denial was evident in the case of Hans-Joachim Sewering, a past president of the German Medical Association who died in 2010. Sewering had referred children to a euthanasia killing centre during the Nazi era but evidence in this regard was only reluctantly disclosed in the German Medical Association’s journal Deutsches Ärzteblatt. Time and time again, the idea of the profession taking responsibility for past malpractice was met by denial and disassociation. The German Medical Association seems to have fought a rearguard action for some 65 years so that the older generation and their acolytes could pass away with honour. This can be seen in a bibliographical guide sponsored in 2011 by the German Medical Association on medicine and National Socialism. The guide omits not only important studies on Nazi medicine, such as work by Alice Platen-Hallermund (part of the German medical delegation at the Nuremberg Doctors’ Trial) and Werner Leibbrand (a psychiatrist who testified at the Nuremberg Doctors’ Trial), but also the evidencebased research findings of critically engaged physicians since the 1980s. The conduct of physicians who resisted National Socialism is all the more commendable against this history of professional denial. There were doctors who sought to extract patients from institutions that became part of the system of medicalised murder. Some physicians withdrew from specialties like psychiatry because patients were being maltreated. Alice Platen-Hallermund was shocked by such abuses; yet her pioneering account of psychiatry under National Socialism meant that she was reviled by many as professionally disloyal and uncollegial. Effectively, the denial of medical crimes under National Socialism represented an endorsement of a medical science bereft of a patient-oriented and consensual ethics. There was a legacy of the authoritarian pursuit of scientised medicine that could not be questioned from an ethical or evidential basis. The apology resolving this conflict comes late—but not too late in terms of those who were directly affected, who include a handful of expelled doctors, individuals who were sterilised, and close family of victims of “euthanasia”. Given that children became a target group of the human experiments as the war progressed, victims still survive. www.thelancet.com Vol 380 August 25, 2012 Deutsches Ärzteblatt/Jürgen Gebhardt Perspectives Focusing on the victims: an exhibition about the withdrawal of medical licences from Jewish physicians in 1938 that has been shown in 25 German cities, in May, 2012, it was shown in Nuremberg for the second time What is also clear is that in terms of care for victims of these atrocities, the medical systems have shown appalling neglect. Victims of sterilisation demanded refertilisation and hormone therapy after the war, measures that were provided only when a victim could afford these. Compulsory sterilisation was officially deemed not to have been a Nazi measure; this view began to change in the 1980s but an unreserved apology from the German state remains outstanding. Moreover, the medical profession has generally failed to provide recognition and support for victims. What is chilling is that the politics of denial meant that authoritarian and inhumane structures in medicine could persist in Germany. The apology should be taken as a constructive starting point in ethical disclosure. The German Medical Association should be transparent with regard to its own conduct and deliberations both to its membership and a wider public. An apology should not mean drawing a line under the past. What is necessary is a constructive process of active engagement with past legacies. Such a process can only be salutary for an ethically and evidence-based medicine, not only in Germany but also for best practice in medicine more generally. Stephan Kolb, *Paul Weindling, Volker Roelcke, Horst Seithe Klinikum Nürnberg, Nuremberg, Germany (SK, HS); Centre for Health Medicine and Society, Department of History, Philosophy and Religion, Oxford Brookes University, Oxford OX3 0BP, UK (PW); Institute for the History of Medicine, Giessen University, Giessen, Germany (VR); and IPPNW Nürnberg-Fürth-Erlangen, Nuremberg, Germany (SK, HS) [email protected] PW acknowledges the support of the Wellcome Trust grant [096580/Z/11/A] on research subject narratives. Further reading Kolb S, Seithe H, IPPNW, eds. Medizin und Gewissen. 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess. Frankfurt am Main: Mabuse, 1998 Mitscherlich A, Mielke F, eds. Medizin ohne Menschlichkeit, Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt am Main: S Fischer, 1960. 1st edition. Mitscherlich A, Mielke F, eds. Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Heidelberg: Lambert Schneider, 1949 Platen-Hallermund A. Die Tötung Geisteskranker in Deutschland: Aus der deutschen ÄrzteKommission beim amerikanischen Militärgericht. Frankfurt: Verlag der Frankfurter Hefte, 1948 Roelcke V. Medicine during the Nazi period: historical facts and some implications for teaching medical ethics and professionalism. In: Rubenfeld S, ed. Medicine after the Holocaust. From the master race to the human genome and beyond. New York: Palgrave Macmillan, 2010, 17–28 Weindling P. John W Thompson, psychiatrist in the shadow of the Holocaust. Rochester, NY: Rochester University Press, 2010 Weindling P. Nazi medicine and the Nuremberg trials: from medical war crimes to informed consent. Basingstoke: PalgraveMacmillan, 2004 723 66 EthikBericht_11-14.indd 66 11.11.14 10:48 Anhang Nürnberger Kodex (1947)38 Zulässige medizinische Versuche Deutsches Ärzteblatt/Jürgen Gebhardt 1. Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, daß die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muß, ihre Einwilligung zu geben; daß sie in der Lage sein muß, unbeeinflußt durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; daß sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muß, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, daß der Versuchsperson vor der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies ist eine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, welche nicht straflos an andere weitergegeben werden kann. 2. Der Versuch muss so gestaltet sein, daß fruchtbare Ergebnisse für das Wohl der Gesellschaft zu erwarten sind, welche nicht durch andere Forschungsmittel oder Methoden zu erlangen sind. Er darf seiner Natur nach nicht willkürlich oder überflüssig sein. 3. Der Versuch ist so zu planen und auf Ergebnissen von Tierversuchen und naturkundlichem Wissen über die Krankheit oder das Forschungsproblem aufzubauen, daß die zu erwartenden Ergebnisse die Durchführung des Versuchs rechtfertigen werden. 4. Der Versuch ist so auszuführen, daß alles unnötige körperliche und seelische Leiden und Schädigungen vermieden werden. 5. Kein Versuch darf durchgeführt werden, wenn von vornherein mit Fug angenommen werden kann, daß es zum Tod oder einem dauernden Schaden führen wird, höchstens jene Versuche ausgenommen, bei welchen der Versuchsleiter gleichzeitig als Versuchsperson dient. 6. Die Gefährdung darf niemals über jene Grenzen hinausgehen, die durch die humanitäre Bedeutung des zu lösenden Problems vorgegeben sind. 7. Es ist für ausreichende Vorbereitung und geeignete Vorrichtungen Sorge zu tragen, um die Versuchsperson auch vor der geringsten Möglichkeit von Verletzung, bleibendem Schaden oder Tod zu schützen. 8. Der Versuch darf nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen durchgeführt werden. Größte Geschicklichkeit und Vorsicht sind auf allen Stufen des Versuchs von denjenigen zu verlangen, die den Versuch leiten oder durchführen. 9. Während des Versuches muss der Versuchsperson freigestellt bleiben, den Versuch zu beenden, wenn sie körperlich oder psychisch einen Punkt erreicht hat, an dem ihr seine Fortsetzung unmöglich erscheint. 38 Mitscherlich/Mielke (1960), S.272-273. 10. Im Verlauf des Versuchs muß der Versuchsleiter jederzeit darauf vorbereitet sein, den Versuch abzubrechen, wenn er auf Grund des von ihm verlangten guten Glaubens, seiner besonderen Erfahrung und seines sorgfältigen Urteils vermuten muß, daß eine Fortsetzung des Versuches eine Verletzung, eine bleibende Schädigung oder den Tod der Versuchsperson zur Folge haben könnte. 67 EthikBericht_11-14.indd 67 11.11.14 10:48 Ethik-Code Klinikum Nürnberg39 Entsprechend dem Nürnberger Ärztekodex von 1947 steht der Patient im Mittelpunkt aller Dienstleistungen. Die Beachtung ethischer Grundsätze soll sicherstellen, dass die Patienten/innen des Klinikums Nürnberg stets mit höchster Fachkompetenz behandelt und betreut werden. Die ethische Selbstverpflichtung und Reflexion soll verdeutlichen, dass jede Intervention am Patienten in einem Spannungsfeld von widerstreitenden ethischen Prinzipien (z. B. bei der Entscheidung über lebensverlängernde Maßnahmen) stehen kann. Auch zwischen medizinischen und ökonomischen Gesichtspunkten sind Spannungen unvermeidbar. Sie müssen in jedem Einzelfall individuell und kooperativ ausgetragen werden. Wirtschaftlichkeit und Ethik sind dabei kein Gegensatz. Vielmehr dient der möglichst effiziente und effektive Umgang mit Ressourcen auch der möglichst optimalen Patientenversorgung. Die unmittelbare Verantwortlichkeit von Ärzten und Pflegekräften gegenüber jedem einzelnen Patienten ist im Klinikum Nürnberg Grundlage aller Entscheidungs- und Handlungsprozesse. Die Achtung der Würde jedes einzelnen Patienten umfasst den Schutz sowie den Respekt vor dessen Autonomie. Dazu gehören immer bestmögliche Aufklärung, Information und Achtung der Patientenrechte. Entscheidungen in jedweden Krankheitsverläufen müssen transparent gemacht werden; das Wohl des Patienten steht immer im Vordergrund, auch wenn dies mit betrieblichen Zielen kollidiert. Diagnostische und therapeutische Entscheidungen sind leitliniengeprägt. Das Klinikum strebt evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen an, um die für den Patienten erforderliche diagnostische und therapeutische Entscheidung auf derzeitigem Wissensniveau zu erzielen. Ziel ist eine Medizin nach Maß, die dem Patienten nützt und seiner individuellen Krankheits- und Lebenssituation gerecht wird. Auch die Einführung neuer diagnostischer und therapeutischer Methoden wird sich an den Grundsätzen evidenzbasierter Medizin und Pflege orientieren. Im unmittelbaren Umgang mit Patienten, insbesondere mit leidenden oder sterbenden Menschen sind die Gebote der Achtsamkeit und Behutsamkeit vorrangig zu befolgen. Die Vermeidung von Schädigung mit Schmerzen, Unannehmlichkeiten, Peinlichkeiten, Beunruhigungen sind ein wichtiger Teil unserer Sorge für den Patienten. Grundsätze der Gleichbehandlung aller unserer Patienten bedeuten, dass in jedem Einzelfall für den betroffenen Patienten versucht wird, die bestmögliche Entscheidung zu treffen und dass jedwede Benachteiligungen wegen des Geschlechts, der Nationalität, Hautfarbe oder sozialen Herkunft eines Patienten unterbleiben. 39 Klinikum Nürnberg (2006), S. 33-34. 68 EthikBericht_11-14.indd 68 11.11.14 10:48 Empfehlungen zum ethischen Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden, Patientenverfügungen und Vollmachten 1. Aufgabe der Mitglieder der Behandlungsteams ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten, Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen, sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Die Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht nicht unter allen Umständen. 2. Art und Ausmaß einer Behandlung sind gemäß der medizinischen Indikation von den Mitgliedern der Behandlungsteams gemeinsam zu verantworten; die spezifischen Verantwortungsbereiche der einzelnen Mitglieder bleiben davon unberührt. Die Mitglieder des Behandlungsteams müssen bei der Behandlung den Willen des Patienten beachten, wie es auch rechtlich gefordert ist (z.B. BGB §1901 ff). Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht durch lebenserhaltende Therapien künstlich in die Länge gezogen werden. Bei seiner Entscheidungsfindung sollte der Arzt mit ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern einen Konsens suchen. Die Entscheidung hierzu darf nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden. 3. Eine Therapie ist abzubrechen, wenn für sie keine Indikation (mehr) besteht oder keine Zustimmung (mehr) vorliegt. Für die Umsetzung dieses Therapieabbruchs macht es juristisch keinen Unterschied, ob die Behandlung nicht begonnen, nicht fortgeführt oder ob sie mittels einer Handlung beendet wird (BGH-Urteil vom 25.06.2010). 4. Unabhängig von anderen Zielen der medizinischen und pflegerischen Behandlung und Betreuung haben die Mitglieder der Behandlungsteams in jedem Fall für eine Basisbetreuung zu sorgen. Dazu gehören u.a.: menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie Stillen von Hunger und Durst. 5. Die oben genannten Grundsätze können den Mitgliedern der Behandlungsteams die eigene Verantwortung in der konkreten Situation nicht abnehmen. Alle Entscheidungen müssen individuell erarbeitet werden. Ist der Patient zu einer aktuellen Willensäußerung nicht (mehr) fähig und hat er im Voraus seinen Willen eindeutig (Patientenverfügung) niedergelegt, so ist dieser grundsätzlich zu achten. Liegt keine schriftliche Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- oder Behandlungssituation zu, so ist der vom Bevollmächtigten oder Betreuer vorgetragene mutmaßliche Wille des Betreuten zu achten. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte unter Bezug auf frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Patienten zu ermitteln. Dazu soll nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, sofern dies ohne erhebliche Verzögerung möglich ist. 6. Im Klinikum Nürnberg soll bei Zweifelsfällen die Möglichkeit der ethischen Beratung durch die Klinische Ethikberatung genutzt werden (z. B. durch ZME, Ethikkreis der 4. Med., Ethikzirkel, etc.). 7. Die Umsetzung / Anwendung des Patientenwillens wird durch im Klinikum Nürnberg vorgegebene Standards gesichert. 8. Bei Minderjährigen und Neugeborenen bedarf es eines besonderen Einvernehmens mit allen Betroffenen / Beteiligten und ggf. der Anrufung des Betreuungsgerichts 69 EthikBericht_11-14.indd 69 11.11.14 10:48 9. Wenn es hinsichtlich der Interpretation des Patientenwillens auf die konkrete Behandlungssituation zum Dissens zwischen Behandlern und dem Betreuer / Bevollmächtigten kommt, ist das Betreuungsgericht anzurufen. 10. Im Klinikum Nürnberg gelten die „Grundsätze der Bundesärztekammer“ (Deutsches Ärzteblatt, Heft 19 vom 7. Mai 2004) und die „Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis“ (Deutsches Ärzteblatt; Heft 18; 7 Mai 2010). 11. Zur Erstellung von Patientenverfügungen, Betreuungsverfügungen und Vollmachten wird den Patienten im Klinikum Nürnberg die Broschüre des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz in der jeweils aktuell gültigen Fassung empfohlen. 70 EthikBericht_11-14.indd 70 11.11.14 10:48 EthikBericht_11-14.indd 71 11.11.14 10:48 EthikBericht_11-14.indd 72 11.11.14 10:48