Protest Entwurf

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Verschiedene Beispiele für Proteste
Protest ist allgegenwärtig. Über die Medien wurde der Streit um den - zugegebenermaßen
recht teuren - Umbau eines Regionalbahnhofs als Menetekel auch nicht wenig zelebriert. Aber
die Anti-AKW-Menschenkette hatte da längst bewiesen, dass sich in Deutschland 120.000
Menschen zum Protest aufbieten lassen. Und flankiert wurden diese Großereignisse über das
Jahr von vielen kleinen und mittleren Protesten aller Couleur und vielschichtiger Form – von
den Gegnern der Hamburger Schulreform bis hin zu den Internetprotesten in der Causa
Guttenberg.
Es ist also wirklich etwas dran am Protest: Sehr viele Menschen beteiligen sich und häufig
zeitigt der Protest erstaunliche Wirkung. In Stuttgart wurde ein aufwendiges Schiedsverfahren
initiiert, die Schulreform in Hamburg wurde gegen den Willen aller Parteien im Parlament
gekippt, Guttenbergs Rücktritt vom Rücktritt erscheint nur noch als Frage der Zeit.
Die Bewertung von Protest ist jedoch erstaunlich zwiespältig. Das Bundesverfassungsgericht
hat kürzlich entschieden: Demonstrieren geht über Konsumieren. Auch privatisierte
öffentliche Orte wie z.B. Flughäfen sind für Demonstrationen freigegeben, weil die
ökonomische Interessen der Betreiber nicht so stark wie die Bedeutung der Demonstration für
die Demokratie wiegen.1 Demgegenüber werden z.B. die Grünen vom politischen Gegner
gern als „Dagegen“-Partei verunglimpft, oder Protestierende als egozentrische „Wutbürger“
diffamiert, die der notwendigen Modernisierung Deutschlands entgegenstünden.
Zugespitzt steht dahinter ein Kampf um die moralische Deutungshoheit: Wer vertritt wirklich
das Interesse der Mehrheit? Sind es die gewählten Vertreter der Parteien in den Parlamenten
oder sind es die protestierenden Bürger auf der Straße?
Die Geschichte der repräsentativen Demokratie ist eng mit der Entwicklung des Bürgertums
als Trägergruppe verbunden. Im 19. Jahrhundert setzte das Bürgertum seine politische
Mitbestimmung in den entstehenden Nationalstaaten durch und schuf zugleich eine Reihe
öffentlicher Veranstaltungsformen, um diese Gemeinschaft zu stärken – Feste und
Versammlungen mit einem genau geregelten Ablauf und affirmativem Charakter einer
Jubelkulisse.2
Bis in das frühe 20. Jh. wurden die Unterschichten dagegen z.B. durch Zensuswahlrecht lange
von einer angemessenen politischen Mitbestimmung ferngehalten. Ihr Ausdrucksmittel war
der Protest auf der Straße – insbesondere zum 1. Mai.3
Diese beiden Traditionsstränge lagen dann in der Weimarer Republik nicht mehr nur parallel,
sondern vermischten sich. Im selben Maße, wie die Arbeiter beteiligt wurden – indem sie das
volle Wahlrecht erhielten, übernahm die Arbeiterbewegung die affirmativen Mechanismen
des Protests. Ein gutes Beispiel ist die Ausgestaltung des 1. Mai: Daraus entwickelte sich
parallel zur Einbindung der Arbeiterbewegung in die politische Verantwortung ein
wiederkehrender Protest mit fester Choreographie und fester Trägergemeinschaft, der
ritualisiert die früheren Proteste ins Gedächtnis rief und zugleich die Möglichkeit gab,
Stellung zu aktuellen Problemen zu nehmen. In der DDR wurde der „Protest“ zum 1. Mai gar
staatstragendes Ritual.
Dieses kleine Beispiel verdeutlich: Protest entsteht aus einem Missverhältnis von politischem
Anspruch einer Gruppe und ihren tatsächlichen Möglichkeiten in den Strukturen des
Gemeinwesens; Protest ist eine fluide Form, bei Erfolg löst er sich auf, bei längerem
Andauern hat er die Tendenz, sich zu institutionalisieren und die bestehenden Strukturen
einzufließen, um die Wert-Koordinaten des Gemeinwesens zu verschieben.
1
2
3
Südwest Presse: Kommentar zum Demonstrationsrecht, 22.02.2011.
Vgl. Andresen, Knud: Schleswig-Holsteins Identitäten, Neumünster 2010.
Vgl. Goddar, Jeannette: „Weithin akzeptierte Form“, Interview mit Dieter Rucht, Das Parlament, 3.
Januar 2011.
Nun ist der 1. Mai heute kein gesellschaftliches Großereignis von Rang mehr, bei dem eine
Großgruppe ihre Interessen zum Ausdruck bringt.
Die heutige Gesellschaft ist ungleich komplizierter, nicht mehr in starre Klassen gegliedert,
sondern in verschiedenste Milieus und durch multiple Identitäten geprägt. Entsprechend ist
auch Protest heute vielschichtig.
Die Wirksamkeit ist unstrittig, aber: Was ist Protest eigentlich: was verbindet so verschiedene
Formen von Menschenkette bis Flashmob? Und welche Funktion, welchen Nutzen und
welche Gefahren hat Protest in unserer repräsentativen Demokratie?
Wie definiert sich Protest?
Protest leitet sich vom lateinischen „pro testari“ als für „etwas einstehen“ her.4 Die Forscher
Hocke/Ohlemacher/Rucht definieren Protest als eine „kollektive, öffentliche Aktion nichtstaatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der
Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist.“5
Dieser Zusammenhang ist recht komplex, wenn man ihn in die notwendigen Schritte zerlegt:
-
Es muss zunächst eine erhebliche Unzufriedenheit vorliegen. Politik bedeutet die
Entscheidung zwischen Alternativen. Wird diese Entscheidung gegen den Willen
eines wesentlichen Teils der Bevölkerung getroffen, oder eine Entscheidung als
´alternativlos´ verklärt, dann fehlt die Legitimation. In einer repräsentativen
Demokratie ist der für Abhilfe zu gehende Weg geregelt. Aus einem trifftigen Grund
kommt dieser jedoch nicht in Frage. Eine Möglichkeit ist, dass sämtliche Parteien sich
einig sind, wie in Hamburg in Sachen Schulreform geschehen, und dadurch keine
politische Alternative vorhanden ist.
Zu diesem Komplex muss noch ein Anlass treten, diesen Unmut zu zeigen.
Protestbewegungen entstehen in der Regel aus den Ängsten der Menschen, d.h., sie
sind stark emotionalisiert.6 Immerhin muss der Protestierende Energie aufbringen; er
ist sich zudem im Klaren darüber, dass er auf Widerstände treffen wird. Und
schließlich muss in der Regel der Protest gegen etwas auch mit einer Alternative,
durch die es ersetzt werden kann, hinterlegt werden.
Trifft diese Situation auf mehrere Individuen zu, müssen sie sich koordinieren, um als
Gruppe aufzutreten und asymmetrische Strukturen außerhalb der repräsentativen
Demokratie aufzubauen. Es wird zum einen ein tragfähiges Konzept benötigt - und in
der Regel Geld. Auf dieser Einsicht basieren Institutionen wie z.B. ATTAC. Zum
anderen muss auch optisch eine Gemeinschaft suggeriert werden - auch wenn
Teilinteressen nicht deckungsgleich sind und vermutlich auch die
Zukunftsprojektionen nicht. Es müssen deshalb gemeinsame Symbole entwickelt
4
5
6
Rucht, Dieter: Protest und Protestanalyse: Einleitende Bemerkungen, S. 7-27 in: Ders. (Hrsg.): Protest
in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 9.
Rucht, Dieter: Protest und Protestanalyse: Einleitende Bemerkungen, S. 7-27 in: Ders. (Hrsg.): Protest
in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 19.
Umweltrisiko und Politik (1990), S. 160-175 in: Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale
Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 169.
werden, um die Masse zu integrieren. Hierbei zeigt sich eine große Bandbreite von der
Art der Kleidung bis hin zu einer spezifischen Art zu reden.7
Dieser Gruppe muss es wiederum gelingen, Aufmerksamkeit zu erlangen. Damit ist
nicht nur der politische Gegner gemeint. Vielmehr suchen die Protestierenden die
Aufmerksamkeit - und möglichst auch Zustimmung - des breiten Publikums.
Erst über die Berichterstattung der Massenmedien, insbesondere von Tageszeitungen,
Radio und Fernsehen, wird ein Protest für große Teile der Bevölkerung überhaupt
wahrnehmbar und in diesem Sinne "existent".8 Das funktioniert am effektivsten
darüber, ihren Protest mit einem Nachrichtenwert zu versehen. Nach der
Nachrichtenwerttheorie (Galtung, Johan/Ruge, Marie) sind dafür die Faktoren
räumliche Nähe, Kontroverse, Schaden, Elitenbeteiligung, Überraschung,
Personalisierung und hohe Reichweite zu berücksichtigen.
Die Unterschriftenaktion von Doktorranden gegen Guttenberg zeigt den möglichen
Erfolg von Protest, wenn mehrere Aspekte sich beispielhaft verzahnen. Beispielhaft ist
der offene Brief einiger Doktorranden in der Causa Guttenberg, der über das Internet
verbreitet 50.000 Unterstützer und die Erwähnung in Zeitungen und Tagesschau fand.
Die Massenmedien übernehmen dabei aber keineswegs einfach die Funktion eines
Verstärkers. Sie berichten niemals neutral, sondern betonen bestimmte Teile und
bewerten die Aktion, ordnen sie in einen größeren Kontext ein.9
Dabei ist auch die Rezipientenseite einzubeziehen, will man Erfolg haben. Es reicht
nicht einfach, dass das eigene Ansinnen in der Zeitung auftaucht. Die Aussage muss
auch nachvollziehbar sein, im Rahmen des normalen als vernünftig ansehbar sein. In
diesem Kontext steht beispielsweise die große Bedeutung der Frage, ist der Protest
gewaltfrei oder nicht. Die Anwendung von Gewalt diskreditiert einen Protest schnell
in der Gesellschaft.10
a.) Standardverfahren in der repräsentativen Demokratie
b.) Noch einmal durchklicken, wie das System als „Prothese“ wirkt
= Mehrfach gefiltert durch den Aufwand und die symbolische Vermittlung tritt nur Protest in
die Öffentlichkeit, der das Anliegen einer offensichtlich relevanten Gruppe trägt. Dabei
schafft Protest asymmetrische Strukturen, um ein Problem bzw. den Lösungsansatz für ein
Problem wieder in die repräsentative Demokratie einzuspeisen und dabei zugleich den
motivierenden emotionalen Überschuss in geordnete Bahnen zu lenken. Parteien haben ihre
Struktur komplett auf die Institutionen der Demokratie hin entwickelt: Sie entwickeln und
verfolgen langfristige Programme, sie vermitteln Personal in Funktionen und orientieren sich
dabei am mehrjährigen Wahlturnus. Protest ergibt sich dagegen aus aktuellen Missständen
und ihrer emotionalen Aufladung, ist beweglich der Situation angepasst und nicht auf Dauer,
sondern auf die Lösung des spezifischen Problems angelegt. Die Protestbewegung selbst kann
keine Politik machen, sie kann nur dem politischen Apparat Anreize schaffen.
7
Vgl. Warneken, Bernd Jürgen: „Die Straße ist die Tribüne des Volkes.“ Ein Vorwort, S. 7-17, in: Ders.
(Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991, S. 17.
8
Rucht, Dieter: Die medienorientierte Inszenierung von Protest. Das Beispiel 1. Mai in Berlin, S.
www.bpb.de.
9
Ebd.
10
Rucht, Dieter: Protest und Protestanalyse: Einleitende Bemerkungen, S. 7-27 in: Ders. (Hrsg.): Protest
in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 8f.
Es ist ersichtlich: Beide Teile können sich komplementär gut ergänzen.
Meine These ist, dass Protest der Stabilität der repräsentativen Demokratie zuarbeitet, in dem
er eine Art flexible Prothese der politischen Verhandlungs- und organisationstrukturen
bietet.11
Insofern kann man auch hierarchisieren, je weniger (Möglichkeit zum) politischen Austausch
mit dem Gegner, desto stärker ist der Protest symbolisch aufgeladen. Dieser Zusammenhang
wird tendenziell abgebaut durch die Gründung von Vereinen und Verbänden, die eine stärkere
Symmetrie ermöglichen.
Es gilt jedoch, Einschränkungen zu machen:
11
12
13
14
15
-
Die repräsentative Demokratie ist allein durch Wahlen legitimiert. Denn bei der
Formulierung des Grundgesetzes besaßen die gerade im „Dritten Reich“ mit
Demagogie gemachten Erfahrungen großes Gewicht. Man nahm es lieber in Kauf,
dass sich dadurch der Unmut der Bevölkerung gegen die Politik und die Institutionen
im Ganzen richten würde, wenn sie Entscheidungen gegen die Mehrheit der Bürger
träfe.12 Die Protestierenden legitimieren sich dagegen indirekt selbst. Ihr erfolgreicher
Protest vermittelt eine moralische Überlegenheit, die wirkliche Meinung eben „des
Mannes (und der Frau) auf der Straße“ zu vertreten.13 Ihr Motto ist: David gegen
Goliath. Diese Asymmetrie kann fruchtbar sein: Wenn die Institutionen den Protest
aufnehmen oder zumindest annehmen, wir ihre Legitimität gestärkt. Diese
Asymmetrie beinhaltet potentiell aber auch immer die Gefahr der Radikalisierung:
der völligen Delegitimierung der demokratischen Institutionen. Dieses Extremum
beginnt mit Krawall und endet mit der Revolution als der völligen Umstürzung der
Demokratie.14 Eine Grauzone ist Populismus. Dieser teilt sich mit dem Protest den
Mechanismus, als Triebfeder Empörung über Missstände zu nutzen und gegen die
politischen Eliten zu mobilisieren - nach dem Muster „die da oben wissen doch gar
nichts von der Realität“. Ebenso wird er besonders von Angst befördert. Allerdings
will der Populismus keine politisch verhandelte Lösung. Er will eine schnelle und
einfache Lösung, die er als „gesunden Menschenverstand“ ausgibt. Dafür baut
Populismus auf Vorurteile und konstruiert als Feindbilder Gruppen, die in
Gegnerschaft zum "guten Volk" stehen und den dort angeblich verankerten sittlichen
und moralischen Wertvorstellungen widersprechen oder diese offen bekämpfen
wollen.15
-
Die Protestierenden finden sich zusammen, weil sie sich gemeinsam echauffieren und
sich eine bessere Zukunft erwarten. Der Protest zielt dabei nicht nur darauf ab,
Außenstehende zu beeindrucken, sondern auch die Trägergruppe des Protests enger
aneinander zu binden, sich gegenseitig der gemeinsamen „Entschlossenheit,
Vgl. dazu auch Lauth, Hans-Joachim: Dimensionen der Demokratie und das Konzept defekter und
funktionierender Demokratien, S. 33-55 in: Pickel, Gert/Pickel, Susanne/Jacobs, Jörg (Hrsg.):
Demokratie.
Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Frankfurt/O. 1997.
Poeschl, Rainer: „Glauben Sie an den Menschen?“, Das Parlament, 3. Januar 2011.
Vgl. Warneken, Bernd Jürgen: „Die Straße ist die Tribüne des Volkes.“ Ein Vorwort, S. 7-17, in: Ders.
(Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991, S.
8ff.
Vgl. TAZ, 23./24.10.2010 „170 Jahre Krawall“ Roger Repplinger.
Decker, Frank/Lewandowsky, Marcel: Populismus. Erscheinungsformen, Entstehungshintergründe und
Folgen eines politischen Phänomens, S. www.BpB.de.
-
Opferbereitschaft, Einheit, Besonderheit, Massenhaftigkeit usw.“ zu vergewissern.16
Symbole integrieren diese Gemeinschaft, in dem sie eine Identität der Interessen
behaupten. Aber kann diese heterogene Gruppe, die ggf. aus einer unübersichtlichen
Gemengelage (möglicherweise widerstreitender) Interessen entstanden ist, wirklich
eine tragfähige Alternative zu den skandalisierten Zuständen bieten?17 Indem diese
Gemeinschaft sich Symbole schafft, gemeinsam empört und selbst bestätigt,
verschleiert sie gerade auch die ausdifferenzierten politischen Interessen und kann
einer wirklich politischen Beschäftigung im Weg stehen. Es besteht die Gefahr, dass
der Eventcharakter von Protest mit Anteilen einer Show, etwas Karnevalesken
überhandnimmt. So ist beispielsweise die Verwandlung des Konterfeis von Che
Guevara zu einem Konsumartikel instruktiv, oder aber der 1. Mai als „freizeitgemäße
folkloristische Spezialofferte“18. Bestes Beispiel ist der sog. Schwarze Block:
Radikale Proteste werden von den Medien in der Regel ignoriert oder aber negativ
kommentiert. Diese medial Unterprivilegierten weichen deshalb häufig aus auf die
Störung der "öffentlichen Ordnung", um nach außen die Beachtung zu erzwingen und
zugleich die Gruppenidentität als entschlossen und unbeugsam zu bestätigen. 19 Im
Ergebnis gibt es kein politisches Ziel mehr, sondern die Gewalt ist das Ziel
Protest benötigt die Messenmedien. Infolgedessen wird die Rolle der Medien bei der
Komposition des Protests bereits mitgedacht. Der Protest wird inszeniert;
Forderungen und Formen sind immer beeinflusst von den Filtern der Medien. Protest
bringt deshalb „Pseudo-Ereignisse“ hervor, die genau darauf zugeschnitten sind, die
Interessen der Medien zu befriedigen und ohne diese niemals stattgefunden hätten.20
Studien haben ergeben, dass insbesondere Indikatoren für starken Normverstoß wie
Teilnehmerzahl und Gewalthaltigkeit oder eine interessante Form wie ein „bed in“
oder die KSA, die Aufmerksamkeit erreichen. Prinzipiell ist es deshalb einer kleinen
Gruppe mit einem Splitterinteresse möglich, ihre Ziele als Gemeininteresse zu
vermitteln, wenn ihr Protest nur spektakulär und zielgruppengerecht kommuniziert
werden kann. Populisten sind deshalb in den ökonmisierten Medien bevorteilt.
a.) Gruppen
b.) Themen
= Die Graphiken zeigen, wie gut und wie schnell die repräsentative Demokratie die
unterschiedlichsten Gruppen und Themen integriert hat.
16
17
18
19
20
Rucht, Dieter: Die medienorientierte Inszenierung von Protest. Das Beispiel 1. Mai in Berlin, S.
www.bpb.de.
Vgl. Alternative ohne Alternative. Die Paradoxie der ´neuen sozialen Bewegungen´(1986), S. 75-79 in:
Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 75.
Korff, Gottfried: Symbolgeschichte als Sozialgeschichte? Zehn vorläufige Notizen zu den Bild- und
Zeichensystemen sozialer Bewegungen in Deutschland, S. 17-37, in: Warneken, Bernd Jürgen (Hrsg.):
Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991, S. 30.
Rucht, Dieter: Die medienorientierte Inszenierung von Protest. Das Beispiel 1. Mai in Berlin, S.
www.bpb.de.
Protestbewegungen (1995), S. 201-216 in: Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale
Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 212.
Welche Proteste waren dies?
ab 1949 Protest gegen Wiederbewaffnung/1968 APO gegen Notstandsgesetze mit 300.000
Menschen in Bonn/1975 Besetzung der AKW-Baustelle Whyl/1982 Protest gegen NATODoppelbeschluss, 500.000 Protestierer in Bonn.
Außerdem: Nach den rechtsextremen Anschlägen demonstrierten 1992 15.000 Menschen in
Rostock. In ganz Deutschland wurden Lichterketten organisiert/2003 gingen 100.000ende
Menschen in Deutschland gegen den Golfkrieg auf die Straße.21
= Dabei weist die Empirie insgesamt einen ausgeprägten Trend zunehmender
Protestereignisse aus; zwischen 1950 und 1994 ergibt sich eine Verdreifachung.22
Die Bedeutung von Protest als „Prothese“ scheint also zuzunehmen. Diese These möchte ich
in einem cursorischen Längsschnitt auf die Geschichte des Protests in der Bundesrepublik und
ihre wechselnde Gestalt und jeweilige Funktion überprüfen.
Bereits kurz nach Etablierung der Bundesrepublik kam es zu vielfältigen Protesten: Damals
breit rezipiert wurde die „Befreiung“ der Insel Helgoland aus den Händen der britischer
Besatzer, die sie als Übungsziel für Bomber nutzten und den Einwohnern die Heimreise
verboten. Zwei Studenten aus Heidelberg landeten dort mit einem Boot und zugleich einen
PR-Coup, in dem sie ihre Aktion einer überregionalen Zeitung verkauften und so gezielt
Aufmerksamkeit für ihr Husarenstück schufen. Auch das Thema Atombombe trieb Menschen
um. Diese beiden Beispiele waren jedoch nur Vorläufer des Protests wie wir ihn heute
kennen, weil sie nur von Eliten getragen wurden.
Mittelschicht und Krawall des Randes
Die Geschichte des bundesrepublikanischen Protests als Massenphänomen beginnt Ende der
1950er Jahre ist Ergebnis einer zweischneidigen Entwicklung: Seit Beginn des Jahrzehnts
boomte in der Folge des Korekrieges die deutsche Exportwirtschaft und das sogenannte
„Wirtschaftswunder“ setzte ein.
Es kam zu einem „Fahrstuhleffekt“ der gesamten Gesellschaft (Ulrich Beck). Durch die
Herausbildung des Wohlfahrtsstaates lösten sich alte Sozialstrukturen auf: Zum einen jene,
die sich um den Haushaltsvorstand als Ernährer gruppierten und ihrerseits wieder abhängig
vom Arbeitgeber waren.23 Zum anderen differenzierten sich auch die Klassengegensätze aus
in Schichten und Milieus. Mit ihnen schwanden die scharfen politischen Gegensätze
zugunsten einer Institutionalisierung der Interessensgegensätze in politischen
Verhandlungsverfahren. Der Soziologe Helmut Schelsky überhöhte diese Entwicklungen gar
als Geburt einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Es gab nun eine breite Mitte der
Gesellschaft, die ökonomisch abgesichert war und Anteil an der Politik nehmen konnte und
wollte.24 Diese Mittelschicht wurde Träger des Gemeinwesens. Sie konnte sich darauf
verlassen, dass ihre Interessen von den Parteien in der repräsentativen Demokratie gehört und
anerkannt würden. Diese Entwicklung schuf jedoch auch Absteiger bzw. Ausgeschlossene am
Rand:
Die sogenannten Halbstarken waren Arbeiterjugendliche, denen eine Assimilierung an die
neuen gesellschaftlichen Formen und damit der Aufstieg nicht gelang.
21
22
23
24
Müller-Brandes, Jörg: 60 bewegte Jahre in Ost und West, Das Parlament, 3. Januar 2011.
Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter: Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1950-1994.
Ereignisse, Themen, Akteure, S. 27-71 in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik.
Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 35.
Mayer, Karl-Ulrich/Müller, Walter: Lebensverläufe im Wohlfahrtsstaat, S. 297-318 in: Berger, Peter
A./Hradil, Stefan: Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990.
Vogel, Berthold: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009, S.
133f.
Was zeichnet den Halbstarken aus?
Ihre Abstiegsängste waren Motor des Protests gegen die Ausgrenzung. Sie wurden von den
Parteien der Mitte nicht vertreten und mussten sich folgerichtig auf Gewalt stützen, um die
Wahrnehmung zu erzwingen. Die Krawalle der Halbstarken blieben eine Episode, weil der
Wohlstand in den 1960er Jahren genügend Umverteilung bot.25 Seinerzeit nahm man die
Krawalle der Halbstarken als ziellos wahr. Bei genauerer Betrachtung waren sie jedoch der
eigentliche Ursprung des Massenprotests in der Bundesrepublik.
= Sie basierten auf materieller Sicherheit einhergehend mit mangelnder politischer
Vertretung/Repräsentation.
4. Avantgarde für eine Alternative
Ende der 1960er Jahre ergab sich gerade aus dem relativen gesellschaftlichen Wohlstand ein
neuer – diesmal gerichteter Protest. Die einsetzende Bildungsexpansion zog eine eine
Verlängerung der Adoleszenzzeit v.a. durch das Studium nach sich. An diese Strukturen
lagerten sich wiederum förderliche Milieus für eine Avantgarde an.26
Es entstand eine Avantgarde. Diese erste postmaterialistisch geprägte junge Generation war
zwar abgesichert, aber sie fand sich in der Gesellschaft nicht ein und engagierte sich diesmal
für einen umrissenen alternativen Gesellschaftsentwurf.27. Weil ihr der Einfluss fehlte, brachte
sich ihren Wunsch nach einer Alternative zur konservative Regierung und der folgenden
großen Koalition als Protest gegen die repräsentativen Strukturen – eben als APO ein.
Diese Avantgarde gegen die herrschende Ordnung drückte sich symbolisch mit neuen Mitteln
aus:
„Diese Unordnung zeigte sich zum einen in der Inszenierung des Körpers. Auch Männer
trugen die Haare lang und der in den 1960er Jahren gesellschaftlich geächtete Vollbart wurde
zu einem wichtigen Erkennungszeichen für unangepasste Lebensformen. In ihrer Kleidung
kombinierten Kommunarden – inspiriert durch die Hippie-Mode – Selbstgemachtes und Altes
aus dem elterlichen Kleiderschrank oder dem Second-Hand-Laden wild durcheinander zu
einer bunten Collage aus allen erdenklichen Farben und Stilen. Mit der legeren Kleidung
wurden auch die Körperhaltungen informeller: Man saß demonstrativ entspannt und legte
Füße auf Tische, Sitzflächen und Polster.“
In intellektuellen Kreisen wurde selbst die Sprache zum Protest herangezogen, um einen
eigenständigen Habitus auszubilden. Auf die Spitze trieb es Rudi Dutschke: "Die bürgerlichkapitalistische Gesellschaft hat doch gerade ihre Stärke darin, dass jede Gruppe diskutieren
darf. Das ist eine Stärke, die wir in der Tat nicht beseitigen wollen, denn sie ist unsere Basis
unserer Arbeit und die Basis unserer Diskussion, aber aus diesem Pluralismus der Meinungen,
der ergänzt wird eigentlich durch einen Pluralismus der Oligomonopole in der
materialistischen Basis der Gesellschaft, aus dieser Gesamtheit von Pluralismen kommt nicht
notwendigerweise die Veränderung, sondern ist im Grunde die Harmonie, die Harmonie der
Repression gewährleistet."28
Der neue Protest drückte sich ebenfalls in neuen Handlungsformen aus und erzwang sich
Aufmerksamkeit der Medien von ´unten´.
25
26
27
28
Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008, S. 72f.
Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest - Grüne, Bunte und
Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 184.
Großegger, Beate: Jugend zwischen Partizipation und Protest, S. 8-12 in: APuZ 27/2010, S. 8.
Scharloth, Joachim: Revolution der Sprache? Die Sprach der 68er, S. www.BpB.de
So formulierte Peter Weiß 1968 anlässlich einer Großdemonstration gegen den VietnamKrieg in Berlin mit Stoßrichtung gegen die BILD-Zeitung: „Die Straße ist unser
Massenmedium“29
1968/69 stellte damit einen „Kulturwechsel“ dar.30 Der Protest wurde als politisches Mittel
etabliert.
Was sieht man, was leistet dies?
In der Rückschau wird unser Bild von den ins kulturelle Wissen eingegangenen Ereignissen
des Jahres 1968 verzerrt; Studierende erscheinen als DAS Trägermilieu des Protests.
Tatsächlich gaben sie den Anstoss, indem sie Probleme erkannten und in wirkmächtige
Symbole übersetzten. Der Protest verbreitete sich jedoch schnell. So zeigen die empirischen
PRODAT-Studien, dass sich ausdifferenziert nach Themen und Orten breite Teile der
Gesellschaft in den 1960er Jahren über Proteste artikulieren. Die Studierenden sind mit 7,6%
im Durchschnitt nur ein Trägergruppe, deren Bedeutung von Jugendlichen und
Arbeitnehmern weit übertroffen wurde.31
5. „Utopie wird zum Alltag“ - der Protest organisiert sich und erreicht die Mitte
In den 1970er Jahren wurde das mittlerweile anerkannte „Werkzeug“ des Protests breit
genutzt. Dies galt v.a. für das Thema Umweltschutz. Erstmals wandten sich in Folge der
Ölkrise und der Veröffentlichung des Club of Rome etc. breite Kreise von der Vorstellung
ewigen Wachstums ab, das zwar die Umverteilung ermöglichte, aber auch den Kapitalismus
immer weiter verschärfte.
Die sozialliberale Koalition konnte diese Entwicklung nicht inkooperieren. Sie hatte sich als
Alternative bezeichnet; sie hatte Erwartungen geweckt, die sie dann nicht einhielt: vgl.
„blauer Himmel über der Ruhr“, 1961, „Umweltbewusstsein“ 1971, Freiburger Thesen 1971
mit einem Abschnitt zur „Umweltpolitik“. Denn diese Ansätze unterlagen im Konflikt gegen
die ökonomischen Interessen in der Rezension.32 Mit dem einsetzenden AKW-Bau entstand
ein mächtiges Symbol für diesen Widerspruch:
die Anlagen standen für das Festhalten an Wachstum um jeden Preis, gegen die Umwelt und
gegen den Willen der Anwohner.33 Es wurde deutlich, dass nur durch Wahl zwischen den
Parteien dieses Problem nicht lösbar sein würde. In der Folge wurde nicht nur für
Umweltschutz demonstriert, sondern auch für Basisdemokratie.
Die Kombination des „Kulturwechsels“ der vielfältigen dezentralen und multithematischen
Wurzeln und dieses mächtigen Symbols erklärt das rasche Wachstum des alternativen
Milieus.
29
30
31
32
33
Warneken, Bernd Jürgen: „Die Straße ist die Tribüne des Volkes.“ Ein Vorwort, S. 7-17, in: Ders.
(Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991,
S. 7.
Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter: Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1950-1994.
Ereignisse, Themen, Akteure, S. 27-71 in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik.
Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 35.
Hocke, Peter: Protestieren nur die Studenten? Ein Vergleich mittelgroßer Städte in der ´alten´
Bundesrepublik, S. 211-241 in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und
Entwicklungen, Frankfurt 2001.
Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest - Grüne, Bunte und
Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 44f.
Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest - Grüne, Bunte und
Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 40f.
Bis zu 20.000 Initiativen mobilisierten 12 Mio. Menschen – mithin 4-5mal so viele Personen
wie die Volksparteien an Mitgliedern aufwiesen.34 Aus diesem riesigem Potential und der
Notwendigkeit der Koordination heraus institutionalisierte sich der Protest zunehmend. Es
wuchsen regelrechte alternative Strukturen:
freie Republik Wendland
Beispielsweise riefen 5.000 Besetzer am 3. Mai 1980 in Trebel die freie Republik Wendland
als selbstverwaltetes Gemeinwesen ohne Atomkraft aus. Es wurde ein Dorf mit 100 Hütten
erstellt; man gab eigene Pässe aus bis die Polizei am 4. Juni 1980 mit schwerem Gerät den
Platz räumte und alles schliff.35
Die alternativen Ideen setzten sich nicht durch: Ein kleiner Teil der Bewegung verlagerte sich
daraufhin von Protest auf Gewalt. Die Ausschreitungen um das AKW Brokdorf wurden zum
Symbol einer neuen Form des zunehmend militanten Protests.36 Die radikalisierte RAF stieg
gar ganz aus der Gesellschaft aus, um im deutschen Herbst gegen das „Schweinesystem“ zu
kämpfen. Der weitaus größere Teil etablierte jedoch im Bestehenden ein stetig wachsendes
alternatives Milieu mit hohem Protestpotential.37 Träger waren Post-68er, durch die
sozialliberale Politik gut ausgebildet, aber dennoch mit schlechteren Lebenschancen als die
Eltern ausgestattet, insofern von den Sozialdemokraten nachhaltig enttäuscht.38 Rudi
Dutschke forderte die Mitstreiter auf, gemeinsam den Marsch durch die Institutionen zu
wagen, um die Gesellschaft nachhaltig zu übernehmen. Zum Ende der Dekade wurden die
Inhalte des Protests über die Gründung der GRÜNEN in das tradierte System der
repräsentativen Demokratie überführt. So wuchsen die Projekte. Waren 1980 noch 80.000
Aktivisten in 11.500 Projekten engagiert, zählten diese 1986 bereits 200.000 Aktivisten in
18.000 Projekten.39 Sie schrieben eine Symbolik des Alternativen ins kulturelle Gedächtnis
ein und verliehen dem eigentlich kurzfristigen Protest eine sinnstiftende Kontinuität.40
Der Protest trug zu einem wirklichen Wertewandel, einer friedlichen Erneuerung der
Gesellschaft bei, in dem die alternative Sinnsuche und Anmahnung den Mainstream um die
Themen Umwelt, Konsum, Integration und Genderfragen erweiterte.41 Im selben Maße, wie
die jungen, empörten Akademiker Karriere machten, setzten sie ein neues Koordinatensystem
durch.42 Der Protest selbst und seine Themen eroberten langsam die Mitte der Gesellschaft.
Man kann dies sehr eindrucksvoll an einem Beispiel sehen: Die Pop-Musik galt in den 60er
Jahren noch als revolutionär, als Stil der Revolte. Mittlerweile ist sie selbst der Mainstream
34
35
36
37
38
39
40
41
42
Kailitz, Susanne/Kottra, Kata: „Demokratie ist anstrengend“ Dorothee Bär und Bernd Guggenberger
im Interview, Das Parlament, 3. Januar 2011.
Kaul, Martin: „Wenn Utopie zum Alltag wird“, TAZ, 5./6.6.2010.
Balistier, Thomas: Straßenprotest in der Bundesrepublik Deutschland. Einige Entwicklungen,
Besonderheiten und Novitäten in den Jahren 1979 bis 1983, S. 257-282 in: Warneken, Bernd Jürgen
(Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991,
S. 274.
Siegfried, Detlef: John Lennons Tod und die Generationswerdung der „68er“, S. 12-20 in: APuZ
27/2010, S. 16.
Walter, Franz: Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in
Deutschland, Bielefeld 2010, S. 75.
Nutt, Harry: „Wie wir wurden was wir sind. Von der Kommune zur alternativen Umzugsfirma: Die
Rolle des alternativen Milieus“, FR, 5.11.2010.
Vgl. Protestbewegungen (1995), S. 201-216 in: Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale
Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 211.
Kaul, Martin: „Wenn Utopie zum Alltag wird“, TAZ, 5./6.6.2010.
Walter, Franz: Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in
Deutschland, Bielefeld 2010, S. 88.
und völlig auf die Bedürfnisse der Vermarktung strukturiert. Als John Lennon; ein früherer
Gegen-Held, 1980 ermordet wurde, belegten seine Hits plötzlich die ersten Plätze der Charts;
es erschienen viele Bücher und gar Poster in der Bravo. So zeigte sich deutlich, wie die Subzur Massenkultur geworden war – eben dieser John Lennon war auch der kleinste
gemeinsame (musikalische) Nenner der deutschen Friedensbewegung. Seine Lieder
untermalten die Massenproteste.43
6. „Alternativlos“ - Von der Prothese zur Konkurrenz?
Die Kulturgeschichte des Protests in der Bundesrepublik lässt sich bis zu diesem Punkt als
Erfolgsgeschichte der Modernisierung der Demokratie durch Protest lesen. Gefährliche
Extreme wurden unschädlich gemacht, in dem ausgegrenzte Interessen über die Prothese
Protest immer wieder ins System aufgenommen wurden. Entsprechend war in der Frankfurter
Rundschau zu lesen, dass S21 Endpunkt einer Entwicklung seit 1968 wäre: Die APO habe
noch „nicht nur außerhalb des Parlaments, sondern auch außerhalb der bürgerlichen
Gesellschaft“ gestanden, mittlerweile wollten jedoch die Bürger selbst mitregieren. Somit
seien zwar die Ideologien von 1968 passee, es ginge nicht mehr um die große Alternative,
sondern um konkrete Probleme - aber der Proteststil bleibe gültig.44
Ich bin skeptisch:
Die gegenwärtigen Proteste sind sowohl in ihrer Form, als auch in ihrer Zielsetzung sehr
differenziert zu betrachten. Im Gegensatz zu früher ist auch nicht gesichert, ob sie der
repräsentativen Demokratie weiterhin als eine Art Prothese dienen und für eine
Weiterentwicklung stützen, oder ob sie gar eine Gefahr darstellen.
a.) Protest ist als Mittel eingeübt und anerkannt. Es gibt zudem einen riesigen Fundus von
Symbolen, die im kulturellen Gedächtnis gespeichert sind und genutzt werden können.
Durch die neuen Medien, die Organisation und Verbreitung sehr stark vereinfachen,45
steht zudem ein langer Hebel für den politischen Gebrauch bereit.
b.) So weit so gut. Aber Träger, Motiv und Inhalte haben sich verändert. Im Gegensatz zu
früher sind die Proteste nicht mehr Ausdruck eines alternativen politischen Entwurfs,
der von einer unterprivilegierten Avantgarde an die Mehrheitsgesellschaft
herangetragen wird.
Es fehlt das verbindende gesellschaftliche Widerlager und die Idee einer Alternative.
- Zwar währt der Protest gegen das Atommüllendlager in Gorleben bereits 34 Jahre und
ist bis in die dritte oder vierte Generation tradiert worden - für die bildliche
Vorstellung: Jeder einheimische Protestierer ist schon mindestens einmal verprügelt
worden. Auf diese Weise sind Verhalten und Symbole ins kulturelle Gedächtnis
eingeschrieben. Aber der Protest ist zugleich ritualisiert als „an der Oberfläche einer
Kirmes nicht unähnlich – nur dass die Bierzelte fehlen und die Marketender auf der
zentralen Protestveranstaltung Ökostrom, die grüne Partei und Bio-Apfelsaft
verkaufen wollen“.46
- „Alternativ“ ist kein randständiges Trägermilieu mehr, sondern eine Marke für die
Mitte wie die Gentrifizierung zeigt. Künstlerkolonien und Besetzer werten mit linkem
43
44
45
46
Siegfried, Detlef: John Lennons Tod und die Generationswerdung der „68er“, S. 12-20 in: APuZ
27/2010.
Schlaffer, Hannelore: „Von 1968 bis heute“, FR, 23./24.10.2010.
Goddar, Jeannette: „Weithin akzeptierte Form“, Interview mit Dieter Rucht, Das Parlament, 3. Januar
2011.
Unfried, Peter: „Die Rebellion der Bürger“ TAZ, 8.11.2010.
-
Chic ein Viertel auf und machen es als Renditeobjekt interessant. Schon bald hält das
„Bionade-Biedermeier“ Einzug und verdrängt die alten Bewohner.47
Und die einstige Anti-Parteien-Partei die Grünen ist mittlerweile eine Partei wie alle
anderen auch.48 Beim Marsch durch die Institutionen wurden nicht nur diese, sondern
auch die Marschierenden verändert.49 Der Anteil der Materiallisten unter den GrünenWählern hat stark zugenommen: von 1983-1998 von 6 auf 20%, zugleich sank der
Anteil der Postmaterialisten von 60 auf 30%. Im Ergebnis berufen sich GrünenWähler auf linke Werte, unterstützen aber faktisch gemäßigt konservative Politik!50
Entsprechend sieht der Protest aus: Bei S21, Schulreform und Sarrazin-Debatte geht es nicht
um alternative Entwürfe der Gesellschaft; es sind keine Unterprivilegierten, die aufbegehren.
Diese Proteste sind Zeichen eines fehlenden, grundlegenden Vertrauens der Arrivierten in die
repräsentative Demokratie, die Parteien und die Institutionen. Protest ist nicht mehr per se ein
Vehikel des gesellschaftlichen Forstschritts mehr wie insbesondere der Volksentscheid gegen
die von allen Parteien getragene Schulreform in Hamburg eindrucksvoll zeigte.
Wer ist das?
Im eigentliche Sinne alternativer Protest wird seit den 1990er Jahren v.a. von den Vertretern
der neuen Rechten formuliert, die sich die Vermittlungsstrategien und Symboliken der Linken
für ihre Zwecke einer „konservativen Revolution“ zu eigen gemacht haben - vgl. dazu bspw.
„Altermedia“ und Junge Freiheit. Ihnen kommt zum einen die Einübung und Ästhetisierung
des Protests zugute.51 Zum anderen mangelt es nicht an populistisch ausbeutbaren Themen,
wie Einwanderungspolitik, Kriminalitätsbekämpfung oder Kritik an der Europäischen Union,
die von den Mainstream-Parteien nicht ausreichend bearbeitet bzw. symbolisch kommuniziert
werden.52
Wie konnte es zu einer derartigen Veränderung des Protests kommen? Es hat den Anschein,
dass die repräsentative Demokratie sich verändert hat und als Folge auch der Protest, der sich
schließlich immer auf sie bezieht. Colin Crouch hat hierfür die These der Postdemokratie
eingeführt: Danach steuert hinter der Fassade formeller Abläufe und Institutionen tatsächlich
eine Elite die Demokratie. Sie stützt sich darauf, dass die wichtigsten Entscheidungen nicht
mehr als Ergebnis eines öffentlichen Streits um Alternativen getroffen werden. Schröder
begründete die Agenda2010 mit „der Globalisierung“, Merkel bezeichnet ihre Politik gleich
ganz als „alternativlos“. Weil die Parteien keine klar unterscheidbaren, strategischen
Konzepte mehr anbieten, wenden sich die Menschen von der Politik ab und mischen sich
nicht mehr ein.53 Sie sind enttäuscht von Parteien, die nach der Finanzkrise die Märkte nicht
eingehegt haben, sondern stattdessen im großen Stil öffentliche Mittel für die Banken
aufgewendet haben. Sie sind enttäuscht über die soziale Marktwirtschaft, die unter dem
47
48
49
50
Sußebach, Henning: „Bionade-Biedermeier“, Die Zeit, 8.1.2009.
Dies ist bedingt durch die Transformation beim Übergang Bürgerinitiative zu Partei, durch die sich
eine starre Organisation mit vorgegebenen Vorgehensweisen, die Konkurrenz zu anderen Parteien und
Gruppen, die Auseinandersetzung mit vielen´Themen und die Spiegelung der Konflikte in die
Initiativen ergeben. Vgl. Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest –
Grüne, Bunte und Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 164f.
Schwarze, Johannes: Geschichte, Ideologie und Programmatik der Grünen, München 1999, S. 9.
Falter, Jürgen W./Klein, Markus: Der lange Weg der Grünen, München 2003, S. 174.
51
52
53
Decker, Frank/Lewandowsky, Marcel: Populismus. Erscheinungsformen, Entstehungshintergründe und
Folgen eines politischen Phänomens, S. www.BpB.de.
Mouffe, Chantal: „Postdemokratie“ und eine zunehmende Entpolitisierung, S. 3-5 in: APuZ, 1-2/2011,
S. 3f.
Primat der Wirtschaft steht, in der der Staat auf dem Rückzug ist und die Gesellschaft sich
zunehmend teilt.54 „Alternativlos“ wurde nicht umsonst Unwort des Jahres 2010. Und
schließlich ist die Mittelschicht der Gesellschaft durch den Raubbau am Wohlfahrtsstaat
bedroht, der eine große Bedeutung für eine breite Beteiligung an der Demokratie zu kommt.
Denn: „Neuere Beteiligungsformen setzen ein hohes Kompetenzniveau (…) voraus. (…)
[Dazu kommt: der Verf.] Stark polarisierte Lebenschancen und ein weit verbreitetes
Ungerechtigkeitsempfinden in einer Gesellschaft reduzieren das Vertrauen der Menschen
untereinander, was zu einer geringeren Bereitschaft führt, sich für die Allgemeinheit zu
engagieren.“ Kurz gefasst: „Politische Beteiligung steigt mit der Verfügbarkeit über Bildung,
Einkommen und Kompetenzen.“55 Im Ergebnis geben die Menschen bei Umfragen zwar an,
dass sie zufrieden mit der Demokratie seien. Bei konkreten Problemen trauen sie jedoch den
Politikern kaum mehr etwas zu.56 Die Parteien bluten aus und die vormals staatstragenden
Bürger verhalten sich als eine Art außerparlamentarischer Opposition, die sich anschickt, „das
Monopol einer parteipolitischen Kaste [zu, d. Verf.] brechen.57
Gesellschaft für deutsche Sprache Wort des Jahres 2010?
1 Wutbürger
2 S21
3 Sarrazin-Gen
6 Schottern
Ohne eine tragende Schicht und ihr Engagement kann die Mechanik der Demokratie, wie sie
seit Dekaden in der Bundesrepublik eingeübt ist, jedoch nicht mehr funktionieren. Deshalb
hat sich der Protest verändert. Der Philosoph Honneth beklagt sich zu Recht über „Tendenzen
einer Verwilderung des sozialen Konfliktes“, weil die moralischen Grundfesten der
Gesellschaft schon seit langem erodiert sind.58 Obwohl eigentlich Jugendkultur und Protest
gegen die Werte und Konventionen der Gesellschaft oft synonym verwendet werden, ist die
Lebenswelt der aktuellen Generation von Jugendlichen der Politik weitgehend entfremdet.
Jugendkultur schafft keine Trägermilieus, sondern im Gegenteil hedonistisch geprägte auf
Konsum fixierte, apolitische Enklaven.59 In den 60ern hatten sich die Generationen
entfremdet. Die Jugend begehrte auf, veränderte die Gesellschaft ein Stück weit und
integrierte sich dabei. Heute ist die Jugend eher affirmativ; es hat sich ein Großteil der Bürger,
also der eigentlich tragenden Schicht, von der Politik entfremdet (Zahlen!). Diese Menschen
machen keinen Marsch durch die Institutionen mehr. Die wirklichen Protestierer z.B. in
Stuttgart sind keine Jugendlichen’; Protest ist der Hebel des vom Spiegel hämisch
„Wutbürger“ Getauften, der „konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung“ ist. Er ist aber
v.a. nicht mehr staatstragend, sondern empört sich über die Unfähigkeit „der Politik“ und
ihrer Institutionen.60
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55
56
57
58
59
60
Vogel, Berthold: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009, S.
286ff.
Böhnke, Petra: Ungleiche Verteilung politischer Partizipation, S. 18-25 in: APuZ, 1-2/2011, S. 20f.
Goddar, Jeannette: „Weithin akzeptierte Form“, Interview mit Dieter Rucht, Das Parlament, 3. Januar
2011.
Geis, Mathias: „Wir“ und „Die“, Das Parlament, 3. Januar 2011; Unfried, Peter: „Die Bürger möchten
das Monopol einer parteipolitischen Kaste brechen“ Interview mit Peter Weibel, TAZ, 29./30.1.2011.
Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert, S. 37-45 in: APuZ, 1-2/2011.
Großegger, Beate: Jugend zwischen Partizipation und Protest, S. 8-12 in: APuZ 27/2010, S. 8f.
Kurbjuweit, Dirk: Der Wutbürger, Der Spiegel 41/2010.
An diesem Punkt ist Protest keine Prothese der repräsentativen Demokratie mehr, sondern
eine Erosionserscheinung. Die Protestierenden wollen nicht mehr symbolisch auf ihr
Anliegen aufmerksam machen, sondern sie wollen direkt in die Politik eingreifen, ohne
freilich Lösungen zu diskutieren.
Der Protest ist nicht mehr Beginn einer politischen Auseinandersetzung, sondern ihr Gegner.
Daraus ergeben sich große Gefahren des Protests.
- Das bereits angesprochene Beispiel der Hamburger Schulreform zeigte, wie eine Elite
den Protest für sich nutzen kann, um ihre Interessen gegen die durch die Wahlen
legitimierten repräsentativen Vertreter der Mehrheit durchzusetzen. Die einfache
Bevölkerung wurde abgekoppelt. Dieses Beispiel ist typisch. Die Forschung weist
darauf hin, dass gerade die Unterschicht von ihrem Wahlrecht wenig Gebrauch macht,
weil bei Verfahren direkter Demokratie die Hemmschwelle zu hoch ist.61
- Auch kann sich durch Protest der Fokus vom Gemeininteresse zugunsten
kurzfristiger, lokaler Interessen verlagern. So wissen alle Bürger, dass man für die
gewünschten regenerativen Energien einen Ausbau der Netze benötigt, dennoch
möchten viele kein Kabel in der Nähe ihres Hauses dulden. Gegen Atomkraft
demonstrieren viele, für eine nachhaltige Alternative nicht Fernziele wie eine
Nachhaltige Gesellschaft können aus dieser Perspektive nicht angegangen werden,
weil sie eine grundlegende Verhandlung der Teilinteressen für ein übergeordnetes Ziel
erfordern.
- Hinzu kommt eine antidemokratische Tendenz. In den USA macht die Tea Party
Furore, ein sehr instruktives Beispiel für eine mächtige Protestbewegung, die sich
allein aus Abstiegsängsten der Mittelschicht speist. Dieses Phänomen setzt die
Parteien stark unter Druck, weil sie keine Alternative anbietet, mit der man umgehen
kann, dafür aber ein überlautes „Dagegen“.62 Wer dies für eine Primitivität hält, die in
Deutschland nicht möglich wäre, der muss nur einen Blick in die Feuilletons der
Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung werfen. Dort huldigt man
dem Buch „der kommende Aufstand“ (anonym), in dem unter Berufung auf Carl
Schmitt und Heidegger dazu aufgerufen wird, das Gewaltmonopol des Staates zu
brechen, und den „Ausnahmezustand“, der Demokratie, Marktwirtschaft und
Rechtsstaat aushebelt, herbeizuführen. Die Demokratiestützer werden dagegen als
„Fanatiker der Prozedur“ diffamiert, die Parlamente dienten nur dem „Palaver“.63
- Eine problematische Entwicklung zur Gewalt gibt es aber genauso auf der linken
Seite des politischen Spektrums: Einerseits erreichte die Anti-AKW-Bewegung einen
höheren Mobilisierungsgrad: „Wer früher mit der Bewegung sympathisierte, aber
trotzdem zu Hause blieb, geht heute zur Demo. Wer dort schon mal war, ist jetzt
Sitzblockierer.“ Aber es fehlt die Perspektive des Protests. Der Vorsitzende der
Bürgerinitiative Umwelt Lüchow-Dannenberg empörte sich denn auch öffentlich:
„Wir haben den Glauben an die Regierungen verloren“. In der Folge wurden auch hier
Grenzen überschritten; Symbol der Qualitätsveränderung wurde das sogenannte
„Schottern“, bei dem die Grenze von Protest zu Gewalt bewusst überschritten wurde.64
Protest verliert die Funktion, eine politische Alternative aufzuzeigen und ist nur noch
überlaute Beschwerde, wird zum Ausdruck einer „Radikalisierung der Mitte“ gegen die
repräsentative Demokratie. Diese Entwicklung richtet sich v.a. gegen die Parteien und schafft
61
62
63
64
Järke, Dirk: Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, S. 13-18 in: APuZ, 1-2/2011, S. 15.
Rogge, Joachim: Wenn die Regierung ihre Bürger fürchtet, Das Parlament, 3. Januar 2011.
Thumfart, Johannes: „Fast wie Gas“, TAZ 23.11.2010.
TAZ, 8.11.2010 „Massenhafte Selbstermächtigung“, Martin Kaul.
einen Innovationsdruck. Zwar benötigt man Parteien weiterhin, weil sie über die
Alleinstellungsmerkmale verfügen, übergeordnete Interessen zu diskutieren und dauerhaft
über das kurzweilige Medieninteresse des Protests hinaus zu vertreten.65 Aber ganz
offensichtlich müssen die Parteien wieder alternative politische Lösungen aufzeigen. Denn
Protest ist immer groß, wenn Politik keine Alternaiven bietet. Das galt für die große Koalition
der 60er, genauso wie für „Alternativlosigkeit“ der Mitte-Parteien heute. Die
Erfolgsgeschichte der grünen zeigt: Organisationsform und Art des politischen Wettstreits
zwischen den Parteien bestimmen, in wieweit Protest von Altparteien aufgenommen werden,
oder sich neue Parteien gründen.66 Es ist also in der heutigen Situation möglich, dass eine
extreme Dagegen-Partei Erfolge feiert. Die Nachbarländer mit ihren rechtspopulistischen und
Europa-feindlichen Populisten geben die Richtung vor.
Dieser Zusammenhang wird noch schwerwiegender, wenn man sich bewusst macht, dass der
gesellschaftliche Grundkonsens in der festen Erwartung einer besseren Zukunft, getragen von
stetem Fortschritt und Wachstum bestand und (noch) besteht. Vor diesem Hintergrund
erschienen die bestehenden Ungleichgewichte als Reliquien, die schon bald automatisch
überwunden würden. Reflektierte Überlegungen zu Gerechtigkeit und Umverteilung wurden
nicht angestellt, solange feste Zuversicht auf eine Verbesserung herrschte. 67 Die
Lebensverhältnisse der meisten Menschen sind jedoch bereits seit Jahren von der Entwicklung
der Wirtschaft abgekoppelt worden; die Reallöhne sinken und die Mittelschicht erodiert. Im
Hinblick auf die zu erwartende Ressourcenknappheit der Zukunft sind harte
Verteilungskämpfe wahrscheinlich. Die Thesen Sarrazins, oder auch Sloterdijks mit ihrer
inhärenten Systematik von Leistungsträgern und Heloten, lassen sich als Vorboten verstehen.
Gerade jetzt braucht es ein Werkzeuge, um die Menschen wieder zu integrieren, damit sie ihre
Interessen demokratisch verhandeln und sich gerade nicht von „der Politik“ abwenden.
Was kann man tun?
Wir benötigen als Grundlage für alle zu nennenden Maßnahmen eine Veränderung der
politischen Kultur überhaupt: Es muss möglich sein, in einer echten, offenen politischen
Auseinandersetzung kooperativ zu Lösungen zu kommen, in dem man sich über
gemeinsame normative Grundlagen und abgeleitete Bewertungskriterien klar wird.68
Dann können klare politische Profile statt der Jagd nach der Mitte für den Machterhalt
wieder Vertrauen in die Parteien schaffen.
Ebenfalls offensichtlich können die Parteien von den sozialen Bewegungen viel lernen
über die Einbindung von Unterstützern und die Organisation offener, projektbezogener
Strukturen, die der heutigen Lebenswelt angemessen sind. Es sollten gezielt
komplementär neue Verfahrensweisen wie runde Tische, Meditation, NGOs,
Expertengremien etc einbezogen werden.69
Darüber hinaus gilt es, die für die repräsentative Demokratie fruchtbare Dimension des
Protests wieder zu stärken, indem direkter Demokratie ein institutionelles Gewicht
gegeben wird. SPD-Chef Gabriel will Menschen stärker an politischen Entscheidungen
beteiligen, in dem Volksentscheide künftig zu allen Gesetzen und Entscheidungen
(außer dem GG) ermöglicht werden, die der Bundestag verabschiedet.70
65
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67
68
69
70
Vgl. Böhnke, Petra: Ungleiche Verteilung politischer Partizipation, S. 18-25 in: APuZ, 1-2/2011, S. 25.
Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest - Grüne, Bunte und
Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 11.
Vogel, Berthold: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009, S.
166.
Ueberhorst, Reinhard: Politischer Streit als kooperative Findekunst, S. 24-28 in: NG/FH 3 (2011).
Järke, Dirk: Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, S. 13-18 in: APuZ, 1-2/2011, S. 14.
Mitteldeutsche Zeitung, 9.3.2011.
Die Teilhabe breiter Schichten an der Demokratie muss gewährleistet werden.
Grundlage ist die „Universal Declaration of Human Rights“ der UN von 1948. Dort
heißt es in §22: Jeder Mensch als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale
Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale
Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel des
Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner
Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu
gelangen.“ D.h. jeder hat pauschal ein Recht auf Teilhabe, um die Gesellschaft eines
Staates zu integrieren.71
71
Vogel, Berthold: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009, S.
59ff.
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