Verschiedene Beispiele für Proteste Protest ist allgegenwärtig. Über die Medien wurde der Streit um den - zugegebenermaßen recht teuren - Umbau eines Regionalbahnhofs als Menetekel auch nicht wenig zelebriert. Aber die Anti-AKW-Menschenkette hatte da längst bewiesen, dass sich in Deutschland 120.000 Menschen zum Protest aufbieten lassen. Und flankiert wurden diese Großereignisse über das Jahr von vielen kleinen und mittleren Protesten aller Couleur und vielschichtiger Form – von den Gegnern der Hamburger Schulreform bis hin zu den Internetprotesten in der Causa Guttenberg. Es ist also wirklich etwas dran am Protest: Sehr viele Menschen beteiligen sich und häufig zeitigt der Protest erstaunliche Wirkung. In Stuttgart wurde ein aufwendiges Schiedsverfahren initiiert, die Schulreform in Hamburg wurde gegen den Willen aller Parteien im Parlament gekippt, Guttenbergs Rücktritt vom Rücktritt erscheint nur noch als Frage der Zeit. Die Bewertung von Protest ist jedoch erstaunlich zwiespältig. Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich entschieden: Demonstrieren geht über Konsumieren. Auch privatisierte öffentliche Orte wie z.B. Flughäfen sind für Demonstrationen freigegeben, weil die ökonomische Interessen der Betreiber nicht so stark wie die Bedeutung der Demonstration für die Demokratie wiegen.1 Demgegenüber werden z.B. die Grünen vom politischen Gegner gern als „Dagegen“-Partei verunglimpft, oder Protestierende als egozentrische „Wutbürger“ diffamiert, die der notwendigen Modernisierung Deutschlands entgegenstünden. Zugespitzt steht dahinter ein Kampf um die moralische Deutungshoheit: Wer vertritt wirklich das Interesse der Mehrheit? Sind es die gewählten Vertreter der Parteien in den Parlamenten oder sind es die protestierenden Bürger auf der Straße? Die Geschichte der repräsentativen Demokratie ist eng mit der Entwicklung des Bürgertums als Trägergruppe verbunden. Im 19. Jahrhundert setzte das Bürgertum seine politische Mitbestimmung in den entstehenden Nationalstaaten durch und schuf zugleich eine Reihe öffentlicher Veranstaltungsformen, um diese Gemeinschaft zu stärken – Feste und Versammlungen mit einem genau geregelten Ablauf und affirmativem Charakter einer Jubelkulisse.2 Bis in das frühe 20. Jh. wurden die Unterschichten dagegen z.B. durch Zensuswahlrecht lange von einer angemessenen politischen Mitbestimmung ferngehalten. Ihr Ausdrucksmittel war der Protest auf der Straße – insbesondere zum 1. Mai.3 Diese beiden Traditionsstränge lagen dann in der Weimarer Republik nicht mehr nur parallel, sondern vermischten sich. Im selben Maße, wie die Arbeiter beteiligt wurden – indem sie das volle Wahlrecht erhielten, übernahm die Arbeiterbewegung die affirmativen Mechanismen des Protests. Ein gutes Beispiel ist die Ausgestaltung des 1. Mai: Daraus entwickelte sich parallel zur Einbindung der Arbeiterbewegung in die politische Verantwortung ein wiederkehrender Protest mit fester Choreographie und fester Trägergemeinschaft, der ritualisiert die früheren Proteste ins Gedächtnis rief und zugleich die Möglichkeit gab, Stellung zu aktuellen Problemen zu nehmen. In der DDR wurde der „Protest“ zum 1. Mai gar staatstragendes Ritual. Dieses kleine Beispiel verdeutlich: Protest entsteht aus einem Missverhältnis von politischem Anspruch einer Gruppe und ihren tatsächlichen Möglichkeiten in den Strukturen des Gemeinwesens; Protest ist eine fluide Form, bei Erfolg löst er sich auf, bei längerem Andauern hat er die Tendenz, sich zu institutionalisieren und die bestehenden Strukturen einzufließen, um die Wert-Koordinaten des Gemeinwesens zu verschieben. 1 2 3 Südwest Presse: Kommentar zum Demonstrationsrecht, 22.02.2011. Vgl. Andresen, Knud: Schleswig-Holsteins Identitäten, Neumünster 2010. Vgl. Goddar, Jeannette: „Weithin akzeptierte Form“, Interview mit Dieter Rucht, Das Parlament, 3. Januar 2011. Nun ist der 1. Mai heute kein gesellschaftliches Großereignis von Rang mehr, bei dem eine Großgruppe ihre Interessen zum Ausdruck bringt. Die heutige Gesellschaft ist ungleich komplizierter, nicht mehr in starre Klassen gegliedert, sondern in verschiedenste Milieus und durch multiple Identitäten geprägt. Entsprechend ist auch Protest heute vielschichtig. Die Wirksamkeit ist unstrittig, aber: Was ist Protest eigentlich: was verbindet so verschiedene Formen von Menschenkette bis Flashmob? Und welche Funktion, welchen Nutzen und welche Gefahren hat Protest in unserer repräsentativen Demokratie? Wie definiert sich Protest? Protest leitet sich vom lateinischen „pro testari“ als für „etwas einstehen“ her.4 Die Forscher Hocke/Ohlemacher/Rucht definieren Protest als eine „kollektive, öffentliche Aktion nichtstaatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist.“5 Dieser Zusammenhang ist recht komplex, wenn man ihn in die notwendigen Schritte zerlegt: - Es muss zunächst eine erhebliche Unzufriedenheit vorliegen. Politik bedeutet die Entscheidung zwischen Alternativen. Wird diese Entscheidung gegen den Willen eines wesentlichen Teils der Bevölkerung getroffen, oder eine Entscheidung als ´alternativlos´ verklärt, dann fehlt die Legitimation. In einer repräsentativen Demokratie ist der für Abhilfe zu gehende Weg geregelt. Aus einem trifftigen Grund kommt dieser jedoch nicht in Frage. Eine Möglichkeit ist, dass sämtliche Parteien sich einig sind, wie in Hamburg in Sachen Schulreform geschehen, und dadurch keine politische Alternative vorhanden ist. Zu diesem Komplex muss noch ein Anlass treten, diesen Unmut zu zeigen. Protestbewegungen entstehen in der Regel aus den Ängsten der Menschen, d.h., sie sind stark emotionalisiert.6 Immerhin muss der Protestierende Energie aufbringen; er ist sich zudem im Klaren darüber, dass er auf Widerstände treffen wird. Und schließlich muss in der Regel der Protest gegen etwas auch mit einer Alternative, durch die es ersetzt werden kann, hinterlegt werden. Trifft diese Situation auf mehrere Individuen zu, müssen sie sich koordinieren, um als Gruppe aufzutreten und asymmetrische Strukturen außerhalb der repräsentativen Demokratie aufzubauen. Es wird zum einen ein tragfähiges Konzept benötigt - und in der Regel Geld. Auf dieser Einsicht basieren Institutionen wie z.B. ATTAC. Zum anderen muss auch optisch eine Gemeinschaft suggeriert werden - auch wenn Teilinteressen nicht deckungsgleich sind und vermutlich auch die Zukunftsprojektionen nicht. Es müssen deshalb gemeinsame Symbole entwickelt 4 5 6 Rucht, Dieter: Protest und Protestanalyse: Einleitende Bemerkungen, S. 7-27 in: Ders. (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 9. Rucht, Dieter: Protest und Protestanalyse: Einleitende Bemerkungen, S. 7-27 in: Ders. (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 19. Umweltrisiko und Politik (1990), S. 160-175 in: Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 169. werden, um die Masse zu integrieren. Hierbei zeigt sich eine große Bandbreite von der Art der Kleidung bis hin zu einer spezifischen Art zu reden.7 Dieser Gruppe muss es wiederum gelingen, Aufmerksamkeit zu erlangen. Damit ist nicht nur der politische Gegner gemeint. Vielmehr suchen die Protestierenden die Aufmerksamkeit - und möglichst auch Zustimmung - des breiten Publikums. Erst über die Berichterstattung der Massenmedien, insbesondere von Tageszeitungen, Radio und Fernsehen, wird ein Protest für große Teile der Bevölkerung überhaupt wahrnehmbar und in diesem Sinne "existent".8 Das funktioniert am effektivsten darüber, ihren Protest mit einem Nachrichtenwert zu versehen. Nach der Nachrichtenwerttheorie (Galtung, Johan/Ruge, Marie) sind dafür die Faktoren räumliche Nähe, Kontroverse, Schaden, Elitenbeteiligung, Überraschung, Personalisierung und hohe Reichweite zu berücksichtigen. Die Unterschriftenaktion von Doktorranden gegen Guttenberg zeigt den möglichen Erfolg von Protest, wenn mehrere Aspekte sich beispielhaft verzahnen. Beispielhaft ist der offene Brief einiger Doktorranden in der Causa Guttenberg, der über das Internet verbreitet 50.000 Unterstützer und die Erwähnung in Zeitungen und Tagesschau fand. Die Massenmedien übernehmen dabei aber keineswegs einfach die Funktion eines Verstärkers. Sie berichten niemals neutral, sondern betonen bestimmte Teile und bewerten die Aktion, ordnen sie in einen größeren Kontext ein.9 Dabei ist auch die Rezipientenseite einzubeziehen, will man Erfolg haben. Es reicht nicht einfach, dass das eigene Ansinnen in der Zeitung auftaucht. Die Aussage muss auch nachvollziehbar sein, im Rahmen des normalen als vernünftig ansehbar sein. In diesem Kontext steht beispielsweise die große Bedeutung der Frage, ist der Protest gewaltfrei oder nicht. Die Anwendung von Gewalt diskreditiert einen Protest schnell in der Gesellschaft.10 a.) Standardverfahren in der repräsentativen Demokratie b.) Noch einmal durchklicken, wie das System als „Prothese“ wirkt = Mehrfach gefiltert durch den Aufwand und die symbolische Vermittlung tritt nur Protest in die Öffentlichkeit, der das Anliegen einer offensichtlich relevanten Gruppe trägt. Dabei schafft Protest asymmetrische Strukturen, um ein Problem bzw. den Lösungsansatz für ein Problem wieder in die repräsentative Demokratie einzuspeisen und dabei zugleich den motivierenden emotionalen Überschuss in geordnete Bahnen zu lenken. Parteien haben ihre Struktur komplett auf die Institutionen der Demokratie hin entwickelt: Sie entwickeln und verfolgen langfristige Programme, sie vermitteln Personal in Funktionen und orientieren sich dabei am mehrjährigen Wahlturnus. Protest ergibt sich dagegen aus aktuellen Missständen und ihrer emotionalen Aufladung, ist beweglich der Situation angepasst und nicht auf Dauer, sondern auf die Lösung des spezifischen Problems angelegt. Die Protestbewegung selbst kann keine Politik machen, sie kann nur dem politischen Apparat Anreize schaffen. 7 Vgl. Warneken, Bernd Jürgen: „Die Straße ist die Tribüne des Volkes.“ Ein Vorwort, S. 7-17, in: Ders. (Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991, S. 17. 8 Rucht, Dieter: Die medienorientierte Inszenierung von Protest. Das Beispiel 1. Mai in Berlin, S. www.bpb.de. 9 Ebd. 10 Rucht, Dieter: Protest und Protestanalyse: Einleitende Bemerkungen, S. 7-27 in: Ders. (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 8f. Es ist ersichtlich: Beide Teile können sich komplementär gut ergänzen. Meine These ist, dass Protest der Stabilität der repräsentativen Demokratie zuarbeitet, in dem er eine Art flexible Prothese der politischen Verhandlungs- und organisationstrukturen bietet.11 Insofern kann man auch hierarchisieren, je weniger (Möglichkeit zum) politischen Austausch mit dem Gegner, desto stärker ist der Protest symbolisch aufgeladen. Dieser Zusammenhang wird tendenziell abgebaut durch die Gründung von Vereinen und Verbänden, die eine stärkere Symmetrie ermöglichen. Es gilt jedoch, Einschränkungen zu machen: 11 12 13 14 15 - Die repräsentative Demokratie ist allein durch Wahlen legitimiert. Denn bei der Formulierung des Grundgesetzes besaßen die gerade im „Dritten Reich“ mit Demagogie gemachten Erfahrungen großes Gewicht. Man nahm es lieber in Kauf, dass sich dadurch der Unmut der Bevölkerung gegen die Politik und die Institutionen im Ganzen richten würde, wenn sie Entscheidungen gegen die Mehrheit der Bürger träfe.12 Die Protestierenden legitimieren sich dagegen indirekt selbst. Ihr erfolgreicher Protest vermittelt eine moralische Überlegenheit, die wirkliche Meinung eben „des Mannes (und der Frau) auf der Straße“ zu vertreten.13 Ihr Motto ist: David gegen Goliath. Diese Asymmetrie kann fruchtbar sein: Wenn die Institutionen den Protest aufnehmen oder zumindest annehmen, wir ihre Legitimität gestärkt. Diese Asymmetrie beinhaltet potentiell aber auch immer die Gefahr der Radikalisierung: der völligen Delegitimierung der demokratischen Institutionen. Dieses Extremum beginnt mit Krawall und endet mit der Revolution als der völligen Umstürzung der Demokratie.14 Eine Grauzone ist Populismus. Dieser teilt sich mit dem Protest den Mechanismus, als Triebfeder Empörung über Missstände zu nutzen und gegen die politischen Eliten zu mobilisieren - nach dem Muster „die da oben wissen doch gar nichts von der Realität“. Ebenso wird er besonders von Angst befördert. Allerdings will der Populismus keine politisch verhandelte Lösung. Er will eine schnelle und einfache Lösung, die er als „gesunden Menschenverstand“ ausgibt. Dafür baut Populismus auf Vorurteile und konstruiert als Feindbilder Gruppen, die in Gegnerschaft zum "guten Volk" stehen und den dort angeblich verankerten sittlichen und moralischen Wertvorstellungen widersprechen oder diese offen bekämpfen wollen.15 - Die Protestierenden finden sich zusammen, weil sie sich gemeinsam echauffieren und sich eine bessere Zukunft erwarten. Der Protest zielt dabei nicht nur darauf ab, Außenstehende zu beeindrucken, sondern auch die Trägergruppe des Protests enger aneinander zu binden, sich gegenseitig der gemeinsamen „Entschlossenheit, Vgl. dazu auch Lauth, Hans-Joachim: Dimensionen der Demokratie und das Konzept defekter und funktionierender Demokratien, S. 33-55 in: Pickel, Gert/Pickel, Susanne/Jacobs, Jörg (Hrsg.): Demokratie. Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Frankfurt/O. 1997. Poeschl, Rainer: „Glauben Sie an den Menschen?“, Das Parlament, 3. Januar 2011. Vgl. Warneken, Bernd Jürgen: „Die Straße ist die Tribüne des Volkes.“ Ein Vorwort, S. 7-17, in: Ders. (Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991, S. 8ff. Vgl. TAZ, 23./24.10.2010 „170 Jahre Krawall“ Roger Repplinger. Decker, Frank/Lewandowsky, Marcel: Populismus. Erscheinungsformen, Entstehungshintergründe und Folgen eines politischen Phänomens, S. www.BpB.de. - Opferbereitschaft, Einheit, Besonderheit, Massenhaftigkeit usw.“ zu vergewissern.16 Symbole integrieren diese Gemeinschaft, in dem sie eine Identität der Interessen behaupten. Aber kann diese heterogene Gruppe, die ggf. aus einer unübersichtlichen Gemengelage (möglicherweise widerstreitender) Interessen entstanden ist, wirklich eine tragfähige Alternative zu den skandalisierten Zuständen bieten?17 Indem diese Gemeinschaft sich Symbole schafft, gemeinsam empört und selbst bestätigt, verschleiert sie gerade auch die ausdifferenzierten politischen Interessen und kann einer wirklich politischen Beschäftigung im Weg stehen. Es besteht die Gefahr, dass der Eventcharakter von Protest mit Anteilen einer Show, etwas Karnevalesken überhandnimmt. So ist beispielsweise die Verwandlung des Konterfeis von Che Guevara zu einem Konsumartikel instruktiv, oder aber der 1. Mai als „freizeitgemäße folkloristische Spezialofferte“18. Bestes Beispiel ist der sog. Schwarze Block: Radikale Proteste werden von den Medien in der Regel ignoriert oder aber negativ kommentiert. Diese medial Unterprivilegierten weichen deshalb häufig aus auf die Störung der "öffentlichen Ordnung", um nach außen die Beachtung zu erzwingen und zugleich die Gruppenidentität als entschlossen und unbeugsam zu bestätigen. 19 Im Ergebnis gibt es kein politisches Ziel mehr, sondern die Gewalt ist das Ziel Protest benötigt die Messenmedien. Infolgedessen wird die Rolle der Medien bei der Komposition des Protests bereits mitgedacht. Der Protest wird inszeniert; Forderungen und Formen sind immer beeinflusst von den Filtern der Medien. Protest bringt deshalb „Pseudo-Ereignisse“ hervor, die genau darauf zugeschnitten sind, die Interessen der Medien zu befriedigen und ohne diese niemals stattgefunden hätten.20 Studien haben ergeben, dass insbesondere Indikatoren für starken Normverstoß wie Teilnehmerzahl und Gewalthaltigkeit oder eine interessante Form wie ein „bed in“ oder die KSA, die Aufmerksamkeit erreichen. Prinzipiell ist es deshalb einer kleinen Gruppe mit einem Splitterinteresse möglich, ihre Ziele als Gemeininteresse zu vermitteln, wenn ihr Protest nur spektakulär und zielgruppengerecht kommuniziert werden kann. Populisten sind deshalb in den ökonmisierten Medien bevorteilt. a.) Gruppen b.) Themen = Die Graphiken zeigen, wie gut und wie schnell die repräsentative Demokratie die unterschiedlichsten Gruppen und Themen integriert hat. 16 17 18 19 20 Rucht, Dieter: Die medienorientierte Inszenierung von Protest. Das Beispiel 1. Mai in Berlin, S. www.bpb.de. Vgl. Alternative ohne Alternative. Die Paradoxie der ´neuen sozialen Bewegungen´(1986), S. 75-79 in: Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 75. Korff, Gottfried: Symbolgeschichte als Sozialgeschichte? Zehn vorläufige Notizen zu den Bild- und Zeichensystemen sozialer Bewegungen in Deutschland, S. 17-37, in: Warneken, Bernd Jürgen (Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991, S. 30. Rucht, Dieter: Die medienorientierte Inszenierung von Protest. Das Beispiel 1. Mai in Berlin, S. www.bpb.de. Protestbewegungen (1995), S. 201-216 in: Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 212. Welche Proteste waren dies? ab 1949 Protest gegen Wiederbewaffnung/1968 APO gegen Notstandsgesetze mit 300.000 Menschen in Bonn/1975 Besetzung der AKW-Baustelle Whyl/1982 Protest gegen NATODoppelbeschluss, 500.000 Protestierer in Bonn. Außerdem: Nach den rechtsextremen Anschlägen demonstrierten 1992 15.000 Menschen in Rostock. In ganz Deutschland wurden Lichterketten organisiert/2003 gingen 100.000ende Menschen in Deutschland gegen den Golfkrieg auf die Straße.21 = Dabei weist die Empirie insgesamt einen ausgeprägten Trend zunehmender Protestereignisse aus; zwischen 1950 und 1994 ergibt sich eine Verdreifachung.22 Die Bedeutung von Protest als „Prothese“ scheint also zuzunehmen. Diese These möchte ich in einem cursorischen Längsschnitt auf die Geschichte des Protests in der Bundesrepublik und ihre wechselnde Gestalt und jeweilige Funktion überprüfen. Bereits kurz nach Etablierung der Bundesrepublik kam es zu vielfältigen Protesten: Damals breit rezipiert wurde die „Befreiung“ der Insel Helgoland aus den Händen der britischer Besatzer, die sie als Übungsziel für Bomber nutzten und den Einwohnern die Heimreise verboten. Zwei Studenten aus Heidelberg landeten dort mit einem Boot und zugleich einen PR-Coup, in dem sie ihre Aktion einer überregionalen Zeitung verkauften und so gezielt Aufmerksamkeit für ihr Husarenstück schufen. Auch das Thema Atombombe trieb Menschen um. Diese beiden Beispiele waren jedoch nur Vorläufer des Protests wie wir ihn heute kennen, weil sie nur von Eliten getragen wurden. Mittelschicht und Krawall des Randes Die Geschichte des bundesrepublikanischen Protests als Massenphänomen beginnt Ende der 1950er Jahre ist Ergebnis einer zweischneidigen Entwicklung: Seit Beginn des Jahrzehnts boomte in der Folge des Korekrieges die deutsche Exportwirtschaft und das sogenannte „Wirtschaftswunder“ setzte ein. Es kam zu einem „Fahrstuhleffekt“ der gesamten Gesellschaft (Ulrich Beck). Durch die Herausbildung des Wohlfahrtsstaates lösten sich alte Sozialstrukturen auf: Zum einen jene, die sich um den Haushaltsvorstand als Ernährer gruppierten und ihrerseits wieder abhängig vom Arbeitgeber waren.23 Zum anderen differenzierten sich auch die Klassengegensätze aus in Schichten und Milieus. Mit ihnen schwanden die scharfen politischen Gegensätze zugunsten einer Institutionalisierung der Interessensgegensätze in politischen Verhandlungsverfahren. Der Soziologe Helmut Schelsky überhöhte diese Entwicklungen gar als Geburt einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Es gab nun eine breite Mitte der Gesellschaft, die ökonomisch abgesichert war und Anteil an der Politik nehmen konnte und wollte.24 Diese Mittelschicht wurde Träger des Gemeinwesens. Sie konnte sich darauf verlassen, dass ihre Interessen von den Parteien in der repräsentativen Demokratie gehört und anerkannt würden. Diese Entwicklung schuf jedoch auch Absteiger bzw. Ausgeschlossene am Rand: Die sogenannten Halbstarken waren Arbeiterjugendliche, denen eine Assimilierung an die neuen gesellschaftlichen Formen und damit der Aufstieg nicht gelang. 21 22 23 24 Müller-Brandes, Jörg: 60 bewegte Jahre in Ost und West, Das Parlament, 3. Januar 2011. Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter: Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1950-1994. Ereignisse, Themen, Akteure, S. 27-71 in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 35. Mayer, Karl-Ulrich/Müller, Walter: Lebensverläufe im Wohlfahrtsstaat, S. 297-318 in: Berger, Peter A./Hradil, Stefan: Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990. Vogel, Berthold: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009, S. 133f. Was zeichnet den Halbstarken aus? Ihre Abstiegsängste waren Motor des Protests gegen die Ausgrenzung. Sie wurden von den Parteien der Mitte nicht vertreten und mussten sich folgerichtig auf Gewalt stützen, um die Wahrnehmung zu erzwingen. Die Krawalle der Halbstarken blieben eine Episode, weil der Wohlstand in den 1960er Jahren genügend Umverteilung bot.25 Seinerzeit nahm man die Krawalle der Halbstarken als ziellos wahr. Bei genauerer Betrachtung waren sie jedoch der eigentliche Ursprung des Massenprotests in der Bundesrepublik. = Sie basierten auf materieller Sicherheit einhergehend mit mangelnder politischer Vertretung/Repräsentation. 4. Avantgarde für eine Alternative Ende der 1960er Jahre ergab sich gerade aus dem relativen gesellschaftlichen Wohlstand ein neuer – diesmal gerichteter Protest. Die einsetzende Bildungsexpansion zog eine eine Verlängerung der Adoleszenzzeit v.a. durch das Studium nach sich. An diese Strukturen lagerten sich wiederum förderliche Milieus für eine Avantgarde an.26 Es entstand eine Avantgarde. Diese erste postmaterialistisch geprägte junge Generation war zwar abgesichert, aber sie fand sich in der Gesellschaft nicht ein und engagierte sich diesmal für einen umrissenen alternativen Gesellschaftsentwurf.27. Weil ihr der Einfluss fehlte, brachte sich ihren Wunsch nach einer Alternative zur konservative Regierung und der folgenden großen Koalition als Protest gegen die repräsentativen Strukturen – eben als APO ein. Diese Avantgarde gegen die herrschende Ordnung drückte sich symbolisch mit neuen Mitteln aus: „Diese Unordnung zeigte sich zum einen in der Inszenierung des Körpers. Auch Männer trugen die Haare lang und der in den 1960er Jahren gesellschaftlich geächtete Vollbart wurde zu einem wichtigen Erkennungszeichen für unangepasste Lebensformen. In ihrer Kleidung kombinierten Kommunarden – inspiriert durch die Hippie-Mode – Selbstgemachtes und Altes aus dem elterlichen Kleiderschrank oder dem Second-Hand-Laden wild durcheinander zu einer bunten Collage aus allen erdenklichen Farben und Stilen. Mit der legeren Kleidung wurden auch die Körperhaltungen informeller: Man saß demonstrativ entspannt und legte Füße auf Tische, Sitzflächen und Polster.“ In intellektuellen Kreisen wurde selbst die Sprache zum Protest herangezogen, um einen eigenständigen Habitus auszubilden. Auf die Spitze trieb es Rudi Dutschke: "Die bürgerlichkapitalistische Gesellschaft hat doch gerade ihre Stärke darin, dass jede Gruppe diskutieren darf. Das ist eine Stärke, die wir in der Tat nicht beseitigen wollen, denn sie ist unsere Basis unserer Arbeit und die Basis unserer Diskussion, aber aus diesem Pluralismus der Meinungen, der ergänzt wird eigentlich durch einen Pluralismus der Oligomonopole in der materialistischen Basis der Gesellschaft, aus dieser Gesamtheit von Pluralismen kommt nicht notwendigerweise die Veränderung, sondern ist im Grunde die Harmonie, die Harmonie der Repression gewährleistet."28 Der neue Protest drückte sich ebenfalls in neuen Handlungsformen aus und erzwang sich Aufmerksamkeit der Medien von ´unten´. 25 26 27 28 Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008, S. 72f. Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest - Grüne, Bunte und Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 184. Großegger, Beate: Jugend zwischen Partizipation und Protest, S. 8-12 in: APuZ 27/2010, S. 8. Scharloth, Joachim: Revolution der Sprache? Die Sprach der 68er, S. www.BpB.de So formulierte Peter Weiß 1968 anlässlich einer Großdemonstration gegen den VietnamKrieg in Berlin mit Stoßrichtung gegen die BILD-Zeitung: „Die Straße ist unser Massenmedium“29 1968/69 stellte damit einen „Kulturwechsel“ dar.30 Der Protest wurde als politisches Mittel etabliert. Was sieht man, was leistet dies? In der Rückschau wird unser Bild von den ins kulturelle Wissen eingegangenen Ereignissen des Jahres 1968 verzerrt; Studierende erscheinen als DAS Trägermilieu des Protests. Tatsächlich gaben sie den Anstoss, indem sie Probleme erkannten und in wirkmächtige Symbole übersetzten. Der Protest verbreitete sich jedoch schnell. So zeigen die empirischen PRODAT-Studien, dass sich ausdifferenziert nach Themen und Orten breite Teile der Gesellschaft in den 1960er Jahren über Proteste artikulieren. Die Studierenden sind mit 7,6% im Durchschnitt nur ein Trägergruppe, deren Bedeutung von Jugendlichen und Arbeitnehmern weit übertroffen wurde.31 5. „Utopie wird zum Alltag“ - der Protest organisiert sich und erreicht die Mitte In den 1970er Jahren wurde das mittlerweile anerkannte „Werkzeug“ des Protests breit genutzt. Dies galt v.a. für das Thema Umweltschutz. Erstmals wandten sich in Folge der Ölkrise und der Veröffentlichung des Club of Rome etc. breite Kreise von der Vorstellung ewigen Wachstums ab, das zwar die Umverteilung ermöglichte, aber auch den Kapitalismus immer weiter verschärfte. Die sozialliberale Koalition konnte diese Entwicklung nicht inkooperieren. Sie hatte sich als Alternative bezeichnet; sie hatte Erwartungen geweckt, die sie dann nicht einhielt: vgl. „blauer Himmel über der Ruhr“, 1961, „Umweltbewusstsein“ 1971, Freiburger Thesen 1971 mit einem Abschnitt zur „Umweltpolitik“. Denn diese Ansätze unterlagen im Konflikt gegen die ökonomischen Interessen in der Rezension.32 Mit dem einsetzenden AKW-Bau entstand ein mächtiges Symbol für diesen Widerspruch: die Anlagen standen für das Festhalten an Wachstum um jeden Preis, gegen die Umwelt und gegen den Willen der Anwohner.33 Es wurde deutlich, dass nur durch Wahl zwischen den Parteien dieses Problem nicht lösbar sein würde. In der Folge wurde nicht nur für Umweltschutz demonstriert, sondern auch für Basisdemokratie. Die Kombination des „Kulturwechsels“ der vielfältigen dezentralen und multithematischen Wurzeln und dieses mächtigen Symbols erklärt das rasche Wachstum des alternativen Milieus. 29 30 31 32 33 Warneken, Bernd Jürgen: „Die Straße ist die Tribüne des Volkes.“ Ein Vorwort, S. 7-17, in: Ders. (Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991, S. 7. Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter: Protestgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1950-1994. Ereignisse, Themen, Akteure, S. 27-71 in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001, S. 35. Hocke, Peter: Protestieren nur die Studenten? Ein Vergleich mittelgroßer Städte in der ´alten´ Bundesrepublik, S. 211-241 in: Rucht, Dieter (Hrsg.): Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt 2001. Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest - Grüne, Bunte und Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 44f. Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest - Grüne, Bunte und Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 40f. Bis zu 20.000 Initiativen mobilisierten 12 Mio. Menschen – mithin 4-5mal so viele Personen wie die Volksparteien an Mitgliedern aufwiesen.34 Aus diesem riesigem Potential und der Notwendigkeit der Koordination heraus institutionalisierte sich der Protest zunehmend. Es wuchsen regelrechte alternative Strukturen: freie Republik Wendland Beispielsweise riefen 5.000 Besetzer am 3. Mai 1980 in Trebel die freie Republik Wendland als selbstverwaltetes Gemeinwesen ohne Atomkraft aus. Es wurde ein Dorf mit 100 Hütten erstellt; man gab eigene Pässe aus bis die Polizei am 4. Juni 1980 mit schwerem Gerät den Platz räumte und alles schliff.35 Die alternativen Ideen setzten sich nicht durch: Ein kleiner Teil der Bewegung verlagerte sich daraufhin von Protest auf Gewalt. Die Ausschreitungen um das AKW Brokdorf wurden zum Symbol einer neuen Form des zunehmend militanten Protests.36 Die radikalisierte RAF stieg gar ganz aus der Gesellschaft aus, um im deutschen Herbst gegen das „Schweinesystem“ zu kämpfen. Der weitaus größere Teil etablierte jedoch im Bestehenden ein stetig wachsendes alternatives Milieu mit hohem Protestpotential.37 Träger waren Post-68er, durch die sozialliberale Politik gut ausgebildet, aber dennoch mit schlechteren Lebenschancen als die Eltern ausgestattet, insofern von den Sozialdemokraten nachhaltig enttäuscht.38 Rudi Dutschke forderte die Mitstreiter auf, gemeinsam den Marsch durch die Institutionen zu wagen, um die Gesellschaft nachhaltig zu übernehmen. Zum Ende der Dekade wurden die Inhalte des Protests über die Gründung der GRÜNEN in das tradierte System der repräsentativen Demokratie überführt. So wuchsen die Projekte. Waren 1980 noch 80.000 Aktivisten in 11.500 Projekten engagiert, zählten diese 1986 bereits 200.000 Aktivisten in 18.000 Projekten.39 Sie schrieben eine Symbolik des Alternativen ins kulturelle Gedächtnis ein und verliehen dem eigentlich kurzfristigen Protest eine sinnstiftende Kontinuität.40 Der Protest trug zu einem wirklichen Wertewandel, einer friedlichen Erneuerung der Gesellschaft bei, in dem die alternative Sinnsuche und Anmahnung den Mainstream um die Themen Umwelt, Konsum, Integration und Genderfragen erweiterte.41 Im selben Maße, wie die jungen, empörten Akademiker Karriere machten, setzten sie ein neues Koordinatensystem durch.42 Der Protest selbst und seine Themen eroberten langsam die Mitte der Gesellschaft. Man kann dies sehr eindrucksvoll an einem Beispiel sehen: Die Pop-Musik galt in den 60er Jahren noch als revolutionär, als Stil der Revolte. Mittlerweile ist sie selbst der Mainstream 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Kailitz, Susanne/Kottra, Kata: „Demokratie ist anstrengend“ Dorothee Bär und Bernd Guggenberger im Interview, Das Parlament, 3. Januar 2011. Kaul, Martin: „Wenn Utopie zum Alltag wird“, TAZ, 5./6.6.2010. Balistier, Thomas: Straßenprotest in der Bundesrepublik Deutschland. Einige Entwicklungen, Besonderheiten und Novitäten in den Jahren 1979 bis 1983, S. 257-282 in: Warneken, Bernd Jürgen (Hrsg.): Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991, S. 274. Siegfried, Detlef: John Lennons Tod und die Generationswerdung der „68er“, S. 12-20 in: APuZ 27/2010, S. 16. Walter, Franz: Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010, S. 75. Nutt, Harry: „Wie wir wurden was wir sind. Von der Kommune zur alternativen Umzugsfirma: Die Rolle des alternativen Milieus“, FR, 5.11.2010. Vgl. Protestbewegungen (1995), S. 201-216 in: Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 211. Kaul, Martin: „Wenn Utopie zum Alltag wird“, TAZ, 5./6.6.2010. Walter, Franz: Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010, S. 88. und völlig auf die Bedürfnisse der Vermarktung strukturiert. Als John Lennon; ein früherer Gegen-Held, 1980 ermordet wurde, belegten seine Hits plötzlich die ersten Plätze der Charts; es erschienen viele Bücher und gar Poster in der Bravo. So zeigte sich deutlich, wie die Subzur Massenkultur geworden war – eben dieser John Lennon war auch der kleinste gemeinsame (musikalische) Nenner der deutschen Friedensbewegung. Seine Lieder untermalten die Massenproteste.43 6. „Alternativlos“ - Von der Prothese zur Konkurrenz? Die Kulturgeschichte des Protests in der Bundesrepublik lässt sich bis zu diesem Punkt als Erfolgsgeschichte der Modernisierung der Demokratie durch Protest lesen. Gefährliche Extreme wurden unschädlich gemacht, in dem ausgegrenzte Interessen über die Prothese Protest immer wieder ins System aufgenommen wurden. Entsprechend war in der Frankfurter Rundschau zu lesen, dass S21 Endpunkt einer Entwicklung seit 1968 wäre: Die APO habe noch „nicht nur außerhalb des Parlaments, sondern auch außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft“ gestanden, mittlerweile wollten jedoch die Bürger selbst mitregieren. Somit seien zwar die Ideologien von 1968 passee, es ginge nicht mehr um die große Alternative, sondern um konkrete Probleme - aber der Proteststil bleibe gültig.44 Ich bin skeptisch: Die gegenwärtigen Proteste sind sowohl in ihrer Form, als auch in ihrer Zielsetzung sehr differenziert zu betrachten. Im Gegensatz zu früher ist auch nicht gesichert, ob sie der repräsentativen Demokratie weiterhin als eine Art Prothese dienen und für eine Weiterentwicklung stützen, oder ob sie gar eine Gefahr darstellen. a.) Protest ist als Mittel eingeübt und anerkannt. Es gibt zudem einen riesigen Fundus von Symbolen, die im kulturellen Gedächtnis gespeichert sind und genutzt werden können. Durch die neuen Medien, die Organisation und Verbreitung sehr stark vereinfachen,45 steht zudem ein langer Hebel für den politischen Gebrauch bereit. b.) So weit so gut. Aber Träger, Motiv und Inhalte haben sich verändert. Im Gegensatz zu früher sind die Proteste nicht mehr Ausdruck eines alternativen politischen Entwurfs, der von einer unterprivilegierten Avantgarde an die Mehrheitsgesellschaft herangetragen wird. Es fehlt das verbindende gesellschaftliche Widerlager und die Idee einer Alternative. - Zwar währt der Protest gegen das Atommüllendlager in Gorleben bereits 34 Jahre und ist bis in die dritte oder vierte Generation tradiert worden - für die bildliche Vorstellung: Jeder einheimische Protestierer ist schon mindestens einmal verprügelt worden. Auf diese Weise sind Verhalten und Symbole ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben. Aber der Protest ist zugleich ritualisiert als „an der Oberfläche einer Kirmes nicht unähnlich – nur dass die Bierzelte fehlen und die Marketender auf der zentralen Protestveranstaltung Ökostrom, die grüne Partei und Bio-Apfelsaft verkaufen wollen“.46 - „Alternativ“ ist kein randständiges Trägermilieu mehr, sondern eine Marke für die Mitte wie die Gentrifizierung zeigt. Künstlerkolonien und Besetzer werten mit linkem 43 44 45 46 Siegfried, Detlef: John Lennons Tod und die Generationswerdung der „68er“, S. 12-20 in: APuZ 27/2010. Schlaffer, Hannelore: „Von 1968 bis heute“, FR, 23./24.10.2010. Goddar, Jeannette: „Weithin akzeptierte Form“, Interview mit Dieter Rucht, Das Parlament, 3. Januar 2011. Unfried, Peter: „Die Rebellion der Bürger“ TAZ, 8.11.2010. - Chic ein Viertel auf und machen es als Renditeobjekt interessant. Schon bald hält das „Bionade-Biedermeier“ Einzug und verdrängt die alten Bewohner.47 Und die einstige Anti-Parteien-Partei die Grünen ist mittlerweile eine Partei wie alle anderen auch.48 Beim Marsch durch die Institutionen wurden nicht nur diese, sondern auch die Marschierenden verändert.49 Der Anteil der Materiallisten unter den GrünenWählern hat stark zugenommen: von 1983-1998 von 6 auf 20%, zugleich sank der Anteil der Postmaterialisten von 60 auf 30%. Im Ergebnis berufen sich GrünenWähler auf linke Werte, unterstützen aber faktisch gemäßigt konservative Politik!50 Entsprechend sieht der Protest aus: Bei S21, Schulreform und Sarrazin-Debatte geht es nicht um alternative Entwürfe der Gesellschaft; es sind keine Unterprivilegierten, die aufbegehren. Diese Proteste sind Zeichen eines fehlenden, grundlegenden Vertrauens der Arrivierten in die repräsentative Demokratie, die Parteien und die Institutionen. Protest ist nicht mehr per se ein Vehikel des gesellschaftlichen Forstschritts mehr wie insbesondere der Volksentscheid gegen die von allen Parteien getragene Schulreform in Hamburg eindrucksvoll zeigte. Wer ist das? Im eigentliche Sinne alternativer Protest wird seit den 1990er Jahren v.a. von den Vertretern der neuen Rechten formuliert, die sich die Vermittlungsstrategien und Symboliken der Linken für ihre Zwecke einer „konservativen Revolution“ zu eigen gemacht haben - vgl. dazu bspw. „Altermedia“ und Junge Freiheit. Ihnen kommt zum einen die Einübung und Ästhetisierung des Protests zugute.51 Zum anderen mangelt es nicht an populistisch ausbeutbaren Themen, wie Einwanderungspolitik, Kriminalitätsbekämpfung oder Kritik an der Europäischen Union, die von den Mainstream-Parteien nicht ausreichend bearbeitet bzw. symbolisch kommuniziert werden.52 Wie konnte es zu einer derartigen Veränderung des Protests kommen? Es hat den Anschein, dass die repräsentative Demokratie sich verändert hat und als Folge auch der Protest, der sich schließlich immer auf sie bezieht. Colin Crouch hat hierfür die These der Postdemokratie eingeführt: Danach steuert hinter der Fassade formeller Abläufe und Institutionen tatsächlich eine Elite die Demokratie. Sie stützt sich darauf, dass die wichtigsten Entscheidungen nicht mehr als Ergebnis eines öffentlichen Streits um Alternativen getroffen werden. Schröder begründete die Agenda2010 mit „der Globalisierung“, Merkel bezeichnet ihre Politik gleich ganz als „alternativlos“. Weil die Parteien keine klar unterscheidbaren, strategischen Konzepte mehr anbieten, wenden sich die Menschen von der Politik ab und mischen sich nicht mehr ein.53 Sie sind enttäuscht von Parteien, die nach der Finanzkrise die Märkte nicht eingehegt haben, sondern stattdessen im großen Stil öffentliche Mittel für die Banken aufgewendet haben. Sie sind enttäuscht über die soziale Marktwirtschaft, die unter dem 47 48 49 50 Sußebach, Henning: „Bionade-Biedermeier“, Die Zeit, 8.1.2009. Dies ist bedingt durch die Transformation beim Übergang Bürgerinitiative zu Partei, durch die sich eine starre Organisation mit vorgegebenen Vorgehensweisen, die Konkurrenz zu anderen Parteien und Gruppen, die Auseinandersetzung mit vielen´Themen und die Spiegelung der Konflikte in die Initiativen ergeben. Vgl. Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest – Grüne, Bunte und Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 164f. Schwarze, Johannes: Geschichte, Ideologie und Programmatik der Grünen, München 1999, S. 9. Falter, Jürgen W./Klein, Markus: Der lange Weg der Grünen, München 2003, S. 174. 51 52 53 Decker, Frank/Lewandowsky, Marcel: Populismus. Erscheinungsformen, Entstehungshintergründe und Folgen eines politischen Phänomens, S. www.BpB.de. Mouffe, Chantal: „Postdemokratie“ und eine zunehmende Entpolitisierung, S. 3-5 in: APuZ, 1-2/2011, S. 3f. Primat der Wirtschaft steht, in der der Staat auf dem Rückzug ist und die Gesellschaft sich zunehmend teilt.54 „Alternativlos“ wurde nicht umsonst Unwort des Jahres 2010. Und schließlich ist die Mittelschicht der Gesellschaft durch den Raubbau am Wohlfahrtsstaat bedroht, der eine große Bedeutung für eine breite Beteiligung an der Demokratie zu kommt. Denn: „Neuere Beteiligungsformen setzen ein hohes Kompetenzniveau (…) voraus. (…) [Dazu kommt: der Verf.] Stark polarisierte Lebenschancen und ein weit verbreitetes Ungerechtigkeitsempfinden in einer Gesellschaft reduzieren das Vertrauen der Menschen untereinander, was zu einer geringeren Bereitschaft führt, sich für die Allgemeinheit zu engagieren.“ Kurz gefasst: „Politische Beteiligung steigt mit der Verfügbarkeit über Bildung, Einkommen und Kompetenzen.“55 Im Ergebnis geben die Menschen bei Umfragen zwar an, dass sie zufrieden mit der Demokratie seien. Bei konkreten Problemen trauen sie jedoch den Politikern kaum mehr etwas zu.56 Die Parteien bluten aus und die vormals staatstragenden Bürger verhalten sich als eine Art außerparlamentarischer Opposition, die sich anschickt, „das Monopol einer parteipolitischen Kaste [zu, d. Verf.] brechen.57 Gesellschaft für deutsche Sprache Wort des Jahres 2010? 1 Wutbürger 2 S21 3 Sarrazin-Gen 6 Schottern Ohne eine tragende Schicht und ihr Engagement kann die Mechanik der Demokratie, wie sie seit Dekaden in der Bundesrepublik eingeübt ist, jedoch nicht mehr funktionieren. Deshalb hat sich der Protest verändert. Der Philosoph Honneth beklagt sich zu Recht über „Tendenzen einer Verwilderung des sozialen Konfliktes“, weil die moralischen Grundfesten der Gesellschaft schon seit langem erodiert sind.58 Obwohl eigentlich Jugendkultur und Protest gegen die Werte und Konventionen der Gesellschaft oft synonym verwendet werden, ist die Lebenswelt der aktuellen Generation von Jugendlichen der Politik weitgehend entfremdet. Jugendkultur schafft keine Trägermilieus, sondern im Gegenteil hedonistisch geprägte auf Konsum fixierte, apolitische Enklaven.59 In den 60ern hatten sich die Generationen entfremdet. Die Jugend begehrte auf, veränderte die Gesellschaft ein Stück weit und integrierte sich dabei. Heute ist die Jugend eher affirmativ; es hat sich ein Großteil der Bürger, also der eigentlich tragenden Schicht, von der Politik entfremdet (Zahlen!). Diese Menschen machen keinen Marsch durch die Institutionen mehr. Die wirklichen Protestierer z.B. in Stuttgart sind keine Jugendlichen’; Protest ist der Hebel des vom Spiegel hämisch „Wutbürger“ Getauften, der „konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung“ ist. Er ist aber v.a. nicht mehr staatstragend, sondern empört sich über die Unfähigkeit „der Politik“ und ihrer Institutionen.60 54 55 56 57 58 59 60 Vogel, Berthold: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009, S. 286ff. Böhnke, Petra: Ungleiche Verteilung politischer Partizipation, S. 18-25 in: APuZ, 1-2/2011, S. 20f. Goddar, Jeannette: „Weithin akzeptierte Form“, Interview mit Dieter Rucht, Das Parlament, 3. Januar 2011. Geis, Mathias: „Wir“ und „Die“, Das Parlament, 3. Januar 2011; Unfried, Peter: „Die Bürger möchten das Monopol einer parteipolitischen Kaste brechen“ Interview mit Peter Weibel, TAZ, 29./30.1.2011. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert, S. 37-45 in: APuZ, 1-2/2011. Großegger, Beate: Jugend zwischen Partizipation und Protest, S. 8-12 in: APuZ 27/2010, S. 8f. Kurbjuweit, Dirk: Der Wutbürger, Der Spiegel 41/2010. An diesem Punkt ist Protest keine Prothese der repräsentativen Demokratie mehr, sondern eine Erosionserscheinung. Die Protestierenden wollen nicht mehr symbolisch auf ihr Anliegen aufmerksam machen, sondern sie wollen direkt in die Politik eingreifen, ohne freilich Lösungen zu diskutieren. Der Protest ist nicht mehr Beginn einer politischen Auseinandersetzung, sondern ihr Gegner. Daraus ergeben sich große Gefahren des Protests. - Das bereits angesprochene Beispiel der Hamburger Schulreform zeigte, wie eine Elite den Protest für sich nutzen kann, um ihre Interessen gegen die durch die Wahlen legitimierten repräsentativen Vertreter der Mehrheit durchzusetzen. Die einfache Bevölkerung wurde abgekoppelt. Dieses Beispiel ist typisch. Die Forschung weist darauf hin, dass gerade die Unterschicht von ihrem Wahlrecht wenig Gebrauch macht, weil bei Verfahren direkter Demokratie die Hemmschwelle zu hoch ist.61 - Auch kann sich durch Protest der Fokus vom Gemeininteresse zugunsten kurzfristiger, lokaler Interessen verlagern. So wissen alle Bürger, dass man für die gewünschten regenerativen Energien einen Ausbau der Netze benötigt, dennoch möchten viele kein Kabel in der Nähe ihres Hauses dulden. Gegen Atomkraft demonstrieren viele, für eine nachhaltige Alternative nicht Fernziele wie eine Nachhaltige Gesellschaft können aus dieser Perspektive nicht angegangen werden, weil sie eine grundlegende Verhandlung der Teilinteressen für ein übergeordnetes Ziel erfordern. - Hinzu kommt eine antidemokratische Tendenz. In den USA macht die Tea Party Furore, ein sehr instruktives Beispiel für eine mächtige Protestbewegung, die sich allein aus Abstiegsängsten der Mittelschicht speist. Dieses Phänomen setzt die Parteien stark unter Druck, weil sie keine Alternative anbietet, mit der man umgehen kann, dafür aber ein überlautes „Dagegen“.62 Wer dies für eine Primitivität hält, die in Deutschland nicht möglich wäre, der muss nur einen Blick in die Feuilletons der Süddeutschen und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung werfen. Dort huldigt man dem Buch „der kommende Aufstand“ (anonym), in dem unter Berufung auf Carl Schmitt und Heidegger dazu aufgerufen wird, das Gewaltmonopol des Staates zu brechen, und den „Ausnahmezustand“, der Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaat aushebelt, herbeizuführen. Die Demokratiestützer werden dagegen als „Fanatiker der Prozedur“ diffamiert, die Parlamente dienten nur dem „Palaver“.63 - Eine problematische Entwicklung zur Gewalt gibt es aber genauso auf der linken Seite des politischen Spektrums: Einerseits erreichte die Anti-AKW-Bewegung einen höheren Mobilisierungsgrad: „Wer früher mit der Bewegung sympathisierte, aber trotzdem zu Hause blieb, geht heute zur Demo. Wer dort schon mal war, ist jetzt Sitzblockierer.“ Aber es fehlt die Perspektive des Protests. Der Vorsitzende der Bürgerinitiative Umwelt Lüchow-Dannenberg empörte sich denn auch öffentlich: „Wir haben den Glauben an die Regierungen verloren“. In der Folge wurden auch hier Grenzen überschritten; Symbol der Qualitätsveränderung wurde das sogenannte „Schottern“, bei dem die Grenze von Protest zu Gewalt bewusst überschritten wurde.64 Protest verliert die Funktion, eine politische Alternative aufzuzeigen und ist nur noch überlaute Beschwerde, wird zum Ausdruck einer „Radikalisierung der Mitte“ gegen die repräsentative Demokratie. Diese Entwicklung richtet sich v.a. gegen die Parteien und schafft 61 62 63 64 Järke, Dirk: Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, S. 13-18 in: APuZ, 1-2/2011, S. 15. Rogge, Joachim: Wenn die Regierung ihre Bürger fürchtet, Das Parlament, 3. Januar 2011. Thumfart, Johannes: „Fast wie Gas“, TAZ 23.11.2010. TAZ, 8.11.2010 „Massenhafte Selbstermächtigung“, Martin Kaul. einen Innovationsdruck. Zwar benötigt man Parteien weiterhin, weil sie über die Alleinstellungsmerkmale verfügen, übergeordnete Interessen zu diskutieren und dauerhaft über das kurzweilige Medieninteresse des Protests hinaus zu vertreten.65 Aber ganz offensichtlich müssen die Parteien wieder alternative politische Lösungen aufzeigen. Denn Protest ist immer groß, wenn Politik keine Alternaiven bietet. Das galt für die große Koalition der 60er, genauso wie für „Alternativlosigkeit“ der Mitte-Parteien heute. Die Erfolgsgeschichte der grünen zeigt: Organisationsform und Art des politischen Wettstreits zwischen den Parteien bestimmen, in wieweit Protest von Altparteien aufgenommen werden, oder sich neue Parteien gründen.66 Es ist also in der heutigen Situation möglich, dass eine extreme Dagegen-Partei Erfolge feiert. Die Nachbarländer mit ihren rechtspopulistischen und Europa-feindlichen Populisten geben die Richtung vor. Dieser Zusammenhang wird noch schwerwiegender, wenn man sich bewusst macht, dass der gesellschaftliche Grundkonsens in der festen Erwartung einer besseren Zukunft, getragen von stetem Fortschritt und Wachstum bestand und (noch) besteht. Vor diesem Hintergrund erschienen die bestehenden Ungleichgewichte als Reliquien, die schon bald automatisch überwunden würden. Reflektierte Überlegungen zu Gerechtigkeit und Umverteilung wurden nicht angestellt, solange feste Zuversicht auf eine Verbesserung herrschte. 67 Die Lebensverhältnisse der meisten Menschen sind jedoch bereits seit Jahren von der Entwicklung der Wirtschaft abgekoppelt worden; die Reallöhne sinken und die Mittelschicht erodiert. Im Hinblick auf die zu erwartende Ressourcenknappheit der Zukunft sind harte Verteilungskämpfe wahrscheinlich. Die Thesen Sarrazins, oder auch Sloterdijks mit ihrer inhärenten Systematik von Leistungsträgern und Heloten, lassen sich als Vorboten verstehen. Gerade jetzt braucht es ein Werkzeuge, um die Menschen wieder zu integrieren, damit sie ihre Interessen demokratisch verhandeln und sich gerade nicht von „der Politik“ abwenden. Was kann man tun? Wir benötigen als Grundlage für alle zu nennenden Maßnahmen eine Veränderung der politischen Kultur überhaupt: Es muss möglich sein, in einer echten, offenen politischen Auseinandersetzung kooperativ zu Lösungen zu kommen, in dem man sich über gemeinsame normative Grundlagen und abgeleitete Bewertungskriterien klar wird.68 Dann können klare politische Profile statt der Jagd nach der Mitte für den Machterhalt wieder Vertrauen in die Parteien schaffen. Ebenfalls offensichtlich können die Parteien von den sozialen Bewegungen viel lernen über die Einbindung von Unterstützern und die Organisation offener, projektbezogener Strukturen, die der heutigen Lebenswelt angemessen sind. Es sollten gezielt komplementär neue Verfahrensweisen wie runde Tische, Meditation, NGOs, Expertengremien etc einbezogen werden.69 Darüber hinaus gilt es, die für die repräsentative Demokratie fruchtbare Dimension des Protests wieder zu stärken, indem direkter Demokratie ein institutionelles Gewicht gegeben wird. SPD-Chef Gabriel will Menschen stärker an politischen Entscheidungen beteiligen, in dem Volksentscheide künftig zu allen Gesetzen und Entscheidungen (außer dem GG) ermöglicht werden, die der Bundestag verabschiedet.70 65 66 67 68 69 70 Vgl. Böhnke, Petra: Ungleiche Verteilung politischer Partizipation, S. 18-25 in: APuZ, 1-2/2011, S. 25. Müller, Ferdinand/Murphy, Detlef/Raschke, Joachim/Rubart, Frauke: Protest - Grüne, Bunte und Steuerrebellen, Reinbek b. Hamburg 1979, S. 11. Vogel, Berthold: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009, S. 166. Ueberhorst, Reinhard: Politischer Streit als kooperative Findekunst, S. 24-28 in: NG/FH 3 (2011). Järke, Dirk: Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, S. 13-18 in: APuZ, 1-2/2011, S. 14. Mitteldeutsche Zeitung, 9.3.2011. Die Teilhabe breiter Schichten an der Demokratie muss gewährleistet werden. Grundlage ist die „Universal Declaration of Human Rights“ der UN von 1948. Dort heißt es in §22: Jeder Mensch als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel des Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.“ D.h. jeder hat pauschal ein Recht auf Teilhabe, um die Gesellschaft eines Staates zu integrieren.71 71 Vogel, Berthold: Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2009, S. 59ff.