Leseprobe - Weltbild

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36
4
Grundlagen der Trainingslehre
Marco Herbsleb, Christian Puta
4.1
Sportwissenschaftliche Grundlagen
Sportwissenschaftliche Kenntnisse bilden eine wichtige Voraussetzung, um ein
regelmäßiges und sinnvolles Training bei Patienten durchführen zu können. Unter Training versteht man hierbei einen komplexen Handlungsprozess, der auf
systematischer Planung, Ausführung und Evaluation von Maßnahmen basiert,
um nachhaltige Ziele in den verschiedenen Anwendungsfeldern des Sports zu
erreichen (Hottenrott u. Hoos 2013). Dabei werden Trainingsprinzipien und Belastungsmerkmale zur Steuerung des Trainingsprozesses genutzt. Für das Spektrum des Gesundheitssports sind nachfolgend dargestellte Trainingsprinzipien
und Belastungsmerkmale bedeutsam (Hottenrott u. Hoos 2013).
4.1.1Trainingsprinzipien
Prinzip des wirksamen Trainingsreizes: Ein Trainingsreiz muss eine Mindestschwelle überschreiten, um Anpassungen auszulösen.
Markser, Bär: Sport- und Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen. ISBN: 978-3-7945-2993-3. © Schattauer GmbH
4.1 Sportwissenschaftliche Grundlagen
37
Prinzip der optimalen Relation von Belastung und Erholung: Nach einer körperli-
chen Belastung (z. B. Trainingseinheit) ist eine bestimmte Erholungszeit zur
Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit notwendig, um eine
erneute Belastung mit bestmöglichem Ausgangspotenzial durchführen zu können.
Prinzip der individualisierten Belastung und Belastungssteuerung: Die Trainingsbelastungen und Steuerungsmaßnahmen sollten möglichst individuell auf die Leistungsfähigkeit, Belastbarkeit, Akzeptanz und Bedürfnislage des Trainierenden
abgestimmt werden.
Prinzip der alters- und geschlechtsspezifischen Belastung: Die Trainingsbelastun-
gen sollen unter Berücksichtigung von Alter und Geschlecht geplant und umgesetzt werden.
4.1.2Belastungsmerkmale
Belastungsumfang: Der Belastungsumfang charakterisiert die summierte Belas-
tungseinwirkung über definierte Zeiträume. Als zugehörige Maßzahlen gelten je
nach Belastungsreiz Distanzangaben, Belastungszeit oder die Anzahl an Wiederholungen.
Belastungsintensität: Die Belastungsintensität kennzeichnet die Höhe bzw. Stär-
ke einer Belastung. Als Maße für die Belastungsintensität können die Geschwindigkeit (wie beim Laufen, Walken oder Schwimmen), die Größe des Widerstands
(wie beim Krafttraining), die mechanische Leistung (beispielsweise beim Fahrradergometer) oder auch die Intensität in Prozent der Maximalleistung verwendet werden. Vergleichbar kommen Maße für die biologische Beanspruchung
(beispielsweise die Herzfrequenz) zur Anwendung.
Belastungsdauer: Unter Belastungsdauer versteht man die gesamte Einwirkungsdauer einer Trainingsbelastung. Die Belastungsdauer entspricht beispielsweise
der Zeitdauer einer Ausdauerbelastung oder auch der Spielzeit im Sportspiel.
Beim Krafttraining entspricht die effektive Belastungsdauer der Anspannungsdauer der Muskulatur.
Belastungshäufigkeit: Die Belastungshäufigkeit kennzeichnet die Anzahl der
Trainingsbelastungen bzw. Wiederholungen innerhalb eines definierten Trainingszeitraums.
Belastungsdichte: Die Belastungsdichte beschreibt den zeitlichen Abstand
zwischen Belastungen (Pausenlänge) und kennzeichnet so das Verhältnis von
Belastung und verfügbarer Erholung.
Markser, Bär: Sport- und Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen. ISBN: 978-3-7945-2993-3. © Schattauer GmbH
4 Grundlagen der Trainingslehre
38
4.1.3
Motorische Basisfähigkeiten
In der Trainingslehre werden fünf motorische Basisfähigkeiten unterschieden
(▶ Abb. 4-1). Für seelische Erkrankungen sind Ausdauer und Kraft die am besten
untersuchten Beanspruchungsformen. Diese sollen daher – in sehr vereinfachter
Form – im Zentrum der nachfolgenden Erläuterungen stehen.
Ausdauer
Die Ausdauer entspricht umgangssprachlich dem Durchhaltevermögen. Sie ist
eine komplexe Fähigkeit mit vielfältigen Erscheinungsformen. Für die Sportund Bewegungstherapie empfiehlt sich eine grundlegende Strukturierung nach
Intensitätszonen. Die Einteilung in Intensitätszonen basiert vorrangig auf der
Energiebereitstellung. In Abhängigkeit von der Belastungsdauer und -intensität
erfolgt die Energiebereitstellung zu unterschiedlichen Anteilen über aerobe und
anaerobe Stoffwechselwege. Aus klinischer und trainingsmethodischer Sicht
hat sich die Einteilung in Intensitätszonen entsprechend der Ausdauerbereiche
aerob, aerob-anaerob und anaerob als sinnvoll erwiesen (▶ Abb. 4-2).
Aerobe Ausdauer (Intensitätszone I): Diese ist gekennzeichnet durch Belastungsintensitäten unterhalb der aeroben Schwelle (kein nennenswerter Anstieg der
Lactatkonzentration über die Ruhelactatkonzentration). Dies entspricht Belastungsintensitäten, bei denen beispielsweise Reden gut und ohne Unterbrechung
möglich ist und die in der Regel als leicht bis wenig anstrengend empfunden
werden.
Aerob-anaerobe Ausdauer (Intensitätszone II): Hier liegen die Belastungsintensitä-
ten zwischen aerober und anaerober Schwelle (Anstieg des Lactats, wobei noch
ein Gleichgewicht zwischen Bildung und Abbau besteht). Die Belastung wird
meist als anstrengend empfunden, Reden ist noch in kurzen Sätzen möglich.
Hauptbeanspruchungsformen
Koordination
Flexibilität
Kraft
Schnelligkeit
Ausdauer
Abb. 4-1 Darstellung der motorischen Hauptbeanspruchungsformen
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6
Sport und Bewegung in der Behandlung
depressiver Erkrankungen
Andreas Broocks
6.1Einleitung
Depressive Erkrankungen stellen eine große Herausforderung für das gesamte
Gesundheitssystem dar. Schätzungen gehen von ca. 18 Millionen Menschen in
der Europäischen Gemeinschaft aus, die einmalig oder mehrfach von einer behandlungsbedürftigen depressiven Phase betroffen sind (Daten aus Eurobarometer 2006). In Deutschland sind psychische Erkrankungen auch mehr und mehr
dafür verantwortlich, dass Menschen bereits in den mittleren Lebensjahren keine
Alternative mehr zu einer Frühberentung sehen. Denn mehr als 20 000 Menschen
werden pro Jahr wegen psychischer Erkrankungen bereits vorzeitig berentet. Damit steht diese Krankheitskategorie nach den Daten der Deutschen Rentenversicherung an erster Stelle – noch vor den Erkrankungen des Bewegungsapparats
(http://www.deutsche-rentenversicherung.de; www.gbe-bund.de).
In den letzten Jahren liest man in der Presse sehr häufig vom sogenannten
Burn-out-Syndrom, das man in Lehrbüchern über psychische Erkrankungen
noch immer vergeblich sucht. In der Regel wird unter Burn-out ein Erschöp-
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6 Sport und Bewegung in der Behandlung depressiver Erkrankungen
56
fungssyndrom – im Zusammenhang mit einer länger andauernden beruflichen
oder auch privaten Überforderungssituation – verstanden. Symptomatologisch
handelt es sich um eine leichte depressive Verstimmung, aus der sich aber eine
schwerere Depression entwickeln kann.
6.2
Klassifikation und Behandlung
Depressive Erkrankungen unterscheiden sich deutlich von den auch bei Gesunden
vorkommenden Zuständen, in denen für Stunden oder Tage Beeinträchtigungen
der Stimmung oder der Leistungsfähigkeit auftreten. Typische Anzeichen sind
niedergedrückte Stimmung, Konzentrationsstörungen, Neigung zum Grübeln,
Freudlosigkeit, ein Gefühl von Sinnlosigkeit, innere Unruhe, Schlafstörungen –
(häufig mit Früherwachen), Schuldgefühle, Suizidgedanken sowie körperliche
Symptome wie dumpfe Kopfschmerzen oder ziehende Rückenschmerzen.
Kleinste Verrichtungen erfordern eine große Anstrengung und hinterlassen das
Gefühl einer anhaltenden Erschöpfung. Bei schweren Depressionen kann es auch
zu Wahnvorstellungen kommen – beispielsweise im Sinne eines Verarmungswahns oder der Vorstellung, an einer unheilbaren körperlichen Erkrankung zu
leiden. Im Rahmen der »rezidivierenden depressiven Störung« besteht meist lebenslang eine Neigung, dass nach Belastungen oder auch spontan erneut depressive Phasen auftreten. Bei der sogenannten Dysthymie fühlen sich die Betroffenen
häufig matt, lustlos, gereizt und niedergeschlagen. Im Unterschied zu depressiven
Episoden sind die Beschwerden aber nicht so stark, dass die Patienten arbeits­
unfähig sind. Studien haben gezeigt, dass Übergänge zwischen rezidivierenden
depressiven Störungen und Dysthymie häufig sind. Bei der bipolaren affektiven
Störung wechseln schwere depressive Zustände mit manischen Phasen ab, die
durch Antriebssteigerung, geringes Schlafbedürfnis, Größenideen, unsinnige
Geldausgaben, aber auch Aggressivität bis hin zu Erregungszuständen gekennzeichnet sind.
6.2.1ICD-10-Diagnosekriterien
Leitsymptome für eine depressive Episode (seit mehr als 2 Wochen)
(Punktprävalenz ca. 6 %; Lebenszeitprävalenz ca. 15 %)
Depressive Stimmung
yy
Deutlicher Interessenverlust
yy
Gewichtsverlust (> 5 % des Körpergewichts/Monat)
yy
Insomnie oder Hypersomnie
yy
Agitiertheit oder starke psychomotorische Hemmung
yy
Erschöpfbarkeit
yy
Überzeugung der eigenen Wertlosigkeit und Schuld
yy
Starke Konzentrationsstörungen und Denkhemmung
yy
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7 Sporttherapie bei Angsterkrankungen
72
Tab. 7-1 Epidemiologie und Gesundheitskosten der Angststörungen
Altersbereich
der Erstmanifestation
12-MonatsPrävalenz1
Panikstörung
3.–4. Lebensjahrzehnt
Agoraphobie
Angst­
störung
1
2
Geschlechterverteilung1
Gesundheitskosten2
direkt
indirekt
1,8 %
6,7
5,2
3.–4 . Lebensjahrzehnt
2 %
3,0
6,7
Generalisierte Angststörung
Frühe Jugend
Höheres Alter
1,7 %
3,4 %
8,7
2,0
Soziale
Phobie
Adoleszenz
2,3 %
7,3
4,8
Spezifische
Phobien
Kindheit
6,4 %
10,7
8,6
Frauen : Männer =
2,5 : 1
In Europa 2010 (nach Wittchen et al. 2011)
In Europa 2010 in Mrd. Euro (nach Olesen et al. 2012)
7.2
Klassifikation, Klinik und Diagnostik
der Angststörungen
Gemäß den Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation und der American Psychiatric Association (ICD-10 und DSM-5) zählen zu den Angsterkrankungen die Panikstörung, die Agoraphobie, die Generalisierte Angststörung, die
soziale Phobie sowie die spezifischen Phobien. Während noch im DSM-IV subsummierte Störungsbilder (Posttraumatische Belastungsstörung und Zwangsstörung) im Rahmen der letzten Revision anderen Erkrankungsgruppen zugeordnet wurden, führt das DSM-5 nun zusätzlich den selektiven Mutismus und
die Trennungsangst in der Kategorie der Angststörungen des Erwachsenenalters
auf.
Alle Angsterkrankungen zeichnen sich neben der jeweiligen spezifischen
Symptomkonstellation durch einen störungsübergreifenden psychophysischen
Beschwerdekomplex aus (▶ Tab. 7-2), der unvermittelt (Panikstörung) und
stimulusabhängig (phobische Störungen) auftreten oder auch einen eher chronischen, in seiner Intensität undulierenden Charakter besitzen kann (Generali­
sierte Angststörung). Im Verlauf der Erkrankungen bildet sich regelhaft ein Vermeidungsverhalten gegenüber den gefürchteten Situationen, Sorgenthemen
oder den assoziierten Körpersymptomen heraus. Dies führt zu einer signifikan-
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7.2 Klassifikation, Klinik und Diagnostik der Angststörungen
73
ten Einschränkung des sozialen Aktionsradius und mittelbar zu einem deutlichen Leidensdruck der betroffenen Patienten. Während isolierte und soziale
Phobien sich oft bereits relativ früh entwickeln, liegt das Erst­manifestationsalter
der Panikstörung sowie der Agoraphobie zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr.
Die Generalisierte Angststörung zeigt hingegen eine zweigipflige Auftretenshäufigkeit und ist damit bezüglich Diagnostik und Therapie sowohl für den kinderund jugendpsychiatrischen Bereich als auch im Rahmen der Altersmedizin relevant. Frauen sind ca. doppelt so häufig wie Männer von Angsterkrankungen
betroffen (▶ Tab. 7-1). Die Gründe hierfür sind noch weitgehend ungeklärt;
diskutiert werden neben biologischen auch soziokulturelle Faktoren sowie ein
unterschiedliches Hilfegesuchverhalten beider Geschlechter.
Zur Diagnosestellung und Schweregradeinschätzung von Angsterkrankungen
haben sich bereits langfristig zahlreiche standardisierte Instrumente etabliert. Die
Tab. 7-2 Phänomenologie der Angststörungen nach ICD-10
Panikstörung
Mehr als zwei Episoden von intensiver Angst oder Unbehagen innrerhalb eines
Monats, die sich durch einen abrupten Beginn auszeichnen und innerhalb von
wenigen Minuten ein Maximum erreichen (Panikattacke). Die Panikattacken sind
nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt bezogen, treten oft
spontan auf und sind nicht mit be­sonderer Anstrengung oder mit gefährlichen oder
lebensbedrohlichen Situationen verbunden.
Generalisierte Angststörung
Ein Zeitraum von mindestens sechs Monaten mit vorherrschender Anspannung,
Besorgnis und Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme
(z. B. die eigene gesundheitliche, finanzielle, partnerschaftliche, sicherheitsbezogene
oder allgemeine soziale Situation bzw. die naher Bezugspersonen). Die Sorgen haben
kein entsprechendes objektivierbares Korrelat, sind oft exzessiv und unkontrollierbar
sowie meist auf Ereignisse in der Zukunft gerichtet. Bei meist hohem Leidensdruck
werden sie durch die Betroffenen oft als (teilweise) berechtigt erlebt (»Durch meine
Sorgen verhindere ich Schlimmeres«).
Soziale Phobie
Furcht vor prüfender Betrachtung/Bewertung durch andere Menschen (z. B. im
Rahmen von neuen sozialen Kontakten, Tätigkeiten in der Öffentlichkeit und/oder
vor Publikum) – meist einhergehend mit niedrigem Selbstwertgefühl und Angst vor
Kritik
Agoraphobie
Furcht vor oder in Situationen, die nicht unmittelbar verlassen werden können und/
oder die keiner unmittelbaren externen Hilfe zugänglich sind (z. B. Benutzen öffent­
licher Verkehrsmittel, Fahrstühle, Im-Stau-Stehen, Autobahnfahrten, große Plätze,
breite Straßen, Wälder)
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96
8
Aerobe Bewegung bei der Zwangsstörung
Jens Plag, Sarah Schumacher, Andreas Ströhle
8.1Einleitung
Die Zwangsstörung (obsessive-compulsive disorder [OCD]) ist eine schwerwiegende psychische Erkrankung, die für die betroffenen Patienten regelmäßig
deutliche Einschränkungen, einen hohen Leidensdruck und eine ausgeprägte
Verminderung der Lebensqualität zur Folge hat (Macy et al. 2013; Wittchen et al.
2011). In diesem Zusammenhang spielen neben Einschränkungen des sozialen
Funktionsniveaus und einer ausgeprägten symptomassoziierten psychischen
Belastung auch eine signifikante Reduktion der Vitalgefühle und des allgemeinen Gesundheitszustands der Erkrankten eine bedeutende Rolle (z. B. Bobes
et al. 2001). Wissenschaftliche Untersuchungen fanden in der Vergangenheit einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Symptomschwere einer Zwangsstörung und dem Ausmaß des Verlusts an Lebensqualität der Betroffenen. Sie
zeigten darüber hinaus, dass auch durch erstrangige Behandlungsmethoden
diese Defizite oft nur graduell oder erst langfristig gebessert werden können
(Hollander et al. 2010; Koran et al. 2010; Maher et al. 2010). Diese Befunde
reflektieren Probleme der gegenwärtigen Psycho- und Pharmakotherapie, die
insbesondere hinsichtlich deren Akzeptanz bzw. Wirksamkeit bestehen. Hier-
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8.2 Symptomatik und Epidemiologie der Zwangsstörung
97
durch wird die Wahrscheinlichkeit einer unzureichenden Besserung bzw. eines
Wiederauftretens der Zwangssymptomatik deutlich erhöht. Vor diesem Hintergrund gab es in den letzten Jahren zahlreiche Studien, die Weiterentwicklungen,
Alternativen und Ergänzungen der bestehenden Therapieoptionen zum Gegenstand hatten. Neben der Verbesserung und Erweiterung der kognitiv verhaltenstherapeutischen oder medikamentösen Behandlung sowie der Untersuchung
psychochirurgischer Therapieansätze widmete sich die klinische Forschung auch
ersten Projekten hinsichtlich der Wirkung aerober körperlicher Aktivität auf die
Symptomatik einer Zwangsstörung.
8.2
Symptomatik und Epidemiologie
der Zwangsstörung
Die Zwangsstörung zeichnet sich durch das wiederholte Auftreten von Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen aus (Definition nach ICD-10).
Bei einer Zwangsstörung bestehen über mindestens 2 Wochen Zwangsgedanken
und/oder -handlungen, die für den Betroffenen belastend sind und zu einer Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens führen.
Die Zwangssymptomatik zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
Die Gedanken oder Handlungen sind für den Patienten als eigene erkennbar.
yy
Wenigstens einem Gedanken oder einer Handlung gegenüber wird Widerstand
yy
geleistet.
Der Gedanke oder die Handlung wird nicht als angenehm erlebt.
yy
Die Gedanken oder Handlungen wiederholen sich in unangenehmer Weise.
yy
Zwangsgedanken sind meist unangenehme Gedanken oder Vorstellungen, die
sich imperativ und gegen den Willen des Patienten aufdrängen und zu einer hohen inneren Anspannung führen. Regelmäßig werden diese Gedanken als unsinnig und ichdyston (d. h. sie entsprechen nicht den eigenen Vorstellungen oder
Werten) erlebt und können in Abhängigkeit ihres Kontextes (z. B. sexualisierte
oder blasphemische Inhalte) stark belastend und abstoßend sein. Überdauernd
ist jedoch die Einsicht der Betroffenen vorhanden, dass es sich hierbei um eigene
Gedanken handelt und diese nicht etwa von außen oder anderen eingegeben
werden – wie es bei schizophrenen Störungen der Fall ist.
Inhaltlich sind Zwangsgedanken stark individualisiert und können sich
auf nahezu jeden Aspekt des sozialen und emotionalen (Er-)Lebens beziehen.
Es gibt jedoch einige »klassische« Themen, die überdurchschnittlich häufig
auftreten und oft auch zu korrespondierenden Zwangshandlungen führen
(▶ Tab. 8-1).
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8 Aerobe Bewegung bei der Zwangsstörung
98
Tab. 8-1 Häufige Zwangsgedanken und -handlungen
Zwangsgedanken
Zwangshandlungen
Angst vor Kontamination (Schmutz,
Körperflüssigkeiten, Umweltgifte)
Exzessives Waschen und Reinigen,
Vermeidung entsprechender Situationen
Angst vor Schädigung der eigenen
Person oder Dritter
Wiederholte Kontrollen (Tür
verschlossen? Herd abgestellt?) und
Rückversicherungen (z. B. Anrufe)
Exzessives Beschäftigen mit Symmetrie
oder der Positionierung von (Alltags-)
Gegenständen
Wiederholtes Ordnen (z. B. nach
Größe) und Ausrichten (z. B. in einem
bestimmten Winkel)
»Verbotene« Gedanken mit z. B.
sexu­ellen, blasphemischen oder
amoralischen Inhalten
Wiederholte Überprüfung der eigenen
Gedanken, Vermeidung entsprechender
Situationen
Angst, Dinge zu verlieren oder zu
vergessen
Exzessives Aufbewahren oder Sammeln
von Alltagsgegenständen
Zwangshandlungen zeichnen sich durch repetitive und meist stereotyp ausgeführte Verhaltensweisen aus. Diese können sowohl durch Dritte beobachtbar
sein (z. B. Kontrolle der Tür, Ausrichten von Gegenständen) oder auch ausschließlich auf mentaler Ebene stattfinden (z. B. gedanklich einen bestimmten
Satz wiederholen oder Gegenstände durchzählen). Häufig stellen sich Zwangshandlungen sekundär zu bzw. in Reaktion auf Zwangsgedanken ein. Es kommt
ihnen die Funktion zu, die sich aufdrängenden Gedanken bzw. die assoziierte
Anspannung kurzfristig zu »neutralisieren« oder die Verwirklichung der Gedanken zu verhindern (»Nur wenn ich dreimal auf Holz klopfe [Zwangshandlung],
muss mein Mann nicht sterben [Zwangsgedanke]«). Analog zu den Zwangsgedanken werden die Verhaltensweisen meist als sinnlos erkannt. Da deren Unterdrückung jedoch zu einer weiteren Erhöhung der bereits vorhandenen Anspannung führt, wird der Widerstand gegen die Zwangshandlungen durch die
Patienten oft zeitnah aufgegeben. Langfristig stellt sich bei den Patienten die
Überzeugung ein, dass sie nur durch die Durchführung der Handlungsimpulse
die Symptomatik kontrollieren und/oder Schlimmeres verhindern können. Dadurch wird aber eine Chronifizierung der Erkrankung begünstigt.
Die Symptome einer Zwangsstörung sind meist sehr quälend und können
aufgrund der Inhalte der Gedanken oder durch die eigene Einsicht in deren
Sinnlosigkeit für die Betroffenen äußerst schambesetzt sein. Darüber hinaus
wird durch ein sich regelhaft einstellendes Vermeidungsverhalten gegenüber Situationen oder Gegenständen, die als Auslöser individueller Zwangsgedanken
oder -handlungen dienen können (z. B. potenziell verschmutzte Orte wie öffent-
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12 Sporttherapie bei kognitiven Störungen
178
Kognitiver Abbau
Geringe kognitive Veränderungen sind Teil des Alterns
Präklinische
Phase
Leichte
Kognitive
Störung
Die langfristige Kombination verschiedener
Sportarten zeigt die höchsten Effektstärken
für die Verbesserung der Kognition und einen
präventiven Effekt bei Gesunden und bei
Patienten mit leichter kognitiver Störung.
leicht
Demenz
mittel
Effekte sind stadienabhängig. Aktivitäten
des täglichen Lebens, einige kognitive Funktionen und
schwer
die Belastung von Angehörigen
kann durch Sport positiv beeinflusst
werden (Reduktion der Sturzneigung).
Es sind keine schwerwiegenden Nebenwirkungen zu befürchten.
Lebenszeit
Abb. 12-2 Sporttherapie bei Patienten mit kognitiven Störungen
kann (Tortosa-Martinez u. Clow 2012). Bisher ist aber nicht geklärt, welche
Sportarten beim Menschen in welcher Intensität und Dauer für die Initiierung
dieser protektiven Mechanismen geeignet sind. Kirk-Sanchez et al. (2014) weisen zu Recht darauf hin, dass möglicherweise Trainingsinterventionen mit verschiedenen Sportarten im Gegensatz zu reinem Ausdauertraining erfolgversprechender sein könnten. So beansprucht zum Beispiel Tai-Chi sowohl kognitiv als
auch physisch – im Gegensatz zu reinem Ausdauertraining.
Bei aller Kritik an den durchgeführten Studien und Metaanalysen muss man
aber festhalten, dass andere Strategien, wie etwa Veränderung der Ernährung
(Nahrungsergänzung durch Vitamine, Omega-3-Fettsäuren, Folsäure) oder Interventionen mit kognitiven Übungen deutlich geringere oder gar keine Effekte
zeigen (Lovden et al. 2013). Die Verbesserung der körperlichen Fitness ist daher
eine präventive und therapeutische Methode, die trotz aller Einschränkungen
unbedingt angewendet werden sollte (▶ Abb. 12-2).
12.3.3 Die Rolle körperlicher Aktivität bei Patienten mit Demenz
Wie oben dargestellt haben viele Studien in den letzten 10 Jahren untersucht, ob
intensives körperliches Training die Wahrscheinlichkeit, an einer Demenz zu
erkranken, beeinflussen kann. Die Studienlage ist somit sehr umfangreich
(Evidenzgrad Ia).
Hamer und Chida (2009) schlossen 16 Studien in den systematischen Review
ein (163 797 Teilnehmer ohne Demenz zu Beginn und 3 219, die im Verlauf eine
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12.3 Einfluss von körperlicher Aktivität auf die kognitive Leistungsfähigkeit
179
Demenz entwickelten). Das relative Risiko für die Gruppe mit hoher körper­
licher Aktivität, eine unspezifische Demenz oder Alzheimer-Demenz zu entwickeln, war signifikant reduziert, wenn diese mit der niedrigen Aktivitätsgruppe
verglichen wurde. Für bereits erkrankte Patienten stellt sich die Frage, ob körperliche Aktivität den Fortgang der Erkrankung modulieren kann. Die Autoren sind
sich bewusst, dass körperliche Aktivität ganz verschiedene Einflüsse hat. So werden soziale Interaktionen, Selbstwahrnehmung, allgemeine körperliche Beweglichkeit und Muskulatur oder kardiovaskuläre Fitness synchron verändert. Im
Folgenden soll nur der Einfluss körperlicher Aktivität bei Patienten mit Demenz
auf die Kognition, Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) und Verhaltensauffälligkeiten – beispielsweise herausforderndes Verhalten oder Depressivität – dargestellt werden.
Verschiedene randomisierte und kontrollierte Interventionsstudien deuten
an, dass körperliches Training kognitive Leistungen bei älteren Personen auch
mit Demenz noch verbessern oder zumindest den weiteren kognitiven Abbau
verlangsamen könnte. Dies ist auch das Ergebnis einer Metaanalyse von Heyn et
al. (2004). Die Autoren konnten eine hohe Effektstärke gemischter körperlicher
Trainingsprogramme für die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit
bei diesen Patienten zeigen. Moderate Effektstärken waren für eine kombinierte
Auswertung von Kognition, Funktionsniveau und Verhalten nachweisbar.
Kürzlich wurde ein Cochrane-Review zu diesem Thema von Forbes et al.
(2013) vorgelegt. Hier wurden randomisierte kontrollierte Studien eingeschlossen, die ältere Menschen entweder in ein körperliches Aktivitätsprogramm oder
in eine Kontrollgruppe eingeschlossen haben. Insgesamt wurden 16 Studien mit
knapp 1 000 Patienten analysiert. Die Autoren beschreiben, dass die Sportprogramme der eingeschlossenen Studien leider extrem variabel waren und nicht
nach Demenztyp unterschieden wurde. Dennoch geben die Autoren an, dass regelmäßige Sportprogramme die Aktivitäten des täglichen Lebens positiv beeinflussen und z. T. auch die kognitiven Funktionen verbessern können. So fand
man moderate Effektstärken körperlicher Aktivität auf die Verbesserung kognitiver Funktionen. Die signifikante Verbesserung war jedoch nach Ausschluss
einer Studie, die nur moderat bis schwer Demenzerkrankte untersuchte, nicht
mehr signifikant. Hoch signifikant war dagegen die Wirkung auf Aktivitäten des
täglichen Lebens mit moderaten Effektstärken. Kein Einfluss wurde hier auf
Verhaltensauffälligkeiten gefunden. Diese umfangreiche Analyse verdeutlicht
auch, dass die Wirkung von körperlicher Aktivität sehr stark vom Stadium der
Demenz (leicht bis schwer) abhängt.
Ein wesentliches Kriterium für eine erfolgreiche Demenzbehandlung kann
auch an der Belastung von Angehörigen abgelesen werden. Die Metaanalyse
weist darauf hin, dass hier ein positiver Effekt im Sinne einer Reduktion der Belastung von Angehörigen gemessen werden konnte. Die Ergebnisse spiegeln
durchaus auch die Analysen von Potter et al. wider (2011), die aber nicht in verschiedene Demenzformen unterschieden hatten. Im Gegensatz dazu untersuchten Thune-Boyle et al. (2012) in einer Metaanalyse die Effekte von physischer
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180
12 Sporttherapie bei kognitiven Störungen
Aktivität auf Verhaltensauffälligkeiten. Es wurde von den Autoren beschrieben,
dass körperliche Aktivität einen positiven Effekt auf gedrückte Stimmung und
Agitation haben könnte und möglicherweise auch auf Schlaf und Umherwandern. Dennoch weisen die Autoren auf die unbefriedigende derzeitige Studienlage hin. Insbesondere sollte die Inhomogenität in Bezug auf den Diagnosetyp, die
Schwere der Erkrankung und die Beachtung klinisch signifikanter Effekte in Zukunft verbessert werden.
In einer neueren Studie von Lowery et al. (2014) aus England konnten die
positiven Ergebnisse nicht bestätigt werden. Es wurden 131 Patienten mit Demenz in die Studie eingeschlossen und in zwei Gruppen eingeteilt (▶ Tab. 12-4).
Die Sportgruppe wurde im häuslichen Umfeld angeleitet, für 12 Wochen 5-mal
pro Woche 20–30 Minuten zu laufen, wobei die Intensität anstieg. Es wurde versucht, in der Kontrollgruppe für diese intensive Betreuung eine Kontrollbedingung einzuführen. Weiterhin waren keine vermehrten Stürze zu beobachten,
sondern eher eine verbesserte Physis – wie dies auch in anderen Studien zu verzeichnen war (Pitkala et al. 2013). Von den Autoren konnte kein signifikanter
Effekt auf die Kognition nachgewiesen werden. Eine Reduktion der Belastung
von Angehörigen war aber darstellbar (Lowery et al. 2014).
Andere Studien haben eine Kombination aus einer Balanceübung und neuropsychologischem Training (Dauer: 1 h) 3-mal pro Woche über 16 Wochen bei
Patienten mit Alzheimer-Demenz eingesetzt (de Andrade et al. 2013). Ziel war
es, eine bessere Körperwahrnehmungskontrolle und frontale Hirnfunktion zu
erreichen. In dieser Studie konnten signifikante Verbesserungen in den entsprechenden neuropsychologischen Tests bei Alzheimer-Patienten gezeigt werden.
Zusammenfassend kann man sagen, dass körperliche Aktivität bei bereits erkrankten Patienten Aktivitäten des täglichen Lebens, einige kognitive Funktionen und die Belastung von Angehörigen positiv zu beeinflussen vermag. Unsicherheit besteht bei der Beeinflussung von Verhaltensauffälligkeiten. Zusätzlich
sei noch angemerkt, dass manche Autoren wegen der veränderten Durchblutung
des Gehirns bei Alzheimer-Patienten zu einem genauen Monitoring der kardiovaskulären Risikofaktoren raten (Eggermont et al. 2006).
12.4Praxisempfehlungen
Die S3-Leitlinie Demenz (DGPPN 2009) spricht dem Behandler folgende Empfehlung aus: »Regelmäßige körperliche Bewegung und ein aktives geistiges und
soziales Leben sollten empfohlen werden«. Es wird der Empfehlungsgrad B, die
sogenannte »Sollte«-Empfehlung, ausgesprochen, da ein aktiver Lebensstil mit
körperlicher Bewegung, sportlicher, sozialer und geistiger Aktivität als protektiv
bezüglich des Auftretens einer Demenz eingeschätzt wird. Ebenso befürworten
die aktuellen Empfehlungen des American College of Sports Medicine und der
American Heart Association für ältere Menschen regelmäßige körperliche Aktivität in kleinen Einheiten von 10 Minuten, um eine bessere Lebensqualität zu
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1Einleitung
Valentin Z. Markser, Karl Jürgen Bär
»Der ganze Körper lässt sich auffassen als ein Organ der Seele. ... Das Seelische wirkt durch seine Inhalte und Tendenzen, diese wirken krankmachend
nur, wenn die Seele krank ist. Daher kann sich, wenn die Seele nicht in Ordnung ist, dies auch im Körperlichen zeigen.«
(aus Jaspers 1973, S. 199)
Wenn Karl Jaspers Recht haben sollte, dass sich die kranke Seele im Körperlichen
zeigen kann, wäre auch die Umkehrung des Satzes möglich: Ein gesunder Körper kann sich auch im Seelischen zeigen. Das könnte gleichzeitig auch als Motto
dieses Buches gelten.
Die öffentliche Wahrnehmung von Sport als Teil eines gesunden Lebensstils
hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. So soll eine hohe körperliche
Aktivität mit einer besseren Gesundheit, einer erhöhten körperlichen Attraktivität und einem längeren Leben einhergehen. Ebenso hat in vielen medizinischen
Disziplinen ein Umdenken stattgefunden. Während man früher Patienten nach
Herzinfarkt Schonung verordnete, weiß man heute, dass die Patienten sehr
schnell wieder körperlich aktiv werden müssen. Diese Entwicklung in der soma-
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1 Einleitung
tischen Medizin hat auch die psychiatrische Versorgung von Patienten beeinflusst. Schon vor 20 Jahren wurden mehr als 200 unterschiedliche bewegungsund körperorientierte Therapietechniken gezählt. Auch heute fasst man unter
Bewegungstherapie in den meisten Einrichtungen so unterschiedliche Verfahren
wie Sporttherapie, Physiotherapie, Gymnastik, Walking, Krafttraining, verschiedene Ballsportarten, Entspannungsverfahren oder Körperpsychotherapie zusammen. Oft werden als Bewegungstherapie auch Tanztherapie, Mototherapie,
Bewegungspsychotherapie, Wassergymnastik, Rückengymnastik, Lauftherapie
oder allgemeine sportliche Aktivitäten angeboten. Die Ziele sind meist krankheitsunspezifisch – wie die Verbesserung der Kondition, der Körperwahrnehmung oder eine allgemeine Anregung zu erhöhter Aktivität.
Nicht nur für die Patienten, sondern auch für die behandelnden Psychiater
und Psychotherapeuten ist es oft schwierig, die unterschiedlichen Begrifflichkeiten im Bereich der körperorientierten Therapieverfahren auseinanderzuhalten.
Entsprechend problematisch ist es auch, die richtige Indikation zu stellen und
das Potenzial der jeweiligen Methode auszuschöpfen. Hinzu kommt, dass neue
Methoden und Ausbildungszweige entstehen und sich die Indikationen für bestehende Verfahren rasch ändern. So hält Hölter (2000, S. 1) fest: »Viele Verfahren unterscheiden sich stark in dem Versuch einer wissenschaftstheoretischen
Begründung und schließen sich gegenseitig eher aus, als nach Gemeinsamkeiten
zu suchen. Zudem spielen auch berufspolitische Überlegungen einzelner Schulen auf dem Ausbildungs- und Therapiemarkt eine wichtige Rolle bei der Schaffung eines unübersichtlichen Angebots.« Ein weiteres Problem der begrifflichen
Unschärfe entsteht an der Schnittstelle zum Gesundheitssystem. Hier sind Therapieverfahren mit klarer Indikation und Kontraindikation die notwendige Voraussetzung für eine patientenorientierte Anwendung.
Unschärfe entsteht aber nicht erst bei der Anwendung der Verfahren, sondern
bereits bei der Definition. Wann spricht man von körperlicher Aktivität und was
unterscheidet sie von exercise oder von Sport? Unter dem Begriff »körperliche Aktivität« werden heute alle Bewegungen verstanden, die durch den Einsatz größerer
Muskelgruppen eine Erhöhung des Energieverbrauchs zur Folge haben (U. S. Department of Health and Human Services 1996; Fuchs u. Schlicht 2012, S. 3). Dabei
wird zunächst nicht zwischen Sportarten oder Freizeitbeschäftigungen wie Gartenarbeit unterschieden. Schwieriger wird es mit dem Begriff »exercise«. In den
angelsächsischen Ländern wurde damit die geplante und wiederholte Aktivität
mit dem Ziel der Erhaltung und Verbesserung der körperlichen Fitness beschrieben. Da körperliche Fitness nicht in jedem Fall mit Gesundheit gleichgesetzt
werden kann, wurde anfänglich noch empfohlen, zwischen exercise mit dem Ziel
der sportlichen Leistung auf der einen Seite und exercise zum Erhalten von Gesundheit auf der anderen zu unterscheiden.
Die begrifflichen Schwierigkeiten sind im deutschen Sprachraum nicht geringer. Das Wort Sport wurde Ende des 19. Jahrhunderts aus England übernommen
und bedeutete eine spezifische Form der regelmäßigen körperlichen Betätigung,
die sich zunehmend durch das Leistungsprinzip, Konkurrenzkampf und Re-
Markser, Bär: Sport- und Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen. ISBN: 978-3-7945-2993-3. © Schattauer GmbH
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kordprinzip auszeichnete (Bohus 1986, S. 126). Bis dahin kannte man vor allem
das Turnen und die Gymnastik als Leibesübungen. Die Ausbreitung des Sports
ging parallel mit der rasanten Entwicklung der Industrialisierung in den europäischen Ländern und erfasste schnell alle Lebensbereiche und sozialen Schichten.
Die zunehmende Leistungsorientierung führte zu einer weiteren Unterscheidung – körperliche Aktivität als Gesundheitssport einerseits und leistungsorientierte körperliche Aktivität andererseits. Vor allem die neueren Entwicklungen
des Breiten- und Freizeitsports machen deutlich, dass die Gleichsetzung des
Sports mit der Gesundheit nicht mehr unkritisch aufrechterhalten werden kann.
Dabei ist es unerheblich, ob der Leistungssport im Profi- oder im Amateurbereich betrieben wird, weil im Leistungssport nicht die Gesundheit, sondern primär die Leistung das Ziel der körperlichen Aktivitäten ist.
Neben dem präventiven Ansatz zur Verbesserung der medizinischen Fitness
wurden Sport und Bewegung zunehmend systematisch auch zu therapeutischen
Zwecken genutzt. Sporttherapie wurde ab 1970 zuerst im Zusammenhang mit
der Arbeit mit schwererziehbaren Kindern und Jugendlichen und später in der
Rehabilitation von Herzinfarktpatienten angewendet. In der Folge definierte der
Deutsche Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie (DVGS 2014) (http://
www.dvgs.de/verband/sport-bewegungstherapie/definition.html) die Sport- und
Bewegungstherapie als eine Ȋrztlich indizierte und verordnete Bewegung mit
verhaltensorientierten Komponenten, die vom Therapeuten geplant, dosiert, gemeinsam mit dem Arzt kontrolliert und mit dem Patienten alleine oder in der
Gruppe durchgeführt wird. Sie will mit geeigneten Mitteln des Sports, der Bewegung und der Verhaltensorientierung bei vorliegenden Schädigungen gestörte
physische, psychische und psychosoziale (Alltag, Freizeit und Beruf betreffende)
Beeinträchtigungen rehabilitieren bzw. Schädigungen und Risikofaktoren vorbeugen«. Folgerichtig sind die Sport- und Bewegungstherapie sowie sport­
therapeutische Verfahren in die S3-Leitlinie »Psychosoziale Therapien bei
schweren psychischen Erkrankungen« der Deutschen Gesellschaft für Psy­
chiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde aufgenommen
worden (DGPPN; Falkai 2013).
Die Definition des DVGS wird im Bereich des sportpsychologischen und
sportwissenschaftlichen Gesundheitssports – vor allem in Bezug auf die Indikation und Verordnung – sehr unterschiedlich und mittlerweile auch sehr frei interpretiert. Als Aufgaben der Sport- und Bewegungstherapie werden sowohl
trainingsgebundene körperliche Aktivitäten und damit einhergehende seelische
Veränderungen als auch psychosoziale und pädagogische Ziele als Erweiterung
der Indikation vertreten. Während einige Autoren noch systematisches körperliches Funktionstraining und Anpassungsprozesse beschreiben (Stoll u. Ziemainz
2012), formuliert Schüle (Schüle u. Huber 2012, S. 3): »Sporttherapie wird auch
als ein mehrdimensionales Vorgehen betrachtet, welches sowohl funktionelle als
auch psychosoziale und pädagogische Ziele verwirklicht. Die Mehrdimensionalität impliziert auch eine Abkehr von dem in der Vergangenheit dominierenden
Trainingsparadigma, bei dem allein der körperlichen Aktivität, die idealtypisch
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