1 Stefan M. Gergely ABER WIE? »Wie ernähre ich mich richtig?« - eine Frage, die sich heute jedermann stellt. Ist der Mensch, was er ißt? Schützt Biokost vor »Selbstmord mit Messer und Gabel«? Kaum ein Fachgebiet ist so von Widersprüchen und Emotionen durchsetzt wie die Ernährungslehre und Lebensmittelkunde. »Diät - aber wie?« vermittelt eine längst fällige kritische Bestandsaufnahme von kompetenter Seite. Stefan M. Gergely, Ernährungsfachmann und Chemiker, berichtet zunächst über Geschichte und Wandel der Ernährungsbräuche, von den Nahrungstabus in Polynesien bis zu den Diätvorschriften des Alten Testaments. Anschließend werden die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Psyche untersucht. Magersucht und Eßsucht haben nur zu oft ihre Wurzeln in einer gestörten Kindheit beziehungsweise Familie. Anhand von Ergebnissen der Verhaltensforschung wird erklärt, wie und warum sich Dicke falsch ernähren. Im folgenden werden die verschiedenen Formen des Vegetarismus und die Reformbewegung geschildert, die unter dem Motto »Was natürlich ist, ist auch gesund« heute populär ist und »Vollwertkost« empfiehlt, »raffinierte« Industriekost aber ablehnt. Dabei geht es auch um die Thesen von Waerland, Bircher-Benner, Kollath und Bruker. Als nächstes ist die sogenannte Biokost an der Reihe; pro und kontra in der Diskussion um alternative Formen von Landwirtschaft und Viehzucht werden ausführlich dargestellt. Ein Kapitel ist dem Thema »Ernährung als Weltanschauung« gewidmet. Am Beispiel der Makrobiotik und anthroposophischer Auffassungen wird erklärt, wie Diätratschläge aus Anschauungen abseits der mechanistisch-kausalen Naturwissenschaft abgeleitet werden. Das Kapitel »Ernährung mit Vernunft« ist im wesentlichen eine kurz gefaßte Ernährungslehre und vermittelt die wichtigsten Voraussetzungen eines naturwissenschaftlich fundierten Wissens um Nahrung und Ernährung. Ausführlich setzt sich der Autor mit den gängigen Schlankheitsdiäten auseinander. Kaum ein Lebensmittel gibt es, das nicht irgendwann als ideal zum Abspecken propagiert worden wäre. Vor- und Nachteile der Diätratschläge - von der ÄtkinsDiät zur F-Plan-Diät - werden aus der Sicht der modernen Ernährungswissenschaft diskutiert, ebenso die Motive, warum viele Dicke abnehmen wollen. Ferner geht es um die Kontroverse hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Körpergewicht und Lebenserwartung. Ein Kapitel »Diät als Heilmittel« befaßt sich mit Diätkuren, die zur Heilung von Krebs, Rheuma und andere Krankheiten empfohlen werden, mit der gegenwärtig zu beobachtenden »Vitaminomanie«, der Feingold-Theorie und abschließend mit einigen Aspekten der klinischen Diätetik. Im Epilog schließlich wird versucht darzustellen, daß »Gesundheit« die Suche nach dem richtigen Maß voraussetzt, das Tag für Tag von jedem einzelnen erst gefunden sein will. Das Buch wendet sich an alle, die sich mit Fragen der Ernährung beschäftigen Hausfrauen und Hausmänner, Übergewichtige, Gesundheitsbewußte und andere. Ein-kritischer Ratgeber für jedermann, der hilft, sich im Irrgarten der seriösen und unseriösen Diätempfehlungen und Ernährungstips zurechtzufinden. Stefan M. Gergely, geb. 29. 3. 1950. Studium der Chemie an der Universität Wien; Forschungsaufenthalt in Paris 1977 (Nucleinsäure-Biochemie), pharmazeutisch-galenische Entwicklungsarbeiten; 1978-1983 Wissenschaftsreferent in der österreichischen Bundeswirtschaftskammer (Schwerpunkt Nahrungsmittel, Ernährung); Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Ernährungsforschung, Veröffentlichungen: »Nahrung, Ernährung, Gesundheit« Wien, 1982; Österreichischer Ernährungsbericht 1982 (im Auftrag des Gesundheitsministeriums); »Fachinformationsführer Medizin, Lebensmittel- und Agrarwissenschaften« (im Auftrag des Wissenschaftsministeriums), Wien _ Köln 1983; »Mikroelektronik«, München 1983. Stefan M. Gergely DR AB Wl 2 Von der Atkins-Diät bis zur Zen-Makrobiotik Der kritische Wegweiser für Ernährungsbewußte V Piper München Zürich ISBN 3-492-02748-2 © R. Piper GmbH & Co. KG, München 1984 Umschlag: Federico Luci Gesamtherstellung: Salzer - Ueberreuter, Wien Printed in Austria Inhaltsverzeichnis Worum es geht 9 Der Zweck dieses Buches 9 - Was bedeuten »Gesundheit« und »Diät«? 11 — Der vermeintliche Anspruch auf Gesundheit 11 - Essen und Trinken aus der Gesundheitsperspektive 12 — Verwirrspiel der Diätmanager 13 - Das Dilemma der Gesundheitserziehung 15 — Meinungsmache, Wunsch und Wirklichkeit 16 - Essen und Trinken - ein (gefährliches) Experiment? 17 - Das Streben nach absoluter Sicherheit 18 - Materialismus kontra Ganzheitslehre 19 Elixiere und Tabus 21 Nahrung als Medizin 23 - Schöpfungsmythen 24 - Von der Vielfalt der Tabus 25 — Andere Länder, andere Geschmäcke 27 - Salz ist mehr als bloß salzig 28 - Brauchtum und soziale Riten 29 Ernährung und Psyche 33 Wenn Mädchen nicht mehr essen wollen . . . 34 - Magersucht und Eßsucht—zwei Seiten desselben Phänomens? 34 - Eßstörungen als Familienschicksal 36 — Sind Dicke »normal«? 37 Denn sie wissen nicht, wann sie satt sind 40 — »Abnormale« Normalgewichtige 42 - Triebe werden umgeformt 43 Fleischlos - schuldlos ? Es gibt mehrere Arten des Vegetarismus 48 - Fleischverzicht aus ethischen und ästhetischen Gründen 49 - Der 47 Mensch-Pflanzenköstler, Raub»tier« oder Allesfresser? 50 - Vegetarismus und Gesundheit 51 — Eiweißwertigkeit und Eiweißbedarf 52 - Führt Fleischkonsum zu Gicht und Herzinfarkt? 54 Natürlich — gesund ? 57 Was »Reformer« wollen 58 - Der Vater des Müsli 59 - Gesund vom Darm her 60 — Die verhängnisvolle Frage F. X. Mayrs 64 - Anregen oder Stillegen der Verdauung? 67 - Die Evers-Diät 68 - Naturbelassene Öle 69 - Mit Diät alt werden 70 - Laßt die Nahrung so natürlich wie möglich! 70 - Gibt es noch unentdeckte lebenswichtige Wirkstoffe? 72 - Vermeidet »denaturierte« Kost! 74 - Der »Erzfeind« des Zuckers 75 — Die Ablehnung von Zucker und Weißmehl hat Tradition 77 — Wieviel »natürlich« ist richtig? 81 — Das Geschäft mit der Gesundheitsnahrung 82 - Wahrheit und kommerzielles Interesse 84 - Zur Geschichte der industriellen Lebensmittelverarbeitung 85 Vollwertkost im Deutschen Bundestag? 88 - Wider das undisziplinierte Denken in der Ernährungsdiskussion 88 Bio ist nicht gleich Bio 91 »Biologisch« kontra »konventionell« 92 - Biologisch-dynamische Wirtschaftsform 93 - Organisch-biologisches Bauerntum 94 - Andere Formen von »Bio«-Landbau 94 — Ein Ministerium nimmt Stellung 95 — Qualität hat viele Gesichter 96 — Der Streit um die Hektarerträge 97 - Sind Biolebensmittel »gesünder«? 98 - »Biologisch« = giftfrei? 99 »Bio«-Landbau und Ökologie 100 - Der weite Weg durch die Institutionen 100 Ernährung als Weltanschauung Von Hufeland zu Oshawa 104 - Makrobiotische Empfehlungen können gefährlich sein 108 - Rudolf Steiner und die Ernährung 110 - Erkenntnis aus übersinnlicher Erfahrung 113 - Also sprach Zarathustra . . . 115 103 Ernährung mit Vernunft 117 Die Bedeutung der Nahrung 117 - Ausgewogene Kost 118 - Qualität der Nahrung 120 - Die Energiebilanz des Stoffwechsels 120 - Energie ist Fähigkeit zur Arbeitsleistung 121 - Grundumsatz und Arbeitsumsatz 122 - Der Energiegehalt der Nährstoffe 122 - Die physiologische Regulation der Nahrungsaufnahme 124 - Nährstoffbilanz 126 - Weitere notwendige (»essentielle«) Bestandteile der Nahrung 127 Grundsätze für die Arbeit mit Nahrungsmitteltabellen 128 Ist Ausgewogenheit genug? 128 - Nähr- und Wirkstoffe 129 - Kohlenhydrate 129 - Verdauung und Stoffwechsel der Kohlenhydrate 133 - Kohlenhydratbedarf 133 - Fette 134 - Verdauung und Stoffwechsel der Fette 135 — Fettbedarf 136 — Eiweißstoffe 137 - Globuläre (kugelförmige) Proteine 138 - Fibrilläre Proteine 139 - Verdauung und Stoffwechsel der Eiweißstoffe 139 - Die biologische Wertigkeit der Eiweißstoffe 140 - Wasser 141 - Mineralstoffe 143 - Natrium 143 - Kalium 144 - Kalzium 144 Magnesium 145 - Chlorid 145 - Phosphat 145 - Spurenelemente 145 - Eisen 146 - Vitamine 146 - Fettlösliche Vitamine 148 - Wasserlösliche Vitamine 148 - Ballaststoffe 150 - Lebensmitteltechnologische Verfahren 150 Haltbarmachung 150 - Lebensmittelzusatzstoffe und Fremdstoffe 151 - Ernährungsinformation und Ernährungsberatung 154 - Tips zum Abnehmen 156 - Ernähren sich die Deutschen ausgewogen? 158 - Wie kommt eine wissenschaftlich fundierte Ernährungstherapie zustande? 159 — Woran man Ernährungs-Quacksalber erkennen kann 160 Warum Schlankheitsdiäten manchmal gefährlich, meist aber unwirksam sind Atkins-Diät: Abnehmen mit Eiern und Steaks 164 - »Schuld sind die Kohlenhydrate« 166 - Ketose, ein geheimnisvoller Faktor? 167 - Einseitig, daher nur kurzfristig wirksam 170 - Abnehmen mit Kohlenhydraten 170 - Abnehmen mit Ballast 172 - Alle Frühjahre wieder 173 - Schlank in den Sarg 175 - Das beste Rezept: Fasten 175 - Die Energiebi- 163 lanz, ein ehernes Gesetz 177 — Der Völlerei frönen, ohne dick zu werden 178 - Regler für das Körpergewicht 179 Leerlauf im Stoffwechsel 182 - Gründe, um schlank werden zu wollen 183 — Aus der Geschichte des Schönheitsideals 185 - Zweifelhafte Erfolge der Schlankheitshysterie 186 - Leben Schlanke länger? 187 - Ist dick also gesund? 190 Diätkuren als Heilmittel 193 Krebs und Ernährung 193 - Die Gersonsche Krebsdiät 195 - Die Kuhische Schutzkost gegen Krebs 196 — Das »Wundermittel« Laetrile 198 - Die Haysche Trennkost 199 Richtige und unrichtige Verdauungsgesetze 200 — Kohlenhydrat und Eiweiß lassen sich nicht »trennen« 202 — Säurebildner und Basenbildner 204 - Rheumadiät 205 - Die Kinder Feingolds 205 - Experimente mit widersprüchlichen Ergebnissen 207 - Nicht Farben sind schuld, sondern Nahrungsphosphat 208 - Seit langem bekannt: Nahrungsmittelallergie 209 - Vitaminomanie 210 - Linus Pauling und Vitamin C 213 - Mit Vitamin C gegen Krebs 215 — Krankenkost 216 - Aus der Geschichte der Diätetik 217 Zwischen Sucht und Askese 219 Vergessene Gebote der Religion 220 - Essen und Trinken als irrational bestimmte Handlungen 221 - Essen und Trinken als Ersatzbefriedigung 221 - Eine wenig beachtete Ursache der Industriefeindlichkeit 223 - Freiwillige und unfreiwillige Risken 224 - Nochmals: Streben nach Sicherheit 224 Danksagung 227 Literaturverzeichnis 229 Stichwortverzeichnis 233 Worum es geht Der Zweck dieses Buchs Diätbücher gibt es in Hülle und Fülle. Fast alle haben ein Merkmal gemeinsam: sie beschreiben jeweils eine bestimmte Ernährungsform, die Reisdiät, die vegetarische Kost oder die biologische Ernährung. Kaum jemals aber werden die zahlreichen in der Öffentlichkeit bekannten Diätempfehlungen vergleichend und kritisch unter die Lupe genommen. Genau das soll in vorliegendem Buch geschehen. So gesehen dürfte es eine Marktlücke füllen. Es geht mir nicht wie den meisten Autoren von Diätbüchern darum, etwa eine bestimmte Kost als ideales Mittel zum Abnehmen anzupreisen; es geht vielmehr um die Korrektur der zahllosen unrichtigen, irreführenden oder regelrecht gefährlichen Behauptungen in Sachen Essen und Trinken, die in den populärwissenschaftlichen Schriften über Ernährung kursieren. Unrichtig sind beispielsweise die Begründungen für die Haysche Trennkost; irreführend sind die wohlklingenden Verheißungen der Schlankheitsapostel, man könne ohne zu hungern schnell abspecken (wenn das wahr wäre, müßte Übergewicht bereits zur Seltenheit geworden sein - das ist aber, wie jedermann selbst überprüfen kann, keineswegs der Fall, im Gegenteil); regelrecht gefährlich sind manche Empfehlungen von Makrobioten und zahlreiche Ernährungstips zur Genesung von teilweise schweren Leiden. Wer vorgibt, Krankheiten vom Krebs bis zur Syphilis bloß mittels Diät rasch und sicher heilen zu können (Beispiele dafür finden sich in den folgenden Kapiteln in bunter Folge), handelt unverantwortlich, weil er eine Therapie vorschlägt, die in den meisten Fällen nicht wirksam ist, gar nicht wirksam sein kann, und damit möglicherweise verhindert, daß sich Patien- ten von einem Arzt untersuchen und behandeln lassen. Rezepte wie das Kuhische Schimmelmüsli sind darüber hinaus Anleitungen zur Selbstvergiftung. Ich bin überzeugt, daß es Millionen von Menschen gibt, die Schlankheitsdiäten ausprobieren, jedes Jahr wieder und jedesmal ohne bleibenden Erfolg. Ebenso glaube ich, daß zahlreiche Kranke nach einer der vielen Wunderdiäten greifen, um gesund zu werden, gleichfalls auch Gesunde, die überzeugt sind, eine spezielle Diät schütze sie vor Krankheit. Vor allem für diese Menschen, die sich als ernährungsbewußt verstehen, ist dieses Buch als kritischer Ratgeber in Fragen des gegenwärtigen Diätkults gedacht. Beginnen wir, die Probleme des Gesundheitswesens in den Industriestaaten aufzuzeigen. Ihre Analyse führt geradewegs zu unserem Thema. Das System der Sozial- und Krankenversicherung ist zu einem Milliarden verschlingenden Moloch geworden. Der einzelne Bürger nimmt das in der Regel nicht w a h r - für ihn scheinen die Leistungen des Gesundheitswesens »gratis« zu sein. Wird er krank, hat die gesetzlich garantierte Behandlung einzusetzen: Der Patient läßt sich operieren oder schluckt - bis auf die Rezeptgebühr »kostenlose« - Pillen, die ihn wieder gesund machen sollen. Andererseits kaufen viele Wohlstandssatte aus privaten Mitteln »Gesundheit« in rauhen Mengen ein, sogar dann, wenn sie noch weit davon entfernt sind, wirklich krank zu sein: sie tanken »Gesundheit« mittels Vitaminpräparaten, Bio-Vollwertnahrung und Wunder verheißender Fitness-Kuren— je teurer, desto besser- und verschlingen DiätBestseller, die ihnen vorgaukeln, endlich ohne Hungern schlank werden zu können. Bei Meinungsumfragen geben sie sich asketisch und gesundheitsbewußt. Glaubt man der Statistik, sind aber die sogenannten »ernährungsabhängigen« Krankheiten - Zuckerkrankheit, Arterienverkalkung, Gicht und andere — weiterhin im Vormarsch. So weit dürfte es also mit dem allgemeinen Gesundheitsbewußtsein in der Praxis nicht her sein. Sollte der Rummel um d i e - jedes Frühjahr wieder- angepriesenen »neuesten« Wunderdiäten bloß ein Alibi sein, für den Rest des Jahres weiterhin nach Herzenslust schlemmen, saufen und faul sein zu »dürfen«? 10 Was bedeuten »Gesundheit« und »Diät« ? »Gesundheit ist«, so definiert die Weltgesundheitsorganisation W H O , »ein Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.« In ähnlicher Weise bedeutet »Diät« ursprünglich nicht »Schonkost«; der im 15. Jahrhundert als medizinischer Terminus eingeführte Begriff leitet sich von griechisch diaita ab und bezieht sich ganz allgemein auf die Lebensweise, nicht bloß auf das Essen und Trinken. Das zugehörige Zeitwort diaitein bedeutet aber bereits nicht mehr nur »am Leben erhalten«, sondern bereits auch »ärztlich behandeln«, »Vorschriften gehorchen« (ärztlichen, religiösen). Auch eine französische Bezeichnung für Diät, regime, bedeutet übrigens ebenfalls soviel wie Lebensordnung. Der vermeintliche Anspruch auf Gesundheit Im gleichsam utopisch-illusionären Griff nach dem Unerreichbaren dokumentiert die WHO-Definition einen optimistischen Zeitgeist, der von der Überzeugung gekennzeichnet ist, eine solche »Gesundheit« sei zu erlangen. Man glaubt, einen Anspruch auf vollkommenes Wohlbefinden zu haben, einen Anspruch, der von den Verantwortlichen in Gesellschaft und Staat eingelöst werden müsse. Der Staat sei für das Wohlbefinden zuständig, nicht man selbst. Dieser realitätsferne Gesundheitsbegriff, der mit der Einstellung einhergeht, Lust und Glück haben zu können, ohne dafür unter Umständen mit Schmerz und Leid zahlen zu müssen, verführt beinahe notwendigerweise zum Wohlstandsexzeß: Der demokratisch gesinnte Bürger nimmt die Freiheit für sich in Anspruch, so zu leben, wie es ihm paßt, mehr zu essen, als für Herz und Kreislauf gut ist, mehr zu trinken, als die Leber aushält, und mehr zu rauchen, als die Lunge verträgt. Die Folgen hat der Staat zu reparieren, schlimmstenfalls muß man halt Pillen schlucken oder ein paar Wochen Diät leben. Diese Situation mag Ivan Illich im Auge gehabt haben, als er forderte, wir müßten dem Arzt die (Gesundheits-)Bibel aus der Hand reißen und sie wieder dem einzelnen Menschen zum Gebrauch in die Hand geben. Die Diätprediger sekundieren, indem sie publikumswirk11 sam den Bankrott des durch statistisches Denken verblendeten mechanistisch-medizinischen Spezialistentums verkünden. Als Gesundheitsgurus hochgeschaukelt, predigen sie »Ganzheitsmedizin« und »natürliche Heilkunde«. Ihre Kritik am Gesundheitssystem der Industriestaaten mag zumindest teilweise Berechtigung haben. Doch wie sehen die Lehren der sogenannten Außenseiter in der Praxis aus? Wer dieses Buch liest, kann feststellen: Im Endeffekt machen uns die meisten von ihnen wieder zu Sklaven der Mentalität, Gesundheit als Selbstbedienungsladen zu betrachten: man solle mehr Vollwert-Müsli essen, sagen die einen, man müsse nur Fabrikkost meiden, warnen die anderen, am besten esse man kein Fleisch mehr oder nur mehr Eier oder keine Lebensmittel mit künstlichen Farbstoffen, o d e r . . . Der Weg zu Glück und Wohlbefinden ist, so scheint es, bloß mit ein paar Tips und Tabus gepflastert, Gesundheit und Heilung auch von schwersten Krankheiten seien garantiert, wenn man ein einfaches Diätritual befolge: Einige Speisen (je nach Diätapostel jeweils andere) werden auf dem Altar der Selbstbeschränkung geopfert; ansonsten darf alles beim alten bleiben. Wer Getreide mit der Handmühle zerkleinert in der Hoffnung, nunmehr gesund zu leben, »sühnt« seine „,/_2£„-Verfehlungen nicht anders als einer, der den Ablaß für eine Geldspende hält. Essen und Trinken aus der Gesundheitsperspektive Bedauerlich, daß der gegenwärtige Diätkult mit seinen mannigfachen, widersprüchlichen Ausdrucksformen den Blick für zwei einfache Realitäten verstellt: Richtige Ernährung ist zwar die Basis für Gesundheit und Leistungsfähigkeit, aber es gibt noch andere- wesentliche- Voraussetzungen dafür, somatische wie psychosoziale: Man wird nicht einfach dick, weil man zuviel ißt und trinkt- man kann zunehmen, wenn mit der Nahrung mehr Energie aufgenommen wird, als der Körper durch Stoffwechsel und Bewegung verbraucht; Ernährung und Bewegung sind somit untrennbar miteinander verbunden. Viele Menschen essen nicht nur deshalb Süßigkeiten, weil sie ihnen schmecken, sondern weil sie sich damit einen Lustgewinn verschaffen wollen, den sie anderswo entbehren. Realität ist ferner, daß die wichtigsten Ratschläge zur richtigen Er12 nährung für den gesunden Menschen eigentlich sehr einfach, nahezu banal zu nennen sind (deshalb lassen sie sich auch nicht als Bestseller verkaufen): eine vielseitig zusammengesetzte, also »gemischte« Kost bevorzugen, mit Alkohol und anderen Genußmitteln sowie Fett, Zukker und Salz sparsam umgehen, genießen- aber mit Maß. Aus, basta. Kein gesunder Mensch setzt sich Tag für Tag hin, wägt, was er gegessen und getrunken hat, und kalkuliert hernach, ob er seinen Tagesbedarf an Vitamin Bi oder an Eisen gedeckt hat. Wenn er neben Fleisch oder Fisch auch Getreideprodukte, Gemüse und Obst gegessen hat, denn dann kann er so gut wie sicher sein, dem Körper an Nähr- und Wirkstoffen das gegeben zu haben, was dieser benötigt. Verwirrspiel der Diätmanager Trotzdem scheint vielfach nichts wichtiger zu sein, als die Frage, was man essen soll und was nicht. Die beinahe neurotische, jedenfalls aber übertriebene und falsch artikulierte Hinwendung mancher Menschen zu Nahrung und Ernährung scheint mir nicht zuletzt Produkt eines üblen Verwirrspiels zu sein, von dem die Autoren und Verleger der zahlreichen durch die Öffentlichkeit geisternden Kostempfehlungen sowie die Erzeuger der entsprechenden Präparate und die Händler profitieren, aber nicht die eigentlich Betroffenen. Um genau dieses Verwirrspiel geht es im vorliegenden Buch. Es geht nicht um eine Kritik an der naturwissenschaftlichen Ernährungswissenschaft und Medizin - an der haben sich schon andere vor mir versucht. Vielmehr habe ich mir zum Ziel gesetzt, die von den zahllosen Diätaposteln an die breite Öffentlichkeit gerichteten Ernährungsratschläge kritisch zu diskutieren. Sehen wir uns in einem kurzen Überblick an, worum es in den folgenden Kapiteln geht: Eingangs wird über Geschichte und Wandel der Ernährungsgebräuche berichtet, von den Nahrungstabus in Polynesien bis zu den Diätvorschriften des Alten Testaments, und aufgezeigt, wie sich Tabu, Kult und Ritus darin artikulieren. Daß Essen und Trinken mehr sind als die Befriedigung physiologischen Hungers, verdeutlichen auch so manche Funktionen, die Lebensmittel erhalten können: Kaviar und Krimsekt sind Statussymbole, Milch soll ein Gefühl der Sicherheit verleihen, Süßigkeiten dienen als Belohnung und so weiter. 13 In der Folge werden Zusammenhänge zwischen Ernährung und Psyche geschildert. Magersucht und Eßsucht haben nur zu oft ihre Wurzeln in einer gestörten Kindheit beziehungsweise Familiensituation; orale Fixierung und die Abhängigkeit von äußeren Reizen wirken oft stärker als Impulse aus dem Magen. Anhand von Ergebnissen der Verhaltensforschung wird erklärt, wie und warum sich Dicke falsch ernähren. Im folgenden werden die verschiedenen vegetarischen Kostformen erläutert. Die Ablehnung von tierischem Eiweiß hat nicht nur religiös beziehungsweise mythisch bedingte Ursachen, sondern zuweilen auch ökonomisch beeinflußte Beweggründe- bei der Fleischproduktion wird nämlich der Energiegehalt der Nahrungspflanzen vergleichsweise nur schlecht ausgenutzt. Damit in Zusammenhang steht nicht zuletzt das Problem des Hungers in der Dritten Welt. Anschließend wird die Entstehung der Reformbewegung geschildert, die unter dem Motto »Was natürlich ist, ist auch gesund« heute populär ist und »Vollwertkost« empfiehlt, »raffinierte« Industriekost aber ablehnt. Dabei geht es auch um die Thesen von Waerland, Bircher-Benner, Kollath und Bruker. Als nächstes ist die sogenannte Biokost an der Reihe; pro und kontra in der Diskussion um alternative Formen von Landwirtschaft und Viehzucht werden ausführlich dargestellt. Biologischer Anbau hat als Antwort auf Exzesse der industriellen Agrarproduktion durchaus seine Berechtigung, vor allem unter ökologischen Aspekten. Doch ist es irrig zu glauben, die Vorsilbe »Bio« sei schon ein Garant für Gesundheit. Ein Kapitel ist dem Thema »Ernährung als Weltanschauung« gewidmet. Am Beispiel der Makrobiotik und anthroposophischer Auffassungen versuche ich zu erklären, wie Diätratschläge aus Anschauungen abseits der mechanistisch-kausalen Naturwissenschaft abgeleitet werden. »Ernährung mit Vernunft« ist im wesentlichen eine kurz gefaßte Ernährungslehre und vermittelt die wichtigsten Voraussetzungen eines naturwissenschaftlich fundierten Wissens um Nahrung und Ernährung. Das Kapitel ist gewissermaßen ein Bezugsrahmen für die Diskussion der einzelnen Diätlehren, die — oft mit falschen Argumenten - eine einseitige Zusammensetzung des Speiseplans empfehlen und noch dazu glauben machen, eine solche Kost heile Krankheiten. Ein ausführliches Kapitel setzt sich mit den gängigen Schlankheitsdiäten auseinander. Kaum ein Lebensmittel gibt es, das nicht irgend14 wann als ideal zum Abspecken propagiert worden wäre. Vor- und Nachteile der Diätratschläge - von der Atkins-Diät zur F-Plan-Diät werden aus der Sicht der modernen Ernährungswissenschaft diskutiert. Von Interesse sind auch die Motive, warum viele Dicke abnehmen wollen: Der Wunsch, schlank zu sein, ist meist stärker als die Hoffnung, gesund zu bleiben. Das Hollywood-Ideal der schlanken Linie wird historisch gesehen als neue Erscheinung beschrieben. In der Folge geht es um die Kontroverse hinsichdich des Zusammenhangs zwischen Körpergewicht und Lebenserwartung- leben Dünne länger als Dicke? Ein Kapitel »Diät als Heilmittel« befaßt sich mit Diätkuren, die zur Heilung von allerlei Krankheiten empfohlen werden, mit der gegenwärtig zu beobachtenden »Vitaminomanie«, der Feingold-Theorie und abschließend mit einigen Aspekten der klinischen Diätetik. Im Epilog schließlich werden wir unter dem Aspekt »Zwischen Sucht und Askese« versuchen, zur Erkenntnis zu gelangen, daß »Gesundheit« die Suche nach dem richtigen Maß voraussetzt, das Tag für Tag von jedem einzelnen erst gefunden sein will. Das Dilemma der Gesundheitserziehung Machen wir uns nichts vor: Über Essen und Trinken wird viel geschrieben und geredet; danach gehandelt wird in den seltensten Fällen (von kurzfristigen Versuchen abgesehen). In Abwandlung eines Ausspruchs von Konrad Lorenz gilt auch und besonders für Ernährungsempfehlungen, daß gesagt nicht gleich verstanden, verstanden nicht gleich akzeptiert und akzeptiert noch lange nicht befolgt ist. Eine Reihe psychologischer Handikaps macht das Befolgen selbst der einfachsten Rezepte für ein gesundheitsgerechtes Leben schwierig. Warnungen vor den Schäden exzessiven Konsumverhaltens fruchten nicht, weil Angst vor Krankheit in der Zukunft kein wirksames Motiv für Verhaltensänderungen ist und außerdem immer die Ausrede bleibt: »Mir kann so etwas nicht passieren« (was oft genug sogar stimmt). Meist schleicht sich der Tod unmerklich ein. Wir sterben an Krankheiten, an denen wir nicht »krank« sind, an Arteriosklerose, an Krebs, deren Symptome erst kurz vor dem Ende dramatisch in Erscheinung treten. Bis dahin fehlt die Erfahrung des Leidens, die eine Änderung der Lebensweise bewirken könnte. 15 Schließlich sollten wir nicht verdrängen, daß es nicht nur Genießertum ist, das den Menschen in unserer Überflußgesellschaft dazu veranlaßt, unmäßig zu essen und zu trinken, sich nur zu oft selbst zugrunde zu richten. Viele von uns, so behaupte ich, werden durch Überdruß und Verzweiflung, durch eine als sinnlos erlebte Existenz zu Sucht und Betäubung getrieben. Solange wir nicht dieses Übel an der - oftmals in uns und in unserer Gesellschaft liegenden- Wurzel packen, werden gutgemeinte Diätratschläge wohl eine müßige Pflichtübung bleiben. Meinungsmache, Wunsch und Wirklichkeit Die meisten Ernährungsempfehlungen werden auch deshalb nicht befolgt, zumindest nicht auf längere Zeit, weil sie zu einseitig sind, genauer gesagt, eine derart radikale Abkehr von traditionellen Gewohnheiten erfordern, daß ihre Umsetzung in die Praxis scheitert. Außenseiterdiäten, extremen Kostformen und Gesundheitsnahrung wird zwar in den Medien breite Aufmerksamkeit geschenkt. Man könnte deshalb vermuten, es handle sich dabei um auch wirtschaftlich bedeutende Bewegungen. Dies dürfte nicht der Fall sein: So werden in der Bundesrepublik Deutschland höchstens 0,2 Prozent der bewirtschafteten Fläche »biologisch« bebaut, höchstens 1 Prozent der Bevölkerung ernährt sich vorwiegend vegetarisch. Diese Diskrepanz ist mit der Situation bei den Übergewichtigen vergleichbar, denen landauf, landab seit Jahrzehnten eingehämmert wird, sie müßten abnehmen, weil dick ungesund sei und nur das sogenannte Idealgewicht die höchste Lebenserwartung verheiße. Fast jeder Dicke hat in der Folge - so zeigen Meinungsumfrag e n - beim Essen ein schlechtes Gewissen; tatsächlich nimmt jedoch die Zahl der Übergewichtigen kaum ab (außer vielleicht in den höheren Sozialschichten). Mit dieser Tatsache wird auch der Wirksamkeit vieler immer wieder aufs neue propagierten Schlankheitskuren ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt. Es ist aber wiederum ein Glück, so könnte man argumentieren, daß Ernährungsgewohnheiten zu den Verhaltensweisen gehören, die am schwierigsten zu ändern sind; denn unabsehbare Folgen hätte es, wenn nach Verkündung der neuesten Kartoffeldiät plötzlich alle Leute nur noch Kartoffeln kauften oder wenn sie als Folge makrobiotischer Kostempfehlungen verschimmeltes Getreide verspeisten. 16 Essen und Trinken - ein (gefährliches) Experiment? Rational geht es also bei der Diskussion in Sachen Ernährung nicht gerade zu. Das zeigt sich auch, wenn man die Frage stellt, warum eigentlich die Diätempfehlungen der Außenseiter so großes Interesse finden. Um hierfür eine plausible Erklärung zu finden, ist es sinnvoll, Nahrungsmittel und Ernährung als wohl wichtigstes Bindeglied zwischen dem Menschen und seiner Umwelt zu sehen. Als unsere Vorfahren in vorgeschichtlicher Zeit auf Beutezügen oder Völkerwanderungen auf neue Nahrungsquellen stießen, konnten sie niemals sicher sein, daß diese ihrer Gesundheit zuträglich sein würden. Diese Ungewißheit ist auch in geschichtlichen Epochen geblieben. Nicht umsonst hatten Fürsten und Könige »Vorkoster«, die nicht nur über die geschmacklichen Qualitäten eines Mahls zu befinden hatten, sondern nicht selten auch als menschliche Versuchskaninchen herhalten mußten. Das christliche Tischgebet ist nicht nur ein Dank für das tägliche Brot, sondern auch gleichzeitig eine Bitte, das Mahl zu segnen, und damit auch in gewisser Weise der Wunsch, Böses von ihm abzuwenden. Stets war und ist Essen und Trinken mit Risiken behaftet. Schweinefleisch konnte Trichinen enthalten, Getreide mit Mutterkorn kontaminiert sein, nicht ausreichend gekochte Hülsenfrüchte bargen Giftstoffe, die Milch war vielleicht mit Erregem der Tuberkulose verseucht und so weiter. Vergiftungen infolge mangelnder Hygiene sind dank moderner Lebensmittelverarbeitung und -kontrolle verhältnismäßig selten geworden (wenngleich nicht so selten, wie man es sich wünschen würde). Unsere Lebensmittel sind, so versucht nicht nur die Wirtschaft zu überzeugen, weitgehend »sicher« geworden. Dennoch ist Unsicherheit geblieben. Sie artikuliert sich heute allerdings in neuer Form. Die Religion hat ihre Rolle als Bezugspunkt für den Menschen weitgehend verloren; statt dessen huldigt man der modernen Technik. Allerdings nicht ohne Zwiespalt: Wir alle benutzen sie (erst ihr Wegfall würde deutlich machen, wie sehr wir von technischen Hilfsmitteln bereits abhängig sind), doch zahlreiche unerwünschte Auswirkungen der technischen Zivilisation auf unsere Umwelt haben ein neues Mißtrauen aufkommen lassen- die Furcht, daß wir uns durch immer mehr Technik und immer weitgehendere Eingriffe in die 17 Natur langsam aber sicher selbst vergiften. Kein Wunder, daß Nahrungsmittel - Mitder zwischen Mensch und Umwelt - im Kreuzfeuer der Diskussion stehen. Die Naturwissenschaft und Technik versuchen, die Sicherheit der in Verkehr gebrachten Lebensmittel zu erhöhen. Das bedingt aber, daß immer wieder Schadstoffe und Schadwirkungen erst einmal als solche erkannt und anschließend nach Möglichkeit beseitigt werden. Nicht umsonst spricht man vom »jeweiligen Stand der Wissenschaft« und will damit zum Ausdruck bringen, daß die Dinge in Fluß sind. Was heute von der Wissenschaft als akzeptiert gilt, kann morgen schon aufgrund neuer Erkenntnisse wieder verworfen werden. Das Streben nach absoluter Sicherheit Dieses entscheidende Charakteristikum jeder seriösen Wissenschaftimmer bereit zu sein, infolge neuer Erkenntnisse alte Überzeugungen fallenzulassen - ist gleichzeitig ihr Vorzug und ihr Dilemma. Ihr Vorzug, weil wir dadurch viel an Wissen erworben haben; ihr Dilemma, weil der. religiös entwurzelte Zivilisationsbürger keine Wahrscheinlichkeiten bewerten, auch nicht Nutzen und Risiko gegeneinander abwägen will. Nein, er will absolute Sicherheit, Geborgenheit, die früher die Religion vermitteln konnte, die Überzeugung, die ein Weltbild mit sich brachte, in das sich der Mensch eingeordnet erlebte. Darum finden heute charismatische Persönlichkeiten und Führernaturen, die absolute Wahrheiten zu besitzen vorgeben, so großen Zulauf. Die Attraktivität so mancher Diätempfehlung i s t - so gesehenbloß der Ausdruck eines Zeitgeistes, der immer mehr Jugendliche Zuflucht bei Sekten, Drogen und Wundermitteln suchen läßt. Nicht umsonst haben viele Ernährungslehren, abseits der etablierten Wissenschaft, weltanschaulich-religiöse Hintergründe. Mag sein, daß für viele auch der romantische Wunsch, zurück zur Natur, zurück zur Überschaubarkeit des Bauernhofes, zurück zur Verbundenheit mit der Heimaterde, ein Motiv ist. Ein romantischer Wunsch ist es allemal bei jenen, die, selbst in der Großstadt aufgewachsen, gar nicht mehr lernten, die Natur so zu sehen, wie es der Bauer, zumindest früher, tat. Materialismus kontra Ganzheitslehre Bei jeder kritischen Auseinandersetzung über die Grenzen der kausalanalytischen Naturwissenschaft prallen sehr bald unversöhnliche Gegensätze aufeinander. Der materialistisch denkende Naturwissenschaftler kehrt schroff den Rücken, wenn er hört, Leben sei mehr als Physik und Chemie, weil er darin den alten Vitalismus in neuer Verkleidung zu erkennen wähnt. Gleichwohl schütteln Anthroposophen, Makrobioten und ganzheitlich orientierte Reformer unwillig den Kopf, wenn manche Mediziner meinen, Krankheitsursachen seien mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Genesung als rein biochemischen Prozeß zu betrachten. Wer in dieser Diskussion versucht, die mannigfaltigen Standpunkte zu beschreiben, muß von allen Seiten der Kritik gewärtig sein, er habe die jeweilige Anschauung gar nicht verstanden. Wer darüber hinaus auch noch versucht, in dem Wirrwarr der Meinungen die Spreu vom Weizen zu trennen, läuft vollends Gefahr, schließlich von allen Seiten als inkompetent gebrandmarkt zu werden. Bei der Niederschrift dieses Buches war ich mir dieser Gefahren von Anfang an bewußt. Dennoch halte ich es für richtig und notwendig, sie in Kauf zu nehmen; ich bin überzeugt, daß allein schon eine weitgehend vorurteilslose Beschreibung der heute weithin kursierenden Meinungen zu Ernährungsfragen so manchen Fingerzeig und Anstoß zum Nachdenken geben kann. Ferner bin ich der Auffassung, daß die wichtigsten Ratschläge der Ernährungserziehung im Grunde genommen einfach sind. Das rituelle Brimborium mancher Diätlehren und die Auswüchse des naturwissenschaftlichen Spezialistentums mögen darüber hinwegtäuschen; abgesehen davon sind die Ratschläge zur ausgewogenen Ernährung keineswegs spektakulär und finden darum auch bei Medienmachern selten Gehör. Beginnen wir aber nun die Reise durch den Irrgarten der Ernährungsformen. 19 Elixiere und Tabus In den alten Hochkulturen galt vielfach die Anschauung, die gesamte Materie bestehe aus den vier Elementen Erde, Luft, Feuer und Wasser, die mit den Qualitäten trocken, kalt, heiß und feucht zusammenhingen. An diesen Qualitäten und ihren graduellen Unterschieden nehme alles teil- die Temperamente der Menschen, ihre Krankheiten und auch die Nahrungsmittel. Letztere wurden nach Maßgabe ihres Beitrags zu den jeweils wünschenswerten Qualitäten der Hitze, Kälte, Feuchtigkeit oder Trockenheit des Körpers empfohlen. .Noch heute sind in der asiatischen Volksmedizin, zumindest im Kulturkreis des Buddhismus, solche Anschauungen lebendig. In Europa wurden sie von Aristoteles aufgegriffen, im Mittelalter weiter ausgebaut und von Paracelsus durch alchimistisches Gedankengut erweitert. Das Prinzip der Viergliedrigkeit ist auch eine Grundlage der im 20. Jahrhundert entstandenen anthroposophischen Anschauung. Beobachtungen über natürliche Vorgänge im Bereich der Ernährung finden sich in den alten Quellen zur Geschichte der Menschheit aber nur selten. Die materialistische Betrachtung der Nahrungsmittel als. Lieferanten von Energie, Baustoffen und Wirkstoffen für unseren Körper - einen komplizierten chemischen Apparat - ist erst im vergangenen Jahrhundert entstanden. Sie hat zwar eine Fülle von Informationen über Zusammenhänge zwischen Nahrung, Ernährung und Gesundheit vermittelt; trotzdem dominieren in der Bevölkerung vielfach heute noch irrationale Anschauungen über Wirkung und Bedeutung der Nahrung - vielleicht auch deshalb, weil medizinische Ernährungslehre und chemisch fundierte Lebensmittelkunde im allgemeinen Schulunterricht so gut wie gar nicht auftauchen und an den Universitäten nur am Rande gelehrt werden. 21 Nahrung als Kultobjekt, Speisenzubereitung als magische Verrichtung, Essen und Trinken als Gemeinschaftsritual- bei allen Völkern und zu allen Zeiten, in allen Mythen und allen Religionen finden wir Tabus und rituelle Handlungsfolgen, die eng mit Nahrung und Ernährung verknüpft sind. Diese Tradition ist heute keineswegs vergessen. Agnostizismus und Materialismus konnten nicht bewirken, daß gerade im Alltag, bei den so selbstverständlich und meist unbewußt ablaufenden Vorgängen wie Essen und Trinken, Glaube und Aberglaube oft stärker präsent sind als Logik und Vernunft. Es behaupte niemand, Ernährungsrituale seien zwar bei Naturvölkern noch lebendig, in unserer aufgeklärten Zivilisation aber ausgestorben; im Gegenteil- wir finden sie heute noch, auch oder gerade dort, wo sie auf den ersten Blick am wenigsten zu erwarten wären: »Eine Mahlzeit bei Mac Donald's hat in gewisser Weise den Charakter eines sozialen oder religiösen Rituals«, schreiben beispielsweise amerikanische Anthropologen in einem Buch über den Wandel der Ernährungsgebräuche (Lit. 1). Auch die Tatsache, daß die meisten Diätvorschriften mit Kategorien wie »erlaubte« und »verbotene« Lebensmittel arbeiten, kann als Überbleibsel von Nahrungstabus gesehen werden. Ebenfalls von großem Einfluß - unbewußt auch heute noch - ist die sogenannte Doktrin der Signaturen, vielleicht ein Relikt von Vorstellungen primitiver Naturvölker. So glauben manche Menschen, roter Portwein oder Rote-Rübensaft seien blutbildend, weil sie rot sind. Farbe und Gestalt eines Nahrungsmittels weisen, so meint man, auf seine Funktion im Körper hin. Rote Nahrung trägt zur Blutbildung bei, gelbe heilt Gelbsucht oder verursacht sie. Als die Kartoffel nach Europa gebracht wurde, legte man ihr bleiches, knolliges Aussehen und die Art ihres Wachstums unter dem Erdboden als Zeichen dafür aus, daß sie Lepra verursachen kann, weil sich bei dieser Krankheit ebenfalls bleiche und »knollige« Stellen unter der Haut bilden. Bei zahlreichen Naturvölkern finden wir den Glauben, daß Nahrung auch die Wesenszüge der Kreatur vermittle, von der sie stammt - eine Anschauung, die bis hin zum Kannibalismus wirkt: um mutig zu werden, verspeiste ein Mann das Herz eines tapferen Gegners. Etwas weniger wörtlich genommen finden wir die Doktrin der Signaturen auch in der Begründung mancher Vegetarier, kein Fleisch essen zu wollen (siehe Seite 49). Nicht wenige der modernen Technik ablehnend gegenüberstehende 22 Personen verkünden, man solle vorzugsweise naturbelassene Lebensmittel essen, denn, so ihre Devise: »Was natürlich ist, ist auch gesund«; raffinierte Industriekost dagegen sei schädlich, weil »unnatürlich«. Man sieht also, die Doktrin der Signaturen lebt in gewisser Weise auch heute in einer Gedankenwelt fort, die als Gegenbewegung zur Industrialisierung entstanden ist und infolge der Diskussion um die Verschmutzung unserer Umwelt breite Beachtung findet. Nahrung als Medizin Ebenso wie sich Gesundheit und Krankheit begrifflich nicht streng voneinander abgrenzen lassen, gibt es auch zwischen »Nahrungsmittel«, »Diätmittel« und »Heilmittel« einen fließenden Übergang (die moderne Gesetzgebung versucht zwar, den Unterschied zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln durch Paragraphen festzulegen, hat jedoch im Detail dabei große Schwierigkeiten). Zu bedenken ist ferner, daß etwa im Mittelalter Verdauung gewissermaßen als partieller Krankheitsprozeß angesehen wurde: »Das Essen ist eben jedesmal >ein bißchen krank sein<, >ein bißchen die Krankheit überwinden<, >ein bißchen heilem«, meinten arabische Ärzte des Mittelalters, wenn sie sagten: »Man ißt sich krank und verdaut sich gesund« (Lit. 2). Auch diese Anschauung läßt sich bis in die Gegenwart weiterverfolgen (siehe Seite 112). Die wenigen historisch überlieferten Beobachtungen von Wirkungen mancher Nahrungsmittel beziehen sich übrigens auf deren mögliche Wirkung als Heilmittel. Eines der ersten »ernährungswissenschaftlichen« Experimente findet sich im Buch Daniel (Kapitel 1): Daniel und drei andere jüdische Knaben waren für die Erziehung am babylonischen Hof ausgewählt geworden. Daniel überredete in der Folge den Hofbeamten, der für ihre Ausbildung verantwortlich war (Vers 11 ff.): »Versuche es doch mit uns, deinen Knechten, zehn Tage lang, und laß uns Getreide zu essen und Wasser zu trinken geben, und laß dann vor dir unsere Gestalt und die der Pagen, die von des Königs Speise essen, prüfen ...« Der Versuch wurde durchgeführt. Das Ergebnis: »Nach den zehn Tagen waren sie schöner und besser bei Leibe, als alle Pagen, die von des Königs Speise aßen. Da änderte der Aufseher ihre Speiseordnung und ließ sie Getreide essen.« Die Wirkung von Fischleber auf eine Augenkrankheit, die, wie wir 23 heute wissen, durch einen Mangel an Vitamin A entsteht, wurde ebenfalls schon in der Antike beschrieben. Im elften Kapitel des Buches Tobias, in den Apokryphen, wird geschildert, wie Tobias seinen Vater von dieser Krankheit heilte, bei der sich über seinen Augen eine weiße Schicht »wie ein Häutlein von einem Ei« gebildet hatte. Tobias hatte auf einer Reise (Kapitel 6) den Auftrag eines Engels erhalten, einen Fisch aus dem Tigris zu ziehen und »das Herz, die Galle und die Leber des Fisches als Arznei zu behalten«. Als Tobias dann nach Hause kam, nahm er von der Galle des Fisches und salbte die Augen seines Vaters, der dies fast eine halbe Stunde lang zu erdulden hatte. »Und es ging ihm die Krankheit von den Augen, wie ein Häutlein von dem Ei, und Tobias ergriff es und zog es von seinen Augen, und alsbald ward er wieder sehend« (Vers 13 ff.). Daß Nahrung heilen könne, ist also keine neue Theorie, sondern eine historisch tief verwurzelte Auffassung. Damit scheinen wohl zahlreiche Außenseiter der Ernährungslehre zu spekulieren, wenn sie von einer bestimmten, von ihnen empfohlenen Diät behaupten, sie sei geeignet, Krankheiten bis hin zum Krebs zu heilen. Natürlich baut auch die wissenschaftliche Fachrichtung »Diätetik« (siehe Seite 216 ff.) darauf, daß bestimmte Ernährungsformen und Zubereitungsarten den Verlauf einer Krankheit günstig beeinflussen können (Lit. 3). Schöpfungsmythen Im Buch Genesis wird beschrieben, wie Jahve am sechsten Schöpfungstag Adam erschuf und ihm Eva zur Seite gab. Sie durften alles essen im Garten Eden, nur nicht die Frucht vom Baum der Erkenntnis; sie war verboten. Als Eva und Adam dieses Gebot verletzten, wurden sie aus dem Paradies vertrieben. Auch wenn es sich bei der Frucht vom Baum der Erkenntnis um ein Gleichnis handelt— bedeutungsvoll dabei scheint mir, daß der Vorgang durch den Begriff »essen« umschrieben wird. Ein anderer Mythos betrifft die Ursprünge des Genusses von Fleisch. Um die Erde von Sündhaftigkeit zu befreien, schickte Jahve eine gewaltige Flut. Noah und seine Familie überdauerten sie gemeinsam mit je einem Paar jeder Tierart in einer Arche. Nach dem Ende der Sintflut gestattete Jahve das zuvor verbotene Tieropfer und gab da24 mit dem Menschen die Erlaubnis, Tiere zu töten und zu essen. Dabei wurden allerdings Einschränkungen auferlegt: Eingedenk der Auffassung, daß alle Tiere eine Seele besäßen und diese im Blut der Tiere wohne, erlaubt das Alte Testament nur »koscheres« Fleisch, bei dem nach der Schlachtung das Blut und damit die Seele des Tieres abfließt. Von der Vielfalt der Tabus Nahrungstabus finden wir häufig bei den Naturvölkern. Sie beziehen sich meist auf tierische Produkte; eine bemerkenswerte Ausnahme bilden die Polynesier, die auch Pflanzen tabuisieren. Das Wort »Tabu« stammt übrigens aus dem Polynesischen und bezeichnet ursprünglich alle jene gottgeweihten heiligen Dinge, die aus religiöser Scheu dem tatsächlichen oder sprachlichen Zugriff des Profanen entzogen sind. Die Vielfalt der Tabus ist bemerkenswert: in manchen Gegenden Afrikas ist der Verzehr von Fisch verboten, die Mongolen betrachten die Ente als »unrein«, bei den äthiopischen Christen wird exkommuniziert, wer Kamelfleisch ißt, und so weiter. Für den aufgeklärten Abendländer erhebt sich sofort die Frage nach der Entstehung solcher Regeln. Das im Buch Moses ausgesprochene und vom Koran verschärfte Verbot, Schweinefleisch zu essen, wird immer wieder als Argument für die Auffassung herangezogen, solche Vorschriften hätten einen greifbaren Sinn. In heißem Klima verderbe Schweinefleisch rascher als Fleisch anderer Tiere; darüber hinaus enthalte es nicht selten Trichinen, Parasiten, die eine recht unangenehme Krankheit hervorrufen. Das Verbot von Schweinefleisch sei demnach aus Gründen der Hygiene entstanden. Gegen solche Erklärungsversuche wird andererseits eingewendet, daß der Zusammenhang zwischen Fleischkonsum und Trichinose offenbar erst seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist; biblische Quellen erwähnen ihn nicht. Rinder, Schafe und Ziegen seien ebenso Überträger von Krankheiten, aber nicht verboten. Und auch das Klima im Heiligen Land sei nicht heißer gewesen als in anderen Gegenden, wo regelmäßig Schweinefleisch verzehrt wurde und wird. Für die Aufrechterhaltung und Verstärkung des Schweinefleischverbots durch Mohammed werden zuweilen auch ökonomisch orientierte Begründungen angeführt. In den kargen Steppen Arabiens konkurriert das Schwein mit dem Menschen um pflanzliche Lebensmittel und 25 Wasser, die beide nicht im Überfluß vorhanden sind. Dazu kommt, daß Schweine weder Milch noch Wolle geben wie andere Tiere, noch einen Pflug ziehen können. So gesehen könnten Tabus also einen durchaus handfesten Hintergrund gehabt haben. Trotzdem möchte ich solchen Auslegungen keinen zu hohen Stellenwert einräumen; mir scheint es fraglich, ob eine Denkweise, die für unser Bewußtsein plausibel ist, auf die Gedankenwelt früherer Kulturen übertragen werden kann. Angemessener dürfte es sein, etwa von den Ernährungsvorschriften des Leviticus (Kapitel 11) auszugehen, die Tiere in »reine« und »unreine« einteilen. Als rein werden Rinder, Schafe und Ziegen, auch einige Wildtiere beschrieben. Das Schwein, das Kaninchen, manche Meerestiere und andere galten als unrein; unrein ist dabei im Sinne von »nicht perfekt« zu verstehennur Vollendetes schien geeignet, im Heiligen Tempel geopfert zu werden. Vollendete Vögel sind solche, die in der Luft fliegen; Schwäne sind es nicht, weil sie die meiste Zeit auf dem Wasser verbringen. Von dieser Gedankenwelt ist ein weiter Weg bis zu der Anschauung, Schweinefleisch solle aus hygienischen Gründen nicht genossen werden (ganz abgesehen davon, daß dieses Argument schwer aufrechtzuerhalten ist, wenn man bedenkt, wieviel mehr das Alte Testament zu essen verbietet als bloß Schweinefleisch). Ein anderes, vielzitiertes Nahrungstabu betrifft die heiligen Kühe Asiens - angesichts vieler Millionen Menschen, die etwa in Indien Jahr für Jahr Hungers sterben, ein bemerkenswertes Phänomen, gibt es doch dort an die 200 Millionen, zum Teil wohlgenährte Rinder. Entgegen weitverbreiteter Auffassung ist die Tabuisierung der Kuh offenbar nicht aus den Lehren einer Religion ableitbar. Die Veden, der etwa dreitausend Jahre alte heilige Text der Hindus, enthalten zwar an untergeordneter Stelle einen Rat, kein Rindfleisch zu essen, beschreiben aber anderswo das Schlachten dieser Tiere. Die Brahmanen jedenfalls aßen und essen Rindfleisch. Buddha wiederum tabuisierte Menschenfleisch sowie Elefanten, Pferde, Löwen, Tiger, Panther, Hunde und Schlangen— aber nicht Kühe. Erst Jahrhunderte später wurde das Schlachten von Kühen verpönt und ist es bis heute: Auch die nach Erlangen der Unabhängigkeit 1949 geschaffene indische Verfassung enthält eine diesbezügliche Bestimmung. 26 Andere Länder - andere Geschmäcke Sehen wir von den religiös beziehungsweise mythisch motivierten eigentlichen Tabus ab, können wir noch eine Fülle anderer Nahrungsgebräuche feststellen. Es gibt wohl keine einzige Mahlzeit, die von allen Völkern dieser Erde gern gegessen würde: So wird Fisch von den süd- und ostafrikanischen Negern, vielen Mongolenstämmen und den Navajos in Neu Mexiko verschmäht. Fast alle Mongolen und die Indianer von Guyana essen kein Geflügel. Hasenfleisch ist den Chinesen unangenehm; dagegen sind Schlangen für einige australische Stämme regelrechte Delikatessen, desgleichen Würmer. Die Eingeborenen von Brunei schätzen faule Eier. Sogar Milch ist kein universell akzeptiertes Lebensmittel. Sie wird von den Chinesen gehaßt, die Graviden betrachten sie als Erbrechen erregendes Exkrement. Viele von uns Europäern verschmähen Ziegenmilch, während andere Völker sie gerne trinken. Eine besondere Stellung nimmt der Genuß von Menschenfleisch ein. Kannibalismus gab und gibt es häufiger, als manche vermuten würden: Im 9. und 10. Jahrhundert zogen Räuberbanden durch die deutschen Lande, überfielen Reisende und verkauften deren Fleisch als »zweibeinige Hammel«. Bei vielen Naturvölkern finden wir den Brauch des Kannibalismus noch heute. »Vorliebe« beziehungsweise »Abscheu« sind auch in ein und derselben Kultur keine unverrückbaren Begriffe. Heute ißt man in Mitteleuropa nur noch selten Pferdefleisch (wohl auch deshalb, weil Pferde viel weniger als Arbeitstiere eingesetzt werden als früher). Bereits Papst Gregor III. hatte es den Christen im Jahre 732 verboten; trotzdem weisen Berichte darauf hin, daß christliche Mönche in der Schweiz des 11. Jahrhunderts Pferdefleisch aßen; auch in Irland, Dänemark und Spanien wurde es zuweilen hochgeschätzt; nach der Französischen Revolution galt es vor allem in Paris als beliebte Speise. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß nicht nur in der Auswahl der Nahrung, sondern auch hinsichtlich der Zubereitung sehr unterschiedliche Gebräuche existieren. Nehmen wir als Beispiel nur die Verfahren zur Reinigung von Lebensmitteln: Bei uns ist Wasser schlechthin die Grundlage jeder Säuberung. Einige Stämme in Uganda dagegen reiben den Körper mit Butter und Lehm ein, da sie Wasser verabscheuen. Die Obbs und die Eskimos wuschen sich mit Urin. Im 17. und 18. Jahrhundert soll es in Deutschland und in England Brauch ge27 wesen sein, Urin zum Reinigen des Mundes zu verwenden. Einige Mongolenstämme und Neger lassen ihre Hunde die Kochtöpfe auslekken, um sie zu säubern. Manche Stämme benutzen Kameldung als Hand- und Küchentücher. Salz ist mehr als bloß salzig Nicht nur kultisch bedingte Bräuche und tradierte Geschmacksvorstellungen, sondern auch symbolische Deutungen von Nahrungsmitteln zeigen eindrucksvolle Vielfalt. In besonderer Weise gilt das für Salz. Ihm wurden seit jeher magische Kräfte zugeschrieben; die unbegrenzte Haltbarkeit seiner weißen Kristalle verlieh ihm den Anschein der Unsterblichkeit: Salz zu überreichen bedeutet die rituelle Betätigung von Gastfreundschaft und begleitet die Unterzeichnung von Verträgen. Das Bibelwort »Ihr seid das Salz der Erde« verweist ebenso wie altägyptische Symbolik auf die besondere Bedeutung des Salzes. Dazu kommen handfeste ökonomische Gründe: Aus dem Salzmonopol bezogen schon die Herrscher alter Kulturen ein Großteil ihrer Einkünfte. Eine Steuer auf Salz finden wir im antiken Griechenland, Ägypten und China; das Venedig des 6. Jahrhunderts lebte von Salz als wichtigstem Handelsartikel. Im französischen Mittelalter war die Salzsteuer eine der wichtigsten Einkünfte für das Königshaus: Frankreich wurde in sechs Regionen aufgeteilt, deren Bewohner eine Abgabe in unterschiedlicher Höhe zu entrichten hatten. Gabelle, die Salzsteuer, bildete denn auch durch Jahrhunderte ein Politikum und das nicht nur für die Franzosen. 1930 wanderte Mahatma Gandhi auf seinem Salzmarsch 300 Kilometer von Ahmedabad bis zum Meer, kehrte mit einer Handvoll Salz zurück und wurde verhaftet, weil er auf diese Weise das Salzmonopol durchbrochen hatte. Ein Volksaufstand war die Folge. Etwa hunderttausend Inder wurden in der Folge eingesperrt; 1946 wurde die Steuer aber abgeschafft. Auch Asketen und Sektierer befassen sich mit dem Kochsalz; es ist ihnen »verbotene Frucht« und Ursache von körperlichen und geistigen Krankheiten (dies wird schon 1830 von einem Arzt behauptet). 1877 erschien eine Abhandlung mit dem Titel Das moderne Kochsalzschwelgen, Riedlin meinte 1924, der »wahre Salzbedarf« betrage nur wenige hundertstel Gramm täglich, und: »Der Salzmißbrauch... trägt zur 28 Entartung der Rasse bei.« Andere Autoren sind der Ansicht, der zivilisierte Mensch greife aus Sehnsucht zu Steinsalz, dessen Reiz ihm ein urweltliches Behagen, die Heimkehr und das Versinken in die Meeresfluten vorgaukle. Kochsalz wurde sogar als Gift mit Alkohol und Nikotin auf eine Stufe gestellt. Ganz im Gegensatz zu Steinsalz erfreut sich dagegen das Meersalz in Reformerkreisen großer Beliebtheit. Offenbar weil es unmittelbar aus dem Meer gewonnen wird, gilt es als »natürlich«; das aus dem Boden, das heißt aus uralten Meeresablagerungen, gewonnene Steinsalz dagegen erscheint »unnatürlich«. Chemisch gesehen ist der Unterschied zwischen Kochsalz und Meersalz unbedeutend (letzteres hat durch einen geringen Gehalt an Magnesium einen bitteren Geschmack) (Lit. 4). Brauchtum und soziale Riten Ernährungsverhalten hat also mannigfache Wurzeln; eine davon ist zweifellos auch im Brauchtum zu suchen. Am Gründonnerstag, in der Karwoche, beispielsweise mag es der Gedanke an das erste Grün gewesen sein, der um 1200 n. Chr. zur Bezeichnung grüener dunrestac geführt hatte. Der »Grüne Georg«, ein in Laub gehüllter Bursche, wurde im Mittelalter zur Osterzeit umhergeführt und anschließend ins Wasser geworfen. Im Volksglauben sind heute noch als Gründonnerstagsspeisen grünes Gemüse, Grünkohl, Spinat, Siebenkräutersuppe (»Kräutelsuppe«) verbreitet- in Lüneburg das Krautbrot, in Bern der Krautkuchen, grüner Pfannkuchen mit grünem Schnittlauch in der Wetterau, Elsässer Sengnesselküchle, böhmische und Tiroler Spinatkrapfen oder schwäbische Laubfrösche. So manches traditionelle Frühlingsbrauchtum hat seinen Ursprung in vorchristlichem Fruchtbarkeitskult. Ein Bericht über Nahrungsgebräuche wäre unvollständig, würde er nicht auf die Bedeutung von Mahlzeiten als Akt der Gemeinsamkeit hinweisen. Kirchliche Festtage und besondere Ereignisse bedeuten fast immer ein Zusammensein rund um eine reichlich gedeckte Tafel. Sie begleitet uns das ganze Leben l a n g - vom Festmahl aus Anlaß einer Taufe bis zum Leichenschmaus. Was den Amerikanern der Truthahn zum Erntedankfest, ist vielen Europäern die gebratene Gans zu Weihnachten oder der Schinken zu Ostern. 29 Der Reichtum einer gedeckten Tafel diente und dient natürlich auch als Statussymbol. Immer wieder versuchten die herrschenden Schichten einer Gesellschaft, bestimmte Speisen für sich zu reklamieren; so war etwa im Elisabethanischen England Wildbret ein Vorrecht des Adels. Zahlreiche Edikte des Mittelalters und der Renaissance waren darauf gerichtet, die gastronomische Wahlfreiheit der Dienerschaft zu beschränken: Mahlzeiten durften höchstens drei Gänge haben, Fleisch und Fisch durften nicht bei derselben Mahlzeit verabreicht werden. Ein gar nicht ferner Widerhall höfischer Sozialstruktur findet sich auch noch in unseren heutigen Tischsitten. Nicht umsonst sagte Jean Anthelme Brillat-Savarin vor über hundertfünfzig Jahren: »Sage mir, was du ißt, und ich werde dir sagen, wer du bist.« Besonders ausgeprägt ist Essen und Trinken als Statussymbol bei den Hindus; in der Hierarchie der Kasten ist genau festgelegt, wer welche Speisen essen darf und vor allem mit wem. Die höchste Wertschätzung erfahren Lebensmittel im rohen Zustand - sie sind nur dem Brahmanen und den höchsten Kasten vorbehalten. Weniger »hochstehend« sind gekochte Speisen; Zubereitung und Zutaten ermöglichen eine weitere Differenzierung. Das Ende der Skala sind regelrechter Abfall, auch sonst höherwertige Lebensmittel, die durch Kontakt mit Angehörigen niederer Kasten »verschmutzt« worden sind. Analysieren wir die Ausprägung des Symbolgehalts eines Nahrungsmittels, so finden wir neben soziokulturellen Faktoren meist auch eigene, individuelle lebensgeschichtliche Erfahrungen und gelangen so zu einer unübersehbaren Vielfalt von Bevorzugung und Abneigung, die unsere Emährungsgewohnheiten offenbar stärker determinieren als das Wissen um ernährungsphysiologische Zusammenhänge. Die wissenschaftlich-systematische Untersuchung der Sozialfunktion von Nahrungsmitteln führte so zu einer ganzen Reihe von möglichen Determinanten: Nahrung kann Hilfsmittel zur Erlangung von Sicherheit sein, etwa wenn Milch in Streßzuständen zwecks Erreichung emotionaler Sicherheit getrunken wird, gewissermaßen als Bedürfnis nach Regression auf ein frühes Kindheitsstadium. Insbesondere Süßigkeiten können den Charakter einer Belohnung erhalten. Show off-fbods wie Kaviar und Champagner sind Nahrungsmittel, die in exhibitionistischer Weise genossen werden, um andere zu beeindrucken. Sie dienen zur Demonstration von Prestige. Schließlich gibt es noch Produkte, die Reife und Erwachsensein anzeigen, etwa Kaffee und Spirituosen. 30 Auch die Bevorzugung von »Bio«- und »Vollwert«-Lebensmitteln, also Produkten, die als besonders gesundheitsfördernd erachtet werden, kann als Wunsch nach einem neuen Statussymbol gedeutet werden: War es im 19. Jahrhundert ein Zeichen für Reichtum, wenn Fleisch und Zucker auch wochentags aufgetischt wurden, essen heute minderbemittelte Arbeiter ebensoviel oder sogar mehr Fleisch und Zukker als die heutigen Wohlhabenden. Damit wurde allerdings ein Unterschied zwischen Arm und Reich verwischt. Heute sind es dafür die teureren »Bio«-Produkte, die nicht selten dazu dienen, sich von der Masse abzusetzen (vielleicht nicht so sehr, um Reichtum zu demonstrieren, sondern etwa die Zugehörigkeit zu einer gesundheitsbewußten Elite). 31 Ernährung und Psyche »Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen« sagt ein altes Sprichwort. Es weist darauf hin, daß Nahrungsaufnahme nicht bloß der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse dient, sondern daß auch psychische Faktoren für Art, Umfang, Bewertung und Auswirkung der Ernährung eine wichtige Rolle spielen. Die moderne Ernährungswissenschaft ist allerdings so sehr damit beschäftigt, die chemischen Wirkungen der Nahrungsinhaltsstoffe auf unseren Körper zu untersuchen, daß es oft scheint, man habe den Sinngehalt des zitierten Sprichwortes vergessen. Wir wollen im folgenden versuchen, uns von zwei Seiten her an die Wechselwirkungen zwischen Nahrungsaufnahme und Psyche heranzutasten: Zunächst interessieren uns psychogene Störungen des Eßverhaltens, vor allem in der Form von Magersucht und Eßsucht; hier haben die Psychoanalytiker das Wort. Aber auch die Wissenschaftler beschäftigen sich zunehmend mit empirischen Untersuchungen des Eßverhaltens und seiner Beeinflußbarkeit. Insbesondere Fettsüchtige wurden und werden von Verhaltensforschern untersucht, um herauszufinden, wie Hunger und Sättigung durch äußere oder innere Reize beeinflußbar sind. Das Ziel dieser Untersuchungen ist- um es gleich vorwegzunehmen — auf Gesundheitserziehung ausgerichtet. Man geht davon aus, daß sich Fettsüchtige falsch ernähren, und sucht Methoden, ihr vermeintlich falsches Ernährungsverhalten zu ändern. Doch davon später. Betrachten wir zunächst ein immer häufiger anzutreffendes Phänomen, die sogenannte Magersucht. 33 Wenn Mädchen nicht mehr essen wollen . . . Was ist Magersucht? Sehen wir uns einen Fall aus der medizinischen Literatur an: »Eine magersüchtige Krankenschwester erklärte in einem der wenigen Gespräche mit dem Psychiater, zu denen sie sich auf Drängen der behandelnden Internisten bereit fand, ganz spontan, sie besitze eine große Vorliebe für Häkel- und ähnliche Handarbeiten. Diese manuellen Tätigkeiten hielten von der ständigen Versuchung ab, Äpfel oder Süßigkeiten in großer Menge zu essen. Die Quintessenz der Handlungsfolge bestehe aber darin, daß das Essen seinerseits wiederum nur zur »Ablenkung« von dem Wunsch nach sexueller Betätigung diene. Die Zusammenhänge zwischen genitalen Triebwünschen und »Hunger« waren in diesem Falle also nicht einmal verdrängt, sondern dem Bewußtsein der Kranken weitgehend zugänglich« (Lit. 5). Hier wird angesprochen, was der »Vater« der Psychoanalyse, der Wiener Arzt Sigmund Freud, schon zu Anfang dieses Jahrhunderts vermutet hatte: daß Essen eine oralerotische Komponente hat. Der Mund, durch den die Nahrung in den Körper aufgenommen wird, hat, so der Erforscher des Unterbewußten, beim Menschen auch Sexualfunktionen. Das macht ihn-für Freud »verdächtig«. Von diesem Gesichtspunkt aus beobachtete er das Verhalten neugeborener Kinder und folgerte, das Saugen an der Mutterbrust sei der erste Sexualakt des menschlichen Wesens. Kritiker Freuds bemerken, daß dieser offenbar jede Handlung mit dem Geschlechtstrieb zu erklären suche; wir brauchen aber gar nicht so weit zu gehen wie Freud - es genügt, das Saugen mit den Lippen einfach als ein Organvergnügen zu betrachten, das mit der Befriedigung physiologischen Hungers nur zum Teil zu tun hat. Magersucht und Eßsucht— zwei Seiten desselben Phänomens? Wie auch immer, der Vorgang der Nahrungsaufnahme hat offenbar wesentliche emotioneile Komponenten — denken wir an das Sprichwort »Liebe geht durch den Magen«, die Bezeichnung »Kummerspeck« und andere Volksweisheiten, die in vielen Fällen eben doch einen wahren Kern besitzen. An dieser Stelle sei angemerkt, daß die Magersucht nur eine Form des durch psychische Faktoren gestörten Eßverhaltens ist. 34 Ihr Gegenstück ist eine krankhafte Form der Eßsucht, die sogenannte Bulimie, die vor allem bei Frauen im Alter von 20 bis 30 Jahren auftritt: Sie stopfen sich mit irgendwelchen Speisen voll oder trinken unmäßig viel u n d - erbrechen danach. Der Göttinger Wissenschaftler Volker Pudel wertete Anfang 1984 über 600 Fragebögen aus, die Eßsüchtige aufgrund der Ankündigung in einer Illustrierten ausgefüllt hatten. Es zeigte sich, daß die Betroffenen vorher niemals mit einem anderen Menschen über ihre Anfälle von Heißhunger gesprochen hatten - sie schämen sich dieser. Dabei treten die Anfälle bei 70 Prozent der Befragten fast täglich auf, zwei Drittel derselben erbrechen ebensooft. Bis zu 20 000 Kalorien werden gierig verschlungen, aber nicht behalten die meisten Eßsüchtigen sind schlank. Befragt man diese Menschen über ihre Motive, zwanghaft zu essen, so zeigt sich, daß Essen und Dickwerden für sie auch bedeutet, etwas nicht Kontrollierbares an sich geschehen zu lassen, beispielsweise zu erfahren, daß sich eine Schwangerschaft abzeichnet. Das gilt- so die Seelenforscher - auch für Mädchen mit Anorexie, wie die psychogene Magersucht in der Fachwelt genannt wird. In beiden Fällen, bei Eßwie bei Magersucht, wird eine für jeden erkennbare Verwandlung angestrebt, vielfach, weil Mädchen ihre Weiblichkeit nicht akzeptieren können: Feminine Eigenschaften werden von ihnen nicht selten als unliebsam, minderwertig oder sogar abstoßend empfunden. Vielleicht liefert dieser Tatbestand zumindest teilweise eine Erklärung für den zunächst merkwürdigen Umstand, daß die krankhaften Formen der Magersucht und der Eßsucht fast nur bei Frauen und auch bei diesen vorwiegend im Pubertätsalter und kurz danach zu beobachten sind (fast ausschließlich bei Männern kommt dagegen eine sehr seltene Eßstörung vor, das sogenannte Kleine-Levin-Syndrom, gewissermaßen ein Spiegelbild zur Anorexia nervosa) (Lit. 6). Magersüchtige setzen, so ergaben Fragen der Therapeuten, Essen mit der Möglichkeit einer Schwängerung gleich. Sie greifen dabei auf Zeugungsphantasien zurück, die Mädchen, der Freudschen Theorie zufolge, vor dem Höhepunkt des Ödipuskomplexes, also im Alter von etwa vier bis fünf Jahren, zuweilen äußern: Reichliche Nahrungsaufnahme führe zu einem »dicken Bauch«. Allem Anschein nach eine sehr urtümliche Phantasie, die in den Mythen der alten Kulturvölker bereits anzutreffen ist. So beschreibt ein altägyptisches Märchen den Vorgang einer Schwängerung durch orale Einverleibung. 35 Die Verweigerung der Nahrungsaufnahme dient daher, so schloß Sigmund Freud als erster, zumindest teilweise der Abwehr besonders intensiver Sexualängste; Freud: »Die der Melancholie parallele Eßneurose ist die Anorexie. Sie scheint eine Melancholie bei unentwickelter Sexualität zu sein.« Häufig feststellbare Begleiterscheinungen der Magersucht unterstützen die These: Magersüchtige berichten häufig über Amenorrhoe, Verstopfung und eigentümliche Empfindungen im Bauch - Gefühle, die zumeist starke Angst auslösen. Eßstörungen als Familienschicksal Neben Schwangerschaftsängsten können auch Konflikte mit der Mutter zu einer Verweigerung der Nahrungsaufnahme und zu extremem Gewichtsverlust führen (magersüchtige Mädchen nehmen bis zu dreißig Kilogramm ab; manche sterben als Folge von Unterernährung). Psychiater untersuchten deshalb die Familien anorektischer Töchter und fanden, daß nicht selten die Mutter überzeugte »Rohköstlerin« oder Anhängerin irgendeiner besonders »gesundheitsfördernden« Ernährungsweise war und ihre eigene, meist ambivalente Einstellung gegenüber dem Essen auf die Tochter projizierte. Oft scheint jedenfalls das Essen in diesen Familien überbewertet zu werden - Nahrung dient gewissermaßen als Hauptmedium der Kommunikation; Liebesbeweise werden vorzugsweise durch wohlschmeckende Speisen erbracht. Beobachtungen der familiären Konstellation bei Magersüchtigen zeigten auch, daß die Mutter ihre eigenen abgewehrten Triebimpulse auf die Tochter überträgt, sie dort wahrnimmt und bekämpft. Dazu kommt, daß sich bei Magersüchtigen regelmäßig eine schwere narzißtische Problematik aufdecken läßt: Diese Jugendlichen haben im Grunde ein außerordentlich schwaches Selbstgefühl. Ursache dafür scheint die besondere Art zu sein, in der ihnen die Eltern begegnen: eigene Regungen des Kindes werden von der Mutter nicht akzeptiert, schlichtweg verleugnet oder durch von ihr stammende Wünsche ersetzt. Die übersteigerte Bewertung des Körpers bei Magersüchtigen kann somit als Ausdruck einer tiefgehenden Selbstwertproblematik gesehen werden. Sie äußert sich zuweilen auch in einem starken Interesse an der eigenen Erscheinung, das bis zur Schönheitshypochondrie führen kann. Dabei ist durchaus verständlich, daß die Frage des eigenen Aussehens in der 36 Pubertät hervorragende Bedeutung erlangt: Der Jugendliche muß unter anderem das Selbstbild relativ rasch den Veränderungen seines Körpers anpassen. Mit der Annahme eines veränderten Selbstbildes ergeben sich neue Spannungen - wenn es dabei zu Störungen im Erleben des Körper-Ichs und zu Anpassungskrisen kommt, kann in der Folge Magersucht auftreten. Schwere Störungen des Eßverhaltens treten zwar, absolut gesehen, nicht häufig auf, ihre Zahl hat sich jedoch in der Bundesrepublik in den letzten zehn Jahren fast verdreifacht. Etwa jede siebente Pubertierende muß heute, so wird geschätzt, bereits als »Risikofall« gelten (Lit. 7). Sind Dicke »normal«? Zwar sollten wir uns davor hüten, am Kranken gewonnene Einsichten in Wechselbeziehungen zwischen Psyche und Nahrungsverhalten unbesehen auf die Verhältnisse beim Gesunden zu übertragen. Dennoch ist in Betracht zu ziehen, daß Magersüchtige und Eßsüchtige ausleben, was anderswo nur im Verborgenen wirkt. Wie ich später noch ausführen werde (siehe Seite 40 ff.), kommt Übergewicht in vielen Fällen durch falsches Eßverhalten zustande. Viele Menschen werden dick, weil sie auf Spannungen und Konflikte, Ärger, Streß, Angst oder Langeweile, mit Essen und Trinken reagieren, ein Verhalten, das bereits in früher Kindheit erlernt beziehungsweise nicht selten anerzogen wird. »Eine typische Familienkonstellation, bestehend aus mütterlicher Dominanz, mangelnder Harmonie zwischen den Ehepartnern, ambivalenter, feindselig überprotektiver Einstellung der Mutter zum Kind kennzeichnet jenes familiäre Klima, welches das Kind emotional verunsichert, zu Unreife und Mangel an Selbstvertrauen führt und die kindliche Entwicklung in einer Phase fixiert, in der Nahrung gleichbedeutend mit Zuwendung ist: Dicksein erhält so den symbolischen Wert für Sicherheit und Stärke« (Lit. 8). Etwa zwei Drittel aller Mütter von Kindern mit Eßstörungen weisen selbst psychiatrische Auffälligkeiten auf. Bei verhaltensgestörten Eltern findet man etwa viermal häufiger Kinder mit abnormen Eßgewohnheiten als im Durchschnitt der Bevölkerung. Betrachten wir nun nochmals das Gegenstück der Magersucht, die Erscheinung, daß manche Menschen zuweilen völlig unkontrolliert es37 sen und trinken und in der Folge beträchdiches Übergewicht ansammeln (auch wenn sie immer wieder das Essen erbrechen). In den fünfziger Jahren war es bei vielen Psychiatern »Mode«, Oralerotik und Fettsucht in engen Zusammenhang zu bringen: Oraler Lustgewinn, so meinte man, sei die psychische Wurzel der Fettsucht schlechtliin. Fettleibigkeit wurde auch als Schutzmaßnahme gegen sexuelle Versuchung erklärt. Der amerikanische Psychiater Stanley Conrad führt als Beispiel eine Frau an, die immer dann, wenn sie abgenommen hatte, in Panik geriet und anfing, möglichst viel zu essen. Als sie eines Tages auf einen Autobus wartete, kam ein Lastwagen vorbei. Der Fahrer pfiff ihr zu und löste damit einen regelrechten Angstanfall a u s - sie lief nach Hause und stopfte sich mit Essen voll. Die feministische Psychodierapeutin Susi Orbach ließ vor einigen Jahren diese Vorstellungen mit ihrem Antidiät-Buch wieder aufleben (Lit. 9). Sie sieht gestörte Eßgewohnheiten als Folge von Konflikten zwischen Mutter und Tochter. Orbach: »Der symbolische Wert, den Essen und Fettleibigkeit in den Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern darstellt, ist in unserer Kultur vielfach belegt... Für zwanghaft Essende hat Fetdeibigkeit eine große symbolische Bedeutung, die im feministischen Kontext aufschlußreich ist. Fettleibigkeit ist eine Antwort auf die vielen Fälle von Unterdrückung in einer sexistischen Kultur. Fettleibigkeit ist eine Möglichkeit, nein zu Machtlosigkeit und Selbstverleugnung zu sagen, nein zur Einschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten, die von Frauen ein bestimmtes Aussehen und Verhalten verlangen, und nein zu einem Frauenbild, daß sie auf eine bestimmte gesellschaftliche Rolle festlegt. Dicksein bedeutet Angriff auf die westlichen Ideale von weiblicher Schönheit. Durch jede >übergewichtige< Frau werden die Möglichkeiten der Medien unterlaufen, uns zu reinen Objekten zu machen.« Orbach ist der Auffassung, Eßsüchtige hätten regelrecht Angst vor dem Schlanksein, gleichzeitig aber auch Angst vor einer Diät. Die einzige Möglichkeit, die eine Eßsüchtige im allgemeinen zum Abnehmen hat, besteht naturgemäß darin, sich beim Essen drastisch einzuschränken. Da ihre Körperfülle sie stark beschäftigt, erwartet sie von einer Diät, daß diese Wunder wirkt. Vielen Frauen, so Orbach, sei es tatsächlich so ergangen, daß sie sich durch den enormen Kraftaufwand, den das Sichaufraffen zum Hungern erfordert, zunächst wunderbar und unangreifbar gefühlt hätten. Das beinahe unausweichliche Abbre38 chen bedeute dann einen Rückfall in den als unangenehm erlebten Zustand der Eßsucht. Für Eßsüchtige gebe es demnach zwei Realitäten: zwanghaftes Essen (ohne jede Kontrolle) oder Zwangsdiäten (völlige Einschränkung). Orbach: »Wie Drogenabhängige sind die Eßsüchtigen auf das Essen fixiert. Eßsüchtige brauchen ihr Essen genauso dringend wie ein Drogensüchtiger sein Heroin oder ein Trinker seinen Alkohol.« Ähnlich wie Drogensüchtige viel Zeit aufwenden, um das Geld aufzutreiben, das sie für den nächsten Schuß benötigen, setzen Eßsüchtige ihre psychische Kraft zum Nachdenken darüber ein, was sie essen oder trinken können und was nicht. Mag sein, daß nicht jeder diese Parallelen in vollem Umfang akzeptieren möchte- denken wir aber daran, daß zahlreiche Schlankheitsdiäten mit Begriffen wie »erlaubte« und »verbotene« Nahrungsmittel arbeiten. Das bedeutet, daß das Essen verschiedener Speisen als Lohn oder als Strafe dargestellt und empfunden werden kann. Vor diesem Hintergrund kann man sich nur wundern, daß sich Ernährungsforscher und Gesundheitserzieher bei ihren Aufklärungskampagnen damit begnügen mitzuteilen, man solle soundso viel Fett, Eiweiß und Kohlenhydrat zu sich nehmen, um sich ausgewogen und damit »gesund« zu ernähren, und dabei völlig außer acht lassen, daß die Triebfeder zu essen und zu trinken gerade bei den Menschen, welche eine Korrektur ihres Ernährungsverhaltens nötig hätten, häufig weder physiologischer Hunger noch der Wunsch ist, gesund zu leben. Ich will jedoch keineswegs den Eindruck erwecken, Fettleibigkeit sei in jedem Fall aus neurotischen Konstellationen erklärbar. Fallbeispiele geben zwar interessante Hinweise, sie sollten aber nicht verallgemeinert werden. Immerhin hat man mit hohem Aufwand versucht, mit Hilfe von psychoanalytischen Tests Unterschiede zwischen übergewichtigen und normalgewichtigen Menschen zu finden, aber ohne überzeugenden Erfolg. Am ehesten läßt sich noch verallgemeinern, daß viele fettleibige Menschen Nahrung als Beruhigungsmittel gegen Angst einsetzen. Dicke leiden darüber hinaus - das zeigte sich in zahlreichen Studien — unter der sozialen Diskriminierung durch ihre Umwelt und entwickeln in der Folge eine Art von »Diätstreß«. Obwohl Dicke im Durchschnitt nicht »neurotischer« als Normalgewichtige sind, läßt sich aber aus der Gesamtgruppe der echten Fettsüchtigen eine Risikogruppe abgrenzen, die psychisch in mehrfacher Hinsicht auffällig ist. Hans Georg Zapotoczky, Dozent an der Psych39 iatrischen Klinik der Universität Wien, bemerkt dazu, daß bei den einen die Übergewichtigkeit bis in die Kindheit zurückverfolgbar ist und die Familienstruktur vermehrt neurotische Entwicklungen erkennen läßt, bei anderen wiederum erst während oder nach der Pubertät, meist im Zusammenhang mit psychischen Belastungssituationen, Übergewicht entsteht (Lit. 10). Denn sie wissen nicht, wann sie satt sind Auf der Suche nach Unterschieden zwischen Dicken und Dünnen waren Verhaltensforscher erfolgreicher als ihre sich der Psychoanalyse bedienenden Kollegen. In einer Reihe von Experimenten konnte demonstriert werden, daß die Steuerung der Nahrungsaufnahme bei Übergewichtigen vornehmlich durch äußere Reize erfolgt, während Schlanke auf ihre inneren Reize, etwa physiologischen Hunger, reagieren. Diese Aussage ist in der Fachwelt mit der Bezeichnung »Externalitätshypothese der Fettsucht« bekannt und eng mit dem amerikanischen Sozialpsychologen Schachter verknüpft. Sehen wir uns eines seiner richtungweisenden Experimente näher an: Je eine Gruppe dünner und dicker Personen erhielt wohlschmeckende Sandwiches mit der Aufforderung »zu essen, bis Sie satt sind«. Im Anschluß daran wurden fünf verschiedene Kekssorten mit der Bitte gereicht, sie auf ihren Geschmack hin zu prüfen. Der Geschmackstest war aber nur ein Vorwand - er sollte davon ablenken, daß die Forscher in Wirklichkeit interessierte, wie viele Kekse gegessen wurden. Das Ergebnis: Die von den Sandwiches gesättigten dünnen Versuchspersonen aßen kaum Kekse, während die Dicken, obwohl physiologisch gesättigt, munter drauf los probierten. Der Verhaltensforscher Volker Pudel setzte die Experimente Schachters mit einem eigens konzipierten Eßlabor in Göttingen fort und erzielte eine Reihe von interessanten Resultaten. Seine Versuchspersonen erhielten Nahrung ausschließlich in flüssiger Form durch einen Schlauch verabreicht, der mit einem Meßgerät, dem sogenannten food dispenser, verbunden war. Wenn jemand auf diese Weise trank, konnte er durch ein Schauglas beobachten, wie die flüssige Diät im Vorratsbehälter immer weniger w u r d e - wußte aber nicht, daß der Vorratsbehälter eine versteckte Öffnung besaß, durch die Flüssigkeit 40 zu- und abgepumpt werden konnte. Die Versuchsanordnung erlaubte es, das abgepumpte Volumen so zu verändern, daß bis zu 100 Prozent mehr beziehungsweise 50 Prozent weniger aus dem Schauglas entnommen wurde, als der Proband tatsächlich getrunken hatte. Bei Versuchen mit normalgewichtigen und fettsüchtigen Personen zeigte sich nun, daß sich Normalgewichtige nur in geringem Umfang täuschen lassen; auch wenn während des Trinkens unbemerkt Flüssigkeit zugepumpt und somit der Eindruck erweckt wurde, als hätten sie noch gar nicht viel Nahrung zu sich genommen, wirkte offenbar das Signal »Füllungsgrad des Magens« mehr als die visuelle Beobachtung. Normalgewichtige hören offenbar zu essen auf, wenn sie physiologisch satt sind. Dicke hingegen orientierten sich an dem Außenreiz »Füllungsgrad im Schauglas« und tranken wesentiich mehr, wenn zusätzlich Flüssigkeit zugepumpt wurde, aber auch weniger, wenn gleichzeitig abgepumpt wurde und der Pegel im Schauglas Glauben machte, sie hätten schon viel getrunken. Um dem Einwand zu entgehen, die künsdiche Atmosphäre des Eßlabors habe die Versuchsergebnisse verfälscht, wurden ähnliche Experimente auch unter wirklichkeitsnahen Bedingungen durchgeführt. So ließ man Gruppen von normalgewichtigen und fettsüchtigen Studenten einen Test ausführen und setzte ihnen beiläufig eine Schale mit Keksen vor. Die Tests dienten wiederum nur der Ablenkung. Diesmal wurde die Uhr im Versuchsraum manipuliert: Sie lief während der gesamten Zeit entweder schneller oder langsamer, so daß die Versuchspersonen zum gleichen Zeitpunkt, etwa 17.40 Uhr, glauben mußten, daß es entweder schon nach 18.00 Uhr oder aber erst kurz nach 17.00 Uhr war. Der Versuch ging von der Annahme aus, daß 18.00 Uhr die normale Essenszeit sei. Es zeigte sich, daß dicke Studenten doppelt soviel aßen, wenn sie annehmen mußten, daß es schon spät sei. Offensichtlich wurde bei ihnen der Appetit nicht durch Signale aus dem Magen geweckt, sondern durch die - wenn auch falsche - Uhrzeit. Daß Dicke nicht wissen, wann sie satt sind, zeigt eindrucksvoll auch ein Experiment zum Zeitverlauf der Nahrungsaufnahme. Volker Pudel ließ 118 normal- und übergewichtige Probanden mit jeweils zehn Mahlzeiten in seinem Eßlabor »verköstigen«. Die aus dem Trinkröhrchen entnommene Nahrung wurde registriert und in einem Zeit-Volumen-Diagramm dargestellt. Den Versuchspersonen sagte man, sie sollten so viel Nahrung zu sich nehmen, bis sie sich als gesättigt erachteten. 41 Dabei zeigte sich, daß Normalgewichtige zu Beginn jeder Mahlzeit relativ viel Nahrung aufnehmen und dann gegen Ende immer weniger essen (die graphische Darstellung dieses Verlaufs liefert sogenannte negativ beschleunigte Essenskurven, wie sie in der Biologie als Wachstumskurven oder in der Chemie als Sättigungskurven bekannt sind), Übergewichtige dagegen zeigen einen linearen Verlauf der Nahrungsaufnahme, das heißt eine über die gesamte Essenszeit hinweg konstante Zufuhr. Pudel: »Die biologische Sättigungskurve repräsentiert eine Nahrungsaufnahme, die von Beginn an auf einen bestimmten Endwert zusteuert. In gewisser Weise ist also das Gesamtvolumen vorausbestimmbar, wenn ein Proband seine Nahrung entsprechend einer biologischen Sättigungskurve aufnimmt. Dieses zielgerichtete Verhalten scheint bei einer linearen Nahrungsaufnahme nicht vorzuliegen. Hier nähert sich die Nahrungsaufnahme nicht asymptotisch einem Endwert an, sondern sie bricht, oftmals unmotiviert, einfach ab. Wahrscheinlich fehlen bei dieser Art der Nahrungsaufnahme intensive innere Sättigungssignale, die zu einer kontinuierlichen Reduktion der Nahrungsaufnahme beitragen« (Lit. 11). »Abnormale« Normalgewichtige So überzeugend diese Ergebnisse klingen - für die Wissenschaftler war nicht alles eitel Wonne. Mehrere Forschergruppen fanden nämlich einander widersprechende Ergebnisse oder aber überhaupt keinen Unterschied im Eßverhalten zwischen Dicken und Dünnen. Des Rätsels Lösung, so zeigte sich nach längerem Suchen, liegt offenbar darin, daß »dick« und »dünn« für Untersuchungen zur Außenreizabhängigkeit des Eßverhaltens nicht die geeigneten Unterscheidungsmerkmale sind. So gibt es auch Normalgewichtige, die sich verhalten wie Fettsüchtige, zum Beispiel Personen, die früher einmal dick waren und nun durch ständige Mäßigung normalgewichtig bleiben. Auch gibt es eine ganze Reihe von Normalgewichtigen, die sich von vornherein beim Essen und Trinken zurückhalten, damit sie nicht zunehmen. Diese Gruppe der sogenannten »latent Adipösen« (Adipositas ist ein Fachwort für Fettsucht) verhält sich aber in vieler Hinsicht außenreizgesteuert, wie wir es vorhin beschrieben haben. Durch diese Entdeckung konnten zahlreiche Widersprüche aufgeklärt werden. 42 Insgesamt wurden in den letzten zwanzig Jahren Dutzende von Faktoren in Hinblick auf ihren Einfluß auf das Eßverhalten untersucht: Geschmack, Konsistenz der Nahrung, Streß, Energiedichte, Uhrzeit, Ort der Nahrungsaufnahme, Anwesenheit anderer Personen, Gespräche während der Mahlzeit und so weiter. Es zeigte sich, daß psychologische, verhaltensbezogene und situative Aspekte für Essen und Trinken mindestens ebenso wichtig sein können, wie die physiologische Quantität und Qualität der Nahrung. Wenn wir nun die Aussagen zusammenfassen, die sich durch Psychoanalyse und Verhaltensforschung für die Steuerungsmechanismen der Nahrungsaufnahme beim Menschen ergeben, dann können wir schließen, daß die früher vorherrschende, eher simple Auffassung, wir alle seien von einem Trieb gesteuert, der uns zum Essen zwingt, nicht in dieser Form aufrechterhalten werden kann. Mit dem Postulat dieses Nahrungstriebes hat man es sich eigentlich einfach gemacht. Man muß halt essen, so hatten die Psychologen nicht ohne biologischen Fatalismus gemeint, weil der Hungertrieb kommt; nur: Es ist nicht so, daß Triebe einfach kommen und gehen, oder, in einer Metapher: »Wo ist der Wind, wenn er nicht weht?« Triebe werden umgeformt Untersucht man verschiedene Gefühlszustände, verschiedene Triebzustände auf ihre biologischen Begleiterscheinungen wie etwa Muskelspannung, Pulsfrequenz, Blutdruck oder Änderungen der hirnelektrischen Aktivität, dann zeigt sich, daß wir zwischen allen diesen Gefühlen und Trieben überhaupt keinen meßbaren Unterschied feststellen können. Mit anderen Worten: Den Unterschied zwischen Freude und Eifersucht, Angst, Verzweiflung oder Heiterkeit können wir (noch?) nicht quantitativ erfassen. Was wir sehr wohl messen können, ist das sogenannte »Aktivierungsniveau«, gewissermaßen die Informationsverarbeitungsleistung unseres Gehirns, also das, was in zirkadianem Rhythmus zwischen Wachen und Schlafen schwankt. »Diese Größe, die uns in verschiedensten Begriffen begegnet, als Bewußtseinslage, als Aktivität, als Energie«, so der Wiener Psychologieprofessor Giselher Guttmann, »die ist es eigentlich, die sozusagen das Mehr oder Weniger jeden Gefühls und jedes Triebzustandes ausmacht« (Lit. 12). 43 Natürlich ist zwischen Hunger und Begeisterung ein Unterschied; ein Unterschied, der von Zusatzinformationen herrührt, die wir erhalten: hohe Muskelspannung, Tränenfluß, der leere Magen, der Blutzukkerspiegel - all das liefert Informationen. Es gibt dafür innere Sinnesorgane, die uns diese Informationen übersetzen, und genau das macht aus einer gewissen Aktivierung Hunger. Ohne Aktivierung aber gibt es keinen Hunger, und Aktivierung ohne Zusatzinformation ist nicht Hunger, sondern gewissermaßen ein frei flottierender Appetenzzustand, aus dem sich Beliebiges formen läßt. Der althergebrachte Begriff der Umformbarkeit von Trieb- und Gefühlszuständen erlebt somit in der Hirnphysiologie eine Renaissance. Schon die Psychoanalyse hatte ja dieses Sublimierenkönnen der Triebe postuliert. Entscheidend sind offenbar dabei, so zeigen die Experimente Schachters, die Zusatzinformationen: Auf der einen Seite die Reize des inneren Milieus, für die wir sehr feine Rezeptoren haben, und andererseits die Umgebungsreize, also der Aufforderungscharakter der Nahrung, aller mit der Eßsituation zusammenhängenden Reize. Je nachdem, welche Steuergröße die entscheidende Rolle spielt, kommt es im Falle einer Anhebung des Aktivierungsniveaus zu Hunger - zu Hunger durch ein Signal aus dem leeren Magen, zu Hunger aus einem Frustrationserlebnis heraus oder aber, weil die Uhr auf sechs Uhr abends zeigt. Vor diesem Hintergrund kann einem das ganze Getue der Diätapostel um das jeweils »neueste« und »revolutionäre« Wundermittel zur Gewichtsabnahme ausgesprochen abstrus vorkommen- falsches Eßverhalten ist lediglich ein Symptom, die Ursachen liegen häufig in einem Bereich, der mit Essen und Trinken nur wenig zu tun hat. Kein Wunder ist es demnach, wenn Diätkuren fast nie dauerhafte Resultate zeitigen. Für mich ist es unverständlich, wieso so viele »Ernährungsbewußte« Jahr für Jahr auf den jeweils aktuellen Diät-Bestseller hereinfallen - sie tun es, denn sonst wären die Diätbücher von Robert Atkins und anderen keine Verkaufsschlager (siehe dazu das Kapitel über die Schlankheitsdiäten, Seite 163 ff.). Bedauerlich ist jedenfalls, daß die in der breiten Öffentlichkeit propagierten Ratschläge zur Gewichtsreduktion immer noch vorwiegend diätetisch ausgerichtet sind, haben doch die in diesem Kapitel beschriebenen Erkenntnisse hinsichdich der psychischen Determinanten des Eßverhaltens der Therapie bei Übergewicht neue Impulse verliehen. 44 Mehrere verhaltenstlierapeutisch ausgerichtete Programme zur Gewichtsabnahme wurden bereits mit Erfolg erprobt (siehe dazu Seite 156 f.). Dabei zeigte sich, daß es wichtig ist, die Ratschläge zur Verhaltensänderung individuell auszuarbeiten - was für den einen hilfreich ist, kann dem anderen oft nicht dienen. Einfache, für jeden gültige Rezepte gibt es nicht. Das Auffinden der eigentlichen Ursachen für falsches Eßverhalten. und die bewußte, schrittweise Korrektur desselben scheint mir jedenfalls der für die Mehrheit der Übergewichtigen beste Weg zur dauerhaften Gewichtsreduktion zu sein. Durch irgendeine Diät schnell ein paar Kilogramm abzunehmen, ist keine besondere Kunst. Schwierig ist es aber, das neue Gewicht dann auch zu halten. Dazu muß man das Übergewicht an seiner Wurzel packen. Ich habe deshalb versucht, die kulturhistorisch und psychisch bedingten Zusammenhänge rund um den Vorgang der Nahrungsaufnahme darzulegen. Ihre Kenntnis soll als Hintergrund für die weiteren Ausführungen in diesem Buch dienen. In der Folge wollen wir uns nun mit einer in mehrerer Hinsicht interessanten Ernährungsform auseinandersetzen, dem Vegetarismus. Zu philosophischen und physiologischen Aspekten kommen hier ethische, ästhetische und sogar wirtschaftliche mit ins Spiel. 45 Fleischlos - schuldlos? Fast 30 Millionen Tonnen Getreide werden in der Bundesrepublik Deutschland pro Jahr verbraucht; über 60 Prozent davon verfüttern Viehzüchter im Rahmen der sogenannten »Veredelungswirtschaft« an Schlachttiere. In den Vereinigten Staaten werden sogar 90 Prozent der Ernte an Mais, Gerste, Hafer und Sojabohnen zur Gewinnung von tierischem Eiweiß eingesetzt. Weltweit gesehen gilt dies auch für 40 bis 50 Prozent des Fischfangs. Dabei ist zu bedenken, daß im Durchschnitt etwa 7 Nahrungskalorien aus Futter aufgewendet werden müssen, um eine Nahrungskalorie Fleisch zu erzeugen, ein Verhältnis, das je nach Tierart und Futterart zwischen 3: 1 und 12:1 schwankt. Welch eine Verschwendung! rufen deshalb Ökologen und Fachleute, die sich mit der ungleichen Verteilung der Nahrungsressourcen auf unserer Erde auseinandersetzen. Obwohl in Mitteleuropa, in den Vereinigten Staaten und in anderen Regionen ein Gutteil der Pflanzenernte in die prozentuell unergiebige Erzeugung von Fleisch gesteckt wird, haben die Agrarpolitiker erhebliche Probleme, Überschüsse loszuwerden (zuweilen wird sogar behauptet, ohne die unrationelle Fleischproduktion wäre das Überschußproblem überhaupt nicht lösbar). Auf der anderen Seite leidet immer noch ein Viertel der Weltbevölkerung Hunger, und viele Millionen Menschen sterben Jahr für Jahr an den Folgen von Unterernährung. Wenn der englische Sozialforscher Thomas Malthus mit seiner Anfang des vergangenen Jahrhunderts gemachten Voraussage, die Zahl der Menschen auf der Erde werde schneller wachsen als die Menge an verfügbaren Nahrungsmitteln, recht behält, dann dürfte sich die Ernährungslage in Zukunft noch verschärfen. Allerdings: Würden sich alle Menschen dieser Erde nur von Pflanzenkost ernähren, hätte jeder Mensch 47 genug zu essen. Ein Argument, das Vegetarier häufig als Begründung für ihre Ernährungsweise ins Treffen führen. Das Argument ist aber theoretisch, weil sich in der Vergangenheit gezeigt hat, daß Nahrungsmittelhilfe durch Getreidelieferungen allein die Probleme der Hungerländer nicht lösen kann. Dabei sollten wir auch nicht vergessen, daß der Westen durch Lebensmittel wie Fische, Sojaprodukte, Erdnüsse, Palmenkerne und anderes von der hungernden Welt eine Million Tonnen Eiweiß pro Jahr mehr erhält, als den Hungernden durch Getreide geliefert wird. »Wir meinen zwar, die arme Welt hänge von der Lebensmitteleinfuhr ab, aber in Wirklichkeit wird sie durch den Export an die reichen Länder belastet« (Lit. 13). Unrealistisch ist das Argument wohl auch deshalb, weil sich zahlreiche Menschen in den Industriestaaten weigern würden, auf Fleisch, das sie für einen Kraftspender halten, zu verzichten. Sie betrachten Vegetarier zuweilen als — schwächliche und blasse - Spinner. Es gibt mehrere Arten des Vegetarismus Was sind Vegetarier? Der Brockhaus definiert sie als »Pflanzenkösder«. Die Britische Vegetarische Gesellschaft - die erste ihrer Art - schuf das Wort vegetarian, weil ihre Mitglieder die Ausdrücke »Gemüsekost« und »fleischlose Kost« für unzureichend und irreführend hielten. Schließlich gibt es Vegetarier, die Fisch essen, und solche, die keinen Fisch essen, manche essen Eier und trinken Milch, andere wiederum nicht. Das Wort Vegetarier leitet sich jedenfalls nicht von dem englischen Wort vegetable (Gemüse) ab, sondern von dem lateinischen vegetus, was so viel wie »rüstig, munter, lebhaft« heißt. Ein körperlich und geistig starker Mensch wurde von den Lateinern als homo vegetus bezeichnet. Die englischen Vegetarier wollten mit ihrer Wortwahl also etwas über die philosophische und moralische Seite der von ihnen angestrebten Lebensweise aussagen. Bei den Vegetariern kann man zwei große Gruppen unterscheiden. Die einen essen überhaupt keine tierischen Produkte, sie werden auch Vegans genannt. Andere wiederum verzehren neben Pflanzenkost auch Eier, Milch und Milchprodukte und heißen deshalb Lakto-ovo-Vegetarier. Letztere scheuen sich nicht, Produkte lebender Tiere zu essen oder zu trinken; alle Vegetarier lehnen jedoch Produkte toter Tiere ab. 48 Fleischverzicht aus ethischen und ästhetischen Gründen Die ethische Ablehnung des Fleischverzehrs ist möglicherweise die älteste Form des Vegetarismus. Empfindsame Menschen haben schon seit Jahrhunderten über das moralische Problem des Tötens von Tieren nachgedacht. Die Abkehr von tierischen Nahrungsmitteln kann religiös motiviert sein, viele Vegetarier sind jedoch gegen jede unnötige Zerstörung von Leben, gleichgültig, ob sie religiös gebunden sind oder nicht. »Zahlreiche religiöse Bewegungen praktizieren den Verzicht auf Fleisch, dennoch ist der Vegetarismus als solcher eine diesseitige Idee. Man geht davon aus, daß die Tiere wie die Menschen Mitgefühl und Achtung verdienen. Das Gerede über den gesundheidichen Wert oder den Nährstoffgehalt des Fleisches interessiert die ethischen Vegetarier überhaupt nicht. Sie essen einfach keine Tiere, gleichgültig auf welche Weise die Tiere gehalten, gefüttert oder getötet werden« (Lit. 14). Der deutsche Vegetarierbund erklärte deshalb 1963: »Der Vegetarismus ist die Lehre, daß der Mensch aus ediischen und biologischen Gründe ausschließlich zum Pflanzenesser bestimmt ist. Sein stärkstes Motiv ist die Überzeugung, daß möglichst kein Tier für die menschliche Existenz getötet oder geschädigt werden soll« (Lit. 15). Daneben gibt es auch ästhetisch orientierte Vegetarier. George Bernard Shaw beispielsweise verwahrte sich nicht so sehr gegen das Töten von Tieren, doch wollte er keine »Leichen« essen. Auch die auf Seite 22 schon erwähnte Doktrin der Signaturen wird von den Vegetariern bemüht. Der Verzehr von Fleisch bedeutet demnach, die Eigenschaften des betreffenden Tieres zu bekommen oder, ganz allgemein, von den niedrigen tierischen Instinkten beeinflußt zu werden. In diesem Sinne sagte der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau: »Wer sich ernstlich bemüht, seine geistigen oder künstlerischen Fähigkeiten zu bewahren, hielt sich besonders von tierischer Nahrung und einem Zuviel an Nahrung überhaupt fern.« Buddha, Mahavira, Ovid, Pythagoras und andere waren gegen den Fleischverzehr, weil sie glaubten, daß die Tierschlachtung nicht nur unmoralisch, sondern überhaupt des menschlichen Geistes unwürdig sei. Ähnliche Beweggründe galten auch für Leonardo da Vinci, Albert Einstein, Mahatma Gandhi, Albert Schweitzer, Leo Tolstoj und andere. In dieses Bild paßt die Tatsache, daß in manchen Kulturen die Schlachter als Ausgestoßene vor den Toren der Städte und Dörfer leben mußten. 49 Historisch gesehen ist noch hinzuzufügen, daß die Einstellung des Menschen zum Tier in gewisser Weise schon durch die Lebensumstände. bedingt w a r - so gab es zu jeder Zeit Jägervölker und Hirtenvölker, solche, die von Jagd- und Fischfang lebten, und andere, die sich von Früchten und Wurzeln ernährten. Der Mensch - Pflanzenkösder, Raub»tier« oder Allesfresser? Mit Blick auf die Stammesgeschichte argumentieren manche Vegetarier, der Mensch sei »von Natur aus ein Früchteesser«. »Daß auch sein Gebiß und die Länge seines Verdauungskanals dafür sprechen«, meint der Arzt M.O. Bruker (siehe Seite 75 ff.), »daß der Mensch weder Fleischesser noch ein Allesesser, sondern ein Früchteesser ist, ist allgemein bekannt« (Lit. 16). Schnitzer (siehe Seite 81 f.) sekundiert: »Der Mensch ist- dies sagt die Konstruktion seines Kauorganes eindeutig a u s - ein Frugivore, ein Früchteesser, wie die meisten der ihm am nächsten verwandten Primaten« (Lit. 17). Hier scheint der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen zu sein. Schon der Pathologe und Anthropologe Virchow bemerkte, daß der Mensch mit den Raubtieren kurze Kiefer und eine regelmäßigere Zahnreihe gemein hat, während die Pflanzenfresser weit längere Kiefer und eine unterbrochene Zahnreihe besitzen. Kein Affe, auch Schwein und Bär nicht, deren Kauwerkzeuge manche Ähnlichkeit mit dem des Menschen haben, stimmen in dieser Hinsicht vollkommen mit ihm überein. Daraus folgerte Virchow, daß, wenn man auch Bedenken hegen könnte, den Menschen als reinen Carnivoren zu bezeichnen, er sicher für die Aufnahme verschiedener Nahrung eingerichtet ist. Die Makrobioten (siehe Seite 104 ff.) wissen es offenbar ganz genau : »Die Mehrzahl unserer Zähne, vordere und hintere Backenzähne, legen im allgemeinen ihre Benutzung zum Mahlen von Getreide, Hülsenfrüchten und anderen Samenkörnern nahe. Die zweitgrößte Anzahl der Zähne, die Schneidezähne, legen das Schneiden von Gemüse nahe und die letzte Anzahl der Zähne, die Eckzähne, sind hauptsächlich zum Zerreißen tierischer Nahrung . . . Entsprechend unserer Zahnordnung wäre das allgemeine Verhältnis von Getreide zu Gemüse zu tierischer Nahrung 5:2:1 und von der gesamten vegetarischen Nahrung zur tierischen 7:1« (Lit. 18). 50 Auch der menschliche Darm muß ähnlich wie das Gebiß für Argumente bezüglich der dem Menschen von Natur aus zugedachten Nahrung herhalten. Fleischfressende Tiere haben im allgemeinen einen kurzen, Pflanzenfresser einen langen Darm. Je nach Standpunkt des Beobachters wird der menschliche Darm einmal als kurz, einmal als lang eingestuft. Tatsache ist aber, daß der Mensch sowohl Pflanzliches wie Tierisches kauen und verdauen kann: »Die Menschen sind nicht von Natur aus Fleischfresser, Fruchtfresser, Pflanzenfresser oder Allesfresser. Die Menschen bilden wie die Menschenaffen eine einzigartige, anpassungsfähige und körperlich nicht festgelegte Art und zeigen vielerlei persönliche Geschmacksrichtungen und Verhaltensweisen. Menschen und Schimpansen können Fleisch essen, aber ihr Körperbau und ihre Lebensvorgänge zwingen sie keineswegs dazu« (Lit. 19). Vegetarismus und Gesundheit Seit jeher wurden auch gesundheitliche Bedenken als Grund für eine fleischlose Ernährung angegeben. So gründete sich die vegetarische Bewegung in England und den Vereinigten Staaten, die etwa 1840 einsetzte, im wesendichen auf die Ernährungsauffassungen dreier Personen: des Reverend Sylvester Graham, Erfinder des Grahambrotes, Allen Withe, der Mitbegründerin der Gemeinschaft der Siebenten-TagsAdventisten, und John Harvey Kellogg, der für sein Frühstück aus Getreidezubereitungen berühmt wurde. Sie hielten sich an das Bibelwort vom menschlichen Körper als »Tempel Gottes« und wollten ihn deshalb nicht durch »ungesunde« Speisen, Fleisch, Alkohol, Tabak und andere Genußmittel verunreinigt sehen. Ende des vorigen Jahrhunderts wurde die Reformbewegung (siehe Seite 57 ff.) mit dem Vegetarismus verknüpft. Die Anhänger beider Richtungen glauben auch heute noch, daß vegetarische Kost natürlicher und gesünder sei als Fleischkost. Dagegen sind die Befürworter des Fleischkonsums der Auffassung, tierisches Eiweiß sei höherwertig als pflanzliches; es sei schwierig, bei rein pflanzlicher Ernährung alle essentiellen Nährstoffe in ausreichender Menge zuzuführen. Vegetarier wiederum konstatieren in den Industriestaaten einen Überkonsum an Fleisch und machen ihn für den Anstieg von Gicht, Arteriosklerose und anderen Zivilisationskrankheiten verantwortlich (darauf kommen wir gleich noch zurück). 51 Eiweißwertigkeit und Eiweißbedarf Versuchen wir, die Spreu vom Weizen zu trennen. Zunächst zur Frage der biologischen Wertigkeit von Eiweiß: Der Eiweißbedarf des Menschen ist abhängig von der Eiweißmenge, die zum Aufbau von körpereigenen Eiweißstoffen benötigt wird, und somit während des Wachstums beträchtlich höher als beim Erwachsenen (auch ältere Menschen haben wieder einen erhöhten Eiweißbedarf, da sie die Nahrungsmittel bei der Verdauung nicht mehr vollständig ausnutzen können). Der tägliche Bedarf an Eiweiß liegt bei etwa 15 Prozent der zugeführten Energie. Bei einer durchschnittlichen Energieaufnahme von 2500 Kilokalorien pro Tag entspricht dies etwa 80 Gramm Eiweiß. Glaubte man noch im vergangenen Jahrhundert, mehr als 100 Gramm Eiweiß pro Tag seien notwendig, ist man heute der Auffassung, der Mensch komme auch mit 40 Gramm hochwertigem Eiweiß aus. Die biologische Wertigkeit von Eiweiß wird durch seinen Gehalt an Aminosäuren bestimmt. Alle Eiweißstoffe werden bei der Verdauung bis zu ihren Bausteinen, den sogenannten Aminosäuren, aufgespalten. Zwei Dutzend solcher essentiellen Aminosäuren sind den Biochemikern bekannt. Einen Teil davon kann der Mensch aus einfacheren Molekülen auf- oder aus anderen Aminosäuren umbauen; einige Aminosäuren jedoch kann der menschliche Stoffwechsel nicht herstellen. Wir bezeichnen diese als essentielle, lebensnotwendige Aminosäuren. Von jeder dieser essentiellen Aminosäuren benötigt der Mensch eine bestimmte Menge, um den im Körper stattfindenden Eiweißabbau zu kompensieren. Deshalb kann man auch sagen: Je näher das Muster der Aminosäurenzusammensetzung eines Nahrungsmittels dem des Menschen ist, um so höher ist seine biologische Wertigkeit für den Menschen. Tierisches Eiweiß ist im allgemeinen höherwertig als pflanzliches. So ist etwa die biologische Wertigkeit von Vollei doppelt so groß wie die von Weizenmehl. Wenn in einem Nahrungsmittel nur eine einzige essentielle Aminosäure, wie das beispielsweise häufig auf Lysin zutrifft, in zu geringem Ausmaß enthalten ist, sinkt die biologische Wertigkeit für das Gesamteiweiß. Entscheidend ist aber nicht die biologische Wertigkeit eines einzelnen Lebensmittels, sondern die biologische Wertigkeit der Summe aller Nahrungsmittel, die wir bei einer Mahlzeit essen und trinken. Und hier zeigt sich nun, daß die Aussage, tierisches Eiweiß sei höherwertig als 52 pflanzliches, nicht ohne Einschränkung gilt. Wer seine pflanzliche Kost richtig zusammenstellt, erzielt eine sogenannte »Ergänzungswirkung«. So gibt es pflanzliche Nahrungsmittel, die zuwenig von einer essentiellen Aminosäure - etwa Lysin - enthalten, andere wiederum, die zuviel enthalten. Kombiniert man solche Lebensmittel im richtigen Verhältnis, so ist die Ergänzungswirkung hinsichdich Lysin optimal. »Gute« Eiweißkombinationen beispielsweise sind: Getreideerzeugnisse mit Milch, Milchprodukten oder Eiern, Getreide mit Hülsenfrüchten, Hülsenfrüchte mit Sämereien. Hülsenfrüchte und Kartoffeln sowie Getreideerzeugnisse und Gemüse sind Kombinationen ohne Ergänzungswert. Der Eiweißbedarf des Menschen läßt sich also durch Pflanzenkost durchaus decken - wenn man es richtig macht. Nicht ganz so einfach ist es für den Vegetarier, den Bedarf des Körpers an Vitamin Bi2 zu decken. Dieses kommt vor allem in tierischen Produkten vor und steuert zusammen mit dem Vitamin Folsäure die Produktion der roten Blutkörperchen im Knochenmark. Ein Mangel an Vitamin B J2 kann zu Nervenfunktionsstörungen und Anämie führen, auch wenn die Symptome (Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit) zuweilen erst nach Jahren auftreten. Viele Vegans zweifeln an der Notwendigkeit tierischer Vitamin B 12 Quellen und behaupten, daß der Mensch dieses Vitamin im Verdauungstrakt herstellen könne. Tatsächlich hat man gefunden, daß im Darm vieler Asiaten Mikroorganismen hausen, die Vitamin Bi2 aufbauen. Fraglich ist, ob dies auch für den Darm der Europäer zutrifft und ob die Menge des dabei gebildeten Vitamins B J2 ausreichend ist. Das letzte Wort dürfte hier von der Wissenschaft noch nicht gesprochen sein. Bezüglich des lebenswichtigen Mineralstoffes Eisen gilt, daß es aus Tierprodukten leichter in den Blutstrom aufgenommen wird als das in Pflanzen enthaltene Eisen. Zwar gibt es in vielen Gemüsearten Eisen in großen Mengen, doch bleibt nur ein kleiner Teil davon nach der Verdauung im Körper (Eisen liegt dort nämlich in einer schwer resorbierbaren Form vor). Aus diesem Grund ist bei Vegetariern nicht selten ein Eisenmangel zu beobachten. Das wäre aber gar nicht notwendig — Sojaprodukte enthalten Eisen in einer besser resorbierbaren Form; außerdem ist bekannt, daß Vitamin C, welches in Pflanzenkost reichlich enthalten ist, die Aufnahme von Eisen durch den Verdauungsapparat begünstigt. 53 Eine pauschale Behauptung wie »Vegetarier können sich nicht ausreichend ernähren« ist demnach unrichtig. Wer eine mit tierischen Lebensmitteln gemischte Kost ißt, dem fällt es allerdings leichter, sich ausgewogen zu ernähren- der Vegetarier benötigt gute Ernährungskenntnisse, um Mangelzuständen vorzubeugen. Dies gilt insbesondere auch für eine vegetarische Ernährung des Kleinkindes. Die meisten Ernährungswissenschaftler warnen deshalb davor, Kleinkinder ausschließlich mit Pflanzenkost zu füttern. Führt Fleischkonsum zu Gicht und Herzinfarkt? Gicht ist die Folge einer meist angeborenen Störung des Stoffwechsels, welche in Verbindung mit einer falschen Ernährung zu einer überhöhten Konzentration von Harnsäure im Blut und in den übrigen Körperflüssigkeiten führt. Harnsäure entsteht als Abbauprodukt von sogenannten Purinen, das sind Bestandteile von Ribonukleinsäuren und Teile von Stoffen wie Coffein und Theobromin. Diese erfüllen in jeder tierischen und pflanzlichen Zelle lebensnotwendige Funktionen in der Steuerung des Zellstoffwechsels und als Träger von Erbanlagen. Überschreitet der Harnsäurespiegel in den Körperflüssigkeiten einen bestimmten Wert, so kommt es zur Ausfällung von Harnsäurekristallen. Die Folgen dieser Ablagerungen spüren wir als Gicht. Große Harnsäuremengen sind vor allem in Innereien, aber auch in bestimmten Fleischund Fischsorten enthalten. Alkohol hemmt die Harnsäureausscheidung durch die Nieren und spielt deshalb bei der Entstehung von Gicht mit eine Rolle. Aber auch Hülsenfrüchte, Spinat und Spargel sind reich an Harnsäure. Die Behauptung, Fleischverzehr führe zu Gicht, ist deshalb in dieser Form nicht haltbar; richtig dagegen ist, daß ein übermäßiger Konsum von harnsäurereichen Lebensmitteln bei gleichzeitig hohem Alkoholkonsum zu Gicht führen kann. In ähnlicher Weise kommt es auch bei der Entstehung von »Eiweißspeicherkrankheiten« nicht so sehr darauf an, ob man Fleisch ißt oder nicht, sondern wieviel man davon ißt. Eiweißüberernährung erzeugt, so behauptet der deutsche Ernährungsforscher Lothar Wendt, die Eiweißspeicherkrankheit, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Basalmembran der Gefäße durch Ablagerungen von Eiweiß verdickt sind. Die meisten Ernährungsforscher sehen heute aber Veränderungen der 54 inneren Arterienschicht (Arteriosklerose) in erster Linie als Störung des Fettstoffwechsels. Bereits im Kindesalter sind häufig dünne Fettstreifen oder -flecken an der Gefäßinnenschicht, vor allem an der Hauptschlagader, zu finden. Diese Fettablagerungen regen früh eine Wucherung des umgebenden Bindegewebes an. Es entstehen Polster mit fettigem Inhalt; an ihrer Entstehung dürfte ein lokaler Sauerstoffmangel wesentiich beteiligt sein. Im Laufe der Jahre wachsen diese Polster und engen das Gefäß allmählich bis zum vollständigen Verschluß ein, der nicht selten durch ein Blutgerinnsel erfolgt. In den Fettablagerungen sammelt sich mit der Zeit Kalk an. Die Arterien verhärten sich, und es entsteht eine Sklerose. Die Arteriosklerose kann an sich jahrzehntelang unbemerkt bleiben. Wird aber die Gefäßlichtung auch nur an einer einzigen Stelle zu stark eingeengt oder verschlossen, tritt ein Mangel an Sauerstoff ein - es kann zu Herzinfarkt oder Gehirnschlag kommen. Bei der Suche nach den Verursachern dieser Ablagerungen steht seit langem das Cholesterin im Vordergrund des Interesses. Cholesterin ist vor allem in tierischen Produkten enthalten. Lange Zeit galt als Dogma, daß Vorbeugung und Behandlung von koronaren Herzkrankheiten eine cholesterinarme Diät erfordern. »In vom wissenschaftlichen Standpunkt aus bedauerlicher Weise rief dieses Dogma Interessengruppen mit fehlgedeuteten und mit enormem finanziellen Aufwand propagierten Diskussionen um dessen Bedeutung für Prophylaxe und Therapie der Arteriosklerose auf den Plan, die den Blick für eine sachliche Evaluation dieses Dogmas verstellten« (Lit. 20). Heute ist man der Ansicht, daß es nicht auf das Cholesterin allein ankommt. Fette werden im Blut nicht als solche transportiert, sondern gebunden an Eiweiß- als sogenannte Lipoproteine. Man kennt eine Reihe verschiedener Gruppen dieser Lipoproteine, die sich vor allem durch ihre Dichte unterscheiden. Die Fraktionen geringer Dichte scheinen bei der Entstehung von Gefäßablagerungen eine Rolle zu spielen, während Lipoproteine hoher Dichte sogar einen Schutzeffekt ausüben dürften. Das Bild wird noch dadurch kompliziert, daß Fett nicht gleich Fett ist. Fett kann mehr oder weniger ungesättigte (einfach und mehrfach ungesättigte) Fettsäuren enthalten; in tierischen Fetten sind eher gesättigte, in pflanzlichen eher ungesättigte Fettsäuren enthalten (auch hier gibt es Ausnahmen von der Regel). Mehrfach ungesättigten Fettsäuren wird von manchen Wissenschaftlern eine vorbeugende Wirkung gegen den Herztod zugeschrieben. 55 Die Kontroverse um die Rolle der Fette ist auch als »Butter-Margarine-Streit« bekannt. Die Öffentlichkeit wurde in den letzten Jahren jedenfalls durch entgegengesetzte Äußerungen vieler verschiedener Stellen verunsichert. Von den einen wurde die Butter verdammt, von den anderen wiederum freigesprochen. Im Jahre 1979 kam es darüber zu einer Debatte im Deutschen Bundestag. Die Bundesregierung bestätigte dem Parlament zur Frage des angeblichen gesundheitlichen Vorzugs der Margarine, daß es zwischen Verzehr von hoch ungesättigten Fettsäuren und Vorbeugung oder Verhinderung von Herztod keinen wissenschaftlich gesicherten Zusammenhang gibt. Ein Beirat der Bundesärztekammer kam zu der Auffassung, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt dezidierte, an die Gesamtbevölkerung gerichtete Empfehlungen zum qualitativen Fettverzehr wissenschaftlich nicht ausreichend begründet sind. Das Oberlandesgericht Köln hat am 4. Juli 1980 eine an die Allgemeinheit gerichtete Werbung verboten, in der mit gesundheitlichen Argumenten vor dem Verzehr gesättigter tierischer Fette gewarnt und ein vermehrter Konsum pflanzlicher Fette mit hohem Linolsäuregehalt empfohlen wird, da eine Prävention hiervon nicht erwartet werden könne. Wir sollten bei all dem nicht vergessen, daß Herz- und Gefäßkrankheiten- ebenso wie viele andere Zivilisationskrankheiten- »multifaktorieller« Natur sind, das heißt nicht eine, sondern mehrere Ursachen haben, zumindest in der Regel. Ernährung kann eine Rolle spielen, auch das Ausmaß der Bewegung, Rauchen, Streß und andere Lebensumstände. Sogar die Vererbung ist mit im Spiel. Darum wird eine Korrektur des Ernährungsverhaltens alleine in den meisten Fällen sicher nicht ausreichend zur Vorbeugung sein. Fassen wir zusammen: Auch ohne Fleisch kann man sich ausreichend ernähren. Pflanzenkost ist aber nicht ein Gesundbrunnen schlechthin. Wenn Vegetarier gesünder sind als andere Gruppen der Bevölkerung, so liegt das wahrscheinlich nicht bloß an den Unterschieden in der Ernährung, sondern daran, daß viele Vegetarier insgesamt gesundheitsbewußter leben als der Durchschnitt der Bevölkerung. 56 Natürlich- gesund? »Laßt unsere Nahrung so natürlich wie möglich« war der Leitspruch des 1970 verstorbenen Ernährungsforschers Werner Kollath. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Satz durch die Beschreibung der vielfältigen Ausdrucksformen der Reformbewegung, denen dieses Kapitel gewidmet ist. Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts entstanden, erlangte die Bewegung der Lebensreformer in den letzten Jahrzehnten eine große Breitenwirkung. Den meisten ihrer Vertreter geht es ursprünglich um die Erneuerung der gesamten Lebensführung; der Ernährung kommt dabei eine zentrale Rolle zu, aber auch Bewegung, Kleidung, Wohnung und allgemeine Gesundheitspflege sind mit Inhalt und Anliegen der naturheilkundlich und ganzheitlich orientierten Reformer. Manche Anhänger vegetarischer Kostformen lassen sich der Reformbewegung zuzählen. Um es gleich vorwegzunehmen: Vom Ansatz her sind viele dieser Bestrebungen zu begrüßen. Was mich hingegen stört, ist der Absolutheitsanspruch vieler Reformer, ihr nicht selten zutage tretender Dogmatismus und die Tatsache, daß von vielen Reformideen oft nur mehr Relikte übriggeblieben sind: Aare Waerlands Lehre mag im Waerlandbrot fortleben, wer aber bloß Waerlandbrot ißt, lebt keineswegs den Vorstellungen seines Erfinders g e m ä ß - Brot zu essen bedeutet noch lange nicht, naturgemäß zu leben. 57 Was »Reformer« wollen Der Ernährungsphysiologe Ernst Kofranyi beschreibt sie in seiner Einführung in die Ernährungslehre folgendermaßen: »Die Reformer waren von tiefem Mißtrauen gegen die >rationale< Wissenschaft erfüllt und hielten die schlichte Erfahrung für den sichersten Wegweiser zum >wirklichen< Leben. Die Ernährung sollte möglichst >natürlich< sein und vor allem aus Fruchtsäften, Gemüsesäften und vegeurischer Frischkost bestehen. Natur ist für den überzeugten Anhänger dieser Lehre das Vollkommene an sich; jede Entfernung von ihr kann nur Unvollkommeneres bringen. Solche Leute sind blind gegenüber der Tatsache, daß es in der Natur viele tödlich giftige Produkte gibt (z. B. manche Giftpilze) und daß viele Nahrungsmittel im nicht zubereiteten Zustand toxische Wirkungen zeigen (z. B. viele Leguminosen). Die Meinung, alles, was die Natur liefere, sei von sich aus gut und erst der Mensch zerstöre durch >Denaturierung< diese natürliche Vollkommenheit, ist ein romantischer Aberglaube. Als Gegenbewegung gegen den Materialismus der Gründerjahre entstanden, ist die Reformbewegung allerdings vor dogmatischer Einseitigkeit und Übertreibung nicht bewahrt geblieben, und der anfängliche Idealismus wurde im Laufe der Zeit weitgehend kommerzialisiert. Der Lebensreformbewegung ist es aber zweifellos als Verdienst anzurechnen, der Öffentlichkeit ein viel reichhaltigeres Angebot pflanzlicher Nahrungsmittel nahegebracht zu haben, als zur Jahrhundertwende üblich war. Auch wurden neue Methoden der gärungsfreien Obstverwertung aufgefunden und verbreitet... Mit weit weniger Wohlwollen ist die die Tätigkeit jener Ärzte zu betrachten, die ohne tiefere ernährungsphysiologische Fundamente neue >Ernährungslehren< und >Heildiäten< erfanden. Der propagandistischen Ausschlachtung ihrer Ideen und dem lukrativen Handel mit den von ihnen empfohlenen Diätpräparaten muß man begründetes Mißtrauen entgegenbringen« (Lit. 21). Mit dieser knappen Schilderung sind zahlreiche Aspekte der Reformbewegung angeschnitten, die uns nun etwas eingehender beschäftigen sollen. 58 Der Vater des Müsli Beginnen wir mit Max Bircher (später nannte er sich Bircher-Benner), einem Arzt, der 1867 im schweizerischen Aarau geboren wurde. Aufgrund von Beobachtungen kam er zu der Überzeugung, rohe Kost sei in der Lage, den Heilungsprozeß bei Krankheiten zu unterstützen. Vom ärztlichen Establishment wurde seine These abgelehnt- Bircher fühlte sich bald als Ausgestoßener. Trotzdem (oder deswegen?) hatte seine Klinik, die er um 1900 am Zürichberg einrichtete, bald regen Zulauf. Zahlreiche Kranke, die anderswo keine Heilung fanden, pilgerten zu Bircher in der Hoffnung auf Genesung. Seine Tochter Ruth KunzBircher berichtet: »1911 sind in der beträchtlich erweiterten Klinik bereits 5 Ärzte, ein Physiotherapeut und ein Dutzend Krankenschwestern tätig. Haupt- und Nebengebäude beherbergen 70 Patienten aus aller Welt, doch eine Kur bei Bircher, wie man ihn bereits kurzerhand nannte, war eine vollständige Umerziehung, die auf der hundertprozentigen Mitarbeit des Patienten fußte und diesen von seinen schlechten Gewohnheiten befreite, während sie in ihm gleichzeitig ein aktives Gesundheitsbewußtsein weckte... Dr. Max Bircher-Benner ist sich darüber klar, daß das fatalistische Hinnehmen einer Krankheit als unabänderliches Schicksal für das Leiden einen günstigen Nährboden schafft... Die nüchterne Strenge des Arztes galt all jenen Dingen, die der Heilwirkung der Kur oder der Gesundheit abträglich sein konnten. Im übrigen vertrat er den Standpunkt, je mehr der Geist sich der Welt öffne, um so harmonischer könne der Körper sich entfalten« (Lit. 22). Die wichtigsten Aussagen der Lehre Birchers sind in seinen zehn Ordnungsgesetzen des Lebens niedergelegt. Das Ordnungsgesetz der Nahrungsenergie besagt, daß uns die Nahrung über die Pflanzen chemisch gebundene Sonnenenergie liefert. Daher berge lebensfrische Nahrung, insbesondere pflanzlicher Herkunft, die höchst geordneten Nahrungsenergieformen in sich (»Sonnenlicht-Nahrung«). Hierin sieht Bircher die Hauptbegründung für den Heilwert der Frischkost. Das Integralgesetz der Nahrung fordert ein wohl abgewogenes Gesamtverhältnis aller Nährfaktoren, ohne Überschuß oder Teilmangel einzelner Faktoren. Das Ökonomiegesetz der Ernährung geht davon aus, die Nahrungszufuhr solle gerade nur den Bedarf decken. Ein Überschuß an Nahrung fördere weder Leistungsfähigkeit noch Gesundheit. Das Ordnungsgesetz der Nahrungspforte weist auf die Funktion des Mun59 des mit Gebiß, Speichel, Drüsen und Gaumen hin und verlangt, alle Nahrungsmittel sollten gründlich und lange genug gekaut werden. Das Ordnungsgesetz der Mahlzeitenzahl schreibt grundsätzlich eine Vollmahlzeit vor und erlaubt daneben nur zwei kleine Nebenmahlzeiten. Weiter gelten für Bircher noch die Ordnungsgesetze der Atmung, der Beziehung zum Licht, zur Temperatur, zur Schwerkraft und zur Rhythmik. Heute ist von Bircher-Benner im wesentlichen nur noch das von ihm populär gemachte Müsli allgemein bekannt; eine Speise, die Bircher durch Zufall entdeckte, als er bei einer Wanderung durch die Schweizer Berge einen Senner beobachtete, der einen Brei aus geschrotetem Weizen und mit Honig gesüßter Milch mit einem Apfel verzehrte. Eine Mischung aus Milch, Haferflocken, Äpfeln, Zitronensaft, frischen Beeren, Nüssen und Honig entwickelte sich in der Folge zum »täglichen Brot« Birchers. Wer heute den Namen Bircher bloß mit dem Begriff »Frischkost« oder gar »Müsli« gleichsetzt, tut dem leidenschaftlichen Verfechter einer natürlichen und mäßigen Lebensform sicher unrecht. Gesundung vom Darm her Ähnliches gilt für Aare Waerland, einen Finnen schwedischer Abstammung. 1867 geboren, schuf der tatkräftige Forscher nach langen Studien und Versuchen ein System der Ernährungs- und Lebensführung, das heute von einer kleinen Gemeinschaft weitergetragen wird und durch die Markenbezeichnung »Waerlandbrot« zumindest dem Namen nach fast jedermann bekannt ist. Nicht so weit verbreitet ist allerdings eine der zentralen Aussagen Waerlands, daß nämlich der Schlüssel zur Gesundheit im Darm liegt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts experimentierte der englische Chirurg Sir Arbuthnot Lane mit der operativen Entfernung des ganzen Dickdarms, durch die er beabsichtigte, fast alle chronischen Leiden zu heilen. Dem Rollstuhl Verfallene und Leidende aller Art pilgerten zu Lane, und »alle diese Menschen erlebten Wunder an Heilung, wenn man sie dieser Darmoperation unterzog« (so behauptet jedenfalls eine Broschüre Was ist das Waerlandsche System). Der Biologe Sir Arthur Keith versuchte, die behaupteten Erfolge Professor Lanes theoretisch zu untermauern, indem er sich be60 mühte nachzuweisen, daß die in der Wildnis lebenden Menschenaffen, denen die Zivilisationskrankheiten des Menschen völlig unbekannt sind, keine Fäulnisherde im Darm haben, während die zivilisierten Menschen- bei gleich aufgebauten Verdauungsorganen- angeblich fast ausnahmslos damit behaftet sind. Waerland kannte die Methode Lanes und die Gedanken Keiths. Er war aber der Auffassung, die radikale Entfernung des Dickdarmes sei nur eine Notlösung und bestenfalls in wenigen Sonderfällen zu verantworten. Er begann darüber nachzudenken, wie man die von Keith beschriebenen Fäulnisherde durch eine andere Ernährung beseitigen könne. Versuchen wir die Gedanken Waerlands nachzuvollziehen (Lit. 23). Eine notwendige Voraussetzung, um auf wissenschaftliche Art das Rätsel von Gesundheit und Krankheit lösen zu können, ist, so Waerland, eine vollständige Kenntnis von Stoffwechsel und Struktur der Zellen. Waerland: »Unsere Gesundheit beruht auf der Gesundheit jeder einzelnen kleinen Zelle. Aber worauf basiert denn die Gesundheit der kleinen Zelle?— Darauf, daß sie eine so vollwertige Nahrung wie möglich erhält und daß ihre sämtlichen Abfallprodukte so schnell und vollständig wie möglich abgeführt werden. Dies ist die erste und letzte Gesundheitsregel - das Alpha und Omega der Gesundheit.« Von dieser These ausgehend, versucht Waerland, die Ursachen der Krankheiten des Menschen im Zusammenhang mit den Lebensfaktoren in seinem Lebensmilieu zu betrachten. Er geht von der (unrichtigen) Behauptung aus, Krebs greife mindestens zu 90 Prozent die Verdauungsorgane an. Der gesunde Menschenverstand, so Waerland, sage uns darum sofort, Grundursache dieser Krankheit müsse sein, daß unser Verdauungskanal eine ganz unrichtige Nahrung bekommt, das heißt, daß er eine Aufgabe bewältigen muß, für welche er nie bestimmt war. Waerland: »Der zivilisierte Mensch hat seinem Verdauungskanal seine ursprünglichen >funktionellen Komponenten< weggenommen, das heißt die Nahrung, welche die Verdauungsorgane unserer biologischen Vorfahren aufgebaut hat, als sie während 25 Millionen Jahren auf den Bäumen ihr Leben fristeten. Die Frage, welche diese >funktionellen Komponenten< ursprünglich gewesen sind, ist wirklich mit ein bißchen gesundem Verstand nicht schwierig zu beantworten. Unsere biologischen Vorfahren hatten selbstverständlich keine Möglichkeit, ihre Nahrung in den Baumwipfeln zu kochen, und sie hatten auch keinen Zugang zu Kochsalz. Ihre Hauptnahrung bestand aus grünen Blättern, 61 Knospen, Samen, Baumfrüchten, Nüssen, Beeren, Wurzelfrüchten, Wurzeln- sie war zu 100 Prozent vegetabilisch. Auf eben diese Nahrung stellte ich mich vor 50 Jahren ein - und alle meine Krankheiten verschwanden! Seitdem habe ich Tausende von Menschen auf eine solche Kost umgesetzt - mit demselben Resultat.« Wiederum stoßen wir hier auf ein Phänomen, das vielen Ernährungsautodidakten gemeinsam ist: Ein Mensch hat irgendeine Krankheit, heilt sie (meist durch Selbstbehandlung) oder behauptet zumindest, er sei dadurch geheilt worden - und ist in der Folge von diesem Heilerfolg so beeindruckt und überzeugt, daß er vermeint, Krankheit bei allen Menschen gleichermaßen behandeln zu können. Man nehme diese Charakterisierung nicht zu wörtlich. Für mich steht außer Zweifel, daß viele der von diesen Menschen vorgetragenen Auffassungen in bestimmten Grenzen durchaus Gültigkeit haben können, problematisch scheint mir dagegen das Gedankengebäude, d a s - meist im nachhinein - zur Begründung des tatsächlichen oder vermeintlichen Heilerfolges aufgebaut wird. Doch folgen wir weiter den Ausführungen Waerlands. Er bemerkt, daß die zellulosereichen Teile unserer Nahrung mitunter die besten Mineralstoffe und Vitamine enthalten, jedoch so gespeichert sind, daß sie weder durch die Säfte des Magens noch des Zwölffinger- oder Dünndarmes für den menschlichen Organismus zugänglich gemacht werden können. Erst die im Dickdarm heimischen Gärungsbazillen sind, so Waerland, in der Lage, die »Zellulose der toten Pflanzenfibern aufzubrechen« und damit deren Inhalt verwertbar zu machen. Die Gärungsbazillen sind somit nützliche Einwohner des menschlichen Darmes. Die Fäulnisbazillen dagegen sind für Waerland die schlimmsten Feinde des Menschen. Während die Gärungsbazillen die »speziellen Reinhaltungsarbeiter für Pflanzenkost« sind, dienen die Fäulnisbazillen zur Verarbeitung von Fleisch, Fisch und Eiern. Waerland: »Es besteht folglich ein großer fundamentaler Unterschied zwischen Pflanzenkost und animalischer Kost. Die Pflanzenabfälle werden mit Hilfe von Gärungsbazillen wieder zu Erde verwandelt, die Reste vom Tierkörper von Verwesungsbazillen aufgelöst. Es sind dies zwei Klassen von grundwesentlich verschiedenen Nahrungsmitteln. Der Mensch hat die Wahl zwischen Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod. Es hängt davon ab, ob er eine Nahrung von der Kost der Gärungsbazillen oder 62 von der Kost der Fäulnisbazillen hernimmt.« Im Übergang von Pflanzennahrung zu Tiernahrung sieht Waerland demnach den Anfang für »bodenloses Krankheitselend«. Durch die Fleischkost habe man begonnen, Lebensmittel zu verarbeiten (Feuerbehandlung, Kochen, Rösten und so weiter), und diese Prinzipien hernach auch auf die Pflanzenkost angewendet. Feuerbehandlung aber raube den Nahrungsmitteln ihre besten Eigenschaften und mache sie dadurch geradezu gesundheitsschädlich. Es braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden, daß diese Behauptungen nicht nur im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Ernährungslehre stehen, sondern auch eine zu extensive Auslegung der an sich unbestrittenen Tatsache sind, daß eine »gesunde« Verdauung wesendiche Voraussetzung für die Erhaltung und Wiedergewinnung von Gesundheit ist. Wer sich über längere Zeit hinweg faserstoffarm ernährt, kann tatsächlich krank, auch krebskrank werden. Epidemiologische Untersuchungen von Denis Burkitt gipfeln in der Hypothese, daß zahlreiche Zivilisationskrankheiten auf einen Mangel an pflanzlichen Faserstoffen in der Nahrung beruhen. In Gegenden, wo Faserstoffe reichlich verzehrt werden, sind Verstopfung, Divertikulose und Darmkrebs selten. Dort, wo nur wenig Unverdauliches und viel Fett verzehrt wird, ist dagegen eine Zunahme von Verstopfung und Divertikulose, aber auch von Dickdarmkrebs zu verzeichnen. Solche Untersuchungen vermitteln zweifellos wichtige Indizien, sind jedoch kein Beweis dafür, daß die Anwesenheit oder Abwesenheit von Faserstoffen für die Entstehung von Krankheiten ursächliche Bedeutung hat (die Lebensgewohnheiten im ländlichen Afrika unterscheiden sich von denen der Industriestaaten in vielerlei Hinsicht, nicht nur bezüglich des Faserstoffgehaltes der Nahrung) (siehe auch Seite 173). Allerdings gibt es noch andere Gründe, die Zusammenhänge zwischen Faserstoffen und Störungen der Gesundheit nahelegen. Zunächst ist es eine Tatsache, daß faserstoffreiche Nahrung die Darmpassage beschleunigt; in der Nahrung enthaltene oder bei der Verdauung gebildete krebserregende Substanzen haben deshalb bei faserstoffreicherer Kost eine kürzere Verweilzeit im Verdauungstrakt. Darüber hinaus sind manche Ballaststoffe in der Lage, toxische Verbindungen, aber auch Mineralsalze und Stoffwechselabbauprodukte zu binden (antitoxischer Effekt). »Die wichtigste Funktion der Faserstoffe der Nahrung, gleichgültig ob sie aus Getreide, Obst oder Gemüse stammen, ist offen63 bar die Verdünnung des Dickdarminhaltes infolge der Fähigkeit der Pflanzenfasern, Wasser aufzunehmen« (Lit. 24). Das in den letzten 15 Jahren zunehmende Interesse an den Faserstoffen - deren zahlreiche Typen unterschiedliche biologische Wirkungen haben- und das ebenfalls zunehmende Interesse der medizinischen Forschung an der Bedeutung der Darmflora für Gesundheit und Krankheit belegen deudich, daß die Beobachtung Waerlands, eine geregelte Darmflora sei für die Gesundheit wichtig, durchaus richtig war und ist. Die Ernährungwissenschaftler empfehlen heute beinahe einmütig, die in den Industriestaaten lebenden Menschen sollten mehr Faserstoffe mit ihrer Nahrung aufnehmen. Von da ist jedoch ein weiter Weg zu dem Absolutheitsanspruch, nur naturbelassenes Getreide sei ein Garant für Gesundheit (Waerland: »Erst mit der Einführung der 5-KornKruska, bestehend aus Weizen, Roggen, Hafer, Gerste und Hirse, als eine der beiden Hauptmahlzeiten des Tages wird die laktovegetabile Idealkost verwirklicht.«). Die verhängnisvolle Frage F. X. Mayrs Die Vermengung von richtigen Beobachtungen mit zweifelhaften Schlußfolgerungen und Gültigkeitsansprüchen läßt sich vielleicht noch deutlicher bei dem Wiener Arzt Franz Xaver Mayr beobachten, der gewissermaßen ein Nachfahre Waerlands ist. Das folgende Zitat charakterisiert die Argumentationsweise Mayrs: »Weshalb ist die Frage: >Wann ist unser Verdauungsapparat in Ordnung ?< so überaus verhängnisvoll?- Es fällt mir nicht leicht, diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten, denn die Antwort ist wenig schmeichelhaft für uns Arzte, vielmehr höchst unangenehm und bitter... Ich bin mir des Hasses und des Hohnes, ja der Feindschaft wohl bewußt, womit mich all diejenigen verfolgen werden, deren Eitelkeit ich durch rücksichtsloses Aufdecken der von uns gemachten Fehler verletzen werde, und nicht minder von all denen, die durch diese meine Schrift die Existenz ihrer glänzenden Geschäfte bedroht sehen werden, die sie mit den gesundheitlichen, wirtschaftlichen, sozialen, innen- und außenpolitischen Nöten und mit der Friedlosigkeit ihrer Mitmenschen und der Völker machen. Doch all diese üblen Folgen für mich sind kaum der Rede wert im 64 Vergleich zu den unabsehbar zahlreichen und unabschätzbar wertvollen Früchten für alle Menschen, somit auch für mich, für alle Völker, für die ganze Menschheit, deren Entstehen und Reifen durch die wahrheitsgemäße Beantwortung der gestellten Fragen wirkungsvoll in die Wege geleitet werden wird. So will ich denn auch nicht zaudern, die volle Wahrheit zu sagen. Sie lautet: Das überaus Verhängnisvolle der Frage, wann unser Verdauungsapparat in Ordnung ist, besteht darin, daß wir Ärzte alle tun, als ob wir es wüßten, wann er es ist, ohne es auch nur im geringsten zu wissen . . . Die Beschaffung einer Diagnostik der Gesundheit des Verdauungsapparates, d.h. die Lösung der Frage: Wann ist unser Verdauungsapparat in Ordnung?, wird sich als das radikalste, natürlichste und daher beste Prophylacticum und Therapeuticum für alle Arten von Krankheiten und als radikalstes Ertüchtigungs- und Verjüngungsmittel erweisen . . . Gibt es nach all dem eine dringlichere Aufgabe für jeden der in Amt und Würden befindlichen Minister für Volksgesundheit, als sein Möglichstes zu tun, um die Frage ehestens zur Lösung zu bringen, wann unser Verdauungsapparat in Ordnung ist? Die Lösung der Frage: Wann ist unser Verdauungsapparat in Ordnung? ist für die Ernährungs-, Wehr-, Volks- und Finanzwirtschaft von allergrößter Bedeutung.« Die Lösung der Mayrschen Gretchenfrage ist, so der Arzt weiter, das Mittel, um die Arbeitsfähigkeit, den Arbeitswillen und somit die Arbeitsleistung eines jeden Bürgers zu steigern. Das Hauptproblem der gegenwärtigen Zivilisation sieht Mayr demnach in der Ernährung: »Die Unzweckmäßigkeit der Ernährung ist die erste Ursache und bleibt zeidebens die Hauptursache des unmoralischen, unsozialen und friedlosen Verhaltens des Menschen.« Was empfiehlt Franz Xaver Mayr konkret? Etwa wie Waerland, naturbelassenes Getreide, möglichst roh, zu essen? Keineswegs. Die Franz Xaver Mayr-Kur basiert ursprünglich auf drei Prinzipien: zunächst einmal läßt Mayr fasten, »um dem seit Jahren übermüdeten Verdauungsapparat eine gründliche Erholung zu ermöglichen«; weiter empfiehlt Mayr - getreu dem Sprichwort bene curat qui bene purgat-, Abführmittel einzunehmen; schließlich verordnet er eine Hauptmahlzeit mittags, bestehend aus leichter gemischter Kost, und zwei Nebenmahlzeiten aus Tee mit Milch oder Schleimsuppe mit Weißbrot, Butter und Honig. Alles muß gut und lange gekaut werden. Zuweilen werden 65 mehrere Milchtage wöchendich, auch das Trinken von Karlsbader Wasser in größerer Quantität empfohlen, dazu regelmäßig Darmgymnastik. Durch »Schonung, Säuberung und Schulung des Darmes« gibt Mayr somit die Lösung der Frage, wann unser Verdauungsapparat in Ordnung ist. Unbestreitbar ist, daß sich viele Menschen, die einige Zeit in einem Kurzentrum nach den Prinzipien Mayrs - oder eines anderen Vertreters der Reformbewegung- leben, hernach subjektiv besser fühlen. Heilfasten, Entschlackung, geregelter Tagesablauf mit viel Bewegung und Gymnastik sind für denjenigen, der beruflichen Streß durch Völlerei und Mißbrauch von Genußmitteln zu bewältigen sucht, sicherlich von Vorteil - vom wohltuenden Effekt eines Wechsels der Umgebung ganz abgesehen. Zu bezweifeln jedoch ist, daß eine solche Kost und Lebensweise die Gesamtlösung der Probleme der Zivilisationsgesellschaft bringt. Bedenklich ist darüber hinaus die Empfehlung Mayrs, den Darm durch Abführmittel zu reinigen. Er beruft sich dabei auf den Psychiater Wagner-Jauregg, dem es gelungen sei, »Menschen, die an Psychosen schwer erkrankt waren, mittels sachgemäßer Anwendung von Calomel in kurzer Zeit den Weg aus der Irrenanstalt wieder frei zu machen«. Mayr behauptet, jeden Krankheitsverlauf allein schon durch das Einnehmen eines Abführmittels oder durch ein Klistier wohltuend beeinflussen zu können, Operationen mitunter überflüssig zu machen und frühzeitig angewendet - den Ausbruch von Krankheiten zu verhüten, vergißt aber, darauf hinzuweisen, daß es Abführmittel gibt, die eher schädlich als nützlich sind, und daß der häufige Gebrauch von Abführmitteln alles andere als vorteilhaft ist. Mayr will die Ursache der Verschmutzung des Darmes— die unzweckmäßige Ernährungsweise- auch ausschalten, indem er Speisen empfiehlt, die leicht und rasch verdaut und resorbiert und somit einer Zersetzung im Darm entzogen werden. Nicht umsonst ist die MayrKur als Semmel-Kur landläufig bekannt; manche Mayr-Anhänger sind der Auffassung, man solle drei Tage alte Semmeln essen und jeden Bissen mindestens fünfzigmal kauen (nicht drei Tage lang, sondern die Semmeln sollen drei Tage alt sein). 66 Anregen oder Stillegen der Verdauung? Hier zeigt sich nun ein wichtiger Unterschied zwischen Mayr einerseits und Waerland und Bircher-Benner andererseits: Beide wollen den Verdauungsapperat in Ordnung bringen, Waerland und Bircher-Benner durch naturbelassenes Getreide, also durch viel Ballaststoffe (»Anregung«), Mayr dagegen durch Fasten und ballaststoffarme Kost (»Stillegung«). So gegensätzlich beide Kostempfehlungen sind, beide sollen jedoch eine Vielzahl von Zivilisationskrankheiten heilen. Natürlich kann man der Auffassung sein, viele Wege führten nach Rom, demgemäß gebe es auch verschiedene Möglichkeiten zur Behandlung von Krankheiten, die alle wirkungsvoll sein könnten. Doch in diesem Fall liegt doch ein Widerspruch vor; er wird durch einen Bezug Mayrs auf die Vollwertkost Bircher-Benners belegt. Mayr: »Es wird aber auch verständlich, warum es weder Bircher-Benner noch einem seiner Jünger je gelungen ist oder gelingen kann, durch Rohkost Verdauungskranke ganz gesund zu machen, in einem Verdauungsapparat ganz normale Verhältnisse zu schaffen, und warum auch die Rohkost schlecht bekommt, und zwar um so schlechter, je krankhafter der Zustand des Verdauungsapparates ist und je mehr man Rohkost essen läßt, warum es schließlich als unsinnige Verordnung erscheint, Magenund Darmkranke in blinder Begeisterung für die Rohkosttherapie viel Obst, viel Gemüse, viel Vollkornbrot und dergleichen essen zu lassen.« Eine weitere^ Diskrepanz besteht in der Bedeutung, die den Vitaminen für die Darmfunktion beigemessen wird. Daß Vitamine im Darm Gärung herbeiführen können, bezeichnet die Mayr-Schule als krankhaften Zustand. Im Gegensatz dazu führen Bircher-Benner und Waerland bewußt diese Gärung durch faserreiche Kost herbei und wollen damit eine Gesundung der Darmflora erzielen. Trotzdem ist es möglich und sinnvoll, sowohl den Anschauungen Mayrs als auch denen Waerlands positive Seiten abzugewinnen - etwa die Aufforderung, sich maßvoll zu ernähren, reichlich Bewegung zu machen und für geregelte Verdauung zu sorgen. Die Erklärungen für die angeblichen Wirkungen der beiden Diätformen sind nach heutigem Stand des Wissens genauso überholt wie die behaupteten Heilerfolge übertrieben. Fraglich scheint mir außerdem, wozu das ganze Brimborium drum herum gut sein soll. Natürlich kann letzteres auch zum Heilerfolg beitragen; aus zahllosen Untersuchungen wissen wir, daß 67 auch in der Medizin der feste Glaube Berge versetzen kann, daß Placebos, das heißt Pillen, die gar keinen Wirkstoff enthalten, nicht nur Verdauungsbeschwerden, Kopfweh oder andere Schmerzen lindern oder beseitigen, sondern sogar unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen können. Für jeden Therapieerfolg ist es daher wichtig, daß der Kranke von der Wirksamkeit der Behandlung überzeugt ist. Darüber hinaus ist eine solche Überzeugung auch Voraussetzung dafür, daß sich jemand die Mühe nimmt, seine Lebensweise tiefgreifend zu verändern. Würden ihm nicht verheißungsvolle Versprechungen gemacht, so folgte er wohl kaum Ratschlägen, die ein Abgehen von liebgewordenen Gewohnheiten erfordern, vor allem dann nicht, wenn er nicht eigentlich krank ist, sondern bloß befürchtet, eine ungesunde Lebensweise könne ihn einmal krank werden lassen. Die Evers-Diät Joseph Evers kam 1894 in der Nähe von Münster zur Welt. Er studierte Medizin und wirkte von 1927 bis 1975 als Arzt. Seinen Patienten schrieb er eine einfache Kost vor, die so natürlich wie möglich sein solle. Aus diesem Grund soll die Evers-Diät auch im Zusammenhang mit der Beschreibung der Reformbewegung besprochen werden. Evers war der Auffassung, der Mensch sei vorwiegend Früchte- und Knollenesser (siehe auch Seite 50). Deshalb nehmen in seiner Kostform Obst, Wurzeln (vor allem Rüben) einen wichtigen Platz ein. Milch und Eier werden vorwiegend in rohem Zustand genossen. Der Kartoffel mißt Evers keinen besonderen Wert zu. Evers kam vor allem deswegen ins Kreuzfeuer der Kritik vieler Medizinerkollegen, weil er behauptete, mit seiner Ernährungstherapie auch solche Krankheiten heilen zu können, die nach Auffassung der Schulwissenschaft keineswegs ernährungsabhängig sind. »In den letzten 27 Jahren kamen praktisch nur Patienten in meine Praxis, die an Krankheiten litten, die gemeinhin als unheilbar galten. Ich gebe hier meine Erfahrungen betreffs Erfolge bzw. Mißerfolge nur bei denjenigen Krankheiten wieder, die ich selbst mit Evers-Diät behandelt habe. An ihrer Spitze steht die multiple Sklerose, eine schwere Erkrankung des Zentralnervensystems... Bis heute (Sommer 1967) gingen über 12.000 multiple Sklerose-Patienten durch meine Praxis... Noch nicht 68 ein einziger multiple Sklerose-Patient auf der ganzen Welt ist durch irgendein Mittel für dauernd geheilt worden, abgesehen durch meine Diät-Kur« (Lit. 25). Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß Even noch als Außenseiter gelten würde, hätte er diese Erfolge tatsächlich erzielt. Allem Anschein nach aber irrt Evers. Mehrfach wurde versucht, durch epidemiologische Studien Zusammenhänge zwischen Ernährung und multipler Sklerose aufzufinden. Zunächst glaubte man, einen Zusammenhang mit dem Verzehr von Kartoffeln feststellen zu können. In der Folge wurde vermutet, ein Mangel an Spurenelementen (Kupfer und Selen) könne mit im Spiel sein. Auch der hohe Konsum von Fetten in den Industrieländern wurde in Betracht gezogen. Diese Thesen hielten jedoch einer kritischen Überprüfung nicht stand. Gegenwärtig sind die Wissenschaftler der Meinung, daß Ernährungsfaktoren bei der Entstehung von multipler Sklerose keine Rolle spielen. Seit langer Zeit gibt es aber trotzdem Diätformen, von denen behauptet wird, sie könnten diese schleichende Nervenkrankheit bessern und sogar heilen. Neben einer milchfreien Kost wurde »ImmunMilch« empfohlen (diese erhält man, indem man das Euter trächtiger Kühe mit Virus-Impfstoffen behandelt und einige Tage nach dem Wurf die Milch zur Behandlung einsetzt). Auch eine glutenfreie Ernährung (Gluten ist ein Bestandteil des Getreides) wurde propagiert. Kein einziger dieser Diätvorschläge erwies sich im klinischen Versuch als wirksam. Naturbelassene Öle Die Öl-Eiweiß-Diät nach Johanna Budwig kann man der Reformbewegung zuzählen, weil auch sie von der Empfehlung ausgeht, die Nahrung in möglichst naturbelassenem Zustand zu verzehren. Budwig konzentriert sich dabei vor allem auf Fette und Öle. Ihr Diätplan beruht im wesentlichen auf der Verwendung von kaltgewonnenem Leinöl. Dies deshalb, weil es einen hohen Gehalt an mehrfach ungesättigten Fettsäuren besitzt. Daneben wird Milcheiweiß in Form von Quark (Topfen) empfohlen. 69 Mit Diät alt werden Wie Aare Waerland wurde auch der Amerikaner Gaylord Hauser von den Lehren Sir Arbuthnot Lanes beeinflußt. Als Kind erkrankte er an Tuberkulose, genas aber in der Gebirgsluft der Schweiz. Später führte er die Heilung auf den Rat eines Bauern zurück, er solle sich von lebenden Nahrungsmitteln ernähren, also von Gemüsen und Früchten, die an der Sonne wachsen und reifen. Hauser studierte in der Folge Biologie und trat, nach Amerika zurückgekehrt, als Verkünder einer Ernährungslehre auf, die in erster Linie eine jungerhaltende Wirkung versprach. Seine Thesen werden in vielen »Hauser-Farmen« in den USA angewandt. Neben Hefeflocken und Weizenkeimen spielt Melassesirup eine wichtige Rolle. Pflanzen, die mit »Kunstdünger« und »Giftstoffen« behandelt wurden, lehnt Hauser strikt ab. Als besonderes Getränk empfiehlt er »verstärkte Milch«- eine Mischung aus Milch, Magermilchpulver und Melassesirup oder Honig. Im Gegensatz zu anderen Diätvorschriften der Reformbewegung gestattet die Hauser-Diät auch Vitaminpräparate, Fleisch und Genußmittel. Kehren wir nun zurück zu den Reformern im engeren Sinne, deren Gedankengut im wesentlichen auf den Aussagen Birchers und Waerlands aufbaut. Laßt die Nahrung so natürlich wie möglich! Vor allem im deutschen Sprachraum hat auch Werner Kollath Bekanntheit erlangt; seine Lehre wird gegenwärtig von einigen Forschern weiter ausgebaut. Als Ergebnis zahlreicher Experimente an Tier und Mensch veröffendichte Kollath 1942 sein Buch Die Ordnung unserer Nahrung. Er skizziert darin ein »natürliches System« der menschlichen Nahrung: »Die Mikroorganismen des Bodens sind die Voraussetzung für das höhere Pflanzenleben; die Pflanzen dienen der Ernährung der Tiere. Pflanzen und Tiere bilden die Nahrung der Menschen. Eine Ordnung muß dieser Tatsache Rechnung tragen, muß also die pflanzliche Nahrung vor die tierische setzen. Das ganze unverletzte Produkt enthält am wahrscheinlichsten den vollen Reichtum an lebenswichtigen Bestandteilen. Seine Organe, also seine Teile, lassen sich zwanglos nach der Aufgabe ordnen, die sie für 70 die Erhaltung des Individuums haben. Daraus ergibt sich eine erste Unterordnung: Der Erhaltung der Art, der wichtigsten Aufgabe, dienen bei den Pflanzen die Samen, sodann die Knollen und Wurzeln. Stengel und Blätter sind dagegen für die Lebenserhaltung des jeweiligen Individuums nachgeordnet. Demgemäß werden sich Unterschiede in der Zusammensetzung finden und sind auch bekannt.' Bei den Tieren liegen die Verhältnisse nicht so übersichdich. Wir wissen zwar sicher, daß es zum Leben unentbehrliche Organe gibt wie die Nervenzentren, Hormondrüsen, Lungen, Herz und die großen Drüsen der Bauchhöhle (Leber, Nieren), aber die weit größere Masse bilden doch die Organe: Verdauungstrakt, Skelett, Muskeln, Bindegewebe« (Lit. 26). Die lebenswichtigen Organe und Zellkomplexe leben von den weniger lebenswichtigen. Die lebenswichtigen Organe haben nach Kollath immer den höheren Wert als die weniger lebenswichtigen. Der Mensch aber habe zu seiner Nahrung vor allem die Muskelmasse gewählt, also eine nachgeordnete Organsumme. Diese Muskeln seien zwar eiweißreich, aber gerade darin liege ihr Mangel, denn dieser Eiweißreichtum sei mit einem weitgehenden Vitaminmangel und mit einem Mineralmangel verbunden (was nur teilweise zutrifft). Dieser natürlichen Rangordnung schließt Kollath eine menschliche Weltordnung der Nahrung an. Er unterscheidet die Verfahren der Verarbeitung von Lebensmitteln nach sechs Wertgruppen: das unveränderte Rohmaterial, das mechanisch aufgeschlossene, zerkleinerte Material, das durch Fermente (biochemisch) aufgeschlossene Material, erhitztes Material, konserviertes, für Aufbewahrung bestimmtes Material und zerteiltes oder präpariertes Material. Die ersten drei Gruppen bezeichnet Kollath als »lebend«, die letzteren drei jedoch als »tot, abgestorben«. Aufgrund dieses Ordnungsprinzips gelangt Kollath zu der Schlußfolgerung, es gebe »lebende« Lebensmittel und »tote« Nahrungsmittel. Kollath: »>Nahrungsmittel< dienen in erster Linie der Sättigung, also der Beseitigung des Hungers, während >Lebensmittel< mit sehr viel Wahrscheinlichkeit und Recht den Anspruch erheben können, >Mittel zur Erhaltung des Lebens< zu sein. Den Nahrungsmitteln fehlen nicht nur die Eigenfermente, sondern auch die natürlichen Aromastoffe mit ihren Sofortwirkungen bei der Nahrungsaufnahme... Die Erfahrungen sprechen dafür, daß eine Diät, bestehend aus Lebensmitteln, bei Krankheitsfällen eine andere Wirkung ausübt als Kochkost, insbesondere Fleisch-Fettkost.« 71 Hinter diesem Ordnungsprinzip steht, wie schon einleitend erwähnt wurde, die Regel: »Laßt die Nahrung so natürlich wie möglich«. Daß eine möglichst naturbelassene Nahrung sinnvoll ist, scheint für Kollath schon aus der Tatsache hervorzugehen, daß sich Verdauungsorgane und Stoffwechsel des Menschen im Laufe der Evolution auf der Grundlage einer weitgehend naturbelassenen Nahrung entwickelt haben. Tiere und Menschen wären schon längst ausgestorben, so wird argumentiert, wenn sie nicht immer alle benötigen Nahrungsbestandteile in der Natur gefunden hätten. Auf der anderen Seite gibt es aber natürliche Giftpilze, Kartoffelstärke ist nur gekocht verdaulich, unbehandelte Leguminosen enthalten Giftstoffe und so weiter. Aus diesem Grund sagt Kollath nicht »laßt unsere Nahrung natürlich«, sondern »so natürlich wie möglich«. Er will dadurch zum Ausdruck bringen, daß aus den Lebensmitteln nur solche Teile entfernt werden dürfen, deren Nichtnotwendigkeit in jahrzehntelangen Beobachtungen sicher erwiesen ist. Gibt es noch unentdeckte lebenswichtige Wirkstoffe? Genau an diesem Punkt setzt nun Kollath mit Thesen an, die im Gegensatz zur modernen Ernährungswissenschaft stehen. Er behauptet, daß auch heute noch nicht alle für den Menschen lebensnotwendigen Inhaltsstoffe bekannt sind. Kollath spricht von »Auxonen« und bezeichnet damit alle essentiellen Inhaltsstoffe, auch die seiner Meinung nach noch nicht identifizierten. Durch Tierexperimente versuchte er zu beweisen, daß ein Mangel an den hypothetischen Auxonen zur sogenannten »Mesotrophie« (Halbernährung) führt, das heißt nicht direkt zum Tode, sondern zu Krankheiten, die chronisch verlaufen. Durch mechanische Verfeinerung und Zerteilung der Nahrung, so Kollath, gingen Auxone verloren und daraus entstehe Mesotrophie. Sehen wir uns Kollaths Argumentation etwas näher an. Um die Lebensnotwendigkeit einzelner Vitamine unter Beweis zu stellen, führte er mit sogenannten synthetischen Diäten, deren Eiweiß »denaturiert« war, Versuche an Ratten durch. Kollath: »Ändert man diese Komponente, indem man statt des denaturierten Eiweiß (Kasein) hochwertiges, möglichst naturbelassenes Eiweiß, z. B. Rohkasein, gibt, dann treten diese klassischen Mangelkrankheiten nicht mehr auf. Vielmehr 72 kommt es zu einer völlig neuartigen Reaktion: Die Ratten benötigen zur Erhaltung des Lebens dann von allen Vitaminzulagen nur das B 1; die Mehrzahl der anderen Vitamine ist wirkungslos. Trotzdem leben solche Ratten bis zu 3 Jahren ( = 90 Menschenjahre). Sie sind aber nicht >gesünder< geworden, sondern weisen einen großen Komplex von organischen Veränderungen auf, die verbunden sind durch einen >Verfall der Bindegewebe<... Die üblichen Vitaminzugaben konnten dies nicht verhindern, wohl aber die Zugabe von Vollkornprodukten, die neben dem sogenannten Vitamin-B-Komplex noch andere, chemisch bisher unbekannte Faktoren enthalten.« Diese unbekannten Faktoren nennt Kollath »Auxone«; sie seien für die Zellvermehrung unbedingt notwendig, daher: »Vermehrungsstoffe für Menschen und Tiere« (Lit. 27). Der 1983 verstorbene Ernährungswissenschaftler Joachim Kühnau versuchte, die Thesen Kollaths Stück für Stück zu überprüfen (Lit. 28). Zunächst konnte er zeigen, daß die Rattendiät, die im Tierversuch Mesotrophie hervorruft, »mit der Nahrung des heutigen zivilisierten Menschen überhaupt keine Ähnlichkeit hat«. Schon deshalb seien die Ergebnisse der Rattenversuche Kollaths nicht auf die Situation beim Menschen übertragbar (ganz abgesehen davon, daß eine solche Übertragung auch aus grundsätzlichen Erwägungen problematisch ist). An Kollaths Rattendiät fällt ferner auf, daß sie einen Mangel an Mineralstoffen, vor allem an Kalzium aufweist. Wie soll aber ein beinahe kalziumfrei ernährter Organismus den Aufbau von Knochen und Zahnsubstanz vollziehen? Auch Eisen ist nicht enthalten. Wie soll da die Blutbildung erfolgen? Das »Rätsel der Wirkung« (Kollath) dieser Diät ist somit auch ohne Zuhilfenahme irgendwelcher unbekannter Auxone erklärbar. Dazu kommt, daß sich die bei Ratten beobachtete Erscheinung der Mesotrophie beim heutigen Zivilisationsmenschen keineswegs auffinden läßt. Steigende Lebenserwartung, Akzeleration und frühere Geschlechtsreife bei den Jugendlichen in den Industriestaaten stehen in klarem Gegensatz zu den Symptomen der mesotrophen Ratten. Kollaths Annahme, die von ihm an der Ratte studierte Mesotrophie sei eine beim Menschen spontan vorkommende und weitverbreitete degenerative Zivilisationskrankheit, ist demnach in vollem Umfang unzutreffend. Trotzdem ist sie, so Kühnau, »mit großem publizistischem Aufwand über die Grenzen der Ernährungswissenschaft hinaus in die 73 breite Öffendichkeit getragen worden und hat dort eine ungeheure Resonanz gefunden. Sie hat im Publikum, das ihre Tragfähigkeit nicht beurteilen kann, eine Welle von Furcht, Hysterie, Radosigkeit und Mißtrauen erzeugt... Kollaths Lehre kommt damit in beunruhigender Weise der depressiv-negativen Geisteshaltung weiter Kreise unserer Mitmenschen entgegen, die sich in Kulturpessimismus und einer Art Weltuntergangsstimmung gefallen und alle materiellen Vorzüge und ideellen Werte unseres modernen Daseins kritisieren. Eine solche selbstmörderische Grundeinstellung... findet natürlich in der Mesotrophielehre Kollaths eine willkommene Stütze« (Lit. 29). Diese Einschätzung Kühnaus wirkt für mich um so schwerer, als gerade er sich in zahlreichen Forschungsarbeiten intensiv mit der Möglichkeit noch unentdeckter essentieller Inhaltsstoffe der Lebensmittel beschäftigt hat. Er kam zu der Auffassung, daß semi-essentielle Komponenten, wie beispielsweise sogenannte Flavonoide, die in Gemüse vorkommen, oder Cytokinine in Getreide, gegenwärtig in ihrer Bedeutung unterschätzt werden (Lit. 30). Kühnau nennt diese Stoffe aber bewußt semi-essentiell. Schließlich werden seit vielen Jahren zahllose Menschen nach Operationen oder bei schweren Krankheiten künsdich ernährt; viele von ihnen leben Jahre, ja sogar Jahrzehnte mit chemischsynthetischer Nahrung. Wenn noch nicht alle lebenswichtigen Inhaltsstoffe bekannt wären, wie ließe sich diese Tatsache dann erklären? Vermeidet »denaturierte« Kost! In gewisser Weise folgt Kollath mit diesem Rat dem französischen Naturforscher Jean Jacques Rousseau, der der Auffassung war: »Alles ist gut, was die Natur gemacht hat«, aber auch »alles, was der Mensch macht, ist schlecht«. Damit ist die zweite Seite der Kollathschen Lehre angeschnitten. Er empfiehlt nicht nur, die Nahrung möglichst natürlich zu belassen, sondern warnt auch vor den schädlichen Folgen verarbeiteter, »denaturierter« Nahrung. Die Lehre Kollaths läuft letzdich auf eine Grundsatzkritik der Lebensmittelverarbeitung hinaus; alles, was Industrie und Gewerbe erzeugen, ist demnach schlecht, vor allem der »Fabrikzucker«, raffinierte Fette, Konservenkost, Auszugsmehle und chemische Zusatzstoffe. Die Ablehnung der sogenannten »Industriekost« zieht sich wie ein roter Faden durch die Reformbewegung. 74 Der »Erzfeind« des Zuckers Viele Thesen Kollaths wurden durch den Arzt M.O. Bruker aufgegriffen. Der 1909 in Württemberg geborene, ebenfalls ganzheitlich orientierte Praktiker arbeitet gegenwärtig im Krankenhaus Lahnhöhe. In der Öffendichkeit ist er durch zahlreiche Bücher bekannt; ihr Inhalt legt nahe, ihn als den Erzfeind des Zuckers im deutschen Sprachraum zu bezeichnen. Eines seiner Werke trägt den Titel Unsere Nahrung unser Schicksal und sagt damit schon aus, welche besondere Rolle er der Ernährung zumißt. Zunächst stellt er die Frage, warum immer mehr Menschen trotz des Fortschritts der medizinischen Forschung erkranken- eine für Bruker »peinliche Frage«. Er meint, man sollte doch annehmen, daß mit den zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen in der medizinischen Forschung und mit der Herstellung immer wirksamerer Arzneimittel, mit dem hohen Entwicklungsstand der Diagnostik und der operativen Technik, eine Verringerung der Zahl der Krankheiten und der Kranken einhergeht. Welches sind die Ursachen dafür, fragt Bruker, daß trotz des hohen Standes der medizinischen Wissenschaft die zivilisierten Menschen einer Gesundheitskatastrophe entgegengehen? Sind die Ursachen wirklich nicht bekannt? Wenn sie bekannt sind, warum geschieht nichts, um sie abzustellen? Wenn sie wirklich nicht genügend erforscht sind, wie kommt es, daß die Wissenschaftler sich nicht energisch daranmachen, um sie zu klären? Die peinliche Frage nach den Hintergründen schiebt Bruker zunächst auf und stellt sie schließlich in einem späteren Kapitel: »Geschieht dies aus Leichtfertigkeit oder gar, so peinlich die Frage auch ist, mit voller Absicht? Wenn ja, welche sind die Motive, und in welchen Kreisen sind die Akteure zu suchen?« (Lit. 31). Bruker sucht darzulegen, daß eine Gesundheitsaufklärung, wie er sie sich vorstellt, von mächtigen Interessengruppen verhindert wird. Nicht nur in der Fachpresse werde, so Bruker, die Meinung manipuliert, auch die Bevölkerung werde durch Scheinaufklärung abgelenkt. Da die Presse oft Rücksicht auf finanzkräftige Werbekunden nehme, sei es schwierig, über die »gefährlichen Folgen des Zuckerkonsums« zu berichten. Die Zuckerindustrie beeinflusse sogar den Schulunterricht. Schließlich fordert Bruker: »Als Gegengewicht gegen die bisher geübte, jahrzehntelange einseitige Unterrichtung des Volkes durch die finanzmächtige Nahrungsmittelindustrie ist eine jahrelange tägliche Auf75 klärung der Bevölkerung mittels Fernsehen, Rundfunk und Tagespresse über die zwei Hauptverursacher der ernährungsbedingten Zivilisationsschäden, die Auszugsmehle und den Fabrikszucker, und über die gesund erhaltende Wirkung von Vollkornprodukten, naturbelassenen Fetten, rohem Gemüse, Obst und unpasteurisierter Milch notwendig« (Lit. 32). Auf einen einfachen Nenner gebracht, behauptet Bruker, die aus kommerziellen Gründen betriebene Meinungsmanipulation durch die Industrie sei schuld an der behaupteten Zunahme der Zivilisationskrankheiten. Mehrfach stellt er dar, wie er von den »mächtigen Interessengruppen« verfolgt werde - das zitierte Buch beginnt mit dem Ausspruch eines Medizinjournalisten, der Bruker angeblich warnte, »wenn dieses Buch erscheint, wird es in der Luft zerrissen« (Lit. 33). Fast hat man den Eindruck, Bruker gefalle sich in der Rolle des Verfolgten. Seitenlang schildert er, wie er zwar versucht habe, seine wissenschaftlichen Ergebnisse in Fachzeitschriften zu publizieren, dort aber regelmäßig abgeblitzt sei. Unterschwellig wird auch da der Eindruck erweckt, es sei der Einfluß einer Industriemafia, der ihn, Bruker, »gehindert« habe. Nun, so allmächtig kann dieser auch wieder nicht gewesen sein, denn sonst hätte Bruker ja nicht seine zahlreichen Bücher veröffentlichen können (wenn auch nicht in wissenschaftlichen Verlagen), würde er nicht landauf, landab in den Massenmedien zitiert und auch nicht zu Podiumsdiskussionen über seine Thesen eingeladen. Mir scheint eher, daß Bruker sein »Außenseiterimage« bewußt kultiviert; die Märtyrerrolle läßt sich, das können Werbefachleute bestätigen, nur zu leicht vermarkten. Indem er die angebliche Geldgier der Zuckerbarone anprangert, steht er selbst als Idealist da, als verkannter Prophet. Bruker zitiert einen Spruch Max Plancks, wonach Irrlehren der Wissenschaft fünfzig Jahre brauchten, bis sie durch neue Erkenntnisse abgelöst würden, weil nicht nur die alten Professoren, sondern auch deren Schüler erst sterben müßten. Mit anderen Worten: Die Nachwelt werde schon noch erkennen, daß er, Bruker, recht gehabt hat. 76 Die Ablehnung von Zucker und Weißmehl hat Tradition Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, daß die Behauptung, Zukker und Weißmehl machten krank, nicht erst seit Kollath und Bruker besteht. Im Gegenteil, der Kampf gegen die raffinierten Lebensmittel hat lange Tradition. So sagte der Breslauer Zahnarzt A. Kunert schon zu Anfang unseres Jahrhunderts in einer Schrift Unsere heutige falsche Ernährung: »Die Verheerungen, die heute der Zucker unter unserer Volkskraft und Volksgesundheit anrichtet, sind vielleicht noch schlimmer als die des Alkohols. Unterliegt doch den Schädigungen der in so verführerischen, wohlschmeckenden Formen auftretenden Zuckerseuche der größte Teil unserer Bevölkerung aller Lebensalter, vom Säugling angefangen, ganz besonders unsere Frauen und Kinder« (Lit. 34). »Die traurige Tatsache des starken Rückgangs in der Militärtauglichkeit der städtischen und industriellen Bevölkerung« sieht Kunert zu einem erheblichen Grad »durch die unzweckmäßige Ernährung mit Weißbrot, Zucker und weiches Wasser« bedingt. Kunert fordert: »Deutsche Mütter, Großmütter und Tanten, gebt euren Lieblingen keine Näschereien, dafür lieber Früchte . . . Ein gutes Schwarzbrot aus dem ganzen Getreidekorn muß wieder dein Hauptnahrungsmittel werden« (Lit. 35). Hier kann etwas nicht stimmen: Die heutigen Gegner der »Fabriknahrungsmittel« behaupten, diese seien schuld an dem rasanten Ansteigen der Zivilisationskrankheiten in den letzten Jahrzehnten; schließlich habe etwa der Zuckerkonsum seit der Jahrhundertwende um mehr als 100 Prozent zugenommen. Um 1900 (und auch schon früher) wurde das gleiche behauptet, mit ähnlichen Argumenten wie heute. Irgendwie erinnert mich das an Aussprüche, die man von Vertretern der älteren Generation zuweilen hören kann: »Die Jugend wird immer schlechter« oder »das Wetter war noch nie so mies wie dieses Jahr«. Diese Argumente werden seit Menschengedenken immer wieder vorgebracht. Wenn sie stimmten, müßte die Bevölkerung eigendich schon längst in totaler Idiotie vor sich hin dämmern und das Klima in permanente Regenzeit ausgeartet sein. Bevor wir uns mit der Frage näher auseinandersetzen, was an der Kritik der Fabriknahrungsmittel tatsächlich dran ist, wollen wir nochmals zum Problem der »Außenseiterposition« etwa des Herrn Bruker zurückkehren. Er ist sich dessen durchaus bewußt und argumentiert 77 wie folgt: »Dieser Eindruck, als sei für die Fortschrittlichen die Ernährung eine Sache der Weltanschauung, hat durchaus seine Berechtigung; denn um das Neue zu begreifen, ist die Erkenntnis nötig, daß die einseitige mechanistische Weltanschauung uns in die bedenkliche Situation gebracht hat, in der die Menschheit heute steckt. Es ist aber eine unfaire Methode, neue Erkenntnisse dadurch abwerten zu wollen, daß man sie als weltanschaulich orientiert bezeichnet und dabei den Begriff Weltanschauung mit einem leicht verächdichen Nebenton gebraucht, etwa in dem Sinn: >Die machen ja aus der Ernährung eine Weltanschauung.< Dies sind dieselben Vorwürfe, die auch den Reformern gemacht werden, obwohl es gar nicht möglich ist, irgendeine Sache zu reformieren, ohne daß eine neue geistige Konzeption zugrunde liegt. Auf der anderen Seite ist es verständlich, daß für die im althergebrachten Stile sich Ernährenden die Ernährung nichts Besonderes bedeutet, während für die, die durch eine Ernährungsumstellung von einer schweren Krankheit genesen sind, die Ernährung zu einer zentralen Lebensfrage geworden ist. So erklärt es sich, daß viele der Menschen, die durch solche Erlebnisse stark beeindruckt wurden, den Drang haben, sich anderen mitzuteilen, und dadurch auf Personen, die Ernährungsfragen eher gleichgültig gegenüberstehen, einen fanatischen und absonderlichen Eindruck machen. Denn in unserer durch Massenmedien dominierten Zeit wird jeder, der sich nicht in den ausgetretenen Geleisen des Herkömmlichen bewegt, als Außenseiter gestempelt, um ihn abzuwerten« (Lit. 36). Damit hat Bruker offensichtlich unrecht. Die Massenmedien haben bekanntermaßen ein Faible für Außenseiter, die in der Berichterstattung oft unverhältnismäßig breiten Raum erhalten (wohl auch aus Lust an der Darstellung von Widersprüchen). Immer wieder waren es zunächst Außenseitermeinungen, die sich später doch als richtig erwiesen haben. Der Umkehrschluß jedoch ist alles andere als zutreffend, daß sich nämlich eine Meinung deshalb als richtig erweisen wird, weil sie gegenwärtig von einem Außenseiter vertreten wird. Nicht zuletzt um dies zu demonstrieren, werden ja in diesem Buch die zahlreichen zu Ernährungsfragen existierenden »Außenseitermeinungen« einander gegenübergestellt. Sie sind so vielfältig und so widersprüchlich, daß schon der gesunde Menschenverstand daraus den Schluß ziehen muß, daß nicht alle diese Auffassungen richtig sein können. Bruker hat übrigens neuerdings eine Umdeutung des Begriffes »Au78 ßenseiter« vorgenommen. In Orwellscher Manier behauptet er, er vertrete als Ernährungswissenschaftler den Stand der modernen Ernährungsforscher, sei also »in«, während die Vertreter der »alten« Ernährungslehre als »draußen« bezeichnet werden müßten. Gemäß dieser Argumentation sind also alle Universitätsprofessoren für Ernährungslehre »Außenseiter«. Sehen wir uns nun die Argumente an, die Bruker gegen den Zucker ins Treffen führt. Bruker bezeichnet den Fabrikzucker als »Vitamin-BRäuber«. Da zum Abbau des Zuckers im Körper spezifische Fermente nötig seien, die vorwiegend aus Vitaminen des Vitamin-B-Komplexes bestehen, bedeute die Zufuhr von isoliertem Fabrikzucker eine relative Verarmung an Vitamin B. Das ist, behaupte ich, bestenfalls eine Halbwahrheit. Tatsache ist, daß zum Abbau von Glukose im menschlichen Stoffwechsel das Enzym Vitamin Bt benötigt wird. Glukose ist aber nicht nur im Fabrikzucker enthalten, sondern auch in Stärke und allen anderen komplexen Kohlenhydraten. Alle Kohlenhydrate, auch die angeblich so gesunden Vollkornprodukte, werden im Verdauungstrakt zu Einfachzuckern abgebaut; nur letztere werden durch die Darmwand in den Körper aufgenommen. Ihre weitere Verarbeitung im Stoffwechsel erfordert Vitamin B^ So gesehen sind alle Kohlenhydrate »Vitamin-B-Räuber«. Daß Bruker nur den Fabrikzucker als solchen verteufelt, liegt daran, daß Vollkorn- und Stärkeprodukte in den meisten Fällen von Natur aus Vitamin B! enthalten (dies allerdings in wechselnden Mengen; Kartoffeln beispielsweise enthalten Vitamin Bi nur in Spuren und müßten demgemäß ebenfalls als Vitamin-B-Räuber gelten). Brukers Behauptung wäre zweifellos richtig, würde sich der Mensch ausschließlich von Weißzucker ernähren. In einer ausgewogen zusammengesetzten Kost besteht das Problem jedoch nicht, denn zahlreiche Lebensmittel enthalten Vitamin Bj. Mageres Schweinefleisch beispielsweise enthält fast um die Hälfte mehr Vitamin Bj als Weizenkörner. Wenn also Bruker schreibt: »Die erste Tatsache ist die, daß bei Fehlen von Vollgetreide die übrige Nahrung nicht ausreicht, um eine ausreichende Versorgung mit Vitamin Bi zu gewährleisten«, dann hat er ganz einfach unrecht. Tatsache ist: Der tägliche Bedarf des Menschen an Vitamin Bj kann gedeckt werden durch: 3,7 Liter Milch, 800 Gramm Roggenschroubrot, 430 Gramm Roggenkorn, 250 Gramm Kalbsherz, 210 Gramm Hühnerbrust oder 180 Gramm Schweinefleisch. 79 Ich behaupte: Sicherlich läßt sich darüber diskutieren, ob »Naschkatzen« nicht ihren Süßigkeitskonsum reduzieren sollten. Zucker ist (von seiner technologischen Wirkung als Konservierungsmittel abgesehen) ein Würzmittel, das den Geschmack vieler Speisen »hebt«. Ihn als solches einzusetzen, ist legitim. Zuviel Zucker zu verzehren ist genauso schlecht, wie ihn ä la Bruker gänzlich zu verdammen. Für Bruker ist der Zucker aber noch in anderer Hinsicht schädlich: »Der zweite Faktor, durch den der Zucker zusätzlich und indirekt gesundheitliche Nachteile hervorruft, besteht darin, daß er die Bekömmlichkeit und Verträglichkeit anderer Nahrungsmittel zu stören vermag. Bei Kranken kann sich dies in einem solchen Maße auswirken, daß der Zucker eine Heilung bestimmter Erkrankungen absolut unmöglich macht« (Lit. 37). Neben dem Fabrikzucker sollen auch gekochtes Obst und Säfte aller Art imstande sein, Unverträglichkeit von Vollkornprodukten und Frischkost hervorzurufen. Bruker behauptet, dies aus gründlichen klinischen Forschungen ableiten zu können. Diese Ergebnisse der klinischen Forschung sind aber nicht nur nicht in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert, sondern ihr Zutreffen ist aus einer recht einfachen Überlegung heraus unwahrscheinlich: Bruker selbst anerkennt die biochemische Tatsache, daß Kohlenhydrate vom Verdauungssystem des Menschen ziemlich rasch in Einfachzucker zerlegt werden und nur diese Einfachzucker resorbiert werden; im Darm findet sich also in jedem Fall Glukose, und es ist jedesmal dieselbe Glukose, egal ob sie aus Fabrikzucker stammt oder aus Getreidekorn — der menschliche Verdauungsapparat kann das nicht unterscheiden. Daher ist nicht einsichtig, warum Glukose aus Rohr- oder Rübenzucker die Verträglichkeit von Glukose aus Stärke stören sollte. Bruker macht sich auch gar keine Mühe, die behauptete Zuckerunverträglichkeit biochemisch erklären zu wollen. Er beruft sich einfach auf angebliche gründliche klinische Erforschung. Weitere Argumente in seinem Feldzug gegen den Zucker sind: Fabrikzucker habe eine örtliche Reizwirkung, er verändere die Darmflora und schließlich, Fabrikzucker könne zu echter Sucht führen. In anderen Büchern Brukers finden sich die Behauptungen, Zucker erzeuge nicht nur Fettsucht, sondern Herzinfarkt, Krebs und Diabetes. Die pro- und kontra-Argumente zum Thema Zucker würden ein eigenes Buch füllen. Wir wollen uns hier mit den angeführten Beispielen begnügen. Zu erwähnen ist noch, daß Bruker keineswegs nur ge80 gen den Zucker zu Felde zieht. Er kritisiert auch die Pasteurisierung der Milch, die Schädigung des Säuglings durch erhitzte Milch und Milchpräparate, Brot aus Auszugsmehlen, die »toten« Fette und die »schädlichen Fremdstoffe in der Nahrung«. Insoweit argumentiert er in getreuer Fortsetzung der Philosophie der Reformer, daß alles, was nicht naturbelassen ist, schlecht sei. Wieviel »natürlich« ist richtig? Betrachtet man die Argumente der einzelnen »Natur«-Protagonisten, so fällt auf, daß sich diese hinsichdich des Ausmaßes der Forderung nach mehr Natürlichkeit nicht unbeträchtlich unterscheiden. So bestand das weidiin bekannte Bircher-Müsli, von Bircher-Benner vor etwa achtzig Jahren zuerst empfohlen, ursprünglich aus eingeweichten Haferflocken, geriebenen Äpfeln, Zitronensaft, Kondensmilch, geriebenen Mandeln oder Haselnüssen. Für Bruker ist dies nicht natürlich genug: »Da es sich bei den Haferflocken zwar um ein Vollgetreideprodukt handelt, das aber nicht mehr lebendig ist, empfehlen wir heute an ihrer Stelle Getreide zu verwenden, das erst unmittelbar vor der Zubereitung geschrotet wird . . . Aus demselben Grunde ist es auch ratsam, die Kondensmilch in original Bircher-Müsli durch Sahne oder naturbelassene Milch zu ersetzen« (Lit. 38). Johann Georg Schnitzer aus dem Schwarzwald verfolgt diesen Gedanken noch weiter. Die Urnahrung des Menschen setzte sich, so der Zahnarzt, aus drei Gruppen von natürlichen Früchten zusammen: Samen, Wurzelknollen und Blattschößlingen. Schon die Verschiebung der Verzehrsgewohnheiten vom unerhitzt als Brei gegessenen Getreide zu hitzebehandelten Fladen oder Gärbroten bedeutete, so Schnitzer weiter, den Verlust der hitzeempfindlichen Fermente und einiger Vitamine und die Hitzedenaturierung des Eiweiß. Die »verhängnisvollste Wertminderung« der Getreide sei seit Ende des 19. Jahrhunderts erfolgt, als Getreide in großen Mengen auf Vorrat gemahlen und gelagert wurde. In der Folge einsetzende Korrekturversuche - wie das Essen von Kleie, Getreideflocken und Getreidemüsli-Zubereitungen oder Zusatz von Vitaminen- hält Schnitzer für untauglich. Denn: »Wenn die in den Getreidekörnern schlummernden Urkräfte wieder für die Gesundheit des Menschen genützt werden sollen, so müssen die bisher 81 gravierenden Verluste auf dem Wege vom lebenden, keimfähigen Korn bis zur Aufnahme in den Organismus vermieden werden. Dies ist nur möglich, wenn die Lagerung nicht mehr als Mahlprodukt, sondern in Form des sehr haltbaren, unversehrten Korns erfolgt. Gemahlen werden darf erst unmittelbar vor der weiteren Zubereitung. Weder vor noch nach dem Mahlen darf etwas abgeschält oder ausgesiebt oder hinzugefügt werden, da sonst das ausgewogene, natürliche Gleichgewicht aller Inhaltsstoffe des Getreidekorns zerstört würde« (Lit. 39). Auf dieser Grundlage entwickelte Schnitzer sein Ernährungssystem. Um es zu verwirklichen, ließ Schnitzer Getreidemühlen anfertigen, die e r - ähnlich wie seine Bücher- mit offenbar großem kommerziellen Erfolg vertreibt. Eine Broschüre Schnitzers enthält Dutzende von Angeboten von Schnitzer-Produkten, von verschiedenen Handmühlen bis zu Vollgetreide in verschiedenen Gebinden und Keimgeräten. Von Vertretern der Ernährungswissenschaft wird Schnitzer vor allem deshalb kritisiert, weil er behauptet, mit seiner Diät Zuckerkranke »heilen« zu können (Lit. 40). Diabetes-Forscher sind dagegen der Auffassung, Zuckerkrankheit könne durch Ernährungstherapie nicht geheilt, sondern lediglich gemildert werden. Schnitzers Behauptung, eine Behandlung von Diabetes mit Medikamenten habe nachteilige Folgen, sei völlig aus der Luft gegriffen. Schnitzer propagiert nicht nur »gesunde« Nahrung, sondern er macht damit auch ein Geschäft. Damit kommen wir zu einem weiteren Kennzeichen mancher- nicht aller- Reformmanager: Sie verkaufen sich gut. Die Bücher von Schnitzer, Kollath und Bruker wurden in riesigen Auflagen gedruckt. Die Reformwarenwirtschaft ist zudem in den letzten Jahren zu einem mächtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Sehen wir uns diesen Aspekt der Naturnahrung näher an. Das Geschäft mit der Gesundheitsnahrung Zunächst zur Frage, was Reformwaren eigendich sind. Gemäß der Definition der Europäischen Vereinigung der Verbände der Reformwarenhersteller sind Reformwaren Erzeugnisse, die primär dazu bestimmt sind, der Erhaltung und/oder der Förderung der Gesundheit zu dienen. Sie sind so naturbelassen wie möglich und entsprechen den Qualitätsrichtlinien für Reformwaren. Solche Waren erfordern eine gesund82 heitsbezogene Verbraucherinformation und -Werbung. Sie werden deshalb vorzugsweise in Fachgeschäften von fachkundigem Personal vertrieben. Reformwaren sind: Vollwertlebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel, die zur Vorbeugung gegen oder zum Ausgleich von Mangelerscheinungen geeignet sind, ausgewählte Lebensmittel und diätetische Lebensmittel, die für besondere Ernährungserfordernisse geeignet sind, und andere (Lit. 41). In der Bundesrepublik Deutschland hat der Reformwarenmarkt zur Zeit insgesamt ein Volumen von etwa zwei Milliarden Mark pro Jahr. 66 Prozent davon entfallen .auf Lebensmittel und diätetische Lebensmittel. Etwas mehr als ein Drittel des Umsatzes wird in Reformhäusern und Depots erzielt, die in einer Warenvermittlungsgenossenschaft zusammengeschlossen sind (rund 2700 »neuform«-Reformhäuser und »neuform«-Depots in Apotheken, Drogerien und Lebensmittelgeschäften). »Allein in den Jahren 1970 bis 1975 konnte ein Umsatzplus von insgesamt 45 Prozent erzielt werden. Nachdem sich dieser Zuwachs in den Jahren 1976 bis 1978 etwas abgeschwächt hat, konnte trotz wachsender Konkurrenz, insbesondere im allgemeinen Lebensmittelhandel, aber auch in der zunehmenden Anzahl von sogenannten »Grünen Ladern 1981 ein Umsatzplus von 11,3 Prozent und im Jahre 1982 bis zum Monat September von 6,25 Prozent erzielt werden, womit die >neuform<-Absatzstellen einer der Spitzenreiter der Umsatzentwicklung im deutschen Einzelhandel geworden sind« (Lit. 42). Reformwaren sind in den meisten Fällen beträchdich teurer als »gewöhnliche« Lebensmittel. Die Hersteller von Reformwaren leben daher von dem Image, ihre Produkte seien »gesünder« als andere Lebensmittel. Nun ist aber gesundheits- beziehungsweise krankheitsbezogene Werbung durch das Lebensmittelgesetz verboten, genauer gesagt sehr stark eingeschränkt. So ist in Produktbezeichnungen nur in einigen Ausnahmefällen die Verwendung des Begriffs »natürlich« oder ähnlicher Bezeichnungen erlaubt; Käse, der nicht erhitzt worden ist, darf in der Bundesrepublik Deutschland als »Naturkäse« bezeichnet werden, Zigarren dürfen mit der Angabe »naturfarben« oder ähnlichen Angaben versehen werden, wenn sie weder gefärbt noch gepudert sind und auch sonst keine Oberflächenbehandlung stattgefunden hat, bei Honig werden Bezeichnungen wie »kalt geschleudert«, »mit natürlichem Fermentgehalt« nur bei besonders sorgfältiger Gewinnung, Lagerung und Abfüllung des Honigs verwendet und so fort (Lit. 43). 83 Der Gesetzgeber hat also der Produktwerbung mit Argumenten wie »natürlich«, »gesundheitsfördernd« und so weiter einen, wie er glaubte, wirksamen Riegel vorgeschoben. Diese legislativen Beschränkungen umgehen allerdings die Hersteller von »Gesundheitslebensmitteln«, indem sie nicht ein bestimmtes Produkt anpreisen, sondern beispielsweise in einer Zeitschrift oder Illustrierten durch einen Reformexperten die Gesundheitsvorteile von Vollkornbrot, Müsli oder anderen Lebensmitteln ganz allgemein hochloben lassen - was nicht verboten ist - und im Zusammenhang damit Produktinserate plazieren, die diese hervorhebenden Bezeichnungen dann nicht mehr zu tragen brauchen. Mit genau der gleichen Methode scheint Schnitzer seine Produkte zu vermarkten, auf ähnliche Weise erreichen Diätverkäufer, daß ihre Kurzentren gut besucht sind und so weiter. Wahrheit und kommerzielles Interesse Wohlgemerkt: Ich behaupte keineswegs, daß die Verfechter der Reformidee ausschließlich aus Profitgier handeln. Umgekehrt behaupten jedoch manche Verfechter der Naturkost sehr wohl, die Erzeuger von Fabriknahrungsmitteln seien ausschließlich am Gewinn interessiert, auch wenn dies der Gesundheit des Verbrauchers schade. Es liegt mir fern, für »Fabriknahrung« Propaganda machen zu wollen. Aber ich meine doch, man sollte die Dinge ins rechte Lot rücken. Wir haben auf der einen Seite die große Gruppe der Lebensmittelindustrie, in der man sich übrigens alles andere als einig ist (man denke nur an die Auseinandersetzung um Vor- und Nachteile von Butter und Margarine). Die Hersteller arbeiten zusammen mit wissenschaftlichen Instituten, um neue Verfahren der Verarbeitung, Haltbarmachung und so weiter zu finden und diese Verfahren den neuen Erkenntnissen der Wissenschaft anzupassen. Im großen und ganzen kann man sagen, daß sich die Lebensmittelwirtschaft am »gegenwärtigen Stand von Wissenschaft und Technologie« orientiert (manchmal allerdings nur widerwillig); entsprechende Bestimmungen finden sich auch in der Lebensmittelgesetzgebung der meisten Industriestaaten. Auf der anderen Seite gibt es die Reformwarenwirtschaft; sie arbeitet mit häufig als »Außenseitern« bezeichneten Personen zusammen, die abseits von und oft im Gegensatz zur Schulwissenschaft agieren. Mag sein, daß viele aus echter Überzeu84 gung und ohne materiellen Hintergedanken handeln. Tatsache ist trotzdem, daß sie durch ihre Arbeit dem Absatz der Reformwaren Vorschub leisten (genauso, wie manche Wissenschaftler durch ihre Aussagen - gewollt oder ungewollt - dem Absatz industriell erzeugter Produkte Vorschub leisten). Tatsache ist weiter, daß viele Behauptungen der Reformvertreter, vor allem durch Übertreibungen und Absolutheitsansprüche, entweder sachlich unrichtig oder aber in der jeweils vorgetragenen Form irreführend sind. Reformwarenhersteller und Gesundheitsfanatiker profitieren ferner von der zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung für Fragen des Umweltschutzes, obwohl sie mit letzterem oft wenig zu tun haben. Wir sehen also ein zweifaches Konkurrenzverhältnis zwischen der konventionellen Lebensmittelkunde und der Reformidee: die fachliche und die wirtschaftliche Ebene. Abschließend wollen wir dieses Konkurrenzverhältnis vor einem historischen Hintergrund betrachten. Zur Geschichte der industriellen Lebensmittelverarbeitung Etwas vereinfacht gesagt, begann die Entwicklung mit Justus von Liebigs Fleischextrakt. 1865 wurde in Uruguay die Extract of Meat Company gegründet. Sie verarbeitete jährlich fast 200 000 südamerikanische Rinder. Julius Maggi bot 1886 die ersten kochfertigen Suppenpulver an, und im gleichen Jahr brachte Karl Heinrich Knorr Suppentabletten auf den Markt. Louis Pasteur entdeckte vor mehr als hundert Jahren, daß durch Erhitzen die Haltbarkeit der Milch verlängert werden kann. Carl von Linde baute 1876 die ersten Kälte-Kompressionsmaschinen und leitete dadurch das Zeitalter der Konservierung durch Kühlung und Tiefkühlung ein. Mitte des vergangenen Jahrhunderts begann man auch, Gemüse und Fleisch in Blechdosen aufzubewahren (die Konservenindustrie erlangte allerdings erst zu Beginn unseres Jahrhunderts nennenswerte wirtschaftliche Bedeutung). Hyppolite Mege-Mouries erfand 1869 ein Verfahren zu Herstellung eines Butterersatzes (Margarine), indem er durch Abpressen von Rindertalg flüssiges Oliomargarin abtrennte, daß er mit Magermilch verbutterte. In das 19. Jahrhundert fällt auch die Entwicklung einer neuen Müllereitechnik, die die Herstellung von weißem Brot ermöglichte. Die Erfindung des Weißbrots reicht jedoch weiter zurück. Schon die alten 85 Römer kannten und schätzten es. Nach Plinius ist Brot feinster Qualität jenes, das sine pondere ist, also ohne Schwere. Die Leichtgewichtigkeit des Brotes, das aus weißem Weizenmehl bereitet ist, war schon für die Römer der entscheidende Faktor bei der Bevorzugung des Mehls. Die Müllerei im antiken Rom war im Vergleich zu heute natürlich primitiv, mit Mörser und Stössel. Allerdings gab es eine Vielzahl von groben und feinen Sieben. »Die Qualität des feinsten Brotes«, sagt Plinius, »hängt hauptsächlich von der Güte des Weizens und der Feinheit des Siebes ab.« Bevor das weiße Mehl von den Reformern angegriffen wurde, sahen die Müller den Auszug von weißem Mehl aus Weizen als entscheidenden Faktor im Fortschritt ihrer Technik. »In gleicher Weise haben die Müller den Fortschritt der Technik, der in der Anwendung von Walzen anstelle der flachen Steine bestand, als eine besondere Leistung betrachtet. Mahlen auf Walzenstühlen wurde zuerst in Ungarn eingeführt und verbreitete sich von dort in die anderen Länder. Dies fand statt in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts . . . So kam es, daß medizinische Kreise, als sie den Feldzug gegen das weiße Mehl begannen, glaubten, das Mahlen auf Walzen sei aufgekommen, um den Profit der Müller zu erhöhen, da weißes Mehl höhere Preise erzielt als dunkles. Zufälligerweise existiert eine unparteiische Darstellung der Einführung der Walzenstühle in England. Ihr Verfasser war frei von der Eitelkeit, den Beweis erbringen zu wollen, daß England die erste Stelle auf jenem Feld technischer Entwicklung innehabe. Der Autor dieses unparteiischen Berichtes war P. A. Arnos, der im 1. Weltkrieg umkam, zu einer Zeit also, in der die Kenntnis der Leistung von Vitaminen im Getreide erst aufkam und daher den Müllern noch keine Sorge bereitete. Arnos sagte damals: >Aber die große Revolution kam im Jahre 1881. In diesem Jahre fand in London eine große Ausstellung der Walzenmüllerei statt, die von Müllern stark besucht war, welche das neue System sehen wollten, das auf dem Kontinent und in Amerika bereits benutzt wurde, und das die Ungarn, die Deutschen und die Amerikaner in die Lage versetzte, den englischen Markt mit Mehl von solcher Feinheit und Weiße zu überschwemmen, daß das auf Steinen gemahlene englische Mehl keine Chance guten Verkaufs mehr hatte. Gruppen englischer Müller besuchten auch derartige Mühlen im Auslande, und nachdem sie sich von der Aussichtslosigkeit überzeugt hatten, das 86 Walzensystem zu bekämpfen, waren sie klug genug, ihr jahrelanges Vorurteil beiseite zu stellen, und begannen das neue System in ihren Mühlen einzurichten . . . Wenn es nun nicht die Müller waren, wer war es dann, der in England die Nachfrage nach weißem Mehl schuf? Wer in England kaufte das weiße Mehl des Kontinents und Amerikas? Niemand anderer als die breiten Massen des englischen Publikums, entweder direkt oder indirekt durch den Bäcker. Mit anderen Worten, die Neigung und Vorliebe für weißes Mehl, für ein weißeres als die Steinmüllerei hervorbringen konnte, bestand bereits bei den Konsumenten, bevor sie noch einen einzigen Sack walzengemahlenen Mehles gesehen hatten, und sie stürzten sich auf dieses, als es auf dem Markt erschien, ohne Rücksicht, woher es kam, und ohne Rücksicht auf den traditionellen Vorzug, den englische Erzeugnisse im Land genießen« (Lit. 44). Im 19. Jahrhundert waren natürlich - wie zu allen Zeiten - auch Lebensmittelfälscher am Werk. Mehl wurde mit Sägespänen gestreckt, Schnaps oder Milch mit Wasser verlängert und so weiter. Die Betroffenen reagierten nicht nur mit Resignation. Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstanden die ersten Konsumgenossenschaften. Der Abhängigkeit durch den Lebensmittelhandel suchte man durch die Gründung von Kleingarten- und Schrebergartenvereinen zu umgehen. Sozialdemokraten und Gewerkschafter forderten strengere Lebensmittelgesetze. 1847, lange bevor sich die wesendichen Innovationen der technischen Lebensmittelverarbeitung wirtschaftlich bemerkbar machten, wurde in London die London Vegetarian Society gegründet. Ihren Vertretern ging es darum, bessere Ernährungsgewohnheiten zu fördern. John Haivey Kellogg entwickelte eine neue Zubereitungsart von Getreide für das Frühstück. Zuvor schon hatte in der Vereinigten Staaten der Reverend Sylvester Graham ein Gesundheitsbrot vorgestellt, das aber zunächst kommerziell nicht erfolgreich war. Später entstanden auch in Mitteleuropa vegetarische Gesellschaften. In Selbstversorgungsgenossenschaften wurden nicht industriell hergestellte, natürliche Lebensmittel angeboten. Diese rasch wachsenden Genossenschaften schufen später verbrauchernahe Absatzstellen, die zur Unterscheidung vom üblichen Lebensmittelhandel Reformhäuser genannt wurden. Der Berliner Textilkaufmann Braun, Anhänger der Lebensreformbewegung, nahm 1887 auf Drängen befreundeter Vegetarier Trocken87 fruchte und Vollkornbrot in sein Sortiment auf und nannte sein Geschäft »Gesundheitscenter«. Das »Reformhaus Jungbrunnen« des Kaufmannes Heynen aus Wuppertal, Ende des vergangenen Jahrhunderts gegründet, war wohl das erste Reformhaus im heutigen Sinne. Dort gab es vom Vollkorngetreide über die Heilkräuter zahlreiche gesundheitsfördernde und nicht apothekenpflichtige Produkte zu kaufen. Viele Produkte, die früher mitunter als »Reformkost« oder »Biokost« verschrieen waren, haben mittlerweile Einzug in den normalen Handel genommen. So etwa das Knäckebrot, der Apfelsaft oder der koffeinfreie Kaffee- ja sogar die Schokolade, die geraume Zeit nach ihrer »Entdeckung« nur in Apotheken feilgehalten wurde. Vollwertkost im Deutschen Bundestag? Gegenwärtig beobachten wir eine neue Welle in der Reformbewegung, die sich durch die steigende Zahl von Bioläden und Grünen Läden bemerkbar macht. Diese sind eigentlich ein Ergebnis der Umweltschutzbewegung. Seitdem die Grünen in den Deutschen Bundestag eingezogen sind, beginnt die Auseinandersetzung um die Naturkost auf politischer Ebene in neuem Stil: In ihrer Pressemitteilung Nr. 45/83 vom 21. April 1983 fordern die Grünen Vollwertkost und einen fleischlosen Tag im Bundestagsrestaurant und in den Kantinen: »Die Einführung von Vollwertkost im Bundestag sollte der Beginn einer dringend notwendigen Kampagne für eine bewußte und gesunde Ernährungsweise sein. Durch die in unserem Lande heute übliche ungesunde, falsche und meist zu üppige Ernährung mit industriell bearbeiteten, chemisierten und konservierten Nahrungsmitteln entstehen nicht nur zahlreiche, zum Teil schwere Krankheiten, sondern als deren Folge auch Krankheitskosten in Milliardenhöhe.« Wider das undisziplinierte Denken in der Ernährungsdiskussion Bedauerlich erscheint mir, daß bei allen Kampagnen gegen die Technik und für Naturbelassenes drei wichtige Gesichtspunkte vernachlässigt werden. Der erste betrifft die »Chemie« in der Nahrung. Man tut 88 so, als ob alles, was der Mensch an der Nahrung verändert, künsdich, »chemisiert« und schädlich sei. Das ist grob einseitig. In der Natur laufen auch ohne Zutun des Menschen pausenlos chemische Vorgänge ab, wird Zucker gebildet, der angeblich so schädlich ist, werden Gifte erzeugt, Krankheitserreger erzeugt und so weiter. Sicherlich - der Mensch hat durch die Technik teilweise in unzumutbarer Weise unsere Umwelt vergiftet. Aber daraus den Schluß zu ziehen, alles und jedes Künstliche sei schädlich und alles Natürliche gesund, bedeutete doch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Der zweite Aspekt läßt sich mit dem Ausspruch von Paracelsus kennzeichnen: dosis facit venenum; es gibt kein Gift per se, entscheidend ist die Dosis, das heißt die Menge einer bestimmten Substanz, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes eingenommen wird. Sie entscheidet darüber, ob eine Substanz unwirksam, als Arzneimittel wirksam oder giftig ist. Das gilt für Naturstoffe ebenso wie für die Lebensmittelzusätze, die unsere Nahrung angeblich vergiften. Tatsächlich sind diese aber ungleich weniger bedenklich als so manches, was wir aus freien Stücken tun - viel rauchen, Auto fahren (und durch die Abgase die Umwelt verpesten) oder bei schlechter Luft stundenlang in ohrenbetäubenden Diskotheken sitzen. Der dritte Gesichtspunkt ist, daß es bei einer richtigen Ernährung nicht so sehr auf einzelne Lebensmittel ankommt. Der »Gesundheitswert« eines Lebensmittels kann nicht gesondert von der Gesamtnahrung betrachtet werden. Zucker ist genausowenig »giftig« wie Weißmehl. Zweifellos ist es für die Ernährung ungünstig, wenn jemand über längere Zeiträume hinweg mehr als 30 Prozent seiner Energiezufuhr durch Einfachzucker deckt; genauso ungesund wäre es jedoch, wenn er dieselben 30 Prozent seiner Energiezufuhr durch Honig deckte (obwohl doch Honig sonst das Image eines »gesunden« Lebensmittels hat). Faserstoffe als solche sind nicht gesund. Wichtig ist, daß die Nahrung ausreichend Unverdauliches enthält; ein Zuviel an Faserstoffen kann jedoch durchaus schädlich sein. Auch kaltgeschlagene Öle sind nicht von vornherein »gesund«, im Gegenteil: nimmt man zuviel davon, sind sie ungesund. Ich halte es für sinnvoll, über die Frage zu diskutieren, ob sich die Menschen in den Industriestaaten ausgewogen ernähren. Ein Teil der Bevölkerung ernährt sich sicherlich falsch, einseitig und/oder übermäßig. Gesundheitsinformation ist deshalb wichtig. Trotzdem glaube ich, 89 daß das »Geschäft mit der Angst«, das viele Vertreter der Reformbewegung versuchen, manchen berechtigten Ansprüchen der Reformidee letztlich einen schlechten Dienst erweist. »Wer die Gefahren der Zivilisation erkennt, wird in Versuchung geführt, in die Vergangenheit zurückzustreben. Ich halte dieses Ziel für eine Illusion. Der Mensch ist ein Experiment, das nicht auf halbem Wege abgebrochen werden kann. Da es begonnen ist, muß es zu Ende geführt werden« (C. F. von Weizsäcker). 90 Bio ist nicht gleich Bio Bios (aus dem Griechischen) heißt zunächst schlicht »das Leben«, aber auch Lebenszeit, Lebensverhältnisse, Lebenswandel, Lebensunterhalt, Nahrung, Vermögen und Lebensbeschreibung. Schon die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen erlaubt es, alles mögliche mit der Vorsilbe bio zu versehen. Hätte es schon bei den Hellenen Umweltschutz gegeben, so würde die dafür gewählte Bezeichnung wahrscheinlich mit der Silbe bio gebildet worden sein. Umweltschutz ist heute in aller Munde. »Der Wald stirbt«, »Gift in der Nahrung«, »Seveso ist überall« und »Der Bauer als Ausbeuter der Natur« — in solchen Schlagworten artikuliert sich eine zunehmend lauter werdende Kritik an einer Entwicklung, die man am ehesten mit den Begriffen »Technisierung« und »Industrialisierung« charakterisieren kann. Umweltschutzaktivisten, wenn auch noch eine Minderheit, haben in den letzten Jahren erreicht, daß Ökologie zum vorrangigen Wahlthema wurde, und in der Bevölkerung das Bewußtsein geweckt, ein fortschreitender Raubbau an unserer Umwelt könne über kurz oder lang zum Zusammenbruch des ökologischen Gleichgewichts in der Natur und damit der Basis für das weitere Überleben der Menschheit führen. Der »biologische« oder »alternative« Landbau ist eines der wichtigsten Themen in der Umweltschutzdiskussion geworden. Für kaum eine Frage aus dem Bereich der Agrarwissenschaften liegen aber so widersprüchliche Forschungsergebnisse vor wie über die Unterschiede zwischen Produkten aus konventionellem und biologischem Anbau. Dazu kommt, daß die öffentliche Diskussion darüber vielfach den Charakter eines Glaubenskrieges angenommen hat. Die folgenden Seiten sind der Versuch einer Bestandsaufnahme. 91 »Biologisch« kontra »konventionell« Die Diskussion um Unterschiede zwischen verschiedenen landwirtschaftlichen Anbaumethoden kann unter vielen Aspekten erfolgen: ökonomischen, ökologischen, sozialen, ernährungsphysiologischen, weltanschaulichen und anderen. Eine Bewertung der Unterschiede hängt deshalb vielfach vom Standpunkt des Betrachters ab. Mit subjektiven Wertmaßstäben erzielte Urteile müssen nicht notwendigerweise objektiv feststellbare Unterschiede zur Voraussetzung haben. Schon die Unterscheidung zwischen »biologischem« und »konventionellem« Anbau ist unscharf. Versuchen wir daher zunächst eine etwas genauere Begriffsbestimmung. Was ist »konventioneller Anbau«? Gemeint ist die in den Industrieländern vorwiegend praktizierte Landwirtschaft. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß ein Kleinbauer in einem Alpental völlig anders arbeitet als ein Farmer in Kalifornien. Etwas überspitzt formuliert könnte man sagen, daß das Ziel des konventionellen Anbaus die Maximierung des Betriebsgewinnes ist. Um dieses Ziel zu erreichen, werden möglichst viele Arbeitsvorgängemechanisiert. Seit Kriegsende werden immer mehr Schlepper, Mähdrescher, Melkmaschinen und so weiter zur Senkung der Betriebskosten eingesetzt. Hand in Hand mit der Mechanisierung geht eine zunehmende Spezialisierung: Industrielle Produktionsweisen sind auf die Erzielung größtmöglicher Erträge pro Flächeneinheit ausgerichtet. Charakteristisches Merkmal ist das Vorherrschen von Monokulturen mit hochertragreichen Sorten. Die konventionelle Landwirtschaft versucht ferner, den sich fortwährend verschärfenden ökonomischen Zwängen mit Ertragssteigerung zu begegnen, die durch Einsatz von Mineraldüngern, Herbiziden und Insektiziden sowie Hochleistungs-Saatgut gewährleistet werden soll. So gesehen kann man die industrielle Landwirtschaft auch als »Agrarfabrik« bezeichnen. Demgegenüber gibt es eine Reihe von Versuchen, die Ziele des Landbaus neu zu bestimmen; dabei geht es in erster Linie darum, daß neben ökonomischen auch vermehrt ökologische Überlegungen berücksichtigt werden. Nun ist es keineswegs so, daß der konventionelle Bauer immer und überall unökologisch arbeitet; extreme Formen der industriellen Landwirtschaft, vor allem in den Vereinigten Staaten, sind zweifellos in hohem Maß unökologisch. Für eine große Zahl von landwirtschaftlichen Betrieben in der Bundesrepublik Deutschland, in der 92 Schweiz und in Österreich gilt dies jedoch sicher nicht. Der Unterschied zwischen konventionellem und alternativem Anbau läßt sich also nicht einfach als ein Gegensatz zwischen unökologisch und ökologisch charakterisieren. Dazu kommt, daß Ökologie selbst ein Begriff ist, über dessen Sinngehalt und Geltungsbereich die Meinungen auseinandergehen. Wörtlich läßt sich »Ökologie« kaum richtig übersetzen: oikos heißt Haus, Wohnsitz, Wohnbezirk, und über logos, das im ersten Satz des Johannesevangeliums gleich dreimal vorkommt, kann man ganze Bücher füllen. Am ehesten wird wohl »ortsrichtig«, »dem jeweiligen Ort gerecht« den Bedeutungsursprung des Begriffes kennzeichnen. Ökologie gilt heute als Naturwissenschaft, die sich mit dem Haushalt der Natur befaßt, die darin wirkenden Organismen in ihren Wechselbeziehungen zur Umwelt untersucht, ihre Funktionen beschreibt, quantifiziert und allgemeine Gesetzmäßigkeiten daraus abzuleiten versucht. Es geht dabei natürlich auch um die Auswirkungen menschlicher Tätigkeit auf die Natur. Eigentlich ist jede Tätigkeit des Bauern ein Eingriff in die Natur. »Natürlich« im strengsten Sinne ist der tropische Regenwald oder das unbewohnte Hochmoor. In dem Moment, wo ein Pflug den Boden wendet oder die Sense das Gras schneidet, wird ein natürliches Gefüge verändert. Die Frage ist nun, wie weit diese »Störung« gehen kann, bevor sie zur Störung oder gar Zerstörung wird, oder vielmehr, inwieweit der Mensch mit seiner Tätigkeit nicht selbst ein Teil dieser Natur ist, sein »Eingriff« somit auch etwas Natürliches darstellt. Biologisch-dynamische Wirtschaftsform Die Ursprünge des »alternativen« oder »biologischen« Landbaus reichen bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts zurück. Als ihr eigendicher Begründer ist Rudolf Steiner (siehe Seite 110 ff.) anzusehen. Auf Drängen schlesischer Großgrundbesitzer, Landwirte und Gärtner veranstaltete der Philosoph und Goethe-Forscher einen landwirtschaftlichen Vortragszyklus, in dem er seine Theorien und Gedanken über die »geisteswissenschaftlichen Grundlagen zum Gedeih der Landwirtschaft« allgemein bekanntgab. Der im Anschluß daran gegründete »Versuchsring anthroposophischer Landwirte« versuchte, 93 diese Anregungen in die Praxis umzusetzen. Als Vertriebsorganisation wurde der »Demeter Wirtschaftsbund« gegründet. Die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise Steiners geht von einem geschlossenen Betriebskreislauf mit starker Viehhaltung und vielseitiger Fruchtfolge aus. Spezifisch wirkende Präparate wie Hornmist und Kiesel werden angewendet. Die Stellung des Mondes im siderischen Kreislauf wird bei Aussaat und Ernte berücksichtigt. Synthetische Stickstoffdünger, leicht lösliche Phosphate sowie hochprozentige und chlorhaltige Kalisalze sind nicht erlaubt. Dagegen werden Rohphosphate, Gesteinsmehle und Algenkalke als Dünger eingesetzt. Das Unkraut wird ausschließlich mechanisch-physikalisch bekämpft, während die Anwendung von chemischen Pflanzenbehandlungsmitteln unzulässig ist. Organisch-biologisches Bauerntum Zu Beginn der dreißiger Jahre entstand in der Schweiz der »organischbiologische Landbau«, der auf die von Altnationalrat Hans Müller gegründete »Bauern-Heimat-Bewegung« zurückgeht. Die theoretischen Grundlagen legte der Arzt Peter Rusch 1968 in seinem Buch Bodenfruchtbarkeit schriftlich nieder. Im Gegensatz zum biologisch-dynamischen Landbau sind spezielle Präparate und kosmische Einflüsse hier ohne Bedeutung. Besondere Aufmerksamkeit wird dagegen dem Mikroleben des Bodens, dem Anbau von Leguminosen und Zwischenfrüchten geschenkt. Die Fruchtbarkeit des Bodens wird durch einen eigens entwickelten »Biotest«, eine mikrobiologische Bodenuntersuchung, bestimmt. Wasserlösliche Mineraldünger und chemische Pflanzenbehandlungsmittel sind verpönt. Andere Formen von »Bio«-Landbau Westfälische Obstbauern gründeten 1962 unter der Leitung von Leo Füret die »Arbeitsgemeinschaft für naturnahen Obst-, Gemüse- und Feldfruchtanbau«. Sie unterscheidet sich am wenigsten von den allgemein praktizierten Produktionsmethoden. Daneben gibt es in der Bundesrepublik eine Reihe anderer Gemeinschaften, die nach nichtkonven94 tionellen Grundsätzen Landbau, Gartenbau und Viehzucht betreiben. Auch in Frankreich, Großbritannien und Australien haben einzelne Personen die Initiative ergriffen und eigenständige Landbaubewegungen ins Leben gerufen. Im angelsächsischen Sprachraum verwendet man dafür die Sammelbezeichnung organic. Es ist nicht genau bekannt, wie viele Bauern alternativen Landbau betreiben. In der Bundesrepublik Deutschland dürften es etwa 600 bis 700 sein; sie bewirtschaften weit weniger als ein Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche. Vermarktet werden in erster Linie Brot und Backwaren sowie Obst und Gemüse. Eine kürzlich veröffendichte Marktbeobachtung kommt zu dem Schluß, daß sich die Produktion von alternativen Broten und Backwaren bei etwa ein Prozent der Gesamtproduktion einzupendeln scheint (Lit. 45). Ein Ministerium nimmt Stellung Obwohl die wirtschaftliche Bedeutung des alternativen Landbaus somit relativ gering ist, setzen sich auch öffendiche Stellen intensiv mit der Problematik auseinander. Ein Statusbericht aus dem Forsehungsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zum Thema Alternativen im Landbau aus dem Jahre 1978 gibt einen interessanten Einblick (Lit. 46). Dort ist im Kapitel »Mineralische Düngung« zu lesen: »Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den Formen des »biologischen Landbaus< und der allgemeinen landwirtschaftlichen Produktion besteht in der Verwendung von Mineraldüngern. Im »biologischen Landbau< werden Nährstoffquellen verwendet, die das Angebot an die Pflanzen durch das Bodenleben regeln, während nach den Aussagen der Vertreter des »biologischen Landbaus< die Mineraldünger direkt das Nährstoffverhältnis der Pflanzen und der Umgebung des Bodenlebens verändern. Diese Vorstellung basiert auf den Thesen von Rudolf Steiner, wonach die Pflanzen in der belebten Erde, die durchzogen ist mit allmählich sich zersetzender organischer Substanz, wachsen sollten, während die Mineralstoffe nur so wirken sollen, wie sie sonst aus der Natur wirken. Die Mineraldünger im konventionellen Sinne würden in Wirklichkeit niemals an das Erdige herankommen, sondern im äußersten Fall an das Wäßrige der Erde. Nach Steiner läßt sich mit mineralischen Düngemitteln eine Wirkung im 95 Wäßrigen der Erde erreichen, aber die Düngemittel dringen nicht zur Belebung des Erdigen vor. Die Lehre von Steiner steht im Gegensatz zu den seit Liebig in großer Vielfalt vorliegenden Untersuchungen zur Ernährung der Pflanze. Es ist hinreichend bekannt, wie stark die Produktivität der Böden seit Einführung der Mineraldünger angestiegen ist. Es bestehen heute keinerlei Zweifel darüber, daß mit den neuzeidichen Düngungsmethoden, also die kombinierte Anwendung organischer und anorganischer Düngestoffe, eine nachhaltige Verbesserung der chemischen, physikalischen und biologischen Eigenschaften des Bodens erreicht w i r d . . . Aus dieser Lehre von Steiner wird auch immer wieder abgeleitet, daß die Pflanzen ein Wahlvermögen bei der Aufnahme von Nährionen besitzen und deshalb befähigt sind zu unterscheiden zwischen Nährionen organischer und anorganischer Herkunft. Diese Annahme entbehrt jedoch jeglicher Grundlage. Für die Pflanze ist es gleichgültig, aus welchen Quellen die Nährionen stammen, dafür hat sie kein Unterscheidungsvermögen. Auch in den organischen Düngestoffen wie Stallmist, Gründüngung, Stroh, Horn- und Blutmehl, Vogeldung etc. sind die Mineralstoffe in der organischen Substanz eingebettet und müssen vor ihrer Aufnahme durch die Pflanze mineralisiert, das heißt pflanzenverfügbar, werden.« Soweit der Statusbericht. Qualität hat viele Gesichter Diskutiert wird nicht nur die Frage, ob der alternative Landbau »ökologisch richtiger« als der konventionelle ist, sondern auch, ob Bioprodukte gesünder sind als konventionell erzeugte. Qualität ist jedoch ein sehr vielschichtiger Begriff. So definiert eine wissenschaftliche Gesellschaft, die sich mit Fragen der Qualität auseinandersetzt: »Qualität ist die Gesamtheit der Eigenschaften und Merkmale eines Produktes oder einer Tätigkeit, die sich auf die Eignung zur Erfüllung gegebener Erfordernisse beziehen.« Mit anderen Worten: Die Qualität eines Produktes hängt davon ab, was der Beurteiler erwartet. Bezüglich der Qualität von Nahrungsmitteln unterscheidet man: sensorische Qualität, ernährungsphysiologische Qualität, hygienische Qualität, Verarbeitungsqualität, ideelle Qualität, Gebrauchsqualität sowie Qualität im 96 Sinne lebensmittelrechtlicher Normen (Qualitätsklassen). Für den industriellen Landwirt ist beispielsweise die Oberflächenkonsistenz von Gemüsesorten ein wichtiges Qualitätsmerkmal, weil sie darüber entscheidet, ob maschinell geerntet werden kann oder nicht. Für manche Verarbeiter ist entscheidend, ob ein Gemüse gute Gefriereigenschaften besitzt oder nicht. Der Ernährungsphysiologe schließlich mißt den Vitamingehalt, während die Hausfrau die schöne rote Farbe kauft. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, daß diese unterschiedlichen Qualitätskriterien sich insoweit gegenseitig ausschließen, als die Erhöhung der Qualität nach einem bestimmten Kriterium häufig die Verringerung der Qualität nach einem anderen Kriterium mit sich bringt. Definiert man beispielsweise hygienische Qualität als möglichst weitgehende Freiheit von möglicherweise gesundheitsschädlichen Keimen und ernährungsphysiologische Qualität eines Produktes als den Gehalt an (zum Teil wärmelabilen) Vitaminen, wird dieser Widerspruch deutlich: je höher und länger ein Lebensmittel zwecks Entkeimung erhitzt wird, um so stärker nimmt der Vitamingehalt ab. Der Streit um die Hektarerträge Versuchen wir nun, Unterschiede zwischen Produkten aus konventionellem und alternativem Landbau aufzuzeigen. Ein heiß umkämpftes Thema ist dabei zunächst die Frage des Hektarertrages. Vertreter des konventionellen Anbaus sind der Auffassung, biologisch arbeitende Bauern erzielten einen wesentlich geringeren Ertrag pro Hektar; polemisch ziehen sie daraus den Schluß, es werde eine Hungersnot geben, wenn alle Bauern plötzlich biologisch arbeiteten. Mitderweile gibt es zahlreiche vergleichende Untersuchungen über den Hektarertrag. Wohl die Mehrzahl von ihnen weist für alternative Anbauformen einen geringeren Ertrag aus; häufig sind die Unterschiede nicht bedeutend, manchmal betragen sie jedoch bis zu 40 Prozent. Solche vergleichende Untersuchungen sind allerdings insoweit problematisch, als der Hektarertrag von zahlreichen Faktoren abhängt, darunter Klima, Wetter, Bodentypus, Nährstoffgehalt und Mikroorganismenbestand im Boden, Wasserhaushalt (Bewässerung) und Pflanzensorte. So wurden manche Hochleistungssorten mit dem Ziel ausgewählt, auf hohe Düngergaben mit einem besonders hohen Zuwachs des Ertrags zu reagie97 ren. Diese Hochleistungssorten unterscheiden sich viel stärker von den Wildformen als die genetisch weniger einheitlichen Sorten, die der biologisch arbeitende Bauer eigentlich einsetzen müßte (sofern er etwas anderes als Hochleistungssorten im Handel überhaupt erhält). Sind Biolebensmittel »gesünder«? Aber der Hektarertrag ist nur eines von mehreren möglichen Kriterien. Der Gehalt an wertvollen Inhaltstoffen steigt nicht notwendigerweise linear mit dem Hektarertrag an. Bezieht man das Ernteergebnis nicht auf den Hektarertrag, sondern auf den Trockensubstanzgehalt oder den Vitamingehalt, so verschiebt sich der Vergleich konventioneller und biologischer Lebensmittel häufig zugunsten der letzteren. Ähnliches zeigt sich auch bei Fütterungsversuchen in der Tierzucht. So wurde beispielsweise in einer britischen Milchfarm ein Langzeitfütterungstest durchgeführt, der gegenüber anderen Vergleichsuntersuchungen den Vorteil hat, daß er statistisch gut abgesichert ist. Über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren erhielten Kühe Futter, das unter Verwendung von mineralischem Dünger in empfohlenen Mengen gezogen wurde, und eine Vergleichsgruppe Futter, zu dessen Anbau nur Stallmist Einsatz fand; in beiden Fällen wurde die Milchmenge untersucht. In der Milchleistung pro Fläche fand sich statistisch kein signifikanter Unterschied. Die »biologisch« gefütterten Kühe produzierten allerdings 44 Prozent mehr Milch, bezogen auf die Menge an Futter. Auch bezogen auf die Milchleistung pro Kuh schnitten die »biologischen« Kühe besser ab (Lit. 47). Die Anthroposophen (siehe Seite 112 ff.) gehen in der Frage der Qualität einen Schritt weiter und meinen, die eigentlich entscheidenden Qualitätsunterschiede zwischen konventionellen und biologisch-dynamischen Lebensmitteln seien chemisch-analytisch gar nicht feststellbar. Sie entwickelten sogenannte »bildgebende Verfahren«. Bei der Kupferchlorid-Kristallisation etwa werden die zu untersuchenden Stoffe einer gesättigten Lösung von Kupferchlorid zugefügt und die Muster der sich ausbildenden Kristalle betrachtet. Dabei ergeben sich bemerkenswerte Unterschiede in der Ausformung der Bilder. Problematisch ist aber, daß die Versuchsergebnisse häufig nicht reproduzierbar sind 98 und die Bewertung der Kristallbilder nicht von einem Meßgerät, sondern vom Urteil des Beobachters abhängt. Zur Frage, ob Biolebensmittel »gesünder« als andere seien, ist allgemein festzustellen, daß mit den Mitteln der chemischen Analyse keine entscheidenden Unterschiede zwischen »biologischer« und »konventioneller« Kost gefunden wurden (der Vitamingehalt beispielsweise ist viel stärker von Sorte, Klima und Bodentyp abhängig als von der Anbauweise). Genaugenommen können Lebensmittel gar nicht »gesund« sein (auch wenn man immer wieder davon spricht). Die Ernährung insgesamt, also die Summe aller gegessenen und getrunkenen Lebensmittel, kann gesundheitsfördernd sein, aber kaum ein einzelnes Lebensmittel. »Biologisch« = giftfrei? Befragt man den Mann und die Frau auf der Straße nach ihren Qualitätsanforderungen an biologische Produkte, so kann man erfahren, daß der Aspekt »giftfrei« zumeist an vorderster Stelle steht. Abgesehen davon, daß die Bezeichnung »giftfrei« schon deshalb problematisch ist, weil die Wirkung einer Substanz nur in Zusammenhang mit ihrer Konzentration und der Dauer der Einwirkung gesehen werden darf (siehe Seite 89), zeigen vergleichende Analysen konventionell und biologisch erzeugter Produkte, daß im statistischen Durchschnitt in beiden gleichermaßen D D T und Schwermetalle, also langlebige Schadstoffe, enthalten sind. Der Verbraucher, der rückstandsfreie Lebensmittel erwartet, bekommt sie nicht- schwer abbaubare Pestizide, Blei, Kadmium und Quecksilber sind in unserer Umwelt überall vorhanden. Blei findet sich in der Nähe von Autostraßen häufiger als abseits vom Kraftfahrzeugverkehr, außerdem wird der Bleigehalt des Bodens nach Einführung des bleifreien Benzins langsam aber sicher abnehmen; regionale Unterschiede können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der biologisch arbeitende Bauer in derselben Umwelt lebt und arbeitet wie alle anderen auch. Wenn es nun mit gängigen Methoden weder nachweisbar ist, daß biologische Produkte »gesünder« sind als konventionell erzeugte, noch möglich ist, rückstandfreie Lebensmittel zu erhalten, könnte man fragen, wozu der biologische Landbau überhaupt gut sei. Immerhin sind Bioprodukte meist beträchtlich teurer als konventionelle Erzeugnisse. 99 »Bio«-Landbau und Ökologie Hier können ökologische Aspekte ins Treffen geführt werden. Einer davon ist die vielfach behauptete sogenannte Eutrophierung der Gewässer als Folge des in das Grundwasser ausgewaschenen DüngersAlgen beginnen plötzlich, unkontrolliert zu wachsen, Flora und Fauna verändern sich, manche Tiere und Pflanzen können nicht mehr gedeihen. Hier soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß richtige Düngung kein Reservat der biologischen Bauern ist. Man kann auch mit Kuhmist zuviel düngen - Bodenuntersuchungen in Österreich zeigten, daß auch biologisch bearbeitete Äcker hinsichdich Stickstoff zuweilen überdüngt sind. Ein weiteres Argument der Ökologen ist, daß eine großflächige Bewirtschaftung mit Monokulturen, die keine Fruchtfolgen berücksichtigt, zu vermehrter Erosion des Bodens führen kann. Insektizide und Herbizide vernichten nicht bloß »schädliche« Arten, sondern in ähnlichem Ausmaß auch »nützliche«. Ihr Einsatz stellt daher einen empfindlichen Eingriff in die natürlichen Regulationsfaktoren dar. Dieses Problem verschärft sich durch das Phänomen der zunehmenden Resistenz beispielsweise von Schadinsekten gegen Insektizide. Die Diskussion ließe sich noch weiter differenzieren: Der Bauer ist — ohne dafür bezahlt zu werden - Pfleger und Erhalter der Kulturlandschaft. Quadratkilometergroße Getreidefelder sind aus dieser Sicht anders zu bewerten als durch Hecken abgegrenzte, überschaubare Einheiten. Der weite Weg durch die Institutionen Wenn wir von ökologischen und Qualitätsfragen absehen und ganz pragmatisch davon ausgehen, daß die augenscheinlich bestehende Nachfrage nach biologischen Lebensmitteln gedeckt werden sollte, ergibt sich eine Fülle weiterer Probleme. Ich erlebe sie aus nächster Nähe: Die Kommission zur Herausgabe des Österreichischen Lebensmittelbuches, ein Beratungsorgan des Gesundheitsministers, hat eine Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung von Richtlinien für den Anbau biologischer Lebensmittel eingerichtet, der ich angehöre. Darin arbeiten neben Vertretern der Wissenschaft Experten der Landwirtschaftskam100 mern, der Lebensmittelindustrie, der Arbeiterkammer, des Handelsund Gesundheitsministeriums. Was vor etwa zehn Jahren noch undenkbar schien: alle diskutieren ernsthaft Fragen des »biologischen« Landbaus. Die Kommission hat nun fast zwei Dutzend Beratungen hinter sich; ein sichtbares Ergebnis könnte Ende 1984 vorliegen. Ein Problem der Einbindung des »biologischen« Anbaus in das herkömmliche Wirtschaftsgefüge liegt bei der Kontrolle der Lebensmittel auf der Stufe des Einzelhandels: biologische Lebensmittel unterliegen, wie alle anderen auch, dem Lebensmittelgesetz, und alle unter dieses Gesetz fallenden Waren müssen nach genau vorgegebenen Kriterien untersucht werden. Der staadiche Lebensmittelprüfer stellt aufgrund dieser Kriterien unter anderem fest, ob die Beschaffenheit einer Ware ihrer Bezeichnung entspricht. Die Bezeichnung »Bio« oder etwa »Getreide aus biologischem Anbau« weist auf eine besondere Beschaffenheit hin. Wenn aber mit den Mitteln der chemischen Analyse kein Unterschied zwischen konventionellen und biologischen Produkten feststellbar ist, wie kann dann der Lebensmittelprüfer herausfinden, ob ein Produkt biologisch erzeugt wurde oder nicht? Neue Kontrollinstrumente sind demnach notwendig. Schon jetzt arbeiten die Verbände »biologisch« produzierender Bauern mit Formen der Selbstkontrolle, Prüfsiegeln und dergleichen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, daß nur Waren aus »biologischen« Bauernhöfen beim Lebensmittelhändler als solche feilgeboten werden (und nicht, wie manchmal unterstellt und leider auch tatsächlich aufgedeckt wird, gerade die verrunzelten Äpfel aus konventionellem Anbau als »biologisch« angeboten und teuer verkauft werden). Unklar ist, ob eine solche Selbstkontrolle in jedem Fall ausreicht (zwischen Anbau und Abgabe an den Endverbraucher liegen mehrere Stufen der Verarbeitung und des Handels, wo überall etwas »passieren« kann). Ungewiß ist auch, ob staadiche Lebensmittelprüfer eine Selbstkontrolle von Verbänden anerkennen können. Unklar ist weiter die Frage der Bezeichnung von Produkten des biologischen Anbaus: gesundheitsbezogene (in Österreich) oder krankheitsbezogene (in der Bundesrepublik Deutschland) Angaben sind laut Lebensmittelgesetz verboten. Obwohl bei »normalen« Lebensmitteln Anpreisungen wie »gesund«, »macht fit« und ähnliche etwa in Österreich meist nicht zugelassen werden, toleriert man »Reform«waren und »Bio«kost, obwohl auch damit ein Bezug zur Gesundheit gegeben ist ein Indiz für ein gewisses »Verständnis« der öffendichen Stellen? 101 Ein weiteres Problem entsteht bei der Frage, ob nur Rohprodukte die Bezeichnung »biologisch« tragen dürfen oder auch verarbeitete. Entschließt man sich, Verarbeitung in gewissem Umfang zuzulassen, bleibt offen, ob nur solche Waren als »biologisch« gelten dürfen, deren Bestandteile allesamt biologisch erzeugt wurden. Was passiert beispielsweise mit einem Müsli aus vier Getreidesorten, von denen nur zwei biologisch erzeugt wurden? Ist es nun ein Biomüsli oder nicht? Was passiert, wenn alle Getreidesorten biologisch erzeugt wurden, aber nur die im Müsli enthaltenen Rosinen nicht? Wie sieht es überhaupt mit importierten Lebensmitteln aus? Wenn die Kontrolle biologischer Lebensmittel eine Betriebsprüfung der Bauernhöfe als unabdingbare Voraussetzung hat, hieße das in der Folge, daß eine Orange aus Sizilien nur dann als »biologisch« feilgeboten werden dürfte, wenn der Lebensmittelkontrolleur auch in Sizilien eine Betriebsprüfung vornehmen kann und der betreffende Importeur ebenfalls bestraft werden kann, falls der sizilianische Bauer die in Österreich geltenden Richdinien für biologischen Landbau nicht eingehalten hat. Dazu kommt noch, daß gesetzliche Bestimmungen über Lebensmittel aus »biologischem« Anbau Konflikte mit dem Preisgesetz, dem Wettbewerbsrecht und mit einigen Punkten der landwirtschaftlichen Marktordnung nach sich ziehen. Fazit: Fragen über Fragen. Trotzdem halte ich die Diskussion um biologische Lebensmittel für sehr wichtig, weil sie uns zwingt, traditionelle Strukturen neu zu überdenken; ferner, weil sie in der bäuerlichen Bevölkerung (hoffentlich) einen Prozeß des Nachdenkens eingeleitet hat; und schließlich, weil wir angesichts steigender Umweltverschmutzung an der vermehrten Beachtung ökologischer Prinzipien nicht mehr vorbeigehen können. Ich persönlich befürworte den »biologischen« Anbau und bin bereit, für Produkte aus diesem Anbau auch mehr zu bezahlen. Dies jedoch nicht, weil ich sie für meine Ernährung als »gesünder« erachte. Mit dem höheren Preis will ich einen Beitrag dazu leisten, daß der Bauer das Unkraut mechanisch beseitigt, anstatt ein Herbizid einzusetzen, und mag es noch so artenspezifisch wirken, also dazu, daß die Landwirtschaft weniger stark in das ökologische Gleichgewicht der Natur eingreift als bisher. 102 Ernährung als Weltanschauung Der Materialist sieht Nahrung und Ernährung als chemischen Prozeß; die Vertreter von Reformkost und Naturheilkunde (siehe Seite 59 ff.) verstehen richtige Ernährung als eine von mehreren Maßnahmen zur gesunden Lebensführung; Makrobioten und Anthroposophen erleben Essen und Trinken im Rahmen einer spirituell orientierten Weltanschauung. Die Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Lehre werden von letzteren zwar nicht oder nur teilweise negiert, sie werden jedoch durch Anschauungen erweitert, die einer Überprüfung durch das Experiment nach den Kriterien »meßbar« und »reproduzierbar« grundsätzlich nicht zugänglich sind. Gleichwohl sprechen etwa die Anthroposophen von »Geisteswissenschaft« und wollen damit zum Ausdruck bringen, daß auch eine Auseinandersetzung mit »höheren«, spirituellen Welten wissenschaftlich sein kann. Es ist im Rahmen eines Buches über Ernährung nicht möglich, die Grundlagen dieser Weltanschauungen wiederzugeben, geschweige denn eine kritische Bewertung vorzunehmen. Der mechanistisch orientierte Naturwissenschaftler- dies sei jedoch gleich vorweggenommen — kann zu den Auffassungen etwa der makrobiotischen oder anthroposophischen Ernährungslehre nur bedingt Stellung nehmen, weil er ihre Gültigkeit nicht oder nur in einem Teilbereich überprüfen kann. Viele Aussagen erscheinen ihm regelrecht unwissenschaftlich. Die Folge davon ist, daß die naturwissenschaftliche Lehre einerseits und die spirituellen Lehren andererseits gewissermaßen nebeneinander bestehen; in der naturwissenschaftlichen Literatur finden die genannten Lehren so gut wie keine Erwähnung. 103 Von Hufeland zu Oshawa Beginnen wir mit der makrobiotischen Lehre. Den Titel Makrobiotik (von makros = lang, bios = Leben) trägt schon das 1798 erschienene Buch von Ch. W. Hufeland, dem Arzt Goethes und Friedrich Wilhelms III., mit dem Zusatz Oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Hufeland ging es dabei nicht bloß um Ernährung, sondern um eine harmonische Lebensführung insgesamt. In anderer Weise gilt dies für die sogenannte Zen-Makrobiotik, die durch den Japaner Georges Oshawa im Westen populär wurde. Oshawa: »Makrobiotik ist keine empirische Volksmedizin, sie ist die biologische und physiologische Nutzanwendung der östlichen Philosophie und Medizin. Die makrobiotische Diät ist die biologische und physiologische Nutzanwendung eines dialektischen Begriffes vom unendlichen Universum. Dieser Begriff ist 5000 Jahre alt und zeigt den Weg zum Glück über die Gesundheit... die Makrobiotik ist sehr einfach in der Anwendung. Jeder kann sie sich aneignen, in seinem Alltagsleben, überall und zu jeder Zeit, wenn er wirklich von allen physiologischen und mentalen Schwierigkeiten frei sein will. Millionen und Millionen haben im Fernen Osten seit Tausenden von Jahren Glück, Freiheit, Kultur und Frieden gefunden dank der makrobiotischen Lehre eines Lao Tse, Song Tse, Konfuzius^ Buddha, Mahavira, Nagarjuna usw. und vieler Shintoisten und lange vor ihnen der Weisen, die die bedeutende medizinische Wissenschaft Indiens schufen. Heute sind alle diese Lehren in Vergessenheit geraten, alles, was einen Anfang hat, hat ein Ende. Sie wurden alle mit Aberglauben, Mystizismus und Berufsspielertum vermischt. Darum will ich Ihnen eine neue Auslegung der makrobiotischen Lebensweise bringen... meine Philosophie (oder meine neue Auslegung der alten Philosophie) baut sich auf der festen Grundlage der fernöstlichen Medizin auf. Nicht nur die Medizin, alle fünf großen Weltreligionen wurden auf dieser Grundlage errichtet, darum war Jesus ein Wunderheiler sowohl von physischen als auch mentalen Krankheiten. Wenn die Medizin nur physische Krankheiten heilen kann, dann ist sie eine Schwarze Magie oder Satan, der uns unglücklicher macht als je zuvor; nur die physische Krankheit zu heilen ist unmöglich. In Wirklichkeit sind mentale Agonie und Angstzustände die eigentliche Hölle, die noch kein Sputnik oder ein Elektronenmikroskop entdeckt hat. Diese Hölle ist charakte104 ristisch für alle, welche die Beschaffenheit des Universums und seine Gesetze nicht kennen. Meine medizinische Philosophie wirkt in der Tat Wunder, ich selbst bin tief und immer tiefer von seiner ans Wunderbare grenzenden Wirksamkeit und Überlegenheit überzeugt. Ich heilte mich von Tuberkulose und anderen unheilbaren Krankheiten, nachdem ich von den Ärzten- vor meinem zwanzigsten Lebensjahr- glücklicherweise aufgegeben worden w a r . . . unsere Heilung ist also unendlich einfach; im Einklang mit unserem philosophischen Begriff von Welt und Beschaffenheit des Universums müßte jede Krankheit in zehn Tagen vollständig geheilt sein: Logisch gesehen, sitzt jede Krankheit in unserem Blut oder wird vom Blut genährt, und täglich zerfällt ein Zehntel unseres Blutes, das sind 300 Millionen Blutkörperchen pro Sekunde. Folglich sollte sich bei einer richtigen und biologischen Ernährungsweise unser Blut in zehn Tagen gänzlich umgestalten und erneuern.« Soweit der Zen-Makrobiot (Lit. 48). Ein Schulmediziner, der in einer Buchhandlung ein Buch Oshawas findet, darin blättert und die soeben zitierten Sätze liest, wird aller Voraussicht nach das Buch mit einem Kopfschütteln weglegen. Allein die Aussage, so mag er denken, jede Krankheit könne in zehn Tagen vollständig ausheilen, weil in zehn Tagen unser Blut gänzlich umgestaltet und erneuert werde, sei doch so offensichdich falsch, daß es nicht lohnt, sich mit derartigem Humbug weiter auseinanderzusetzen. Ich bin da anderer Auffassung. Nicht, daß ich die makrobiotischen Auffassungen teilte- ganz im Gegenteil. Aber es ist schließlich eine Tatsache, daß sich Tausende von Menschen auf der Welt makrobiotisch ernähren, Bücher über Makrobiotik lesen - und von der Richtigkeit der darin enthaltenen Aussagen überzeugt sind. Allein deshalb sollten wir uns mit diesem Phänomen beschäftigen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß die 17. Auflage des erwähnten Buches von Oshawa gleich zu Beginn eine »ergänzende Anmerkung« des Verlags beinhaltet: »Herr Oshawa hat außerordentlich viele Bücher hinterlassen, doch ist seine Ausdrucksweise oft asiatisch, einfach und philosophisch und wird von wesdichen Menschen gern zu wörtlich genommen, woraus leicht Mißverständnis und Fanatismus entstehen. Nur mit Vernunft und Instinkt kann man die wahre Größe der Lehre Oshawas erkennen, aber wer einmal die Erkenntnis gewonnen hat, wird sein ganzes Leben immer größeren Nutzen daraus zie105 hen.« Leider erfährt man nicht, was wörtlich und was nicht wörtlich genommen werden soll und wie etwas verstanden werden soll, was nicht wörtlich zu nehmen ist. Doch stellen wir diese Bedenken vorerst zurück. Einer der Eckpfeiler asiatischer Philosophie sind die polaren Begriffe Yin und Yang. Ihr Bedeutungsgehalt wird unterschiedlich beschrieben. Allgemein gesehen steht das Gegensatzpaar Yin-Yang symbolisch für weiblich-männlich, kalt-warm, leicht-schwer, Wasser-Feuer und so weiter. »In der biologischen Welt ist das Pflanzenreich mehr Yin im Verhältnis zum Tierreich (Yang). In der botanischen Welt drückt sich die Yin-Tendenz in blättrigen und höheren verzweigten Gewächsen mehr tropischen Ursprungs aus, während die Wurzeln und Pflanzen, die fester, weniger saftig, kälteren Ursprungs sind, mehr Yang-Gehalt aufweisen. In der Körperstruktur sind weichere und ausgedehntere Organe wie der Magen, die Därme, die Blase und andere mehr Yin als festere und kompaktere Organe, wie Leber, Milz, Nieren und andere (Yang). Im Nervensystem sind die äußeren Nerven mehr Yin und die mehr zentral gelegenen mehr Yang. Im Geschmack ist würzig, sauer und süß mehr Yin, während weniger süß, salzig und bitter mehr Yang sind« (Lit. 49). Diesem Prinzip entsprechend teilt die makrobiotische Ernährungslehre die einzelnen Lebensmittel nach ihrem Yin- und Yang-Gehalt ein. Die Speisenfolge soll so gestaltet sein, daß Yin- und Yang-Kräfte in ausgewogenem Verhältnis zueinander stehen. Oshawa: »Kennen Sie die makrobiotische Küche und ihre dialektische Philosophie, können Sie Nahrung, die zu sehr Yang ist (tierische Produkte), yinnisieren oder neutralisieren und die verhängnisvolle Oberherrschaft der niederen Urteilskraft (Grausamkeit, Gewalt, Pflichtvergessenheit oder Sklaventum) in ein höheres Denken verwandeln« (Lit. 50). Oshawa unterscheidet zehn Wege des richtigen Essens und Trinkens, genauer gesagt zehn Regeln für die Zusammenstellung der Speisen, die einer Stufenfolge von —3 bis + 7 entsprechen. Auf der niedrigsten Stufe werden 10 Prozent Zerealien, 30 Prozent Gemüse, 10 Prozent Suppe, 30 Prozent tierisches Eiweiß, 15 Prozent Salate und Früchte und 5 Prozent Nachtisch verzehrt. Die Stufe + 3 kennt nur mehr Zerealien (60 Prozent), Gemüse (30 Prozent) und Suppe (10 Prozent). Die höchste Stufe, Nr. 7, besteht zu 100 Prozent aus Zerealien. Getränke und Flüssigkeiten sollen in jedem Fall so wenig wie möglich genom106 men werden. Femer empfiehlt Oshawa, man solle keine »denaturisierte« Nahrung, wie Zucker, süße Getränke, gefärbte Nahrungsmittel, unfruchthare Eier, Nahrungsmittel aus Büchsen und so weiter, essen, keine Früchte oder Gemüse, die mit künsdichem Dünger und/oder mit Insektenbekämpfungsmitteln erzeugt wurden, auch keine Nahrung, »die von weither kommt«; man solle außerdem Gemüse nur in der Jahreszeit essen, in der sie wachsen. Kaffee sowie Tee, der krebserzeugende Färbemittel enthält, sind verboten. Oshawa: »Fast alle tierischen Nahrungsmittel (eingeschlossen Butter, Käse, Milch), wie unter anderem Hühner-, Schweine- und Rindfleisch, sind chemisch behandelt. Wildgeflügel, frische Fische und alle Muscheltiere sind frei von Chemikalien.« Während ich diese Sätze zitiere, protestiert mein chemischer Sachverstand. Solange es noch um die Einteilung der Lebensmittel in »Yin« und »Yang« ging, konnte ich mir immerhin sagen, es handle sich dabei um eine uralte Anschauung, die durchaus ihr Gutes haben könne, jedenfalls zunächst nicht schade, denn Gleichgewicht zwischen Yin und Yang anzustreben, läuft immerhin auf eine Empfehlung zu ausgewogener Kost hinaus (was bei Diätkuren sonst eher selten ist). Bedauerlicherweise bleiben aber die Makrobioten nicht bei ihrem fernösdichen Gedankengebäude, sondern mischen sich frisch und munter unter die Chemiker. Das sollten sie besser nicht tun. Es ist ganz einfach nicht wahr, daß Wildgeflügel, frische Fische und alle Muscheltier frei von Chemikalien sind, während die anderen tierischen Nahrungsmittel chemisch behandelt sind. Wildgeflügel, frische Fische und Muscheltiere sind oft stärker mit Umweltschadstoffen, etwa Cadmium oder Quecksilber, aber auch mit Mikroben kontaminiert als beispielsweise Rindfleisch. Und beim Zusatz von Chemikalien, also Zusatzstoffen, kommt es auf die Art der Verarbeitung an und weniger auf das Rohprodukt. Zu dem Ratschlag, keine Nahrung zu essen, »die von weither kommt«, kann ich nicht viel sagen, außer, daß er mir nicht einleuchtend scheint - es sei denn, daß darin eine gewisse Vorsicht vor einem eventuellen Verderb steckt oder die Bevorzugung von Bodenständigem die Heimatverbundenheit betonen soll. Mit der Frage der »Denaturierung« von Nahrungsmitteln haben wir uns an anderer Stelle auseinandergesetzt (siehe Seite 74 ff.). Zu erwähnen ist femer, daß Makrobioten behaupten, im menschlichen Körper fänden Transmutationen chemischer Elemente statt; aus Natrium und 107 Sauerstoff könne durch eine Art biologischer Kernverschmelzung Kalium entstehen — eine Auffassung, die jedem Naturwissenschaftler die Haare zu Berge stehen läßt. Makrobiotische Empfehlungen können gefährlich sein Daß sich die Makrobioten mitunter als Chemiker betätigen, ist nicht einmal das größte Malheur; sie handeln sich damit von Seiten der Naturwissenschaft immerhin den Vorwurf ein, völlig indiskutable Thesen zu vertreten. Wirklich problematisch wird Makrobiotik aber dort, wo es um ihren Anspruch geht, Krankheiten zu heilen. Sehen wir uns an, was Oshawa zum Krebs zu sagen hat: »Das ist eine sehr interessante Krankheit. Sie ist mit Herzkrankheiten und Geisteskrankheiten eine der drei zerstörenden Krankheiten unserer Zeit und ein Beispiel der Wirkungslosigkeit der modernen symptomatischen Medizin. Mangel an Verständnis des Aufbaus des unendlichen Alls und seiner Ordnung macht es der modernen Medizin unmöglich, eine unbedeutende Krankheit wie Warzen zu heilen oder selbst ihr Vorkommen zu verhüten . . . Krebs wie auch Herzkrankheiten und Geisteskrankheiten sind das einfache Ergebnis der mit dem Tode endigenden symptomatischen Medizin, die den Lebensvorgang selbst nicht versteht. Krebs ist die Krankheit, die am meisten Yin i s t . . . Nichts ist leichter zu heilen als Krebs und diese anderen Krankheiten. Man muß nur zu der elementarsten Eß- und Trinkweise Nummer 7 zurückkehren.« Mit anderen Worten: Wer nur Zerealien nach der Methode Oshawas ißt, wird von Krebs geheilt. Weitere makrobiotische Ratschläge finden sich für: Fieber, Entzündungen, Durchfall, Ruhr, Erkältungen, Ekzeme, Paralyse, Anämie, Schlaganfall, Blinddarmentzündung, Arthritis, Verbrennungen, grauen Star, Verstopfung, Krämpfe, Diabetes, Epilepsie, Haarausfall, Gonorrhoe, Herzkrankheiten, Hämophilie, Impotenz, Gelbsucht, Lepra, Leukämie, Meningitis, Migräne, Neurasthenie, Parkinson, Poliomyelitis, Rheumatismus, Schizophrenie, Syphilis und andere. Der Makrobiot Kushi behandelt Unfruchtbarkeit folgendermaßen: »Unfruchtbarkeit entsteht oft durch falsche Ernährung; reichlicher Genuß von Fleisch, Eiern, Milchprodukten sowie Zucker, Erfrischungsgetränken und scharfen Gewürzen bringt die Geschlechtsorgane durcheinander. Menstruationskrämpfe kann man 108 leicht durch das Weglassen tierischer Nahrung beseitigen. Unfruchtbarkeit beruht meist auf Ablagerung von Fett und Schleim im Bereich der Eierstöcke und Eileiter. In diesen Fällen stellt pflanzliche Ernährung nach makrobiotischen Regeln die Fruchtbarkeit wieder her« (Lit. 49). Dieser Ratschlag weist übrigens - oberflächlich gesehen - Parallelen mit dem Alten Testament auf. So heißt es im Buch der Richter, Kapitel 13, 3-5: »Ein Engel des Herrn erschien der Frau und sagte zu ihr: »Obwohl du unfruchtbar bist und nie Kinder hattest, wirst du doch empfangen und einen Sohn gebären; nun achte darauf, daß du keinen Wein oder starke Getränke trinkst und nicht Unreines ißt.<« Der Anspruch der Makrobiotik, die meisten Krankheiten binnen kurzem durch Ernährung heilen zu können, ist, gelinde gesagt, gefährlich. Wer etwa Krebs, Meningitis oder Ruhr hat und nicht zum Arzt geht, weil er meint, ein Befolgen makrobiotischer Ratschläge werde Heilung bringen, läuft Gefahr, daß sich sein Zustand so verschlechtert, daß jede ärztliche Hilfe zu spät kommt. Nicht selten verweigern Makrobioten jede Behandlung mit »westlichen« Medikamenten, »weil es die Lehre verbietet«. Darüber hinaus ist zu sagen, daß die makrobiotische Ernährung der höheren Stufen ( + 4 bis + 7 ) so einseitig ist, daß sie auf die Dauer zum Tode führt. Tatsächlich kennen wir aus den Vereinigten Staaten belegbare Fälle von Makrobioten, die infolge einseitiger Ernährung gestorben sind: »Erfahrungen . . . haben gezeigt, daß alle höheren Stufen der makrobiotischen Kostempfehlungen - bereits ab Stufe 3 - zu mehr oder weniger schwer ausgeprägten Mangelkrankheiten führen können, wie Anämie, Skorbut, Protein- und Kalziummangel. Von einer strengen Befolgung der makrobiotischen Kostempfehlungen ist daher dringend abzuraten« (Lit. 51). Regelrecht (lebens)gefährlich kann es auch sein, wenn Oshawa empfiehlt: »Sie können verdorbenes und schimmliges Getreide essen, es besteht keine Gefahr. Wenn es verdorben ist, wird Ihnen Ihr Magen sehr dankbar sein. Verdauung ist Zersetzung. Wenn der Reis schimmlig ist, wird er sehr leicht absorbiert« (Lit. 52). Wir wissen heute, daß manche Schimmelpilze Aflatoxin bilden können, das als Lebergift zu den stärksten krebserregenden Substanzen überhaupt gehört. Es ist unverantwortlich, an dieser Tatsache vorbeizugehen. Ergänzend sei angemerkt, daß auch ein weiteres Prinzip der Ernährungsweise nach Oshawa der Gesundheit in keiner Weise förderlich 109 ist: Die Oshawa-Kost besteht unter anderem aus 30 bis 50 Gramm (!) Meersalz pro Tag (Lit. 53). Der Bedarf des Menschen an Salz beträgt dagegen 3 bis 5 Gramm pro Tag. Daß zahlreiche Menschen in den Industrieländern mehr als 10 Gramm täglich zu sich nehmen, wird von vielen Medizinern schon als problematisch eingestuft, denn nicht wenige Menschen reagieren darauf mit einer Erhöhung des Blutdrucks und schaden damit langfristig der Funktionsfähigkeit ihres Kreislaufs. 30 bis 50 Gramm pro Tag sind jedenfalls eine Menge jenseits jeder vernünftigen Toleranzgrenze. Abgesehen davon fällt mir es schwer zu glauben, daß es gelingt, über einen längeren Zeitraum hinweg eine dermaßen versalzene Kost zu genießen. Ich meine, Oshawa, Kushi und andere, die Makrobiotik im Westen populär machten, haben ihrer Sache einen denkbar schlechten Dienst erwiesen. Buddhismus in allen seinen Ausdrucksformen, vom tibetanischen bis zum Zen-Buddhismus, die Lehre des Tao und andere ösdiche Philosophien haben nicht nur eine jahrtausendealte Tradition und zahlreiche Hochkulturen hervorgebracht, sondern auch ein Menschenbild geschaffen, von dem sich der Abendländer so manches abschauen kann. Ex Oriente lux gilt in gewisser Hinsicht heute wie damals. Die Vermischung von ins Profane übertragenen buddhistischen Grundsätzen mit nachweislich falschen chemischen und medizinischen Aussagen westlicher Prägung trägt weder zum Verständnis östlicher Weltanschauungen bei, noch hilft sie, meiner Ansicht nach, uns im Westen bei der Lösung unserer Probleme, im konkreten Fall der Erzielung einer ausgewogenen Ernährung. Rudolf Steiner und die Ernährung Auch die Anthroposophie hat so manche Wurzel in der Denkweise des Ostens. Damit hören aber die Gemeinsamkeiten mit der Makrobiotik schon auf. Der Begründer der Anthroposophie, der Österreicher Rudolf Steiner, hatte sich jahrelang mit ösdich inspirierten esoterischen Richtungen, vorwiegend der Theosophie, auseinandergesetzt, versuchte jedoch in der Folge, seine »Geisteswissenschaft« in Fortführung christlichen Gedankengutes und unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der mechanistisch-kausalen Wissenschaft aufzubauen. Die vielfältigen Ergebnisse seiner Lehre- biologisch-dynamische AnbauHO weise, Waldorf-Pädagogik, anthroposophische Heilkunde und so weiter - gelten heute als alternative Modelle und werden als solche mitunter lebhaft diskutiert. Die Impulse und Anregungen Steiners sind so zahlreich, daß sie an dieser Stelle nicht einmal skizziert werden können. Wiederum müssen wir uns auf die Aussagen beschränken, die für unser Thema, die Ernährung, von unmittelbarer Bedeutung sind. Sehen wir deshalb nach, was Steiner in einem Vortrag im Jahre 1906 zum Thema »Ernährungsfragen im Lichte der Geisteswissenschaft« ausführte: »»Wenn Außenstehende manchmal dieses oder jenes mehr oder weniger oberflächlich hören über Anthroposophie oder Geisteswissenschaft, so glauben sie, daß sich die Anhänger viel zu viel mit Essen, mit Ernährung beschäftigen. Ein Außenstehender kann es nicht begreifen, warum die Anthroposophen gar so viel darauf halten, ob einer dies oder jenes ißt. Es soll nicht geleugnet werden, daß in manchen anthroposophischen Kreisen bei denen, die auf leichte Weise so recht tief in das geistige Leben hinein wollen, recht viel Unklarheit herrscht, glaubt doch mancher, daß er nur das oder das meiden solle, nicht essen oder trinken solle, um allein dadurch zu gewissen höheren Stufen der Erkenntnis hinaufzukommen! Das ist ebenso ein Irrtum, wie jene . . . Auffassung des Ausspruches von Feuerbach: »Der Mensch ist, was er ißt<, zumindest ist es eine einseitige Auffassung. Aber in gewisser Weise kann gerade die Geisteswissenschaft diesen Satz für sich in Anspruch nehmen, nur in einer etwas anderen Art, als es von den Materialisten gemeint ist, und zwar in einer zweifach anderen Art. Zunächst haben wir ja schon öfters betont, daß für die Geisteswissenschaft alles um uns herum der Ausdruck eines Geistigen ist. Ein Mineral, eine Pflanze oder irgend etwas in unserer Umgebung ist nur seiner Außenseite nach stofflich . . . hinter allem Materiellen ist Geistiges. Auch hinter der Nahrung. Mit ihr nehmen wir nicht nur das auf, was materiell vor unseren Augen sich ausbreitet, sondern wir essen mit das, was Geistiges dahinter ist« (Lit. 54). Mit anderen Worten: Es gibt Naturgesetze, sie gelten für die anorganische Welt; während die Naturwissenschaft im Sinnlichen mit ihrer mechanistisch-kausalen Denkweise, so Steiner, stehenbleibt, will seine geisteswissenschaftliche Methode »die seelische Arbeit an der Natur als eine Art Selbsterziehung der Seele betrachten« und das Anerzogene auf das nichtsinnliche Gebiet anwenden. Es ist das erklärte Anliegen der Geisteswissenschaft Steiners, dem, was mit den heute anerkannten 111 und berechtigten Methoden über den Menschen erfahrbar ist, weiteres, einer übersinnlichen Erkenntnis entstammendes Wissen hinzuzufügen und dadurch erst ein vollständiges Bild des Menschen und der Welt zu gewinnen. Zu den Gesetzen der Physik und Chemie gesellt sich die Welt der »Bildekräfte«; der lebende Mensch hat, so die Anthroposophie, einen Äther- oder Bildekräfteleib. Die Nahrungsstoffe, die in den Körper gelangen, müssen zuerst ihren mitgebrachten Charakter verlieren, wenn sie in diesen Ätherleib aufgenommen werden sollen. Rudolf Steiner: »Wir essen nämlich nicht, damit wir diese oder jene Speise in uns bekommen, sondern wir essen aus dem Grunde, damit wir die Kräfte innerlich entwickeln, die diese Speise überwinden. Wir essen, um Widerstand zu leisten gegen die Kräfte dieser Erde, und wir leben auf der Erde dadurch, daß wir Widerstand leisten« (Lit. 55). Die Ernährung dient der Anregung und Entfaltung der gesundenden Kräfte des Ätherleibes. Sie wirkt in diesem Sinne dem Überhandnehmen der Todeskräfte entgegen und hat zugleich die große Aufgabe der Vorbeugung gegen die Krankheit (die Ursachen des Krankseins sieht Steiner »in der Geist- und Seelenfähigkeit«). Haben solche krank machenden Prozesse jedoch in irgendeiner Art die Oberhand gewonnen, muß die Ernährung durch eine Diät abgelöst werden. »Der Mensch besteht aus den Ernährungsprozessen, aus den sprießenden Gesundungsprozessen, aus den fortwährend hineinwirkenden Krankheitsprozessen und aus dem, was ein kontinuierliches Ertöten ist, was immer wieder aufgehalten wird, bis sozusagen die Ertötungsprozesse summiert werden, ein Integral gewissermaßen von ihnen gebildet wird, und der Tod eintritt« (Lit. 56). Über die Welt der Bildekräfte hinaus sehen die Anthroposophen die Realität des Seelischen und Geistigen, die im Astralleib des Menschen wirkt. Durch ihn kann sich der Mensch in Empfindungen, in Gefühlen erleben. Zu dem physischen, dem Äther- und Astralleib gesellt sich die Tätigkeit der menschlichen Ich-Organisation. Sie besteht in unserem Zusammenhang darin, die Nahrungsmittel so umzuformen, daß sie »menschengemäß« werden. Die Ich-Organisation muß in der Lage sein, in jedem Augenblick die menschliche Substanz nach ihrem Muster zu prägen. Also alles, besonders die Nahrung, bis ins letzte von den Spuren der außermenschlichen Natur zu befreien. Auf der Basis dieser Anschauungen haben Steiner und seine Schüler 112 eine anthroposophische Ernährungslehre und Lebensmittelkunde aufgebaut, die zwar die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft berücksichtigen will, in ihren Aussagen aber weit über das hinausgeht, was meß- und wägbar ist. Es entsteht eine Gedankenwelt, die dem Mechanisten völlig fremd ist, weil er sie nicht nachvollziehen kann, will er nicht schon bei der Prämisse die Prinzipien der analytisch-kausalen Denkweise aufgeben. Die Folge: Ein Dialog zwischen Schulmedizin und anthroposophischer Lehre über die grundlegenden Fragen von Krankheit und Gesundheit findet nicht statt, auch wenn die Tatsache darüber hinwegtäuschen mag, daß die sichtbaren Erfolge anthroposophischer Organisationsmodelle, etwa im Krankenhauswesen, Anlaß für interessierten Gedankenaustausch geben. Erkenntnis aus übersinnlicher Erfahrung Die Bedeutung der Nahrungsmittel wird also nicht nur aus ihrem Gehalt an chemischen Stoffen abgeleitet, sondern gründet sich auf Aussagen, die von Steiner aus »geisteswissenschaftlicher Erkenntnis« gemacht wurden. Insoweit ist die anthroposophische Ernährungslehre unter den von der Schulwissenschaft nicht anerkannten Auffassungen über Ernährung zweifellos ein Sonderfall: Während etwa bei der Makrobiotik und anderen buddhistischen Auffassungen über die Bedeutung von Nahrungsmitteln immer wieder überliefertes Gedankengut, wie beispielsweise die Doktrin der Signaturen (siehe Seite 22) erkennbar ist, finden wir bei Steiner Aussagen, die sich kaum aus tradierten Vorstellungen ableiten lassen. Das gilt unter anderem für die Bedeutung, die Steiner dem Zucker zumißt. »Traubenzucker ist eine Substanz, die Tätigkeiten erregt, welche von gleicher Art sind wie die Tätigkeiten des menschlichen Organismus selbst« (Lit. 57). Der Zucker, der als solcher im menschlichen Blut kreist und dort mit größter Beharrlichkeit in nur ganz geringen Grenzen schwanken darf, ist damit zu einer Substanz geworden, »die im Bereich der Ich-Organisation wirken kann«. Demzufolge könne man im Materiellen die Ich-Organisation an der Anwesenheit des Zuckers verfolgen, zugleich ist der Zukker dem Geschmack des Süßen entsprechend, der in der Ich-Organisation sein Dasein hat. »Damit ist auf ein weiteres Geheimnis des Zukkers und seiner Bedeutung für den Menschen hingewiesen: sein süßer 113 Geschmack ist gleichsam eine Anziehungskraft für das Ich, und auch dann, wenn dieses Süßigkeitserlebnis für den Menschen nicht mehr bewußt ist, wie im Dünndarm, wo aus Stärke usw. Traubenzucker entsteht, entwickelt die Ich-Organisation daran ihre Tätigkeit... doch soll ebenfalls hier schon hervorgehoben werden, daß der Geschmack des Süßen ohne Verbindung mit der Struktur des Zuckers nicht dieses Wirkensfeld für die Ich-Organisation darstellt, das heißt also, daß sogenannte künsdiche Süßstoffe keinen Zuckerersatz darstellen können. Der Mensch wird da durch den Süßgeschmack betrogen« (Lit. 58). Im Gegensatz zu allen anderen in diesem Buch erwähnten Personen, die sich zu Fragen der Ernährung äußern, hat Steiner keine detaillierten Vorschriften über die Zusammensetzung des Speiseplans hinterlassen, etwa in Form von Diätvorschriften und »erlaubten« beziehungsweise »verbotenen« Nahrungsmitteln. So etwas wie eine Steiner-Diät gibt es also nicht. Es existieren jedoch genaue Vorschriften über Pflanzen- und Tierzucht, die sogenannte biologisch-dynamische Landwirtschaft. Damit haben wir uns bereits aus einem anderen Blickwinkel heraus auseinandergesetzt. In der anthroposophischen Ernährungslehre treten jedenfalls die Unterschiede zwischen mechanistischer Naturauffassung und spiritueller Welterkenntnis deutlich zutage. Hier sind es nicht in erster Linie einander widersprechende Auffassungen über Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Kohlenhydrate (ob Naturkost gesund sei oder ob Lebensmittelzusatzstoffe gefährlich sein könnten und so weiter), vielmehr prallen Gegensätze aufeinander, die weit über den Bereich von Nahrung und Ernährung hinausreichen. Es ist eben nicht bloß eine Ernährungslehre, um die es den Andiroposophen geht, sondern eine Sicht vom Menschen, die den Materialismus überwinden will, eben eine Weltanschauung, deren Verständnis, so Steiner, einer eigenen Bewußtseinsschulung bedarf. Viele seiner Schriften tragen folgende Prämisse: »Es wird niemand... ein kompetentes Urteil zugestanden, der nicht von dieser Schule geltend gemachte Vorerkenntnis durch sie . . . erworben hat. Andere Beurteilungen werden insofern abgelehnt, als die Verfasser der entsprechenden Schriften sich mit dem Beurteiler in keine Diskussion über dieselben einlassen.« Vom Standpunkt der modernen Ernährungswissenschaft läßt sich daher nur sagen, daß für sie die Erkenntnisse der Anthroposophen von einzelnen Aussagen abgesehen - nicht nachvollziehbar sind. 114 Also sprach Zarathustra... Abschließend soll noch kurz eine philosophisch-religiöse Richtung erwähnt werden, die auch eine eigene Gesundheitslehre zum Inhalt hat: Die Mazdaznan-Bewegung. Sie wurde um die Jahrhundertwende von Otto Hanisch gegründet. Er studierte Medizin, kam aber dann in Fühlung mit den letzten Anhängern der Lehre Zarathustras, den Parsen. Diese Menschen gehören einer Sekte an, deren altpersische Vorfahren sich der Bekehrung zum Islam widersetzt hatten. Die Religion Hanischs ist gewissermaßen eine Weiterführung der Lehre Zarathustras. Grundlegend ist dabei der Dualismus zwischen Licht und Finsternis, zwischen Wahrheit und Lüge. Für Hanisch ist die Ernährung gewissermaßen ein Schöpfungsprozeß, Hilfe bei dem Streben nach höherer Menschwerdung. Er lehrte, die Ernährung solle mit dem Alter in Übereinstimmung sein: Junge Menschen sollen eine an Aufbaustoffen reiche Kost essen, darunter Mehlprodukte, Zucker in Form von Honigsirup oder Früchten. In höherem Alter besteht die Nahrung vor allem aus Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten und Weizenkleie, nach Hanisch eher einer Nahrung, die abführend wirkt. Ferner soll die Nahrung den Jahreszeiten angepaßt sein. Das Prinzip des Dualismus findet sich in der Anschauung wieder, es gebe »elektrisch« und »magnetisch« veranlagte Menschen. Erstere sähen ihren Lebenszweck vorwiegend im Materiellen. Diese sollten alles essen, was reich an Säuren und Zucker ist. Magnetisch veranlagte Menschen seien dagegen eher weltfremd, nach innen gerichtet. Ihnen empfiehlt Hanisch salzhaltige Produkte und Gemüse. Auch dem Temperament des Menschen will der Sektenführer Speise und Trank angepaßt wissen. Die Mazdaznan-Bewegung hat in der Bundesrepublik Deutschland keine besondere Bedeutung erlangt; inhaldich ist die vom Gedankengut Zarathustras beeinflußte Lehre aber schon deswegen interessant, weil sie Gesichtspunkte berücksichtigt, die in anderen Diätempfehlungen von »»Außenseitern« nicht oder nur untergeordnet zur Geltung kommen. 115 Ernährung mit Vernunft Das vorliegende Kapitel berichtet über Grundlagen der Ernährungsphysiologie und angrenzende Fachbereiche. Auf zahlreiche Details kann dabei aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Trotzdem schien es mir wichtig, eine kurzgefaßte Ernährungslehre mit aufzunehmen, weil dadurch das Verständnis von Aussagen zu den mannigfachen Diätformen, denen sich dieses Buch widmet, erleichtert werden dürfte. Wer diese Grundkenntnisse bereits besitzt, möge auf Seite 163 weiterlesen. Die folgenden Ausführungen sind, soweit es möglich war, komprimiert. Den einen oder anderen Leser mögen sie an Lektüre aus der Schulzeit erinnern. Tatsächlich handelt es sich dabei um Inhalte, die eigendich Pflichtgegenstand jeder Schulausbildung sein müßten. Ernährungslehre und Lebensmittelkunde werden aber in den Lehrplänen der allgemeinbildenden Schulen — ich behaupte, sträflich — vernachlässigt. Dieses Informationsmanko trägt sicherlich in hohem Maße dazu bei, daß sich unrichtige Meinungen von Außenseitern in so breitem Umfang etablieren können, wie dies gegenwärtig der Fall ist. Die Bedeutung der Nahrung Der Mensch muß Nahrung zu sich nehmen, weil er die darin enthaltenen Nährstoffe braucht, um am Leben zu bleiben. Es ist keineswegs gleichgültig, welche Nahrungsmittel beziehungsweise welche Mengen davon man ißt oder trinkt. Entscheidend sind erstens die Energiemenge, die mit der Nahrung aufgenommen wird, und zweitens der Gehalt an essentiellen, das heißt lebensnotwendigen Nährstoffen. 117 Richtige Ernährung bedeutet, daß die Nahrung in qualitativer und quantitativer Hinsicht ausgewogen zusammengesetzt ist. Ist nämlich unsere tägliche Kost über längere Zeiträume hinweg einseitig zusammengesetzt, zu reichlich oder zu karg bemessen, kann es in der Folge zu teilweise schweren Erkrankungen kommen. Man spricht dabei von sogenannten ernährungsabhängigen Krankheiten und meint damit Störungen, an deren Entstehung eine falsche Ernährung mitbeteiligt ist, wie etwa Skorbut (Vitamin C - Mangel), Anämie (zum Beispiel durch Eisenmangel), Kropf (Jodmangel), Kwashiorkor (Eiweißmangel), verschiedene Erkrankungen des Verdauungstraktes, Verstopfung, Nierensteine, Gicht, Fettsucht, Karies, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und andere. Häufig wird bei der Diskussion um die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit auf das »Zuvielessen« hingewiesen. Das kommt daher, daß in unserer Überflußgesellschaft zahlreiche Störungen durch einen Überkonsum an Nahrung mithedingt sind. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, daß nicht nur ein Zuviel unangenehme Folgen haben kann: In den Entwicklungsländern leiden fast eine Milliarde Menschen unter Hunger und seinen Folgewirkungen — unzureichende Nahrungsaufnahme bewirkt Gewichtsabnahme, und die Anfälligkeit für Krankheiten steigt an. Von einem Mangel beziehungsweise Überfluß an Nahrungsenergie abgesehen, kennen wir eine Vielzahl von Mangelkrankheiten, bei denen einzelne Nährstoffe nicht in ausreichendem Maße beziehungsweise im Übermaß zugeführt werden. Daraus ergibt sich, daß nicht nur die Gesamtmenge der Speisen, die wir essen, für unsere Gesundheit von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch die Auswahl der Nahrungsmittel. Die Kost kann in energetischer Hinsicht durchaus »richtig« sein, aber aufgrund einer unausgewogenen Zusammensetzung etwa (was häufig der Fall ist) zuviel Fett oder zuwenig Vitamine oder Ballaststoffe enthalten. Ausgewogene Kost Die Nahrung, die wir zu uns nehmen, ist dann ausgewogen zusammengesetzt, wenn der Körper alle Nährstoffe, die er zur Aufrechterhaltung der Stoffwechselvorgänge benötigt, in der jeweils richtigen 118 Menge erhält. Die Mengen dieser Stoffe können sehr verschieden sein - von einigen Mikrogramm (bei Spurenelementen) bis hin zu Kilogramm (bei Kohlenhydraten). Die »richtige« Menge hängt vom Bedarf des Körpers an Kohlenhydraten, Eiweißstoffen und Fetten sowie Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen und Wasser ab. Dieser wird von zahlreichen Faktoren, darunter Alter, Geschlecht, Krankheit und anderes, beeinflußt. Die einzelnen Lebensmittel enthalten die genannten Stoffe jedoch in zum Teil sehr unterschiedlichen Mengenverhältnissen. Unsere tägliche Kost sollte also im Idealfall so zusammengesetzt sein, daß die jeweiligen Summen der einzelnen Stoffe, die in den verschiedenen Lebensmitteln enthalten sind, dem jeweiligen Bedarf des Menschen entsprechen. Diese Idealforderung ist in der Praxis nur schwer zu erfüllen, vor allem aber mit vernünftigem Aufwand für den einzelnen nicht nachprüfbar. Im allgemeinen kann man aber sagen, daß eine möglichst vielseitig zusammengesetzte Kost am ehesten Gewähr bietet, daß alles, was der Körper braucht, auch angeboten wird. Es ist nicht unbedingt notwendig, daß jeden Tag eine vollständige Bedarfsdeckung erreicht wird; erforderlich ist, daß im Durchschnitt über längere Zeiträume hinweg Nährstoffe und essentielle Nahrungsfaktoren in ausreichenden Mengen zugeführt werden. Selbst wer sich die Mühe machte, anhand von Nährwerttabellen und Waage nachzuprüfen, ob sein Speiseplan ausgewogen sei, würde dabei in mehrfacher Hinsicht ungenau bleiben: es sind nämlich auch die »Ausnutzbarkeit« der einzelnen Nahrungsmittel durch das Verdauungssystem, Minderung oder Erhöhung des Gehalts an Nährstoffen durch die Zubereitung sowie Sättigungs- und Geschmackswert miteinzubeziehen. Nicht zuletzt bedeutet Nahrungsaufnahme mehr als die Befriedigung physiologischer Bedürfnisse- das Essen soll schmecken, es soll Freude machen. Eine Diät, die nicht gut schmeckt, pflegte der Wiener Physiologe Wilhelm Auerswald zu sagen, ist keine gute Diät. 119 Qualität der Nahrung Der Begriff Qualität ist gerade im Bereich der Lebensmittelkunde von sehr komplexer Natur und wird vielfach in unterschiedlichem Sinn gebraucht. Wir unterscheiden zunächst zwischen hygienischer, sensorischer und ernährungsphysiologischer Qualität. Die hygienische Qualität bezieht sich auf Art und Zahl von Mikroorganismen in und auf Lebensmitteln. Diese können gesundheidich unbedenklich oder gesundheitsschädlich sein. Sensorische Qualität meint Aussehen, Geruch und Geschmack, also das äußere Erscheinungsbild insgesamt. Die ernährungsphysiologische Qualität betrifft die Inhaltsstoffe der Lebensmittel im Hinblick auf ihren Nutzen für den menschlichen Stoffwechsel. Daneben kennt man noch den sogenannten Eignungs- oder Verbrauchswert (so zum Beispiel die Eignung mancher Erbsensorten für die Tiefkühlung). Der Begriff Qualität umfaßt im weiteren den Sozialwert, das heißt die gesellschaftlich bedingte Wertschätzung eines Produktes, sowie Eigenschaften, die zur sozialen Befriedigung, zum Genuß oder zur Zufriedenheit beitragen, wie zum Beispiel Aussehen, Farbe, Textur. Daraus wird ersichdich, daß je nach dem Beurteilungsmaßstab, der angelegt wird, unterschiedliche Aussagen über die Qualität von Lebensmitteln erhalten werden und ein Gesamturteil, das mehrere Qualitätsmaßstäbe berücksichtigt, je nach Gewichtung der einzelnen Kriterien sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die Energiebilanz des Stoffwechsels Wie alle Lebewesen benötigt auch der Mensch zur Aufrechterhaltung seines Stoffwechsels sowie zur Arbeitsleistung Energie. Diese Energie muß in Form von Nahrung zugeführt werden. Der Zusammenhang von Nahrung und Energie besteht darin, daß die Nahrung »Treibstoffe« enthält, und zwar in Form von energiereichen chemischen Verbindungen. Letzdich stammen alle diese Substanzen aus den Pflanzen, welche mit Hilfe des Sonnenlichts aus den Grundelementen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, 120 Schwefel und anderen eine Fülle von organischen Molekülen aufbauen; diese dienen einerseits dem Stoffwechsel der Pflanzen, werden aber andererseits auch als Reservestoffe, zum Beispiel in Form von Stärke, abgelagert. Diesen Vorgang, bei welchem die Pflanze die Energie des Sonnenlichts in chemisch gebundene Energie überführt, bezeichnet man als Photosynthese. Sie ist die unabdingbare Voraussetzung zur Aufrechterhaltung aller Lebensvorgänge auf unserem Planeten. Diese Energie der Sonne kommt auch durch die tierischen Lebensmittel, die wir zu uns nehmen, in den menschlichen Stoffwechsel. Denn auch Fleisch ist eigentlich nur eine durch den tierischen Stoffwechsel umgebaute Form der von den Pflanzen gespeicherten Sonnenenergie. Energie ist Fähigkeit zur Arbeitsleistung Gemäß dem Gesetz von der Erhaltung der Energie kann bei der Umwandlung von einer Energieform in eine andere weder Energie verschwinden noch neu entstehen. Wir unterscheiden mechanische Energie (zum Beispiel potentielle und kinetische Energie), Wärmeenergie (chemische Energie), elektrische Energie und andere Energieformen. Als Meßgröße für die Energiebilanz des menschlichen Stoffwechsels ist vor allem die chemische Energie maßgebend. Sie wird in Kilojoule (kJ) beziehungsweise Kilokalorien (kcal) angegeben. 1 kcal ist jene Energiemenge, die benötigt wird, um einen Liter Wasser von 14,5 Grad Celsius auf 15,5 Grad Celsius zu erwärmen. 1 kcal = 4,187 kJ (häufig wird der Umrechnungsfaktor auf 4,2 gerundet). Ob es die im Benzin schlummernde Energie als Treibstoff für ein Kraftfahrzeug ist oder Energie in Form von Fett oder Kohlenhydrat als »Antriebsstoff für Muskeltätigkeit«- immer sind es verschiedene Formen von Energie, die die Leistung von Arbeit ermöglichen. 121 Grundumsatz und Arbeitsumsatz Der Energiebedarf des Menschen setzt sich zusammen aus Grundumsatz und Arbeitsumsatz. Der Grundumsatz ist definitionsgemäß die Energiemenge, die ein Mensch bei völliger Ruhe und im Liegen- zwölf Stunden nach der letzten Nahrungsaufnahme- in einem Raum mit einer Temperatur von 20 Grad Celsius durchschnittlich benötigt. Natürlich ändert sich der Grundumsatz nach Geschlecht, Größe, Körperoberfläche, Körpergewicht, Alter und Klima. Er dient zur Aufrechterhaltung der normalen Körpertemperatur, der Atmung, der Herztätigkeit, der Muskelspannung und aller in den Körperzellen ablaufenden chemischen Vorgänge. Der Grundumsatz beträgt beim Erwachsenen je Kilogramm Körpergewicht und pro Stunde etwa 4,2 kJ (1 kcal); ein Erwachsener mit 60 Kilogramm Körpergewicht hat demnach in 24 Stunden einen Grundumsatz von etwa 6050 kJ (1440 kcal). Der Anteil der einzelnen Organe am Grundumsatz steht in keinem Verhältnis zu ihrem relativen Gewicht. Zum Beispiel hat das Gehirn mit einem Gewicht von 2 Prozent des Gesamtkörpergewichts am Grundumsatz einen Anteil von 20 bis 25 Prozent; hingegen ist der Muskel mit 40 bis 50 Prozent Anteil an der Körpermasse im Ruhezustand am Grundumsatz nur relativ geringfügig beteiligt: der Herzmuskel mit 6 Prozent, die Skelettmuskulatur mit 18 Prozent. Jegliche Beanspruchung durch Arbeitsleistung, die im Grundumsatz nicht endialten ist, bedeutet einen mehr oder weniger ausgeprägten »Leistungszuwachs«. So kann beispielsweise die Skelettmuskulatur bei entsprechender Leistung ihren Energiebedarf um mehr als das Zwanzigfache steigern. Einen ausgeprägten Leistungszuwachs bewirken die verschiedenen sportlichen Betätigungen (siehe Seite 177). Der Energiegehalt der Nährstoffe Die Deckung des Grund- und Arbeitsumsatzes erfolgt durch die Nährstoffe Fett, Kohlenhydrat und Eiweiß. Die Energiegewinnung läßt sich in allen Fällen mit einem Verbrennungsprozeß vergleichen, da 122 die Nährstoffe in der Regel zu Kohlendioxid, Wasser und einigen weiteren chemischen Grundstoffen, wie zum Beispiel Harnstoff, abgebaut werden. Der Energiegehalt der Nährstoffe wird darum auch »Brennwert« genannt. Dieser bezeichnet die Energiedifferenz zwischen dem Energiegehalt der jeweiligen Ausgangs- und Endprodukte. Die Bestimmung des physikalischen Brennwertes erfolgt im Kalorimeter (man geht dabei so vor, daß man in einem dickwandigen Stahlgefäß bei hohem Sauerstoffdruck die entsprechenden Stoffe vollständig verbrennt und die freiwerdende Wärmemenge mißt). Diese physikalisch gemessenen Energiemengen werden allerdings nur dann im Organismus auch tatsächlich frei, wenn die Nährstoffe zu den Endprodukten Kohlendioxid und Wasser abgebaut werden. Dies ist jedoch nur zum Teil der Fall. Man definiert deshalb den physiologischen Brennwert, der die beim Abbau im Organismus tatsächlich anfallende Energie erfaßt. Bei den Fetten und Kohlenhydraten sind die Verhältnisse einfach, da hier der physikalische und der physiologische Brennwert nahezu gleich sind. Nicht alle Kohlenhydrate sind jedoch zu den Nährstoffen zu rechnen. Zellulose beispielsweise ist für den Menschen nahezu unverdaulich und hat demgemäß keinen physiologischen Brennwert. Komplizierter ist die Sache beim Eiweiß, das im tierischen und menschlichen Organismus höchstens bis zum Harnstoff, in manchen Fällen sogar nur bis zur Stufe von Aminosäuren abgebaut wird. Ein Teil der chemischen Energie bleibt dabei unausgenutzt. Dem physikalischen Brennwert von Eiweiß von 18 kJ (4,3 kcal) /Gramm entspricht somit ein physiologischer Brennwert von 17,2 kJ (4,1 kcal)/Gramm bei tierischem Eiweiß, von 16,6 kJ (3,96 kcal)/Gramm bei pflanzlichem Eiweiß. Für Ernährungsberechnungen hat der Physiologe Max Rubner schon 1902 Mittelwerte angegeben, die heute noch gültig sind: Fett 38,9 kJ (9,3 kcal)/Gramm Kohlenhydrat 17,2 kJ (4,1 kcal)/Gramm Eiweiß 17,2 kJ (4,1 kcal)/Gramm Äthylalkohol 29,7 kJ (7,1 kcal)/Gramm Jede Nahrungaufnahme erhöht den Energieumsatz, weil erstens der Zwischenstoffwechsel verändert und zweitens die Verdauungsarbeit gesteigert wird. Dieser zusätzliche Energieverbrauch wird »spezifischdynamische Wirkung« genannt (eine unglückliche Bezeichnung, denn die Wirkung ist weder spezifisch noch dynamisch). Diese spezifisch123 dynamische Wirkung ist keineswegs für alle Nährstoffe gleich. Sie ist beim Eiweiß besonders stark ausgeprägt. Bei seiner Verbrennung werden 16 bis 30 Prozent der Nahrungsenergie für die Verwertung selbst benötigt. Ein dementsprechend geringerer Prozentsatz steht demnach dem Körper zur Verfügung. Für Kohlenhydrate liegt die Steigerungsrate bei 6 Prozent, für Fette bei etwa 3 Prozent. Nun wird besser verständlich, was anfangs mit dem Ausdruck Energiebilanz gemeint war. Sie ist eine Gegenüberstellung der Einnahmen und Ausgaben des Körpers an Energie- ähnlich wie das im Wirtschaftsleben bei Bilanzen der Fall ist. Je mehr Energie der Mensch für Arbeit oder Sport ausgibt, um so mehr muß er seinem Körper der Nahrung wieder zuführen. Es ist auch möglich, daß mehr Energie verbraucht als zugeführt wird. Dann müssen jedoch die Reserven, die der Stoffwechsel in Form von Fettdepots angelegt hat, angezapft werden, und man spricht von einer negativen Energiebilanz. Ist jedoch die Energieaufnahme durch Nahrung höher als der Verbrauch, dann bezeichnet man dies als positive Energiebilanz. Betrachtet man die Entwicklung der Ernährungsgewohnheiten in den letzten hundert Jahren, so fällt auf, daß der Anteil der schwer arbeitenden Bevölkerung abgenommen hat, auf der anderen Seite jedoch die durchschnittliche Energieaufnahme mit der Nahrung zugenommen hat. Aus einem Mangel ist (sehr häufig) Überfluß geworden. Die physiologische Reguladon der Nahrungsaufnahme Der menschliche Organismus besitzt zahlreiche Mechanismen, die für eine Konstanthaltung verschiedener Parameter sorgen: Einer davon ist verantwortlich, daß die Körpertemperatur im Normalfall bei etwa 37 Grad Celsius konstant bleibt, egal, ob die Umgebung —30 Grad Celsius oder + 5 0 Grad Celsius hat. . Ein anderer Mechanismus sorgt dafür, daß das Körpergewicht innerhalb gewisser Grenzen konstant bleibt (siehe Seite 180). Wesentlichen Anteil daran haben die Gefühle »Hunger« und »Sättigung«. Das Gehirn hat dabei eine zentrale Funktion, indem es verschiedene Reize, die Hunger- und Sättigungsgefühlen entsprechen, koordiniert (siehe Seite 179). Hier erfahren wir sehr deutlich, daß physio124 logische Mechanismen allein nicht ausreichend sind zur Erklärung dieser Regel-Prozesse. Auch psychische Faktoren wirken mit: Sie können zur Folge haben, daß zum Beispiel bei Vorliegen einer positiven Energiebilanz der »Regler« des Körpergewichts verstellt wird - es kommt dann zur Ansammlung von Übergewicht (das man in diesem Falle volkstümlich auch als Kummerspeck bezeichnet). Wichtig ist es, zwischen Hunger und Appetit zu unterscheiden: Hunger ist ein Trieb nach Nahrung, ein physiologisches Empfinden, das einer Nahrungskarenz folgt und dem im allgemeinen physiologische Mechanismen zugrunde liegen. Appetit dagegen hat mit der Nahrungswahl zu tun, er ist der Wunsch, etwas Bestimmtes zu essen, ohne daß Hungergefühle ausschlaggebend sein müssen. Aus Untersuchungen an niederen Tieren ist bekannt, daß Hunger die normale Situation ist und ein Hemmechanismus aktiviert wird, wenn genug Nahrung aufgenommen wurde. Bei den höheren Tieren und beim Menschen liegt die Regulation der Nahrungsaufnahme im Hypodialamus (einem Teil des Zwischenhirns). Der Hypothalamus spielt im Zentralnervensystem hinsichdich des Ernährungsverhaltens eine entscheidende Rolle. Experimente an Tieren, in denen einzelne Regionen des Hypothalamus selektiv gereizt wurden, führten zur Annahme, daß die Nahrungsaufnahme durch ein Wechselspiel zweier Hypothalamus-Regionen gesteuert wird. Diese beiden Regionen bezeichnet man als Sättigungszentrum und als Hungerzentrum. Die Regulation der Nahrungsaufnahme über Zentren des Gehirns erfolgt in Verbindung mit einer Vielzahl von Stoffwechselwegen. Verschiedene Theorien versuchten und versuchen, das Phänomen von Hunger und Sättigung durch unterschiedliche Einflußgrößen zu erklären: Die thermostatische Theorie besagt, daß die Nahrungsaufnahme kurzfristig vom Wärmebedarf des Organismus bestimmt wird; Tiere fressen, um sich warm zu halten, und hören auf zu fressen, um eine übermäßige Erwärmung zu vermeiden. Die glukostatische Theorie besagt, daß die Kurzzeitregulation über den Kohlenhydratstoffwechsel erfolgt. Es läßt sich nämlich ein Zusammenhang zwischen der Energieversorgung und der Verfügbarkeit von Glukose nachweisen (so führt zum Beispiel Glukosemangel zu erhöhter Nahrungsaufnahme). Die aminostatische Theorie postuliert einen Regulationsmechanis125 mus, der durch den Bedarf des Organismus an essentiellen Aminosäuren bestimmt wird. Überdies scheint es langfristige Steuermechanismen für die Konstanthaltung des Körpergewichtes zu geben: Die lipostatische Theorie besagt, daß die Energieaufnahme langfristig über die Menge an Fett im Körper geregelt wird. Tierexperimente mit hypothalamusgeschädigten Ratten unterstützen diese Theorie. Danach ist der Hypothalamus dafür verantwortlich, daß das Körpergewicht einen bestimmten Schwellenwert nicht verläßt. Bei Störungen dieser Hirnregion kann diese Schwelle höher oder tiefer als normal liegen - Über- beziehungsweise Untergewicht sind die Folge. Zu den angeführten Theorien ist zu bemerken, daß sehr wahrscheinlich nicht eine davon richtig ist und andere falsch sind; es ist durchaus möglich, daß jede einzelne von ihnen in gewissem Rahmen Gültigkeit hat. Die physiologische Regulation von Hunger und Sättigung findet nämlich offenbar auf mehreren Ebenen innerhalb eines komplizierten Systems statt. Zusätzliche durch psychische Faktoren beeinflußbare Steuerungsmechanismen verwirren das Bild. Obwohl somit über die Regulationsmechanismen der Nahrungsaufnahme heute keineswegs Klarheit herrscht, bleibt dennoch aufrecht, daß die Energiebilanz des Stoffwechsels im Sinne der physikalischen Energieerhaltung Gültigkeit hat. Zur Erklärung, wie Übergewicht entsteht, ist dies jedoch relativ wenig aussagekräftig. Nährstoffbilanz Es ist nicht nur wichtig, daß dem Organismus die notwendige Menge an Energie zugeführt wird, sondern es müssen auch alle Nährstoffe in der jeweils richtigen Menge aufgenommen werden. Die tägliche Energieaufnahme soll sich bei einem Energiebedarf von 10 000 kJ/Tag gemäß heutiger Auffassung wie folgt aufteilen: 1500 kJ aus Eiweiß = 87 g Eiweiß 3000 kJ aus Fett = 77 g Fett 5500 kJ aus Kohlenhydrat = 320 g Kohlenhydrat Eiweißstoffe, Fette und Kohlenhydrate sollen in einem ganz bestimmten prozentualen Verhältnis zueinander stehen. Setzt man den Gesamtenergiebedarf gleich 100 Prozent, so soll das Verhältnis in der Deckung des Energiebedarfs folgendermaßen aussehen: 126 Eiweiß 15 Prozent, Fett 30 bis 35 Prozent und Kohlenhydrat 50 bis 55 Prozent. Es gibt zwei mögliche Wege, den täglichen Nährstoffbedarf zu berechnen : 1. Nährstoffbedarf berechnet aufgrund des Bedarfs je Kilogramm Körpergewicht und Tag Menge pro kg Beispiel bei einem Körpergewicht Körpergewicht von 70 kg 1 g Eiweiß 0,9 g Fett 4 g Kohlenhydrat 70 g 63 g 280 g 2. Nährstoffbedarf berechnet aufgrund des Gesamtenergiebec Energiebedarf pro kJ Energiebedarf in Prozent (Beispiel) (kcal) Gesamt: davon Eiweiß Fett Kohlenhydrat 100 Prozent 8400 kJ (2000 kcal), 15 Prozent 30 - 35 Prozent 50 - 55 Prozent 1300 k j ( 300 kcal) 2500 kj( 600 kcal) 4600 kJ (1100 kcal) Weitere notwendige (»essentielle«) Bestandteile der Nahrung Neben Eiweiß, Fett und Kohlenhydrat benötigt der Körper auch täglich etwa 2 bis 2,5 Liter Wasser, ferner Vitamine und Mineralstoffe. Für Vitamine und Mineralstoffe haben ernährungswissenschaftliche Gremien verschiedener Länder empfehlenswerte Höhen der Zufuhr pro Tag festgelegt. Diese Werte gelten für Erwachsene. Säuglinge, Kinder, Schwangere und Stillende haben einen in mancher Hinsicht abweichenden Bedarf an den einzelnen Nähr- und Wirkstoffen. Dem Nähr- und Wirkstoffbedarf pro Tag stehen die Nähr- und Wirkstoffgehalte in den einzelnen Lebensmitteln gegenüber. Mit Hilfe entsprechender Tabellen läßt sich so der Speiseplan dahingehend beurteilen, ob er den ernährungsphysiologischen Anforderungen genügt. 127 Grundsätze für die Arbeit mit Nahrungsmitteltabellen Nahrungsmitteltabellen enthalten gewöhnlich Analysewerte für jeweils 100 Gramm genießbaren Anteils der einzelnen Nahrungsmittel. Die Mengen der verwendeten Nahrungsmittel werden mit Hilfe der Analysewerte umgerechnet: Zusammengesetzte Speisen sowie Gerichte aus mehreren Nahrungsmitteln werden mit dem Nettogewicht der Rohmaterialien kalkuliert. Joulewerte werden im allgemeinen auf eine oder zwei Stellen nach dem Komma ausgerechnet und auf eine Dezimalstelle abgerundet. Das gleiche gilt für Eiweiß, Fett und Kohlenhydrat in Gramm. Mineralstoffe und Vitamine werden in Milligramm, einige in "Mikrogramm angegeben. Ist Ausgewogenheit genug? Neben dem »Was« ist auch das »Wie« bei der Nahrungsaufnahme sehr wichtig. Dazu einige Ratschläge: Mahlzeiten sollten in einer Atmosphäre der Entspanntheit und Ruhe eingenommen werden, denn Hast und Nervosität haben über das vegetative Nervensystem auch Einfluß auf die Vorgänge von Verdauung und Stoffwechsel. Gründliches Kauen und Einspeicheln ist die erste Voraussetzung für eine entsprechende Verdauung. Diese Vorgänge tragen auch zur Gesunderhaltung des Gebisses bei. Ein schadhaftes Gebiß beeinträchtigt den Kauvorgang und kann zu Störungen der Magen-Darm-Tätigkeit Anlaß geben. Die Sanierung des Gebisses ist daher insbesondere auch bei alten Menschen wichtig für die richtige Ernährung. Die Gesamtnahrung eines Tages sollte entsprechend auf mehrere Teilmahlzeiten verteilt werden, wobei zu schwere Mahlzeiten zu vermeiden sind. Dies gilt sowohl für den Mittagstisch, vor allem bei Menschen im Arbeitsprozeß mit kurzer Mittagspause, wie auch für die Abendmahlzeit, die nicht zu spät eingenommen werden sollte. Bei Kindern, aber auch bei Sportlern im Training, die einen hohen Energiebedarf haben, sind bis zu fünf Teilmahlzeiten empfehlenswert. 128 Nähr- und Wirkstoffe Kohlenhydrate Die Kohlenhydrate sind - abgesehen von Wasser - mengenmäßig der wichtigste Nährstoff in der Nahrung. Nicht in jedem Lebensmittel sind Kohlenhydrate enthalten. Muskelfleisch von Fischen und Schlachttieren enthält Kohlenhydrate bloß in Spuren. Reich an Kohlenhydraten sind dagegen Getreideprodukte, Hülsenfrüchte, Süßwaren und Obst. Die Kohlenhydrate werden in der Pflanze mit Hilfe von Sauerstoff gebildet (Photosynthese). Die Pflanze braucht dazu Wasser und Kohlendioxid. Das Wasser nimmt sie aus dem Boden, Kohlendioxid aus der Luft auf. Aus diesen Grundstoffen erzeugt sie mit Hilfe von Chlorophyll (Blattgrün) Zucker und Sauerstoff. Aus anorganischen Elementen entsteht somit ein organischer Nährstoff, der biochemisch nutzbare Energie enthält. Alles Leben hängt somit letztlich von den Kohlenhydraten ab. Jedes Jahr bilden die Pflanzen unserer Erde etwa 100 Milliarden Tonnen organisches Material. Das ist nur deshalb möglich, weil neben dem Aufbau organischer Verbindungen ständig auch ein Abbau stattfindet der Kohlenstoff macht in der Natur einen Kreislauf durch: in der Pflanze werden Kohlenhydrate aus Wasser und Kohlendioxid gebildet; im tierischen und menschlichen Organismus werden die Kohlenhydrate wieder zu Kohlendioxid und Wasser abgebaut. Den Vorgang der Bildung von organischen Stoffen aus anorganischen Grundstoffen nennt man Assimilation. Den umgekehrten Vorgang, der im tierischen und menschlichen Organismus abläuft, bezeichnet man als Dissimilation. Bei der Assimilation wird Energie (Sonnenenergie) gebunden, bei der Dissimilation wird diese Energie wieder freigesetzt und dem Organismus zur Verfügung gestellt. Wie alle Kohlenhydrate bestehen auch die Einfachzucker aus den chemischen Elementen Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff. Der Chemiker unterscheidet Einfach-, Doppel- und Vielfachzucker, je nachdem, ob ein, zwei oder viele Zuckermoleküle chemisch miteinander verbunden sind. Einfachzucker kommen in allen süßen Früchten sowie im Honig vor. Sie sind wasserlöslich und haben eine mehr oder weniger hohe Süßkraft. Die wichtigsten sind Trauben-, Frucht- und Schleimzucker. 129 Traubenzucker (Glukose oder Dextrose) ist der wichtigste. Er ist es, der bei der Photosynthese gebildet wird. Er erfüllt im Stoffwechsel aller Organe des Menschen lebenswichtige Aufgaben. Traubenzucker wird von allen Organen als Brennstoff verwertet. Manche Organe, zum Beispiel das Gehirn, decken ihren Energiebedarf praktisch ausschließlich aus Traubenzucker. Traubenzucker ist Baustein für viele Verbindungen. Alle Doppelzucker enthalten Traubenzucker. Vergessen wir nicht, daß auch viele Lebensmittel ihre Existenz dem Traubenzucker und der Existenz von Mikroorganismen verdanken: Bei der alkoholischen Gärung entsteht aus Traubenzucker Äthylalkohol und Kohlendioxid. Diese Umsetzung erfolgt unter Mitarbeit von Enzymen, die in der Hefe vorkommen. Auf diese Weise entstehen Bier, Wein, Spirituosen und anderes. Essigsäurebakterien bauen Alkohol zu Essigsäure ab. So entstehen Weinessig und Obstessig. Bei der Milchsäuregärung wird Traubenzucker unter Mitwirkung von Milchsäurebakterien zu Milchsäure abgebaut. Man verwendet diesen Prozeß bei der Herstellung von Sauerkraut, sauren Rüben sowie bei der Käse- und Salamireifung. Fruchtzucker (Fruktose oder Lävulose) ist ein Bestandteil des Rohrund Rübenzuckers. Er ist in vielen Früchten und im Honig enthalten. Fruchtzucker hat eine hohe Süßkraft. Das Gemisch von Traubenzucker und Fruchtzucker heißt Invertzucker. Es entsteht durch Aufspaltung (Hydrolyse) von Rohr- beziehungsweise Rübenzucker. Invertzucker ist Hauptbestandteil des Honigs. Schleimzucker (Galaktose) ist Bestandteil des Milchzuckers. Er heißt Schleimzucker, weil er auch in verschiedenen Schleimstoffen vorkommt. Seine Süßkraft und Vergärbarkeit sind gering. Doppelzucker (Disaccharide) entstehen durch Zusammentreten von Einfachzuckern unter Abspaltung von Wasser. Je nachdem, welche Einfachzucker sich zusammenschließen, entstehen unterschiedliche Doppelzucker: Fruchtzucker + Traubenzucker = Rohr- beziehungsweise Rübenzucker (Saccharose) Traubenzucker + Traubenzucker = Malzzucker (Maltose) Traubenzucker + Schleimzucker = Milchzucker (Laktose) 130 Doppelzucker sind in Wasser leicht löslich. Sie werden im Körper unter Mitwirkung von Enzymen zu Einfachzuckern abgebaut. Rohr- beziehungsweise Rübenzucker (Saccharose) ist das am weitesten verbreitete Disaccharid im Pflanzenreich. Er ist im Saft des Zukkerrohrs und in der Zuckerrübe enthalten. Der handelsübliche Zucker besteht zu 99,8 Prozent aus Saccharose. Er hat nach dem Fruchtzucker die größte Süßkraft unter den Kohlenhydraten. Malzzucker (Maltose) entsteht im keimenden Getreide (Enzyme bauen die im Getreide enthaltene Stärke zu Dextrinen und zu Malzzucker ab). Bei der Bierherstellung benützt man diesen Vorgang (»Mälzen«), um aus der Stärke auf dem Weg über Malzzucker vergärbaren Einfachzucker zu erhalten. Milchzucker (Laktose) kommt in der Kuhmilch vor, schmeckt wenig süß und ist — außer mit Milchsäurebakterien - schlecht zu vergären. Vielfachzucker (Polysaccharide) entstehen wie Doppelzucker, und zwar durch Abspaltung von Wasser aus Einfachzuckern. Die unterschiedlichen Eigenschaften der Vielfachzucker sind zum Teil durch die Art des Einfachzuckers bestimmt, aus dem sie gebildet werden, zum Teil durch die Anzahl der Zuckermoleküle, die sich zusammenschließen. Vielfachzucker können bis 10 000 Einfachzucker enthalten. Vielfachzucker sind in Wasser meist unlöslich, haben keine Süßkraft und sind nicht direkt vergärbar. Sie kommen im Pflanzen- und Tierreich als Reservestoffe, Gerüststoffe und Gelierstoffe vor. Die wichtigsten Vielfachzucker sind Stärke, Zellulose und Glykogen. Stärke besteht aus 300 bis 6000 Glukosebausteinen. Sie ist kein einheidicher Stoff: 25 Prozent sind unverzweigte Amylose und 75 Prozent verzweigtes Amylopektin. Im Stärkekorn findet sich Amylopektin als Hüllschicht, während Amylose das Innere des Korns bildet. Besonders reich an Stärke sind Getreidekörner (70 Prozent), Hülsenfrüchte (50 Prozent) und Kartoffeln (20 Prozent). Zwischenprodukte beim Abbau von Stärke sind die sogenannten Dextrine. Sie entstehen auch durch trockenes Erhitzen von Stärke. Dextrine finden sich in der Brotrinde, im Zwieback und in der Mehlschwitze (Einbrenn). Da sie im allgemeinen leichter verdauUch als Stärke sind, verwendet man sie bei der Ernährung von Säuglingen und in der Krankenkost. Zellulose besteht wie Stärke aus Glukosebausteinen, nur aus einer 131 größeren Anzahl (etwa 10 000). Auch die Struktur des Moleküls ist eine andere. Zellulose kann vom menschlichen Körper nicht verdaut werden (Ballaststoff). Nur wenige Fermente, Einwirkung von konzentrierten Säuren und Hitze vermögen Zellulose zu spalten. Für die Pflanzen ist diese Eigenschaft wichtig, denn Zellulose dient als Gerüstsubstanz. Sie findet sich in der Baumwollfaser, in Jute, Flachs und Hanf. Holz enthält etwa 40 bis 60 Prozent Zellulose. Obwohl Zellulose vom menschlichen Körper nicht verwertet wird, erfüllt sie doch eine wichtige Funktion: Zellulose fördert als Ballaststoff die Verdauung sowie die Ausscheidung von Nahrungsmittelrückständen durch den Darm (siehe Seite 62 f.). Glykogen ist ein Reservestoff des tierischen und menschlichen Organismus, ähnlich wie Stärke für die Pflanzen. Es kommt in der Leber zu etwa 3 Prozent, in den Muskeln zu 0,2 Prozent vor. Je nach Bedarf kann Glykogen zum Energiespender Glukose abgebaut werden. Zu den Polysacchariden zählen auch noch eine ganze Reihe von teilweise sehr kompliziert zusammengesetzten Verbindungen: Pektine etwa sind Begleitstoffe der Zellulose. Sie sind unlöslich in kaltem Wasser, quellen jedoch stark auf und lösen sich beim Erhitzen. Beim Wiedererkalten erstarren sie zu Gallerten (gelieren). Diese Eigenschaft der Pektine wird bei der Herstellung von Marmeladen und Süßwaren ausgenutzt. Pektine sind in fleischigen Pflanzenteilen, in unreifen Früchten, Wurzeln, Blättern und Stengeln enthalten. Hemizellulosen sind ebenfalls Begleitstoffe der Zellulose und kommen in nahezu allen verholzten Pflanzenteilen vor. Die Gruppe der Pflanzengummi umfaßt eine Vielzahl von Substanzen wie Agar-Agar (Bestandteil von Rotalgen), Alginate (aus Braunalgen), Tragant und Gummi arabicum, die aus Pflanzensäften gewonnen werden. Auch Samenbestandteile wie Guar und Johannisbrotkernmehl gehören dazu. Sie zeichnen sich durch die Eigenschaft der Wasserbindung aus und dienen daher als Emulgatoren und Verdickungsmittel. Ihre Verwendung in Lebensmitteln ist gesetzlich geregelt. 132 Verdauung und Stoffwechsel der Kohlenhydrate Nur Einfachzucker können durch die Darmwand in den menschlichen Körper gelangen. Zusammengesetzte Kohlenhydrate müssen daher vorher abgebaut werden. Dieser Abbau beginnt bereits im Mund durch das Enzym Amylase. Es ist im Mundspeichel enthalten und zerlegt einen Teil der Stärke bis zu den Zweifachzuckern. Im Magen wird die Wirkung der Amylase durch die Salzsäure langsam gehemmt. Im Dünndarm wird der Speisebrei leicht alkalisch gemacht. Bauchspeicheldrüse und Darmschleimhaut sondern Enzyme ab, die Zweifachzucker in Einfachzucker zerlegen. Die Einfachzucker werden durch die Darmwand aufgenommen (»resorbiert«) und gelangen auf diese Weise in alle Zellen des menschlichen Körpers, wo sie zu Kohlendioxid und Wasser verbrannt werden und dabei Energie liefern. Da das Blut nur eine begrenzte Menge an Zucker transportieren kann, werden nicht sofort benötigte Mengen von Einfachzucker in der Leber und in der Muskulatur in Form von Glykogen gespeichert. Sind die Glykogenspeicher aufgefüllt, werden überschüssige Einfachzucker im Fettgewebe zu Fetten umgewandelt. Der menschliche Körper enthält etwa 600 bis 700 Gramm Kohlenhydrate, davon etwa 300 Gramm als Baustoffe (Skelett, Schleimstoffe), 200 Gramm in Muskeln, 100 Gramm in der Leber und etwa 5 Gramm im Blut. Die Speicherung von Glukose als Glykogen wird durch das Hormon Insulin geregelt, die Mobilisierung von Glukose aus Glykogen durch das Hormon Glucagon. Bei Diabetikern (Zuckerkranken) produziert die Bauchspeicheldrüse zuwenig Insulin. Deshalb kann der Zucker nicht oder nur beschränkt als Glykogen gespeichert werden es kommt zu starken Schwankungen des Blutzuckerspiegels. Kohlenhydratbedarf Rein mengenmäßig sind Kohlenhydrate der Hauptenergielieferant für die Ernährung. 50 bis 55 Prozent der täglich benötigten Gesamtenergiemenge sollen durch Kohlenhydrate bereitgestellt werden. Bei einem Körpergewicht von 70 Kilogramm entspricht dies einer Tagesmenge von etwa 300 Gramm Kohlenhydraten. 133 Der Kohlenhydratgehalt der Nahrung läßt sich nicht beliebig steigern. Bei hohem Energiebedarf könnte man sich kaum ausschließlich von Kohlenhydraten ernähren, da sonst zu große Gewichtsmengen zugeführt werden müßten. Auf der anderen Seite darf aber die Kohlenhydratzufuhr nicht unter etwa 10 Prozent der Gesamtenergiemenge sinken. Ist dies der Fall, so treten Stoffwechselstörungen auf (Bildung von Ketonkörpern) (siehe Seite 168). Fette Fette sind organische Substanzen, die aus dem dreiwertigen Alkohol Glyzerin sowie mittleren und höheren Karbonsäuren, auch Fettsäuren genannt, bestehen. Lipide ist ein summarischer Ausdruck für im chemischen Aufbau unterschiedliche, in der funktioneilen Bedeutung aber verwandte Stoffgruppen der Fette und Fettbegleitstoffe. Lipoide sind Fettbegleitstoffe, die chemisch recht verschiedener Natur sind und als Begleiter der natürlichen Fette und Öle vorkommen. Fett ist in allen Zellen enthalten. Die Pflanzen speichern Fett als Energiereserve in Früchten, Samen oder Keimen. Dort liefert das Fett die Energie, beispielsweise zum Auskeimen. Auch für Tier und Mensch sind Fette ein langfristiger Energiespeicher. Manche Tiere legen einen »Winterspeck« an, bevor sie in den Winterschlaf gehen. Anderen wiederum dient Fett vorwiegend als Wärmeschutz. Fett in Lebensmitteln ist nur zum Teil dem Auge erkennbar- das sogenannte »sichtbare« Fett, zum Beispiel in Speck oder im Schweinebraten. Im Käse dagegen ist das Fett nicht sichtbar. Man spricht deshalb auch von »versteckten« Fetten. Die Pflanzen bauen Fett aus den Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff auf, ebenso wie die Kohlenhydrate. Mensch und Tier nehmen Fett aus der Nahrung auf oder bilden es selbst. Alle Fette enthalten Glyzerin. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrem Gehalt an den einzelnen Fettsäuren. Diese können gesättigt sein, das heißt keine Doppelbindungen besitzen, wie Buttersäure, Palmitinsäure, Stearinsäure und andere Fettsäuren, können aber auch einfach oder mehrfach ungesättigt sein. Ölsäure beispielsweise ist eine einfach ungesättigte Fettsäure, Linolsäure und Linolensäure zählen zu den mehrfach ungesättigten Fettsäuren. Während gesättigte und einfach unge134 sättigte Fettsäuren vom menschlichen Körper aufgebaut werden können, »schafft« der Stoffwechsel zwei oder mehrere Doppelbindungen nicht. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren sind deshalb lebensnotwendig, »essentiell« und müssen mit der Nahrung zugeführt werden. Die Fettsäuren werden nach folgenden Gesichtspunkten in Gruppen eingeteilt: nach dem Vorkommen in der Natur in tierische und pflanzliche Fette, nach der Konsistenz in feste, halbfeste und flüssige Fette, nach der Funktion in Organ- und Depotfette und nach den vorhandenen Doppelbindungen in gesättigte, einfach und mehrfach ungesättigte Fette. Speisefette sind ein Gemisch unterschiedlich zusammengesetzter Fette, das heißt sie endialten mehr oder weniger ungesättigte Fettsäuren. Der Unterschied äußert sich im Schmelzpunkt. Dieser ist von der Kettenlänge der Fettsäuren und der Zahl der Doppelbindungen abhängig. Je mehr gesättigt beziehungsweise langkettig die Fettsäuren eines Fetts, um so höher ist der Schmelzpunkt. Feste Fette enthalten vorwiegend Stearin- und Palmitinsäure, Öle enthalten viel Ölsäure. Fette, die höher schmelzen als bei Körpertemperatur, zum Beispiel Rinderfett, erstarren im Mund, wenn die Speisen nicht heiß gegessen werden. Dadurch kann die Verdauung belastet werden. Fette, die bei Körpertemperatur nicht flüssig sind, können vom Gallensaft nur schwer emulgiert werden. Verdauung und Stoffwechsel der Fette Fette schmelzen zumeist durch die Körperwärme, werden aber weder im Mund noch im Magen verändert. Erst im Dünndarm beginnt die Verdauung der Fette so richtig. Zunächst bewirkt die sogenannte Gallensäure die Ausbildung von Emulsionen, das heißt die Oberfläche der Fette vergrößert sich. Dies erleichtert den Enzymen des Gallensaftes, den sogenannten Lipasen, ihre Arbeit. Es gibt allerdings auch im Magen Lipasen — diese können aber nur fein emulgiertes Fett angreifen. Die Lipasen zerlegen Fette und Öle in Glyzerin und Fettsäuren. Diese Bestandteile können die Darmwand passieren. Noch in der Darmwand werden die Bausteine zu Körperfetten wieder aufgebaut. Die Fette im Stoffwechsel dienen als Energiereserve. Aus den Fetten freigesetztes Glyzerin wird in den Leberzellen verwertet und in den Kohlenhydrat-Stoffwechsel eingebracht. Die freien Fettsäuren können in fast allen Zellen unter Energiefreisetzung abgebaut werden. 135 Wenn die Energie der Fette nicht unmittelbar benötigt wird, speichert der Körper sie in speziellen Zellen, den sogenannten Adipozyten (Fettgewebszellen). Für diesen Vorgang ist Glukose erforderlich. In der Leber wird Fett auch aus anderen Nahrungsbestandteilen synthetisiert. Es entsteht dort aus Kohlenhydraten und einigen Aminosäuren. Die so entstandenen Fette können an Eiweißstoffe gebunden werden und wandern als sogenannte Lipoproteine durchs Blut. Glyzerin kann sowohl zu Glukose umgebaut als auch aus Glukose aufgebaut werden. Fettsäuren können dagegen nicht zu Kohlenhydraten umgewandelt werden. Sehr wohl ist aber ein Umbau zu Aminosäuren möglich. Fette sind, wie schon erwähnt, Energielieferant und Reservestoff. Durch ihre lange Verweildauer im Magen rufen sie ein lange andauerndes Sättigungsgefühl hervor. Ferner dienen sie als Lösungsmittel (vor allem zum Transport mancher Vitamine [siehe Seite 148]). Sie haben aber auch eine mechanische Schutzfunktion, indem sie zum Beispiel den Augapfel umkleiden. Schließlich greifen sie in den Wärmehaushalt des Körpers ein und wirken an der Oberfläche von Haut und Haaren wasserabstoßend. Fettbedarf Der tägliche Bedarf an Fett liegt bei etwa 30 bis 35 Prozent des Gesamtenergiebedarfs. Beträgt dieser beispielsweise 10 500 kJ (2 500 kcal), so entspricht das einer Fettmenge von etwa 85 Gramm. Ein Gramm Fett liefert 38,9 kJ (9,3 kcal). Der Fettbedarf ist nicht bei allen Menschen gleich. Er unterscheidet sich bei verschiedenen Altersgruppen und unter verschiedenen Leistungsbedingungen zum Teil sehr wesentlich. Es kommt jedoch nicht nur auf die Gesamtmenge an Fett an. Wichtig ist auch die Menge an essentiellen Fettsäuren. Der Tagesbedarf an essentiellen Fettsäuren liegt bei 5 bis 10 Gramm. Der Gehalt an diesen ist bei den einzelnen Nahrungsmitteln sehr unterschiedlich. Er ist in Sojabohnenöl, Olivenöl, Erdnußöl und Haselnüssen beträchtlich. Fett wird in Form von Streichfett, Kochfett und sogenannten unsichtbaren Fetten aufgenommen. Diese sind vor allem in Wurst, manchen Käsesorten und Nüssen enthalten. Fast 50 Prozent des Fettes wird durch verborgenes Fett aufgenommen. 136 Lipoide sind eine vielfältige Stoffgruppe. Sie kommen in jeder Körperzelle vor, besonders im Nervengewebe. Man unterscheidet Phosphatide und Glykolipide. Bei Phosphatiden ist eine der drei Fettsäuren durch Phosphorsäure und eine Stickstoffbase ersetzt. Das wichtigste Phosphatid ist Lecithin. Es ist am Aufbau der Gehirnzellen beteiligt. Glykolipide sind Verbindungen von Fetten mit Kohlenhydraten. Zu ihnen gehören die Cerebroside, die Hauptbestandteile von Gehirn und Nervengewebe. Wie man sieht, bestehen Gehirn und Nerven in der Hauptsache also nicht aus eiweißähnlichen, sondern aus fettähnlichen Stoffen. Die in ihnen enthaltenen Fettsäuren sind zum großen Teil hoch ungesättigt, das heißt, sie enthalten mehr als eine Doppelbindung. Zu den Lipoiden gehört auch das Cholesterin. Man versteht darunter eine Reihe von Verbindungen, die zwar in ihrem Verhalten fettähnlich sind, von ihrem Aufbau her jedoch nichts mit Fetten gemein haben. Das Cholesterin wurde zuerst in Gallensteinen entdeckt, kommt aber frei oder gebunden in fast allen tierischen und menschlichen Organen vor (chole ist der griechische Name für Galle). Eiweißstoffe Eiweißstoffe (Proteine) sind mehr oder minder hochmolekulare, stickstoffhaltige organische Verbindungen, die sich aus Bausteinen, den Aminosäuren, zusammensetzen. Eiweiß besteht aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff sowie häufig noch Schwefel und Phosphor. Die Eiweißstoffe sind das eigentliche Baumaterial des lebenden Organismus: Muskel, Blut und andere Organe bestehen, wenn man vom Wasser absieht, im wesendichen aus Eiweiß. Auch das Protoplasma der lebenden Zelle ist eine Eiweißlösung, der Zellkern eine Verbindung von Nukleinsäuren mit Eiweiß. Manche Hormone und alle Enzyme sind Eiweißverbindungen. Eiweißstoffe werden aus den Aminosäuren aufgebaut. Deren Struktur leitet sich von den Karbonsäuren ab, die als funktionelle Gruppe die Karboxylgruppe tragen. Aminosäuren unterscheiden sich von den gewöhnlichen Karbonsäuren durch eine zusätzliche Aminogruppe. Der menschliche Körper kann von den insgesamt über zwanzig bekannten Aminosäuren acht nicht selbst aufbauen. Diese sind daher essentiell, das heißt, sie müssen mit der Nahrung zugeführt werden. 137 Der Körper baut nicht nur beim Wachstum neues Eiweiß auf, er erneuert auch laufend seine alten Eiweißbestände. Dabei gibt es gewisse Verluste. Deshalb ist es notwendig, daß der Mensch täglich Eiweiß zu sich nimmt. Protein, das Fachwort für Eiweiß, bedeutet soviel wie »das erste«. Damit ist auch seine Stellung innerhalb der Biochemie des Lebendigen gekennzeichnet. Nur die Pflanze ist in der Lage, den Stickstoff aus Luft und Boden in organische Verbindungen einzubauen und so Aminosäuren herzustellen. Aus diesen bilden Tier und Mensch dann körpereigenes Eiweiß. Bei der Bildung von Eiweiß treten Aminosäuren unter Abspaltung von Wasser zu kettenförmigen Molekülen (Wendeln) zusammen. Je nachdem, wieviel Aminosäuren die Kette bilden, spricht man von Dipeptiden, Oligopeptiden und Polypeptiden. Eiweißstoffe sind aber nicht einfach langgestreckte Ketten von Aminosäuren. Sie weisen darüber hinaus, je nach ihrer Zusammensetzung, genau definierte räumliche Strukturen auf. So können sie schraubenförmig angeordnet sein oder in Faltblattstruktur vorliegen. Manchmal weisen sie mehr oder minder regelmäßige Windungen auf. Die räumliche Struktur der Aminosäuren ist nicht zufällig, sie wird im wesentlichen durch die Reihenfolge der Aminosäuren bestimmt. Deshalb werden die Eigenschaften und Funktionen eines Proteins determiniert. Es gibt viele Tausende verschiedener Eiweißstoffe, die aber noch nicht alle in ihrer Aminosäuresequenz und räumlichen Struktur aufgeklärt sind. Wir wollen die Eiweißstoffe nach ihrer Struktur in kugelförmige (globuläre) und faserförmige (fibrilläre) Proteine einteilen. Globuläre (kugelförmige) Proteine Albumine strecken sich in reinem Wasser, sind löslich und können deshalb bei der Nahrungszubereitung leicht herausgelöst werden. Sie sind verdaulich und spielen in der Ernährung eine wichtige Rolle. Albumine kommen vor in der Milch (Laktalbumin), im Ei (Ovalbumin), in Fleisch, Fisch, Gemüse und Getreide. Auch die Serumalbumine des Blutplasmas gehören in diese Gruppe. Globuline sind zwar in reinem Wasser nicht löslich, wohl aber in verdünnten Salzlösungen. Sie gerinnen so wie die Albumine bei 70 138 Grad Celsius. Globuline kommen vor in Milch, Ei, Fleisch und im Getreide, sowie als Serumglobuline im Blutplasma. Gluten, auch Klebereiweiß genannt, ist nicht wasserlöslich, und kommt nur im Getreide vor. Es entsteht bei der Teigbereitung aus den beiden Eiweißarten Gliadin und Glutelin unter Wasseraufnahme. Gluten kann im Teig etwa die doppelte Menge seines Gewichtes an Wasser aufnehmen. Fibrilläre Proteine Kollagen wird, wenn man es im siedenden Wasser längere Zeit erhitzt, zu einer leimartigen Masse (Gelatine). Auch Säureeinwirkung macht es leichter und rascher löslich. Kollagen kommt vor im Bindegewebe, im Speck und in Knochen. Wird es ohne Wasser erhitzt, zieht es sich zusammen. Das läßt sich leicht beim Anbraten von Fleisch beobachten: es zieht sich zusammen und wölbt sich, wenn der bindegewebige Rand nicht eingeschnitten wird. Auch das Klopfen des Fleisches hat in diesem Sinn Bedeutung. Fleisch läßt man abhängen (reifen), weil dann die im Fleisch enthaltene Milchsäure das Bindegewebe lockert. Keratin kommt in Wolle, Haaren, Federn, Hufen und Nägeln vor und spielt für die Ernährung keine Rolle, ebensowenig wie die Elastine in Bändern und Sehnen. Neben diesen einfachen Eiweißstoffen, die nur aus Aminosäuren aufgebaut sind, kennen wir eine Vielzahl von Verbindungen, die zwar zum größten Teil aus Eiweiß bestehen, jedoch noch andere Komponenten enthalten. Sie werden mit dem Sammelnamen Proteide bezeichnet. Verdauung und Stoffwechsel der Eiweißstoffe Das erste eiweißspaltende Enzym, mit dem die aufgenommene Nahrung in Berührung kommt, ist das Pepsin des Magens. Bevor dieses angreift, werden die Eiweißstoffe durch die Salzsäure des Magens zur Gerinnung gebracht," das heißt, sie verlieren ihre native Raumstruktur. Pepsin spaltet die langen Peptidketten der Proteine in ein niedermolekulares Peptidgemisch. Von weiterer Bedeutung für den Eiweißabbau sind die Enzyme der Bauchspeicheldrüse, zum Beispiel Trypsin, die im Dünndarm wirksam 139 werden und die niedermolekularen Peptide in die einzelnen Aminosäuren aufspalten. Nur letztere werden resorbiert. Eiweiß hat im Stoffwechsel folgende Aufgaben: Es dient dem Aufbau von körpereigenem Eiweiß in den Zellen. Es wird zum Aufbau von Enzymen, Hormonen und Immunstoffen benötigt und ist somit an vielen Stoffwechselvorgängen im Organismus wesentiich beteiligt. Ferner sichert Eiweiß die Reproduktion der Zellsubstanz, die einem ständigen Verschleiß unterliegt. Es hat auch Stütz- und Schutzfunktion, da es zur Grundsubstanz von Knorpeln, Bindegewebe, Hautschleim und Antikörpern gehört. Durch seinen kolloidalen Charakter ist Eiweiß von Bedeutung für die Wasserbindung und den Wassertransport. Der Eiweißbedarf ist abhängig von der Eiweißmenge, die zum Aufbau von körpereigenen Eiweißstoffen benötigt wird, und ist somit während des Wachstums beträchtlich höher als bei erwachsenen Personen.Dies bedeutet jedoch nicht, daß alte Menschen - da sie ja nicht mehr wachsen— einen sehr geringen Eiweißbedarf haben. Im Gegenteil: Auch bei älteren Menschen ist der Eiweißbedarf wieder erhöht, da diese die Nahrungsmittel bei der Verdauung nicht mehr vollständig ausnützen können. Der tägliche Bedarf an Eiweiß liegt bei zirka 15 Prozent der zugeführten Energie. Bei einer durchschnittlichen Energieaufnahme von 10 500 kJ (2 500 kcal) entspricht dies etwa 90 Gramm Eiweiß. Die biologische Wertigkeit der Eiweißstoffe Da die Eiweißstoffe bei der Verdauung bis zu ihren Bausteinen, den Aminosäuren, aufgespalten werden, erhob sich die Frage, ob es nicht möglich wäre, Lebewesen statt mit Eiweiß mit einem Gemisch aller Aminosäuren zu ernähren. Das ist auch tatsächlich gelungen. Es müssen nicht einmal sämtliche Aminosäuren gegeben werden, weil der Körper einige von ihnen selbst herstellen kann. Lediglich die essentiellen Aminosäuren müssen mit der Nahrung zugeführt werden. Der Gehalt der Nahrungsmittel an diesen essentiellen Aminosäuren bestimmt seine biologische Wertigkeit. Je höher die biologische Wertigkeit eines Eiweißstoffes, desto weniger braucht man davon zur Aufrechterhaltung einer ausgeglichenen Eiweißbilanz. »Biologische Wertigkeit« ist die Menge an Körpereiweiß, die durch 140 100 Gramm Nahrungseiweiß ersetzt werden kann. Wenn in einem Nahrungsmittel nur eine einzige essentielle Aminosäure in zu geringer Menge enthalten ist, sinkt die biologische Wertigkeit für das Gesamteiweiß. Besonders wichtig ist daher, daß durch geeignete Zusammenstellung der Lebensrnittel zu geringe beziehungsweise zu hohe Mengen von einzelnen essentiellen Aminosäuren einander ausgleichen können. Man unterscheidet deshalb tierische und pflanzliche Eiweißstoffe mit guter und schlechter Ergänzungswirkung (siehe Seite 53). Wasser Wasser ist ein Bestandteil fast aller Lebensmittel. Pflanzen haben einen Wassergehalt von zirka 90 Prozent, Fleisch von 40 bis 75 Prozent (je nach Fettgehalt) und Mehl enthält immerhin noch 13, Prozent Wasser. Es gibt auch Stoffe, die kein Wasser enthalten, wie zum Beispiel reine Öle sowie daraus hergestellte Fette. In den Lebensmitteln ist das Wasser in unterschiedlicher Form enthalten: Freies Wasser ist in oder zwischen den Zellen eingelagert. Es ist deshalb von Bedeutung, weil es verschiedenen Mikroorganismen als Lebensraum zur Verfügung steht. Das ist auch der Grund dafür, warum Lebensmittel mit einem hohen Gehalt an freiem Wasser leicht verderben. Von gebundenem Wasser spricht man, wenn die Wassermoleküle zum Beispiel an Eiweißmoleküle oder Zucker gebunden sind. Durch diese Bindung gehört das Wasser praktisch zu dem entsprechenden Molekül und beeinflußt nicht - so, wie es beim freien Wasser der Fall ist - die Verarbeitung oder Lagerung. Man kann daher durch Zugabe von Zucker oder Eiweiß zu bestimmten Stoffen das freie Wasser binden und dadurch den Anteil des freien Wassers verringern (konservierende Wirkung des Zuckers). Immobilisiertes Wasser ist zwar nicht chemisch gebunden, aber auch kein freies Wasser, sondern es wird durch andere Moleküle ohne chemische Bindung festgehalten. Unter bestimmten Bedingungen jedoch kann dieses immobilisierte Wasser zu freiem Wasser werden (zum Beispiel wenn Stärke altert und die Wasserbindung geringer wird). Immobilisiertes Wasser kann dann von Mikroorganismen genutzt werden und beeinflußt Verarbeitung und Lagerfähigkeit. Der menschliche Organismus besteht zu drei Fünfteln aus Wasser. 141 Davon entfallen 70 Prozent auf das Zellinnere, der Rest auf die Körperflüssigkeiten (Blut, Lymphe und andere). Wasser ist für den Organismus in dreifacher Hinsicht wichtig. Zunächst ist es Lösungsmittel für viele Stoffe, besonders Mineralstoffe und Eiweiß. Ferner dient es als Transportmittel für Nährstoffe und Sauerstoff sowie zur Ausscheidung von Stoffwechselprodukten. Schließlich fungiert es als Wärmeregulator: durch Verdunstung von Wasser wird Wärme verbraucht; auf diese Weise kann die Körpertemperatur geregelt werden. Wasser enthält unterschiedliche Mengen an Mineralstoffen, welche die Härte des Wassers bedingen. Nach der Menge der gelösten Mineralstoffe unterscheiden wir hartes oder weiches Wasser. Der Begriff »Deutscher Härtegrad« definiert l°dH (Grad deutscher Härte) als 10 Milligramm gelöste Mineralstoffe in einem Liter Wasser. Wir unterscheiden außerdem zwischen permanenter Härte und vorübergehender Härte. Die permanente (bleibende) Härte ist durch den Sulfatgehalt bedingt; Sulfat fällt beim Kochen nicht aus. Die Wasserenthärtung von bleibender Härte ist nur auf chemischem Wege möglich. Die vorübergehende Härte ist bedingt durch den Gehalt an Karbonaten und hat ihren Namen deshalb, weil diese beim Kochen als Niederschlag ausfallen. Durch die Ablagerung in Gefäßen oder Leitungen entsteht der sogenannte Kesselstein. Die Härte des Wassers hat Einfluß auf die Dauer des Garprozesses (Hülsenfrüchte, Fleisch), den Geschmack (Kaffee, Tee) und auf das Geschirr (Kesselstein). Der tägliche Bedarf des Menschen an Wasser ist höher, als allgemein angenommen wird und liegt bei 2,5 bis 3,5 Litern; starke Hitze kann den Bedarf bis auf 10 Liter steigern. Dieser Bedarf kann nicht nur durch Getränke gedeckt werden. Die Wasseraufnahme durch Getränke beläuft sich auf etwa 1 000 bis 1 500 Milliliter, während weitere 700 bis 1 000 Milliliter durch die in den Speisen vorhandene Flüssigkeit zugeführt werden. An Kochwasser werden 400 Milliliter zugeführt, und 400 Milliliter entstehen, im Körper selbst (Oxidationswasser). Oxidationswasser entsteht beim Abbau der Kohlenhydrate, Fette und Eiweißstoffe in den Zellen. Die Wasserausscheidung erfolgt über verschiedene Organe. Bei einer Wasserzufuhr von etwa 2 500 Millilitern werden durch die Nie142 ren im Harn etwa 1 500 Milliliter, durch die Haut etwa 600 Milliliter, durch die Lunge 300 Milliliter und durch den Darm im Kot etwa 100 Milliliter Wasser ausgeschieden. Mineralstoffe Die Mineralstoffe gehören zu den anorganischen Stoffen, die aus der unbelebten Natur stammen und über die Pflanze in organische Bestandteile eingebaut werden. Sie ermöglichen viele physiologische Leistungen der Zelle. Von Bedeutung ist nicht nur die absolute Menge der Mineralstoffe, sondern auch ihr Verhältnis zueinander. Die Mineralstoffe haben im Organismus eine Reihe von verschiedenen Funktionen. In gelöster Form, als sogenannte Elektrolyte, sind sie für den physikalisch-chemischen Zustand der Zeil- und Körperflüssigkeiten verantwortlich (Quellungszustand, osmotischer Druck, pHWert der Flüssigkeiten, Pufferwirkung). Sie sind (passiv) beteiligt am Aufbau des Knochenskeletts und der Zähne. Manche Mineralstoffe sind Bestandteile von Enzymen und wirken somit aktiv am Stoffwechselgeschehen mit. Alle Mineralstoffe gehen mit den Ausscheidungen (Harn, Stuhl) allmählich verloren und müssen daher durch die Nahrung laufend ersetzt werden. Die Mineralstoffe sind in unserem Körper in unterschiedlichen Größenordnungen enthalten, weshalb man auch zwischen Mengenelementen und Spurenelementen unterscheidet. Beginnen wir mit den Mengenelementen. Natrium Natrium wird dem Körper vorwiegend als Kochsalz zugeführt (pro Tag werden 3 bis 5 Gramm Salz empfohlen). Der Körper enthält insgesamt 70 Gramm Natrium. Rund die Hälfte davon befindet sich im Blut. Das mit der Nahrung aufgenommene Natrium gelangt über den Dünndarm ins Blut, 8 Gramm Natrium können im menschlichen Körper 1 Liter Wasser binden. Das heißt aber auch, daß der Wassergehalt des Organismus durch die Natriummenge bestimmt wird. Zum Beispiel würde eine überhöhte Natriumansammlung im Körper zu erhöhtem Wassergehalt führen. Dies wird durch Reglermechanismen verhindert. 143 Kaliturn Kalium hält den osmotischen Druck innerhalb der Zelle aufrecht, es ist als »Kofaktor« Bestandteil vieler Enzyme, greift in den Phosphatstoffwechsel im Muskel ein und wirkt mit bei der Reizübertragung von den Nerven auf die Muskelzellen. Auch begünstigt Kalium die Wasserausscheidung. Kaliummangel kann durch Erbrechen und Durchfälle entstehen sowie bei starken Verlusten durch die Niere. Er äußert sich in gestörtem Allgemeinbefinden, Übelkeit und Muskelschwäche. Kalzium Kalzium ist im Organismus in großer Menge enthalten (1000 Gramm). 99 Prozent davon finden sich in den »harten« Geweben (Knochen und Zähne). Zum Aufbau und für die Festigkeit von Knochengewebe und Zähnen ist Kalzium deshalb unerläßlich. In den weichen Geweben ist Kalzium nur in relativ geringen Konzentrationen vorhanden. Trotzdem haben Kalziumionen dort wichtige Funktionen: Die Muskelkontraktion wird durch Freisetzung von Kalziumionen eingeleitet, die dabei den »Erschlaffungsfaktor« inaktivieren. Wahrscheinlich haben Kalziumionen eine grundlegende Wirkung bei allen Erregungsübertragungen. Ferner wird Kalzium noch bei der Blutgerinnung benötigt. Die Resorption des Kalziums geht im Dünndarm vor sich und wird durch Calcipherole, Laktose und Zitrat gefördert. Säuren können die Resorption durch Bildung unlöslicher Kalziumsalze beeinträchtigen, wie zum Beispiel Oxalsäure, die im Spinat enthalten ist oder Phytinsäure aus Getreide und Brot. Störungen des Kalziumstoffwechsels können schwerwiegende Folgen (Knochenerkrankungen) haben. Übermäßige Zufuhr von Kalzium (»Milchtrinkerkrankheit«) führt zu krankhaften Ablagerungen von Kalzium in den Nieren und zu Nierensteinen. 144 Magnesium Magnesium ist im Körper in einer Menge von etwa 30 Gramm vorhanden. Magnesium ist in allen grünen Gemüsen enthalten (Chlorophyll) und hat große Bedeutung als Aktivator von Enzymen und für die normale Erregbarkeit von Muskeln und Nerven. Chlorid Chlorid hat einen Körperbestand von 120 Gramm. Gemeinsam mit Natrium kommt es im Kochsalz vor. Die Wirkungsweise besteht in der Beteiligung an der Regulation des osmotischen Druckes und des Wasserhaushaltes, außerdem ist Chlorid ein Faktor der Salzsäurebildung im Magen. Phosphat Phosphat (Verbindung von Phosphor und Sauerstoff) ist im Körper mit 700 Gramm vertreten. Es kommt hauptsächlich in Milch und Milchprodukten sowie in Hülsenfrüchten vor. Bedeutung hat Phosphor beim Knochenaufbau und als Bestandteil lebenswichtiger Verbindungen im Stoffwechsel. Spurenelemente Spurenelemente sind Mineralstoffe, die in sehr geringen Mengen (Spuren) in tierischen und pflanzlichen Organismen vorkommen. Der Nachweis solcher Stoffe ist häufig nur im biologischen Test möglich. Von den zahlreichen Spurenelementen gibt es solche, die als essentiell zu bezeichnen sind, das heißt, fehlen diese Stoffe in der Nahrung können Mangelerscheinungen und auch ganz bestimmte Stoffwechselstörungen mit charakteristischen Symptomen entstehen. Manche Spurenelemente haben für den Organismus Bedeutung als Bausteine wichtiger Substanzen, andere wiederum sind für die Wirkung von Enzymen mitverantwortlich. Von manchen Spurenelementen ist nicht bekannt, ob sie im Organismus spezifische Funktionen haben. Einige von ihnen können jedoch zu gesundheidicher Beeinträchtigung führen (toxische Spurenele145 mente). Aufgrund ihrer weiten Verbreitung in der Luft, im Boden und im Trinkwasser werden sie regelmäßig vom Menschen aufgenommen. Sie sind keine normalen Bestandteile des Organismus und gelangen in ihn aufgrund der zunehmenden Umweltverschmutzung. Dazu gehören vor allem die Schwermetalle Blei, Kadmium und Quecksilber. Insbesondere ist das Blei von Bedeutung, das vor allem durch die Abgase der Kraftfahrzeuge auf dem Weg über die Lunge in den menschlichen Organismus gelangt. Ferner wird Quecksilber von Fluß- und Seefischen, Muscheln und Pilzen in Form von giftigen organischen Quecksilberverbindungen gespeichert. Blei und Quecksilber können zu teilweise schwerwiegenden Störungen im Nervensystem führen. Eisen Der menschliche Körper enthält etwa 4 bis 5 Gramm Eisen. Es findet sich als Transport- und Speichereisen, besonders in den Blutbildungsorganen, als Hämoglobin- zum Transport von Sauerstoff sowie gebunden an bestimmte Enzyme (Cytochrome). Eisen ist für die Atmungsvorgänge lebenswichtig, da es als Katalysator bei der Elektronenübertragung dient und an der Bildung des Hämoglobins beteiligt ist. Der Eisenbedarf beträgt 10 bis 20 Milligramm pro Tag. Mangel an Eisen äußert sich in Mattigkeit, Kopfschmerzen, Herzklopfen sowie Anämie (Blutarmut). Eisen kommt besonders in Leber, Fleisch, Eidotter, Obst und Gemüse vor. Vitamine Vitamine sind lebensnotwendige organische Verbindungen, die in kleinen Mengen benötigt werden, das heißt essentiell sind. Sie sind Bestandteil von Enzymsystemen, die für die Regulation der biochemischen Prozesse des Organismus wichtig sind. Im Laufe der Entwicklungsgeschichte haben die höheren Lebewesen, so auch der Mensch, die Fähigkeit verloren, selbst Vitamine aufzubauen. Sie sind daher auf die Leistung anderer, meist niedriger organisierter Lebewesen angewiesen, die diese lebenswichtigen Stoffe bilden können. Während Bakterien und andere Einzeller in der Lage sind, sämdiche 146 organischen Stoffe, die sie für ihre Lebensvorgänge benötigen, aus Wasser, Kohlendioxid und Minerälstoffen aufzubauen, werden die komplizierten Organismen im Laufe ihrer Höherentwicklung in dieser Beziehung zunehmend defekt. Mutationen haben unter anderem zur Folge, daß bestimmte Stoffe nicht mehr aufgebaut werden können und daher von außen mit der Nahrung zugeführt werden müssen. Vor allem Pflanzen synthetisieren Vitamine. Aber auch tierische Nahrungsmittel können Vitamine enthalten. Bestimmte Organe, wie die Leber, können Vitamine speichern. Da Vitamine essentiell sind, verursacht ihr Fehlen Störungen im Organismus. Es kommt zu Störungen im Stoffwechsel, sogenannten Mangelerkrankungen (Avitaminosen). Gerade ihr Auftreten führte erst zur Entdeckung der Vitamine. Die älteste bekannte Vitaminmangelkrankheit ist der Skorbut (Vitamin C-Mangel). Vitaminmangel beruht auf einem Mißverhältnis zwischen Vitaminbedarf und Vitaminangebot oder -Verwertung. Man unterscheidet zwischen Avitaminosen (eines oder mehrere Vitamine fehlen) und Hypovitaminosen (zu geringe Zufuhr im Verhältnis zum Bedarf). Vitaminmangel kann durch ernährungsbedingte Faktoren entstehen, wie zum Beispiel erhöhten Bedarf während der Schwangerschaft oder einseitige Speisenauswahl. Aber auch pathologische Faktoren wie Störungen in der Resorption oder Funktionsstörungen der Leber sowie die Wirkung von »Antivitaminen« kommen ursächlich in Betracht. Antivitamine sind Stoffe, welche die Wirkung der Vitamine beeinträchtigen oder hemmen können. Sie gehen entweder mit dem Vitamin eine unlösliche Bindung ein oder zerstören es durch Spaltung. So baut das Enzym Ascorbase bei Zutritt von Sauerstoff das Vitamin C zu einer unwirksamen Verbindung ab. Indirekt wirkende Antivitamine, wie zum Beispiel die Phytinsäure, verhindern die Resorption von Kalzium und Phosphor und rufen dadurch indirekt einen erhöhten Bedarf an Vitamin D hervor. Hypervitaminosen sind Störungen im Organismus, die nach zu hohen Vitamingaben auftreten. Sie sind beim Erwachsenen selten, aber man beobachtet sie gelegendich bei Kleinkindern, vor allem bezüglich Vitamin A und D. Die Vitamine werden nach ihrer Löslichkeit in wasserlösliche und fettlösliche Vitamine eingeteilt. 147 Fettlösliche Vitamine Vitamin A (Retinol) entsteht aus dem pflanzlichen Karotin, sein Mangel bewirkt Sehstörungen im Dunkeln (Nachtblindheit), Entzündungen der Haut und Schleimhäute sowie erhöhte Anfälligkeit gegenüber Infektionen. Zu hohe Zufuhr von Vitamin A macht sich in Erbrechen, Durchfall und Übererregbarkeit bemerkbar. Der durchschnittliche Tagesbedarf ist 0,9 Milligramm. Vitamin A kommt vor allem in Lebertran, grünem Salat, Spinat und Karotten vor. Wenig Vitamin A ist in Rindfleisch, Milch und Getreidekeimlingen enthalten. Vitamin D (Calcipherol) ist als antirachitisches Vitamin bekannt; es regelt den Kalk- und Phosphatstoffwechsel des Körpers. Ungenügende Zufuhr beim Kleinkind führt zu Mißgestaltungen im Knochenbau (Rachitis). Der Tagesbedarf ist 2,5 Mikrogramm. Vitamin D findet sich vor allem in Lebertran und Leberöl von Kabeljau und Schellfisch, daneben auch in Milch, Butter und Eigelb. Wenig Vitamin D ist in Gemüsen und Pilzen enthalten. Vitamin E (Tokopherol) kommt vor allem in Getreidekeimlingen und Keimöl vor. Sein Bedarf wird mit 12 Milligramm pro Tag angegeben. Seine Bedeutung im Stoffwechsel ist umstritten (siehe Seite 211). Vitamin K (Phyllochinon) ist für den normalen Ablauf der Blutgerinnung notwendig. Es wird von bestimmten Darmbakterien produziert. Mittlere Mengen von Vitamin K sind in Spinat und Kohl enthalten. Wasserlösliche Vitamine Die Vitamin B-Gruppe umfaßt die Vitamine Bj bis B12. Vitamin B! (Thiamin) dient dem Umsatz von Kohlenhydraten und Aminosäuren im Stoffwechsel. Sein Mangel verursacht die BeriberiKrankheit, die sich in Nervenentzündungen, Lähmungen der Gliedmaßen und Leberschwellung bemerkbar macht. Geringfügige Unterversorgung an Vitamin Bi hat Nervosität und verminderte geistige Spannkraft zur Folge. Der Tagesbedarf liegt bei 1 bis 2 Milligramm. Vitamin B! ist vor allem in Hefe, Vollkornbrot und Schweinefleisch enthalten. Vitamin B2 (Riboflavin)- Tagesbedarf 1,8 bis 2 Milligramm- hat bei unzureichender Zufuhr Wachstumsstörungen und Schädigung der 148 Haut zur Folge. Es ist vor allem in Hefe, Vollkornmehl und Leber enthalten. Mangel an Niacin (Tagesbedarf 9 bis 15 Milligramm) führt zu Pellagra (Entzündungen der Haut und Schleimhäute, Nervenstörungen). Es kommt hauptsächlich in Hefe, Getreidekeimlingen und Vollkornbrot vor. Folsäure (Tagesbedarf 0,4 Milligramm) wird in erhöhtem Maß während der Schwangerschaft benötigt. Hypovitaminose äußert sich in Schleimhautentzündung und Störung der Blutbildung. Folsäure ist in Leber und Weizenkeimen enthalten. Pantothensäure (Tagesbedarf 5 bis 10 Milligramm) ist für den Fettstoffwechsel von Bedeutung. Mangelerscheinungen sind selten. Pantothensäure findet sich in Weizenkeimen, Leber und Eidotter. Vitamin B6 (Pyridoxin) ist für den Stoffwechsel der Aminosäuren wichtig. Ungenügende Zufuhr äußert sich in Hautschädigungen, Entzündungen von Mund und Augen sowie in Depressionen. Der Tagesbedarf beträgt 1,8 Milligramm. Vitamin B6 kommt vor allem in Hefe, Weizenkeimlingen, Mais und Schweinefleisch vor. Vitamin B J2 (Cobalamin) ist zur Behandlung der perniziösen Anämie erforderlich; es spielt im Stoffwechsel eine vielseitige Rolle. Unzureichende Zufuhr führt zu Blutarmut (Anämie), Störungen des Eiweißstoffwechsels und Nervenstörungen. Sein Tagesbedarf ist 5 Mikrogramm. Vitamin B12 ist in Eigelb, Fisch, Fleisch und Leber enthalten, in pflanzlichen Produkten dagegen nicht. Vitamin C (Askorbinsäure) ist der Antiskorbutstoff, dessen Fehlen die einst so gefürchtete Seemannskrankheit (Skorbut) erzeugt. Nur der Mensch muß dieses Vitamin täglich mit der Nahrung aufnehmen, während es die meisten Tiere selbst aufbauen können. Seit Einführung der Vitamin C-reichen Kartoffel besteht bei uns kaum noch die Gefahr von Mangelerscheinungen. Diese äußern sich in Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Schwäche, Zahnfleischentzündungen sowie erhöhter Anfälligkeit gegen Infekte. Der Tagesbedarf an Vitamin C beträgt 75 Milligramm. Das Vitamin ist vor allem in Obst, Gemüse, Kartoffeln und Leber enthalten. Vitamin H (Biotin) wird »Hautvitamin« genannt, da sein Fehlen entzündliche Hautkrankheiten und Haarausfall bewirkt. Das Vitamin findet sich in Leber, Hefe und Sojamehl. Bei der Zubereitung von Speisen ist zu beachten, daß einige Vit149 amine hitzeunbeständig sind (Vitamin B^ Pantothensäure, Folsäure), andere wiederum gegen Sauerstoff (Vitamin A, D, E und C) und Licht (Vitamin A, K, B2 und B6) empfindlich sind. Ballaststoffe Unsere Nahrung besteht nicht nur aus Nährstoffen, die vom Körper aufgenommen und verbrannt werden können, sie enthält auch sogenannte Ballast- oder Faserstoffe, die nicht resorbiert, sondern mit dem Stuhl ausgeschieden werden. Die Bezeichnung Ballaststoffe ist irreführend; heute weiß man, daß diese Stoffe zur Anregung der Darmtätigkeit wichtige Funktionen ausüben. Sie fördern als Hilfsstoffe der Ernährung die Darmperistaltik und Darmendeerung, sie nehmen auch das Hungergefühl und bewahren so vor einer überreichlichen Ernährung (siehe auch Seite 63,172). Lebensmitteltechnologische Verfahren Die Verarbeitung und Zubereitung von Lebensmitteln geht in verschiedenen Bereichen vor sich: im Haushalt, in der Gemeinschaftsverpflegung und Gaststätten sowie in Gewerbe- und Industriebetrieben. Sie unterscheiden sich in ihrer Aufgabenstellung zum Teil wesendich. In Haushalt und Gemeinschaftsverpflegung wechseln täglich Art und Zusammensetzung der zubereiteten Lebensmittel. Die Gaststätte stellt mehrere Gerichte gleichzeitig her. Die gemeinsame Aufgabe der drei Bereiche ist die tägliche Versorgung mit genußfertigen Mahlzeiten. Das jahreszeidich und durch Ortslage bedingte Lebensmittelangebot wird in der Zusammenstellung von Speisen berücksichtigt. Haltbarmachung Lebensmittel erfahren beim Aufbewahren eine Reihe von Veränderungen. Sie trocknen ein oder nehmen Wasser auf, je nach ihrer Beschaffenheit und dem Feuchtigkeitsgehalt der Luft, sie altern durch biologische Veränderungen, an denen Enzyme, Wärme und Metalle beteiligt sein können. Schließlich verderben sie durch mikrobiologische Veränderungen, die durch Mikroben hervorgerufen werden. 150 Die Verfahren zur Haltbarmachung bezwecken, Mikroben und natürlich vorhandene Enzyme an ihrer Vermehrung beziehungsweise in ihrer Aktivität zu hindern. Die Alterungsvorgänge in Lebensmitteln können dadurch nur gehemmt, niemals aber ganz unterbunden werden. Desgleichen kann die Tätigkeit von Mikroorganismen nur für mehr oder weniger lange Zeiträume gehemmt werden. Trocknen, Salzen, Räuchern und mikrobiologische Säuerung sind von alters her bekannte Verfahrensweisen. Neueren Datums sind Pasteurisation, Sterilisation und Tiefkühlung. Die einzelnen Verfahren unterscheiden sich zum Teil beträchdich in den Veränderungen, die sie in den Lebensmitteln bewirken. Nicht nur der Geschmack wird meist ein anderer- auch der Gehalt an Nähr- und Wirkstoffen (vor allem der Vitamine) wird beeinträchtigt. Bei der Konservierung unterscheidet man physikalische Verfahren (Hitzebehandlung, Wasserentzug, Kältebehandlung und Bestrahlung) sowie chemische (Zusatz von Konservierungsmitteln, Säuern, Räuchern, Salzen, Pökeln). Lebensmittelzusatzstoffe und Fremdstoffe Lebensmittelzusatzstoffe sind Substanzen, die Lebensmitteln absichdich zur Erzielung bestimmter technologischer Wirkungen zugesetzt werden. Sie gelangen also im Zuge der Verarbeitung in unsere Nahrung. Der Einsatz von Zusatzstoffen in Lebensmitteln ist durch gesetzliche Bestimmungen eindeutig geregelt. Während früher die Verwendung von Zusatzstoffen weitgehend der Verantwortung des einzelnen Erzeugers überlassen war und nur grobe Mißbräuche gesetzlich strafbar waren, gibt es heute für bestimmte Lebensmittel detaillierte Listen der Substanzen, die verwendet werden dürfen, sowie Höchstmengen für ihren Einsatz in bestimmten Lebensmitteln. Zusatzstoffe sind zum Beispiel Konservierungsmittel, Antioxidantien, Farbstoffe, Verdickungs- und Geliermittel und Aromen. Bevor beispielsweise die Verwendung eines Farbstoffs in Lebensmitteln zugelassen wird, ist eine Reihe von toxikologischen Prüfungen unerläßlich. Man verfüttert zunächst sehr hohe Mengen des Farbstoffes an verschiedene Versuchstiere und prüft, ob diese Tiere häufiger Krankheiten bekommen als eine Kontrollgruppe, die normales Futter 151 erhalten hat. Wenn auch die Ergebnisse von Tierversuchen nicht uneingeschränkt auf den Menschen übertragen werden können, wird auf diese Weise doch mit hoher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Schädigung durch die zu prüfende Substanz ausgeschlossen. Erst wenn diese Untersuchungen abgeschlossen sind und den betreffenden Farbstoff als unschädlich ausgewiesen haben, kann er durch den Gesetzgeber zugelassen werden. Zur Beratung des Gesetzgebers auf diesem Gebiet wurden auf nationaler und internationaler Ebene Expertenkommissionen eingesetzt. Das wichtigste internationale Gremium zur Prüfung von Lebensmittelzusatzstoffen ist das Expertenkomitee der Weltgesundheits- und Ernährungsorganisation (FAO/WHO). Sie legt einen sogenannten ADIWert fest. Dieser bezeichnet den acceptable daily intake, das ist die duldbare Höhe der täglichen Zufuhr einer Substanz, angegeben in Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht. Dieser ADI-Wert ist Ausgangspunkt für die Beratungen auf nationaler Ebene. Obwohl die einzelnen Zusatzstoffe zum Teil sehr genau auf mögliche schädliche Wirkungen untersucht sind, weiß man relativ wenig über Wechselwirkungen zwischen mehreren Zusatzstoffen oder anderen Fremdstoffen, die in einem Lebensmittel vorkommen können. Es wird vermutet, daß die Anwesenheit mehrerer Zusatzstoffe, die für sich allein unschädlich sind, zu einer unerwünschten Summationswirkung führen kann. Außer der Forderung nach Unschädlichkeit wird von den Lebensmittelzusatzstoffen auch verlangt, daß sie technologisch notwendig sind. Bei der Erzeugung von Produkten mit langer Haltbarkeit beispielsweise sind Verfahren der Konservierung technologisch notwendig. Neben der physikalischen Konservierung durch Räuchern, Trocknen, Salzen oder Pökeln kann der Verderb durch Mikroorganismen auch durch Konservierungsmittel aufgehalten werden. Dieser Nutzen kann natürlich unterschiedlich bewertet werden, genauso wie die Bewertung eines Risikos ein subjektives Urteil voraussetzt. Hierfür ein Beispiel: Durch den Zusatz einer chemischen Substanz wird nicht selten ein Gesundheitsrisiko in Kauf genommen, weil durch eben diesen Zusatz ein anderes Gesundheitsrisiko vermieden werden soll. So setzt man bestimmten Fleischwaren die chemische Substanz Nitrit zu, um damit das Wachstum bestimmter Mikroorganismen zu verhindern, welche den gefürchteten Botulismus hervorrufen. Durch den Zusatz 152 von Nitrit können auf der anderen Seite aber die sogenannten Nitrosamine gebildet werden, die als krebserregend bekannt sind. Die Problematik des Zufügens von Lebensmittelzusatzstoffen liegt also im Abwägen von Nutzen und Risiko oder vielmehr im Abwägen verschiedener Risiken gegeneinander. Neben den Lebensmittelzusatzstoffen gibt es noch eine Vielzahl von Substanzen, die unbeabsichtigt in Lebensmittel gelangen (Fremdstoffe). Hierbei handelt es sich zum einen um chemische Substanzen, die in der Tierzucht oder zur Pflanzenbehandlung eingesetzt werden (Pflanzenschutzmittel, Wachstumsförderer und so weiter). Im weiteren gehören dazu Verunreinigungen, die durch die allgemeine Umweltverschmutzung in Lebensmittel gelangen. Beachtung verdienen dabei Schwermetalle wie Blei, Kadmium und Quecksilber. Diese Elemente kommen nicht nur in der Nahrung vor; besonders in der Stadtluft atmen wir täglich Blei, Ruß und andere schädliche Substanzen ein. Es handelt sich also um ein Problem, das weit über den Bereich der Lebensmittel hinausgeht. Es gibt jedoch auch viele gesundheitsschädliche Substanzen, die natürlich in Lebensmitteln vorkommen. Dabei handelt es sich häufig um kompliziert zusammengesetzte Stoffe. Viele von ihnen wurden erst in jüngster Zeit als schädlich erkannt. Manche Lebensmittel enthalten beispielsweise giftige Eiweißstoffe. Diese hemmen die Tätigkeit gewisser Enzyme. Da Eiweißstoffe durch Erhitzen ihre spezifischen, physiologischen Eigenschaften zum Teil verlieren, werden die toxischen Eiweißstoffe beim Kochen weitgehend inaktiviert. Auch findet man in vielen Pflanzen sogenannte Pflanzenphenole, die zum Teil unerwünschte Nebenwirkungen im menschlichen Stoffwechsel zeigen. Manche Inhaltsstoffe von Pflanzen rufen Krankheiten hervor: Die Saubohne den Favismus, Bohnen eine Form der Gastroentritis, Blausäure enthaltende Lebensmittel, vor allem Bittermandelöl, Vergiftungen, manche Fische, die Ichthyotoxine enthalten, lebensgefährliche Vergiftungen und so weiter (Lit. 59). Besondere Beachtung fanden in letzter Zeit die Aflatoxine. Sie werden durch Schimmelpilze gebildet und gehören zu den stärksten Giften, die bekannt sind. Aflatoxine findet man in verschimmelten Erdnüssen, Getreide, Bohnen und Käse. Sie dringen von den verschimmelten Stellen aus erheblich in die Tiefe. In verschimmeltem Vollkornbrot hat 153 man noch 7 Zentimeter von den Pilzfäden entfernt, bedeutende Mengen dieses Giftes gefunden. Daher ist es unbedingt notwendig, auch nur leicht schimmlige Lebensmittel wegzuwerfen. Dagegen dürfte es sich bei »Sutoxin«, einem nach Reckeweg in Schweinefleisch enthaltenem Gift um eine Erfindung handeln (Lit. 60). Er behauptet, Schweinefleisch sei reich an »toxischen Fettsäuren«, sei »im Übermaß« mit Histamin belastet, das Juckreiz und Entzündungen hervorruft, und berge im Blut einen »eigentümlichen Faktor«, der Krebs hervorrufe. Den Nachweis für seine Behauptungen konnte Rekkeweg bislang nicht erbringen. Abgesehen davon, daß die in Schweinefleisch enthaltenen Fettsäuren nach Art und Menge hinreichend genau bekannt und als solche zweifelsfrei nicht toxisch sind, ist Schweinefleisch auch keineswegs im Übermaß mit Histamin belastet - Wein und Käse enthalten im Durchschnitt zehnmal soviel. Der eigentümliche Krebsfaktor dürfte auch weiterhin unentdeckt bleiben. Ernährungsinformation und Ernährungsberatung Ernährungsberatung— ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheitspflege- hat das Ziel, wissenschafdiche Erkennmisse auf dem Gebiet der. Ernährung in die Praxis des Verbrauchers zu übertragen. Neben ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten sind dabei psychologische und soziologische, insbesondere aber auch wirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen, da eine erfolgreiche und andauernde Änderung des Ernährungsverhaltens nicht unabhängig von der jeweiligen Lebenssituation erreicht werden kann. Im Gegensatz zur klinisch-diätetischen Ernährungsberatung, die der Besserung und Heilung von ernährungsabhängigen Krankheiten dient, wendet sich die allgemeine Ernährungsberatung vorwiegend an den gesunden Menschen. Sie gibt ihm Anleitungen, wie er die Ernährung auf seine Bedürfnisse abstimmen und damit eine unerläßliche Voraussetzung für Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit schaffen kann. Ernährungsberatung ist zunächst einmal Ernährungsinformation. Ernährungsinformation kann zumeist keine Eßgewohnheiten verändern. Das Wissen um eine »gesunde« Ernährung führt nur selten zu 154 einer Änderung des Ernährungsverhaltens. Es ist eine psychologische Realität, daß Menschen, auch wenn sie selbst überzeugt sind, sich vernunftgesteuert zu verhalten, dennoch in weiten Bereichen durch andere Beweggründe als durch rationale Argumente beeinflußt werden. So wichtig Ernährungsinformation ist, mit ihrer Verbreitung allein ist es keineswegs getan. Zahlreiche Kampagnen zur Gesundheitserziehung versuchten klarzumachen, daß bestimmte Konsumgewohnheiten Krankheit zur Folge haben können. Beispiele hierfür sind die weltweiten Kampagnen gegen Rauchen und Karies. Demographische Untersuchungen zeigen aber deutlich, daß »Angst vor Krankheit« kein wirksames Motiv zur Verhaltensänderung ist. Sie führt dazu, daß der Raucher ein schlechtes Gewissen hat, weil ihm gesagt wird, daß Rauchen ungesund ist. Der Gedanke, daß zu viele Zigaretten ihn krank machen könnten, hält ihn - solange er gesund ist - jedoch nur in wenigen Fällen vom Rauchen ab. Ebenso führt die Erkenntnis, daß Völlerei ungesund sein kann, in der Regel nicht zur Askese beim Essen. Motive, die stärker wirken als Angst vor Krankheit, könnten zum Beispiel ästhetische Motive sein. Da heutzuuge eine schlanke Linie als schön gilt, sind viele Menschen — vor allem Frauen - bestrebt, ihr Körpergewicht möglichst niedrig zu halten. Die Menschen fasten, weil sie schlank- und damit schön- sein wollen. Die Gesundheit kommt erst an zweiter Stelle. Anders ist es, wenn jemand schon krank geworden ist— dies kann ihn zu einschneidenden Änderungen seines Eßverhaltens bewegen. Damit werden zwei grundsätzlich verschiedene Methoden der Ernährungserziehung deutlich: die Vermittlung von Erkennmissen über Krankheit als Folge falscher Ernährung (Schaffung von Feindbildern) und die Schaffung von anstrebenswerten Vorbildern. Die erste Methode hat nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Daher geht man immer mehr dazu über, positive Leitbilder zu schaffen. Gesundheitserziehung soll informieren, Leitbilder schaffen sowie Emotionen und Traditionen berücksichtigen. Wenn man jemanden zu etwas motivieren will, so heißt dies, daß man gezielt seine Beweggründe und Triebe oder Motive ansprechen muß, um ihn für ein bestimmtes Ziel zu bewegen. Dies kann man durch positive Anreize erreichen. Sie haben eine viel größere Wahrscheinlichkeit, das menschliche Verhalten zu verändern, als negative. Der Mensch wäre überfordert, wenn von ihm verlangt würde, daß 155 er seine Verhaltensweisen schnell ändert. Verhaltensweisen, die seit sehr langer Zeit bestehen, sind zur lieben und vertrauten Gewohnheit geworden. In hohem Maß gilt das für das Ernährungsverhalten. Eine gezielte Änderung des Ernährungsverhaltens muß daher nach dem Prinzip der kleinen Schritte erreicht werden. Statt darauf zu warten, daß der Mensch sein Verhalten plötzlich von Grund auf ändert, sollte er dazu gebracht werden, einzelne neue Verhaltensschritte nach und nach einzuüben. Mehrere solche Schritte führen schließlich zu einer neuen Verhaltensweise, die die alte Gewohnheit ablöst. Man sollte jeden Verhaltensschritt positiv verstärken (zum Beispiel durch Lob oder soziale Anerkennung), der in die Richtung des erwünschten Verhaltens und weg von alten Gewohnheiten führt. Um das Ernährungsverhalten zu ändern, genügt es nicht, den Ratsuchenden als »Adressaten« für Ernährungsberatungsmaßnahmen zu behandeln, er muß vielmehr in den Beratungsprozeß einbezogen werden. Als besonders günstig für die Beteiligung des einzelnen an Entscheidungsprozessen haben sich Gruppen erwiesen. Gemessen an bloßer Wissensvermittlung ist die gemeinsame Arbeit in kleinen und überschaubaren Gruppen offenbar wirksamer, um dauerhafte Verhaltensänderungen zu erreichen. Tips zum Abnehmen In mehreren Kapiteln dieses Buches habe ich mich bereits mit Fragen der Gewichtsreduktion befaßt, mit den mannigfachen Ursachen von Übergewicht und den zahlreichen Diätformen zu seiner Beseitigung. An dieser Stelle sollen nun einige Ratschläge gegeben werden, die Personen, die abnehmen wollen, beachten sollten. Zu allererst: Abnehmen setzt voraus, daß weniger an Energie aufgenommen als durch Grund- und Arbeitsumsatz verbraucht wird. Mit anderen Worten, weniger essen und trinken. Anzuraten ist eine energiereduzierte Mischkost, zu vermeiden sind vor allem fettreiche Speisen und Alkohol. Jede einseitige Ernährung ist sinnlos - wenngleich sie zu kurzfristigen Erfolgen führen kann, ist die Gewichtsabnahme doch nur in den seltensten Fällen dauerhaft. Abgesehen davon schadet einseitige Ernährung auf lange Sicht der Gesundheit. Das alte Prinzip »FdH« hat demnach durchaus Meriten. Zu Formen der energieredu156 zierten Mischkost gehören unter anderem die Brigitte-Diät, die Brotdiät nach Menden und die Ratschläge der Weight Watchers. Diese Diätorganisation hat übrigens international Bedeutung erlangt. Millionen Abmagerungswillige in aller Welt treten diesem Verein bei, um durch Kalorienreduktion, ein Bewegungsprogramm und gegenseitige Gewichtskontrolle abzunehmen. Wichtig ist, nicht zuviel in zu kurzer Zeit zu erwarten. Man setze sich zunächst ein relativ bescheidenes Ziel. Hat man dieses erreicht, kann man sich ein weiteres vornehmen. Verhaltenstherapeutisch orientierte Programme wie das von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und anderen Fachorganisationen herausgegebene Ich nehme ab zeigen, welches die »Risikosituationen« sein können, in denen man Vorsätze zur Zurückhaltung durchbricht. Jeder Übergewichtige zeigt ihm eigene Verhaltensmuster. Erst wenn er lernt, diese bewußt zu erfassen, kann er auch darangehen, sie zu ändern. In vielen Fällen genügt übrigens schon ein einfacher Trick, um eine Energiereduktion zu erreichen: Man führe über alles, was man ißt und trinkt, genau Buch. Die Erfahrung zeigt, daß diese Maßnahme, so einfach sie klingt, durchaus Erfolg hat. Wer über längere Zeit hinweg sehr wenig zu sich nimmt, konsultiere seinen Arzt. Ergänzung durch Vitamine und Mineralstoffe kann bei strenger Diät nützlich sein. Von Appetitzüglern (Amphetaminen) und anderen Schlankheitsmedikamenten ist generell abzuraten. Ein wichtiger Punkt ist Sport. Bewegung jeder Art, und wenn es nur Bergwandern ist, setzt Energie frei - zwar weniger, als manche wahrhaben möchten, doch ist unbestritten, daß ein trainierter Körper zu mehr Wohlbefinden verhelfen kann als ein träger. Bei allen Versuchen abzunehmen, ist schließlich eine Tatsache zu bedenken: Es ist für die meisten Menschen relativ leicht, durch Einschränkung beim Essen und Trinken ein paar Kilogramm abzunehmen. Das eigentliche Problem kommt erst, wenn es darum geht, das »neue« Gewicht auch zu halten. Wer Familienangehörige hat oder oft bei Bekannten eingeladen ist, die gern und viel essen und trinken (und für Abmagerungswünsche nichts übrig haben), wird es schwer haben. Hilfreich ist oft, die Gemeinschaft einer Gruppe von Diätwilligen zu suchen. Dort findet man am ehesten das Verständnis und die Umgebung, die für eine Korrektur der Ernährungsgewohnheiten nötig sind. 157 Ernähren sich die Deutschen ausgewogen? Eine Frage, von der zweifelhaft ist, ob sie überhaupt einen Sinn hat. Wer sind »die Deutschen«? Jeder hat seine eigenen Gewohnheiten und Vorlieben, gerade beim Essen und Trinken. Und doch - sehen wir uns an, was die Ernährungserhebungen und Verbrauchsstatistiken der Bundesrepublik Deutschland über den Durchschnittskonsum an Nahrungs- und Genußmitteln aussagen, und vergleichen wir die Ergebnisse in einem Überblick mit den Bedarfsweiten der Ernährungswissenschaftler. Pro Kopf und Tag sind etwa 14 000 kJ oder 3 370 kcal verfügbar. Verfügbar heißt, daß insgesamt weniger aufgenommen w i r d - die Wegwerfrate liegt bei mindestens 10 Prozent. Man kann demnach davon ausgehen, daß der Durchschnittskonsum bei rund 3 000 kcal liegt. Die Zufuhrempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung liegt bei 2 400 kcal. Fazit: Es wird im Durchschnitt um einiges (etwa 20 Prozent) zuviel gegessen und getrunken. Der Verbrauch an Nahrungsenergie hat sich aber bemerkenswerterweise — von Krisenzeiten abgesehen - in den vergangenen Jahrzehnten nicht geändert. Stark verschoben hat sich dagegen das Verhältnis zwischen den wichtigsten Energieträgern, und zwar zugunsten von Fett. Etwa 40 Prozent der Energie werden in Form von Fett zugeführt, gegenüber der Empfehlung (30 bis 35 Prozent) deutlich zuviel. Einschneidend ist aus dem historischen Blickwinkel der Rückgang des Verbrauchs an Kartoffeln, Getreideprodukten, Hülsenfrüchten und Milch. Zunahmen sind bei Obst, Gemüse, Käse, Eiern und Fleisch zu verzeichnen. Was die essentiellen Nahrungsfaktoren anlangt, ist die Versorgung in vieler Hinsicht aureichend. Mäßige Versorgung besteht bei Kalzium, Eisen, Thiamin und - bei Jugendlichen - hinsichdich der Vitamine B2 und B6. Eindeutig zuviel wird Natrium (Kochsalz) aufgenommen. Aufgrund dieser Bestandsaufnahme sind einige Schlußfolgerungen angebracht: die Energieaufnahme ist einzuschränken (oder aber das Ausmaß an körperlicher Betätigung zu erhöhen); die Anteile an Fett und Alkohol sind zugunsten der Kohlenhydrate zu vermindern. Lebensmittel, die reich an Kalzium, Eisen und Thiamin sind, sollten bevorzugt verzehrt werden. Wünschenswert ist schließlich, weniger salzig zu essen. 158 Ich polemisiere in diesem Buch oftmals gegen die Gewohnheit, mit Durchschnittswerten zu arbeiten, das heißt, so zu tun, als ob wir »Normalmenschen« seien, die man über einen Leisten schlagen kann. Dabei bleibe ich natürlich auch jetzt: Die obigen Ausführungen bilden bestenfalls einen Fingerzeig (die statistisch ermittelten Bedarfswerte sind ohnehin mit erheblichen Unsicherheiten behaftet), keinesfalls können sie als Dogma gelten. Abgesehen davon bringen globale Emährungsempfehlungen dem einzelnen recht wenig, da er im Regelfall gar nicht beurteilen kann, ob er sich »durchschnittlich« verhält oder nicht. Man nehme diese Bestandsaufnahme als das, was sie ist - als Darstellung des vermutlichen Ist-Zustandes. Nicht mehr und nicht weniger. Wie kommt eine wissenschaftlich fundierte Ernährungstherapie zustande? Die meisten Entdeckungen in der Naturwissenschaft haben ihren Ursprung in der Beobachtung eines einzelnen Menschen. Das gilt auch für Medizin und Ernährungswissenschaft. Nehmen wir an, der Arzt Dr. F. legt eine Bakterienkultur an und beobachtet durch Zufall, wie die Bakterien in einem bestimmten Bereich des Nährbodens nicht so recht wachsen. Er sieht näher hin und findet in der Gegend winzige Pilze. Vielleicht mißt er dieser Beobachtung keine besondere Bedeutung zu. Versucht er jedoch, die Beobachtung durch einen gezielten Versuch zu wiederholen, kann er herausfinden, daß bestimmte Pilze einen Stoff bilden, der das Wachstum von Bakterien hemmt. Genauso hat der Engländer Alexander Fleming das Penicillin entdeckt. Beobachtung ist also nicht alles. Wird eine bestimmte Beobachtung im Bereich der klinischen Medizin mehrmals und mit übereinstimmenden Resultaten gemacht, spricht man von klinischer Erfahrung. Diese kann bestenfalls als Hypothese gelten, keinesfalls jedoch als Beweis etwa für die Wirksamkeit einer neuen Heilmethode. Die Wirksamkeit einer therapeutischen Maßnahme wird erst durch den kontrollierten klinischen Versuch untermauert, in welchem die therapeutische Maßnahme hinsichtlich ihrer Effektivität mit einem Placebo (Scheinmedikament oder Scheinmaßnahme) verglichen wird. Zahlreiche Impulse erhalten die Emährungsforscher auch durch Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen (siehe Seite 193). Dabei 159 werden die Ernährungsgewohnheiten und Krankheitshäufigkeiten zweier oder mehrerer Bevölkerungskollektive verglichen und statistisch miteinander in Beziehung gesetzt. Wie bei der Einzelbeobachtung ergeben sich daraus Anhaltspunkte, jedoch keine Beweise. Auch der Tierversuch kann nicht den Beweis erbringen, daß eine bestimmte Therapie beim Menschen wirksam ist. Experimente an Tieren helfen jedoch in vielen Fällen, den biochemischen Mechanismus aufzufinden, nach welchem eine bestimmte Substanz oder Ernährungsform den Stoffwechsel beeinflußt. Daraus können sich wichtige Indizien hinsichtlich der Übertragbarkeit eines tierexperimentellen Befunds für den Menschen ergeben. Für die Bewertung der Gültigkeit einer Aussage ist auch die biologische Plausibilität wichtig. Aufgrund des gesicherten Wissens über die Vorgänge im Stoffwechsel lassen sich viele Aussagen als »im Prinzip plausibel« einstufen (wodurch sie noch nicht bewiesen sind), andere aber von vornherein als unplausibel erkennen (wodurch sie noch nicht widerlegt sind). Woran man Ernährungs-Quacksalber erkennen kann »Quacksalber« ist ein anderer Ausdruck für »Kurpfuscher« und wurde im 16. Jahrhundert aus dem niederländischen kwakzalver entlehnt, das soviel wie »prahlerischer Salbenkrämer« bedeutete. Quacksalber zogen damals durch die Lande und priesen allerlei Medikamente als Allheilmittel an. Worum es mir im folgenden geht, ist aufzuzeigen, wie man unseriöse Ernährungsempfehlungen und deren Verfechter als solche entlarven kann. Die etwas verächtliche Bezeichnung Quacksalber habe ich dabei mit voller Absicht gewählt. Um nicht genau einem der Kardinalfehler zu verfallen, den ich den Diätaposteln vorhalte, nämlich pauschal und dogmatisch zu agieren, möchte ich allerdings klarstellen, daß dieses Kapitel nur Indizien anführen soll und keine Beweise. Es geht nicht darum, wohlmeinendes Gesundheitsstreben zu verhöhnen. Worum es aber sehr wohl geht, ist, Merkmale aufzuzeigen, die vielen unseriösen Ernährungsdoktoren (oder nicht einmal Doktoren) eigen sind. Woran erkennt man Ernährungs-Quacksalber? 160 Erstens: Sie veröffentlichen ihre Weisheiten nicht in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften, sondern in der Laienpresse. Das medizinische Establishment, so sagen sie, sei eine »Mafia«, die ihre neuen Erkenntnisse unterdrücken wolle. Zweitens: Ihre Diätempfehlungen oder ihre Erkennmisse verkünden sie stets als »revolutionär«. Im Falle der Schlankheitskuren ist von vornherein Vorsicht am Platz, wenn behauptet wird, man könne »ohne zu hungern schnell schlank« werden und dergleichen. Drittens: Zum Beweis für die Richtigkeit ihrer Thesen stellen sie Einzelschicksale dar (ein alter Journalistentrick); Frau X oder Herr Y sei durch die Diät Z gesund geworden und so weiter. Häufig sind es die Verkünder selbst, die erzählen, sich mit ihrer neuesten Diät selbst geheilt zu haben, und nun mit ihrem »Erfolg« die ganze Welt beglükken möchten. Kontrollierte Studien können sie dagegen nicht vorweisen. Viertens: Sie empfehlen, ein Produkt zu kaufen, das man sonst wohl nicht gekauft hätte. Das gilt für manche Schlankheitspräparate ebenso wie für diverse dubiose Medikamente (das gleiche tun übrigens alle Werbemanager und Verkäufer, die ein neues Produkt an den Mann bringen wollen - Merkmal 4 ist also für sich genommen nicht anwendbar). Viele messen auch in der Nahrung vorkommenden Substanzen meist Vitaminen - eine Bedeutung zu, die diese gar nicht haben. Fünftens: Außenseiter suggerieren, eine bestimmte Krankheit sei ausschließlich auf »Ihre falsche Ernährung« zurückzuführen (die wenigsten Leiden haben aber ausschließlich oder auch nur vorwiegend ernährungsbedingte Ursachen). Würde man die von ihnen empfohlene Diät einhalten, so ihre These, dann genese man rasch und sicher. Sechstens: Sie geben vor, unsere Nahrung sei völlig vergiftet; man solle deshalb nur Naturbelassenes aus biologischem Anbau essen. Dann ernähre man sich »gesund«. Mag sein, daß sich diese Liste fortsetzen ließe. Ich meine jedoch, diese Beispiele sollten ausreichen. Im Grunde genommen bleibt bei der Beurteilung vieler Außenseiter das eigentlich unlösbare Problem übrig, daß diese in bester Absicht zu handeln vermeinen (bei weitem nicht alle, so behaupte ich, handeln aus kommerziellen Motiven), mit ihrem guten Willen aber häufig mehr Schaden als Nutzen anrichten. Zu diesem Schaden gehören aber zwei Partner: einer, der eine unseriöse Empfehlung abgibt (egal, ob in guter Absicht oder nicht), und ein 161 zweiter, der sie befolgt. Das Phänomen der Quacksalber läßt sich also von der Leichtgläubigkeit vieler Menschen, insbesondere in Ernährungsfragen, keineswegs abtrennen. Diese Leichtgläubigkeit ist nicht zuletzt eine Folge des geringen Wissens um Nahrung und Ernährung in der Bevölkerung. Ein Manko, das mindestens ebenso kritikwürdig ist, wie es die Thesen der Außenseiter sind. 162 Warum Schlankheitsdiäten manchmal gefährlich, meist aber unwirksam sind Es gibt kaum ein Lebensmittel, das nicht irgendwann einmal als ideales Mittel zum Abnehmen propagiert worden wäre. Wer das nicht glaubt, der blättere ein paar Jahrgänge der großen Illustrierten und Gesundheitsmagazine durch: von der Milchdiät zur Brotdiät, von der Eierdiät zur Sauerkrautdiät, von der Steakdiät zur Nudeldiät, von der Obstdiät zur Kartoffeldiät- jedesmal ist es dasselbe: Irgendein Ernährungswissenschaftler oder zumindest ein Dr. med. wird zu den Vorzügen des jeweils erwähnten Lebensmittels befragt. Mit diesem fachlichen Segen ausgerüstet, verkünden die Medienmacher dann ihre »neueste« Diätvariante. Anpreisungen wie »Endlich - ohne Hungern schlank und fit!« dürfen keinesfalls fehlen. Obligatorisch sind auch zwei Fotos von derselben Frau - einmal dick und häßlich, dann schlank und schön - mit den dazugehörigen Bildunterschriften »vor der Diät« und »nach der Diät«. In den meisten Fällen folgen dann noch Rezepte und Einkaufstips. Weil es aber doch nur eine beschränkte Anzahl von Nahrungsmitteln gibt, die das Zeug für eine Diät haben, griffen die Ernährungsapostel, als der Vorrat allmählich ausging, zuweilen auch über ihr Fachgebiet hinaus. Das Ergebnis: »Psychodiät«, »Schlank werden durch Selbsterkenntnis« oder »Schlank durch Sex«. Auch Lebensmittelerzeuger haben den Zug der Zeit erkannt; das Resultat ist eine Fülle von Schlankheitspräparaten, von der Alge Spirulina bis zu irgendwelchen mehr oder weniger sinnvollen Eiweißkonzentraten. Eine Kostprobe gefällig? In Tageszeitungen wurde vor einiger Zeit mit ganzseitigen Inseraten unter der Schlagzeile geworben: »Wunderbarer wissenschaftli163 eher ANTIFETT-DURCHBRUCH, der bis hundert Pfund häßliches Fett wegschmilzt und Ihren Körper zwingt, alles überflüssige Fett wegzubrennen, indem er alle Kalorien der von Ihnen verzehrten Nahrung neutralisiert.« Läßt man diesen Diätrummel unbeeinflußt vor sich Revue passieren, drängt sich der Schluß auf, daß da doch irgend etwas nicht stimmen könne. Zum einen gilt wohl die banale Feststellung, daß, wenn die Abmagerungskuren so erfolgreich wären, wie behauptet wird, die Zahl der Übergewichtigen eigentlich schon längst drastisch zurückgegangen sein müßte — das ist aber, wie wir aus statistischen Erhebungen wissen, nicht der Fall, eher das Gegenteil. Zum anderen werden von den Abspeckaposteln sehr oft Behauptungen aufgestellt, die nicht nur in krassem Widerspruch zu gesicherten Erkenntnissen der modernen Ernährungswissenschaft stehen, sondern auch mit den Aussagen ihrer »Konkurrenten« ganz und gar unvereinbar sind (trotzdem gibt es Diätbücher, in welchen diese ohne viel Aufhebens, munter aneinandergereiht, angepriesen werden). Atkins-Diät: Abnehmen mit Eiern und Steaks »Während Kohlenhydrate und Fett vom Körper gespeichert werden können, gibt es für Eiweiß kein Depot«, sagt beispielsweise Robert C. Atkins. »Es muß dem Körper immer wieder mit der Nahrung zugeführt werden und genau hier beginnt der zentrale Kreislauf für die wohl interessanteste Diät, die man sich vorstellen kann. Viel Eiweiß, wenig Kohlenhydrate = Gewichtsreduktion in einem ziemlich raschen Tempo, ohne die üblichen Begleiterscheinungen wie Hungergefühl, Leistungsschwäche, Niedergeschlagenheit.« Dagegen wetterte eine Illustrierte mit der Schlagzeile »Viel schlimmer als Übergewicht: Die Steakkrankheit — Der Frankfurter Stoffwechselforscher Lothar Wendt warnt mit Nachdruck vor der heute üblichen Eiweißmast: »Während bei Fettsucht die Fettspeicher unserer Körper überfüllt werden, kommt es bei einseitiger Fleischüberernährung zur Steakkrankheit. Es werden durch Eiweißablagerungen unsere Eiweißspeicher überfüllt. Das verhindert den Austausch von Nährstoffen zwischen den Blutgefäßen und Zellen. Bluthochdruck, erhöhter Blutzucker oder auch andere krankhafte Veränderungen sind die Folge<.« 164 Was stimmt nun? Gibt es Eiweißspeicher oder gibt es keine? Sollen wir viel Eiweiß essen oder nicht? Sehen wir uns die Diätempfehlungen des amerikanischen Arztes Robert C. Atkins noch etwas näher an (Atkins hat übrigens in den letzten Jahren mehrere Bücher verfaßt, die sich in ihren Aussagen teilweise unterscheiden. Wir beschränken uns im folgenden auf einige seiner grundlegenden Behauptungen). »Die Unwichtigkeit der Kohlenhydrate«, argumentiert Atkins, »gehört zu den biologischen Grundsätzen, die eine Diät, bei der ihre Zufuhr beschränkt wird, so leicht durchführbar, sicher und wirksam machen« (welch überzeugende Beweisführung!). Die Vorteile der kohlenhydratfreien Ernährung laut Atkins: »Je mehr ich aß, um so mehr nahm ich a b . . . « ; »er nimmt ab, und sein Cholesterinspiegel sinkt durch Eier und dicke Steaks.« Der Mangel an Seriosität des Herrn Atkins zeigt sich schon am Titel seines ersten Bestsellers: Diät-Revolution. Nichts ist daran revolutionär: Bereits 1863 hatte der Engländer William Banting in seinen Briefen über die Korpulenz eine kohlenhydratarme und sehr eiweißreiche Diät propagiert, nachdem er auf Anraten seines Arztes Harvey ein derartiges Regime befolgt und von extremem Übergewicht befreit worden war (Harvey hat die Idee übrigens bereits 1856 von dem Pariser Arzt Claude Bernard übernommen). Ähnliche Diätformen wurden in den letzten Jahrzehnten unter folgenden Bezeichnungen immer neu aufgewärmt: Pennington's Diet (1953), Air Force Diet (1960), Fett macht schlank- Calories don't count (1961), The Drinking Man's Diet (1964), Stillmann-Diät (1967) und so fort (Lit. 61). Wie ein roter Faden zieht sich seit nunmehr hundertzwanzig Jahren durch die Diätliteratur die Behauptung, es seien die Kohlenhydrate, die vorrangig Schuld an der Fettleibigkeit trügen. Nun kommt Atkins, verkündet die Lehre in neuer Verpackung - und verkauft allein in den USA über eine Million Exemplare in wenigen Monaten. Nicht nur der vielerorts verteufelte »weiße Zucker«, sondern Kohlenhydrate überhaupt, also auch Kartoffeln, Reis und Brot, sind bei Atkins verpönt. Mit Aussagen ähnlichen Inhalts arbeitet übrigens auch der Salzburger Arzt Wolfgang Lutz, der vor ein paar Jahren ein Buch mit dem Titel Leben ohne Brot auf den Markt brachte. 165 »Schuld sind die Kohlenhydrate« Die Argumente der Kohlenhydratfeinde lauten, kurzgefaßt, folgendermaßen: Der wichtigste Energielieferant im menschlichen Stoffwechsel ist der Einfachzucker Glukose. Er wird durch das Blut in alle Körpergewebe transportiert. Der gesunde Organismus besitzt einen effizienten Mechanismus, den Gehalt des Blutes an Glukose in engen Grenzen konstant zu halten; wesentlichen Anteil an diesem Mechanismus hat das Hormon Insulin, welches immer dann, wenn durch Nahrungsaufnahme vermehrt Zucker ins Blut kommt, ebenfalls vermehrt ausgeschüttet wird und dafür sorgt, daß die Glukosekonzentration im Blut im Normbereich bleibt. Schwankungen der Glukosekonzentration treten aber trotzdem auf; werden sie zu groß, spricht man von gestörter Kohlenhydrattoleranz. Genau hier setzen Atkins, Lutz und andere an: Sie diagnostizieren beim Fettsüchtigen abnormale Reaktionen des Blutzuckerspiegels nach einer Kohlenhydratbelastung. Lutz: »Offensichtlich wird zuviel Insulin produziert... damit wird der Zucker, schon bevor er ins Blut kommt, weggeräumt und, wie man weiß, in Fett umgewandelt. Unnötig viel Insulin bedeutet daher, daß mehr Zucker als zweckmäßig zu Fett wird . . . beim Fetdeibigen wandelt sich alles Kohlenhydrat, das er ißt, in Fett, auch das, womit er Energie gewinnen müßte« (Lit. 62). Der logische Schluß: Weg mit den Kohlenhydraten! Tatsache ist, daß Personen, die sich weitgehend kohlenhydratfrei ernähren, abnehmen. Tatsache ist aber gleichfalls, daß eine eiweiß- und fettreiche Ernährung auf die Dauer alles andere als gesund ist (auch wenn immer wieder auf die Eskimos verwiesen wird, die bis vor nicht allzu langer Zeit fast ohne Kohlenhydrate lebten - die Eskimos essen aber keineswegs Eiweiß und Fett in Mengen, wie es bei Atkins erlaubt, ja sogar empfohlen wird). Ständige Zufuhr hoher Fleischanteile in der Ernährung führt in vielen Fällen zu Gicht. Auch ein Mangel an Ballaststoffen infolge kohlenhydratarmer Ernährung kann sich ungünstig auswirken (siehe Seite 63). Die kohlenhydratfreie Atkins-Diät, kritisiert der Frankfurter Stoffwechselforscher Harald Förster, »schafft nach unseren derzeitigen Erkenntnissen die idealen Voraussetzungen für das Eintreten eines Herzinfarktes«. Durch ständige Erhöhung der Fettsäurekonzentration im Blut infolge der einseitigen Ernährung komme es zur sogenannten 166 Ketose. Eine länger andauernde Ketose könne zu Herzmuskelverfettung führen; hohe Fettsäurewerte verursachten Herzrhythmusstörungen und eine beschleunigte Blutgerinnung. Dazu komme noch der hohe Cholesteringehalt eiweißreicher Nahrung, der sich ebenfalls ungünstig auswirken könne. Die Behauptung Atkins', der Cholesterinspiegel sinke durch Eier und Steaks, sei völlig aus der Luft gegriffen und so weiter (Lit. 63). Der Vollständigkeit halber soll hier noch eine weitere cholesterinreiche Diät erwähnt werden, die Sippy- oder Sahne-Milch-Diät. Sie enthält vorwiegend Fett, Eiweiß sowie Milchzucker und wurde in verschiedenen Varianten jahrelang durchgeführt, um den Schmerz bei Magengeschwüren zu lindern. Dann allerdings stellte sich heraus, daß bei den solcherart diätetisch behandelten Patienten die Infarkthäufigkeit deutlich erhöht w a r - offenbar als Folge der Sippy-Diät (Lit. 64). Fazit: Eiweißreiche und sehr kohlenhydratarme Ernährung ist, auf lange Dauer eingehalten, gesundheitsschädlich. Ketose - ein geheimnisvoller Faktor? Das Stichwort »Ketose« ist ein zentraler Begriff in der Diskussion um kohlenhydratarme Kostformen. Um diese Erscheinung zu erklären, müssen wir etwas weiter ausholen. Der menschliche Stoffwechsel ist mit einem hervorragend funktionierenden System der Energieversorgung in den Zellen ausgestattet, das auch unter extremen Zuständen, wie etwa bei langem Fasten, arbeitet. Wesentlichen Anteil daran haben die verschiedenen Formen der Energiespeicherung. Sie ermöglichen es, daß der Körper nicht ständig »Treibstoff« in kleinen Mengen zu sich nehmen muß, so, wie er ständig zur Sicherung seiner Sauerstoffversorgung zu atmen gezwungen ist. Aus den mit der Nahrung aufgenommenen Nährstoffen legt der Körper Energiedepots an, die bei Bedarf aktiviert werden. Die Reserven an Kohlenhydraten sind sehr gering, sie reichen nicht einmal zur Energieversorgung eines Tages. Die Fettreserven hingegen speichern Treibstoff für Wochen und Monate; auch Eiweiß ist eine potentielle Energiequelle und sehr häufig wird sie vom Körper auch als solche verwendet. Da Eiweißstoffe aber auch als Baustoffe dienen, kann nicht alles Eiweiß zur Energiegewinnung verbrannt werden. 167 Sehen wir uns nun den Einfluß von Mahlzeiten auf die Verteilung der Energieträger an: Eine einzige Scheibe Brot versorgt den Körper mit wesentlich mehr Kohlenhydraten, als im Blut insgesamt enthalten sind. Im Endeffekt werden die verdaulichen Kohlenhydrate des Brotes zu Glukose abgebaut. Diese dient als Transportform für Energie. Gäbe es nicht eine Anzahl von Ausgleichsreglern, so würden Blut und Gewebe durch die Kohlenhydratzufuhr einer Mahlzeit rasch überladen werden. Die Regelung dieser Vorgänge geschieht, wie wir schon angedeutet haben, im wesentlichen durch einen Rückkoppelungsmechanismus, der sich am Glukosespiegel im Blut orientiert. Erhöhte Blut-Glukose stimuliert Produktion und Freisetzung des Hormons Insulin aus den Zellen der Bauchspeicheldrüse. Das Insulin aber regt in der Folge den Eintritt von Glukose aus dem Blut in die Körperzellen an und verlangsamt die Freisetzung von freien Fettsäuren in das Blut (dadurch wird automatisch vermehrt Glukose als Energiespender herangezogen). Normalerweise sind im Blut etwa 100 Milligramm Glukose pro 100 Milliliter enthalten. Versagen die Regelmechanismen, dann tritt die Niere in Aktion und scheidet unter Umständen Glukose im Harn aus (»Harnzucker«). Sie fungiert also gewissermaßen als Überdruckventil das ist wesentlich, denn hohe Glukosekonzentrationen im Blut sind für den Körper schädlich. Dieser Mechanismus tritt allerdings erst dann in Erscheinung, wenn die anderen Möglichkeiten der Regulation versagt haben. Was passiert nun, wenn dem Körper keine Kohlenhydrate zugeführt werden? Bei kurzen Pausen, wie beispielsweise während des Schlafs, treten zunächst die Glykogenspeicher in Leber und Muskel in Aktion (Glykogen ist eine Speicherform der Glukose). Wenn nicht mehr genug Glykogen vorhanden ist, müssen die Fettdepots herhalten. Bei ihrem Abbau zwecks Energiegewinnung entstehen sogenannte Ketone (die Mediziner sprechen auch von Ketonkörpern). Übersteigt die Konzentration an diesen Ketonen einen bestimmten Wert, spricht man von Ketose. Sie ist unabdingbare Begleiterscheinung bei Hungerzuständen - kohlenhydratfreie Ernährung ist, so gesehen, für den Körper ein Hungerzustand. Dies allein erklärt jedoch nicht d i e - wohlgemerkt: kurzfristigen — Erfolge bei der Gewichtsreduktion. Durch den Anstieg der Ketonkörperkonzentration im Blut, so Harald Förster, kommt es zu einer beträchtlichen Minderung des Appetits. Darüber hinaus wird im Dickdarm vermehrt Ammoniak aus unverdautem Eiweiß tierischer 168 Herkunft freigesetzt; dadurch und durch andere bakteriologische Eiweißabbauprodukte können Übelkeit und Widerwillen gegen jegliche Nahrungszufuhr entstehen. Förster: »Bei erhöhtem Ketonspiegel sind außerdem euphorische Zustände, die einem leichten Rausch entsprechen, zu beobachten.« Mag sein, daß dies den Erfolg kohlenhydratarmer Schlankheitskuren mit erklärt- gesund sind sie jedenfalls nicht. Förster steht mit seiner Kritik auch keineswegs allein: So warnt die Ärztevereinigung von New York, die Atkins-Diät sei »unwissenschaftlich« und »potentiell gefährlich« (Lit. 65). Atkins sieht allerdings die Funktion der Ketonkörper anders: Er meint, sie bildeten einen »geheimnisvollen Faktor«, der einen biochemischen »Zaubertrick« bewirke. Hunderte von Kalorien, so Atkins, würden heimlich jeden Tag in Form von Ketonkörpern und einem Schwärm unvollständig verbrannter Fettmoleküle »aus dem Körper geschmuggelt«. Tatsächlich ist der Energiegehalt der Ketonkörper jedoch vergleichsweise gering. Bei ketogener Diät kann auf diese Weise ein Energieverlust von etwa 100 Kilokalorien pro Tag erreicht werdeneine Menge, die für eine schnelle Gewichtsreduktion nicht verantwortlich gemacht werden kann. »Eine weitere, theoretisch denkbare Begründung für einen erhöhten Energieverbrauch ergäbe sich aus der veränderten Stoffwechsellage, einer Umstellung auf reine Fettverbrennung und der Notwendigkeit einer teilweisen Eiweißverwertung zur Energiegewinnung«, versucht Professor Erich Menden, derzeit Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, die Stoffwechselumstellung bei Atkins Diät zu erklären (Lit. 66). Wenn nicht genügend Kohlenhydrate durch die Nahrung zugeführt werden, kann Glukose auch aus Eiweiß gebildet werden: »Auf diese Möglichkeit muß der Körper bei Atkins-Diät zurückgreifen. Innerhalb des intermediären Stoffwechsels erfolgt nach Umstellung des Enzymmusters die Bildung von Kohlenhydraten aus den sogenannten »glukoplastischen Aminosäuren<. Das ist aber ein höchst unökonomischer Vorgang: Zur Bildung von 100 bis 120 Gramm Glukose, die allein zur Deckung des Energiebedarfs für das Gehirn benötigt werden, sind umgerechnet 175 bis 200 Gramm Eiweiß notwendig. Zur allgemeinen Versorgung werden etwa 200 Gramm Glukose pro Tag benötigt. Deshalb stellt eine kohlenhydratfreie Ernährung erhöhte Anforderungen an den Eiweißstoffwechsel - ein Aufbau von Glukose aus Fett ist nicht möglich. Immerhin ist durch die unökonomische Umwand169 lung von Eiweiß in Glukose eine Verwertung der großen, mit der Atkins-Diät zugeführten Energiemenge ohne Gewichtszunahme wenigsten zu einem kleinen Teil erklärbar.« Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß kohlenhydratarme Ernährung zwar Gewichtsabnahme bewirken kann, aber dann, wenn sie über längere Zeit hin eingehalten wird, ungesund ist. Wegen ihrer Einseitigkeit wird sie aber - glücklicherweise - nur in seltenen Fällen über längere Zeiträume eingehalten. Einseitig - daher nur kurzfristig wirksam Das Stichwort »einseitig« führt uns zu einem weiteren Kennzeichen, das für viele Schlankheitsdiäten charakteristisch ist: Zahlreiche Vorschriften zum Abspecken nehmen eine Einteilung in »erlaubte« und »verbotene« Lebensmittel vor. Im Endeffekt resultiert daraus oft eine mehr oder weniger unausgewogene Kost. In ganz banaler Weise erklärt sich so der behauptete Erfolg vieler Diätkuren: Wer nur Sauerkraut, nur Nudeln oder nur Eier ißt, bringt es kaum fertig, so viel Energie aufzunehmen, wie er es bei gemischter Kost ohne weiteres schaffen würde; aber wem gelingt es schon, sich jahrelang ausschließlich von Sauerkraut, Nudeln oder Eiern zu ernähren? Abnehmen ist nur dann sinnvoll, wenn nach einer Phase der Gewichtsreduktion der Diäterfolg auch gehalten wird. Die Praxis zeigt, daß dies sehr selten der Fall ist: Nur neun Prozent derer, die abgenommen haben, schaffen es länger als zwei Jahre, nicht wieder zuzunehmen; bei siebzig Prozent aller Abnahmeversuche ist nach sechs Monaten das alte Gewicht wieder erreicht (Lit. 67). Abnehmen mit Kohlenhydraten Kehren wir nochmals kurz zurück zur langen Tradition der kohlenhydratarmen und eiweißreichen Diäten. Irgendwas muß doch dran sein, könnte man vermuten, wenn solche Empfehlungen seit langem immer wieder propagiert werden. Aber auch eine gegenläufige Empfehlung die kohlenhydratreiche und fettarme D i ä t - kann auf zahlreiche Varianten und Neuauflagen zurückblicken: Der Amerikaner Pritikin 170 etwa preist in mehreren Bestsellern eine Kost an, die fast fettfrei ist, aber zu achtzig Prozent aus komplexen Kohlenhydraten besteht. Pritikin ist weder Arzt noch sonst wissenschaftlich vorgebildet. Er gibt aber vor, mit seinem Diätplan Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere Bluthochdruck, Arthritis and andere, vor allem degenerative Leiden heilen zu können. Weitere verhältnismäßig kohlenhydratreiche Diäten sind Reisdiät, Brotdiät, Kartoffeldiät und die Nudeldiät. Eine Reduktionskost mit hohem Brotanteil empfiehlt beispielsweise der oben schon erwähnte Wissenschaftler Erich Menden. Seine Empfehlungen heben sich wohltuend von denen Atkins' ab: Menden hat den Erfolg seiner Diätkost durch vergleichende Untersuchungen belegt und in anerkannten Zeitschriften publiziert (während Atkins durchwegs nur einzelne »Fälle« beschreibt und auf keine Publikationen in Fachorganen verweisen kann). Außerdem, unterstreicht Menden, habe seine Kost den Vorzug, daß sie »im Gegensatz zu Diätformen mit extremen Nährstoffrelationen . . . keine radikale Umstellung der Emährungsgewohnheiten fordert« (Lit. 68). Zur Anpreisung anderer kohlenhydratreicher Kostformen einige Zitate aus deutschen Illustrierten: Die neue Kartoffeldiät. »Sieben Pfund weniger in sieben Tagen. Das war die Belohnung für alle, die bei unserer ersten Kartoffeldiät mitgemacht haben. Ein Experte, Prof. Dr. Karl Müller, schreibt dazu: »Mit diesem Beitrag haben Sie vielen Bürgern einen sehr wertvollen Dienst erwiesen. Die Kartoffel ist in der Tat ein nahezu ideales Mittel zur Gewichtsabnahmen« Oder: Schlank in den Sommer mit Nudeln. »Erschrecken Sie nicht, daß Sie zum Abnehmen Nudeln essen sollen. Wir servieren Ihnen heute eine Nudeldiät, die noch vielseitiger i s t . . . Nudeln haben bis zu 84 Prozent Kohlenhydrate, 13 Prozent Eiweiß und nur 3 Prozent Fett. Nudeln sind deshalb eine ideale Basis, um sie zum zentralen Bestandteil einer Schlankheitskur zu machen.« Oder: Keine Angst vor Reisgerichten. »Wer dünn sein will, muß Reis essen, sagten schon unsere Urgroßeltem und dachten dabei an die schlanken Chinesen. Der 1934 aus Berlin ausgewanderte Internist Dr. Walter Kempner sieht hierin die Chance, durch geeignete Kost eine Reihe von Krankheiten zu bekämpfen. An der amerikanischen DukeUniversität entwickelte er die nach ihm benannte Reisdiät. Reis in Verbindung mit Äpfeln und etwas Butter führt zu Gewichtsabnahme. Auch Sie werden den Erfolg schon bald spüren.« 171 Abnehmen mit Ballast 1983 erreichte eine neue Wunderdiät den deutschen Sprachraum, ausnahmsweise nicht aus den Vereinigten Staaten, sondern aus Großbritannien »importiert«: Die »F-Plan-Diät« von Audrey Eyton (Lit. 69). In der Aufmachung unterscheidet sie sich kaum von ihren Vorgängern. Auf dem Buchumschlag steht in Balkenlettern: »Schneller, wirksamer, gesünder als jede andere Methode« und: »Endlich ohne Hungern schlank und fit!« In der Einleitung rechnet die Autorin zunächst mit den früher propagierten Schlankheitsdiäten ab: »Betrüblicherweise basieren all diese Verheißungen nur auf Phantasie und nicht auf Tatsachen.« Das vorliegende Buch schafft endlich Klarheit: »Jetzt ist zum ersten Mal in der Geschichte der Ernährungswissenschaft eine Substanz bestimmt worden, von der man behaupten kann: »Wenn Sie Ihre Reduktionspläne auf diesem Stoff aufbauen, so werden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach Ihr Übergewicht rascher und müheloser als mit allen anderen Kostformen von gleichem Kalorienwert verlieren^ Diese wundervolle Substanz sind die ganz banalen Faser- oder Ballaststoffe, die im wesendichen in Pflanzen vorkommen und Ballaststoffe heißen, weil sie unverdaulich sind. Sie sind die Stars der F-PlanDiät« (Lit. 70). Erfreulich ist zunächst, daß die Autorin nicht wie Atkins behauptet, man könne essen, so viel man will und gleichzeitig abnehmen. Sie gibt offen zu, daß Schlankheitsdiäten nur dann das Gewicht reduzieren, wenn sie die Kalorienzufuhr einschränken. Kurz darauf jedoch wird wie bei anderen Schlankheitskuren suggeriert, die F-Plan-Diät liefere Kalorien, »die nicht ansetzen«. Eyton: »Die neuesten Erkenntnisse über die Ballaststoffe führen jedoch einen ganz neuen Faktor in die Kalorienberechnung ein: Bei faserreicher Kost gibt man mehr Kalorien im Stuhl wieder a b . . . Diese Kalorien, die einfach >weggespült< werden, hat der Körper nicht verbrennen können. Deshalb ist eine faserreiche 1000-Kalorien-Diät dazu angetan, das Übergewicht rascher abzubauen, als es mit einer normalen 1000-Kalorien-Diät möglich wäre.« Bei faserreicher Kost sei der Energiegehalt des Stuhls etwa zehn Prozent höher als bei »wesdicher Kost« (der Stuhl enthält allerdings relativ wenig Energie). Was hier an Kalorien tatsächlich »weggespült« wird, sind aber höchstens ein paar Dutzend Kalorien- eine Menge, die ebensowenig ins Gewicht fällt wie Atkins' Zaubertrick mit der Ketose. 172 Eyton beschreibt ausführlich Zusammenhänge zwischen Ballaststoffen und Herzerkrankungen, Dickdarmkrebs und Divertikulose des Dickdarms sowie Zuckerkrankheit. Wir werden darauf an anderer Stelle noch näher eingehen (siehe Seite 194). Dabei unterschlägt sie jedoch Wesentliches: Ballaststoff und Ballaststoff ist nicht dasselbe. Es gibt eine Fülle verschiedener hochmolekularer Substanzen, die vom menschlichen Darm allesamt nicht verwertet werden können. Ihre Zusammensetzung und Struktur ist jedoch zum Teil sehr unterschiedlich. Neuere Forschungen zeigen, daß etwa Ballaststoffe aus Kleie andere Wirkungen haben, als die unverdaulichen Nahrungsfasern, die wir im Gemüse finden. Sieht man von den marktschreierischen Anpreisungen der F-PlanDiät ab, bleibt aber dennoch das Faktum, daß viele von uns weniger ballaststoffreiche Lebensmittel essen und trinken als den Ernährungswissenschaftlern lieb ist. So gesehen, ist die F-Plan-Diät durchaus zu begrüßen. Alle Frühjahre wieder... Viele Schlankheitskuren sind aus den Vereinigten Staaten importiert. Die Vielfalt der dort verbreiteten Diätbücher stellt hiesige Verhältnisse in den Schatten. Immerhin gaben die Amerikaner(innen) nach einer Schätzung der Zeitschrift FDA Consumer im Jahre 1978 10 Milliarden US-Dollar für Diätbücher, Antifett-Pillen und Appetitzügler aus. Aber auch der deutsche Diätkult ist nicht ohne. Vor einiger Zeit erschien unter dem Titel Hundert verschiedene Schlankheitsdiäten eine Zusammenstellung der zahlreichen, im Lauf der Zeit in den Medien propagierten Abmagerungskuren (Lit. 71). Lassen wir eine Auswahl davon Revue, passieren - weitere Kommentare, so meine ich, erübrigen sich: Gaylord Hauser-Kur Hollywood-Kur Mayo-Kur Punkte-Diät (»Hummer und Kaviar dürfen Sie essen, so viel Sie wollen, sogar eine ganze Flasche Champagner (trocken) sei Ihnen gestattet«) Zwei-Nährstoff-Wechsel-Diät 173 Ein-Nährstoff-Kur Nuß-Diät Humplik-Kur (oder: »Friß das Dreifache!«) Berliner-Kur Abendzeitung-Diät Brigitte-Diät Abnehmen, ohne auf Süßes zu verzichten Ei- und Apfel-Diät Die Frühlingsdelikatesse Spargel macht schlank Pilze für den schlanken Sommer Für den Herbst: Die Trauben-Kur Kürbis-Kur Weizen-Diät Buttermilch-Kur Die skandinavische Weißkohl-Kur Öl-Kur Zitronen-Kur Kronprinzessin-Beatrix-Diät Prinzessin Birgitta-Diät Marianne Koch: So bleibe ich schlank Sophia Lorens Spaghetti-Kur Kuhnsche Fisch-Kur Karelische Milch-Kur Schroth-Kur Das beschwipste Wochenende Bier-Kur Eiweißschock Eier-Obst-Tage Mayonnaise-Kur Speck-Kur Die Pariser Hydro-Diät Die Artischocken-Diät Bananentage Das Sauerkraut-Wochenende Nr. 100: Verlieben Sie sich! 174 Schlank in den Sarg Als mitunter lebensgefährliche Diätvariante erwiesen sich die sogenannten flüssigen Proteindiäten, wie etwa Protein Sparing Modified Fast oder die Last Chance Diet. Von ihnen sind wir in Mitteleuropa weitgehend verschont geblieben (allerdings gibt es Eiweißkonzentrate, angereichert mit Vitaminen und Mineralstoffen, in Apotheken zu kaufen, und mehrere Kliniken setzen sie für Fastenkuren- unter ärztlicher Kontrolle- ein). Frauen in den USA, die rasch abnehmen wollten, nahmen hingegen wochenlang nur ernährungsphysiologisch weitgehend wertlose Abbauprodukte von Kollageneiweiß zu sich, die zahlreiche lebensnotwendige Nähr- und Wirkstoffe nicht enthielten. Die Folge waren mehrere Todesfälle, die eindeutig auf Ernährungsfehler zurückgeführt werden konnten (und wahrscheinlich noch viele weitere, bei denen der Zusammenhang naheliegend war). Die US-Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde FDA antwortete deshalb mit öffentlichen Warnungen, verpflichtete die Hersteller, Hinweise auf die Gefährlichkeit der Produkte auf den Packungen anzubringen - aber das Geschäft floriert nach wie vor. Nur am Rande sei erwähnt, daß immer wieder auch Appetitzügler, Abführmittel und andere Medikamente eingenommen werden, um abzunehmen. Viele dieser Präparate sind— auf Dauer gesehen- mehr schädlich als nützlich; manche Präparate sind keines von beiden, sie sind einfach wirkungslos. Das beste Rezept: Fasten Nicht unerwähnt soll die wohl älteste Form der Abmagerungskur bleiben, das Fasten, medizinisch auch Nulldiät genannt. Fasten war ursprünglich eine religiöse Übung. Das Maßhalten im Bereich der körperlich bedingten Triebe und damit ihre Beherrschung wurde als Voraussetzung für seelisch-geistige Entwicklung gesehen. Darüber hinaus hatte Fasten auch andere Motive. Beispielsweise sollte es dazu dienen, schädliche Kräfteausstrahlungen (Mana) der Nahrung aufzuheben. Enthaltsamkeit war bei vielen Naturvölkern in kritischen Zeiten üblich, so auch während eines Krieges oder bei der Jagd, um Glück oder Beute heraufzubeschwören. Das Fasten galt und gilt als Reinigungs175 mittel, etwa bei Initiationsriten oder anderen religiösen Zeremonien. Bei bestimmten Indianerstämmen fasten die Knaben vor ihrer Aufnahme in die Stammesordnung. Auch Medizinmänner versuchen durch Nahrungsenthaltsamkeit besondere Kräfte zu erwerben. In der Yoga-Praxis spielt das Fasten eine entscheidende Rolle. Die großen Weltreligionen schreiben es für bestimmte Zeiten vor, der Islam zum Beispiel für den neunten Monat im Jahr (Ramadan). Im Alten Testament galt das Fasten als Akt der Demut und Buße, als Reinigung und Erhebung aus dem Materiellen. Zwischen Aschermittwoch und Ostern gilt eine Fastenzeit von vierzig Tagen. Seit dem 17. Jahrhundert begannen die Ärzte, Fastenkuren als Mittel zur Krankenbehandlung einzusetzen. Vielfach war man der Auffassung, mit Diät und Ruhe ließen sich sonst unheilbare Krankheiten heilen. Das Nichtessen diente dazu, die Körpersäfte zu reinigen. Später verschwanden die Fastenkuren aus dem Behandlungsrepertoire- im 19. Jahrhundert waren eher Mastkuren ah der Tagesordnung. Erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts und seitdem bis in die Gegenwart ist »Heilfasten« im Rahmen naturheilkundlicher Behandlungsmethoden wieder populär geworden. Zahlreiche Genesungserfolge werden ihm zugeschrieben (Lit. 72). In den Massenmedien ist Fasten beziehungsweise Nulldiät niemals so recht populär geworden. Kein Wunder, denn die Behauptung, ohne zu essen und zu trinken könne man abnehmen, ist denn doch zu banal, um als »neueste Wunderdiät« herhalten zu können. Außerdem erfüllt sie nicht die Wunschvorstellung der Diätmacher, eine Ernährungsform anzubieten, die ohne zu hungern schlank und fit mache. In zahlreichen Kliniken, Sanatorien und Kurzentren werden aber Nulldiät, Fastenwochen und stark energiereduzierte Ernährungsformen unter ärzdicher Kontrolle mit Erfolg durchgeführt. In der Regel darf man dabei einen täglichen Gewichtsverlust von 400 Gramm erwarten. Allerdings können dabei Nebenwirkungen auftreten - Kaliummangel, Störungen des Herz-Kreislauf-Systems und Nierensteinkoliken. Von der Nulldiät ist strikte abzuraten nach überstandenem Herzinfarkt, bei Nierenfunktionsstörungen, bestimmten Formen der Zuckerkrankheit sowie psychischen Krankheiten. Und: Die Langzeiterfolge der Nulldiät lassen ebenso zu wünschen übrig wie die anderer Abmagerungskuren. 176 Die Energiebilanz, ein ehernes Gesetz Nach dieser Übersicht über Schlankheitskuren und die zahlreichen Widersprüche, die sich ergeben, wenn man die verschiedenen Aussagen der Abspeckapostel einander gegenüberstellt, wollen wir uns nun ein altbekanntes physikalisches Faktum in Erinnerung rufen, um das auch die ausgeklügeltste Diät nicht herum kann: die Energiebilanz. Dem menschlichen Stoffwechsel wird über die Nahrung Energie in chemisch gebundener Form zugeführt; alle biochemischen Reaktionen, die im Körper ablaufen, von der Gehirntätigkeit bis zum Herzschlag, werden aus dieser Energie gespeist. Man unterscheidet den Grundumsatz, der alle Stoffwechselvorgänge umfaßt, die bei völliger Ruhe ablaufen, und den Arbeitsumsatz, der im wesentlichen die Energieausgaben für Bewegung umfaßt (siehe Seite 122). Der Arbeitsumsatz hängt naturgemäß von der Art der Bewegung ab. Er variiert von etwa 100 Kilokalorien pro Stunde, die für Essen im Sitzen verbraucht werden, bis zu 360 kcal bei kontinuierlicher beruflicher Schwer- und Schwerstarbeit (die Differenz ist gar nicht so beachtlich). Hochleistungs-Kraftsport kann den Energieverbrauch bis auf 1200 Kilokalorien pro Stunde ansteigen lassen. Da nach den Gesetzen der Physik Energie nirgendwo hergezaubert werden kann und auch nicht auf unerklärliche Weise verschwindet, setzt eine Zunahme von Körpergewicht voraus, daß die Energieaufnahmen durch Nahrung höher sind als die Energieausgaben durch Stoffwechsel und Bewegung. Umgekehrt müssen die Energieeinnahmen geringer als die -ausgaben sein, soll das Körpergewicht verringert werden. Zwar gibt es immer wieder Diätapostel, die von diesem Gesetz ablenken wollen, indem sie suggerieren, daß Kalorien »neutralisiert« würden oder Fett »wegschmilzt«, doch leider - so geht das Abnehmen sicher nicht. Abnehmen hat als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung: weniger Nahrungszufuhr oder mehr Bewegung oder beides. Mißtrauen ist daher bei jeder Diätempfehlung angebracht, die »erlaubte« Nahrungsmittel oder Getränke in beliebiger Form gestattet, wenn nur die »»verbotenen« gemieden werden. Denn: Es gibt keinen »Dickmacher« per se. Allerdings: ein Gramm Eiweiß beziehungsweise Kohlenhydrat enthält etwa 4 Kalorien, Alkohol etwa 7 Kalorien und Fett über 9 Kalorien. Daß Fett mehr als doppelt so energiereich ist wie Kohlenhydrat, 177 gilt auch für die Anhänger der Atkins-Diät (ob sie das wahrhaben wollen oder nicht). Dazu kommt, daß der Organismus mehr als doppelt soviel Energie benötigt, wenn er ein Gramm Körperfett aus Kohlenhydraten aufbauen soll, wie wenn er das gleiche mit Nahrungsfett bewerkstelligen soll (Lit. 73). Daher: Wenn Atkins behauptet, man könne Fett und Eiweiß nach Belieben essen und trotzdem abnehmen, so ist das schlicht und einfach falsch. Der Völlerei frönen, ohne dick zu werden Damit aber nicht genug. Eine Zunahme an Körpergewicht setzt eine positive Energiebilanz voraus. Zuviel Essen führt aber nicht notwendigerweise zu Übergewicht. Um dies zu beweisen, führte Ethan A. Sims aus Neuengland in den sechziger Jahren ein Experiment durch, zu dem sich Strafgefangene freiwillig zur Verfügung stellten. Sie wurden aufgefordert, nach Belieben zu essen, so lange, bis sie mindestens 10 bis 15 Kilogramm zugenommen hatten: Sieben Monate lang aßen die Gefangenen um die Wette, manche doppelt soviel wie gewöhnlich. Trotzdem erreichten nicht alle das gewünschte Ziel. Nur zwei nahmen mühelos zu, die anderen mußten um mehr Gewicht regelrecht kämpfen. Als besonders anstrengend empfanden sie, das erhöhte Körpergewicht hernach zu halten - dies gelang nur mit einer übermäßigen Nahrungszufuhr, die wesentlich höher war, als dem Energiebilanzprinzip entsprach. Nach Beendigung des Experiments nahmen alle Gefangenen wieder ab; die meisten fielen auf ihr früheres Gewicht zurück, nur in einem Fall verblieb eine Gewichtszunahme von zwei Kilogramm. Aus mehreren Untersuchungen wissen wir, daß Fettsüchtige in der Regel nicht mehr Energie mit der Nahrung aufnehmen als Normalgewichtige, häufig sogar weniger. Bedeutet dies, daß die Energiebilanz eben doch kein ehernes Gesetz ist? 178 Regler für das Körpergewicht Das Ergebnis des Versuchs mit den Gefangenen deckt sich mit Beobachtungen, die jedermann in seinem Bekanntenkreis machen kann: Welcher Übergewichtige hat nicht schon eine gertenschlanke Kollegin beneidet, die sich jeden Tag vollessen kann, ohne zuzunehmen? Würde jede überschüssige Nahrungskalorie zur Ansammlung von Körperfett führen, dann müßte theoretisch jeder, der täglich 80 Kilokalorien oder ein Hühnerei »zuviel« ißt, im Laufe eines Jahres um 4 Kilogramm zunehmen. Da fast alle Bürger in den Industriestaaten eine in viel höherem Ausmaß positive Energiebilanz als im genannten Beispiel aufweisen, müßte, so gesehen, Normalgewicht längst zur exotischen Rarität geworden sein. Daß dem nicht so ist, liegt offenbar an einem Regelmechanismus, der unseren Körper befähigt, sein Gewicht in engen Grenzen konstant zu halten, das heißt, wie wir weiter unten sehen werden, Energie mitunter »verschwenden« zu können. Ein solcher Regelmechanismus wäre an sich nichts Geheimnisvolles. Schließlich gibt es sogenannte Barorezeptoren, die an der Regelung des Blutdrucks beteiligt sind und zahlreiche Feedback-Systeme, in denen eine Stellgröße (etwa die Körpertemperatur) durch Rückmeldungen beeinflußt wird. Eigentlich ist der gesamte Stoffwechsel eine komplexe Hierarchie von ineinandergeschachtelten Rückkoppelungsmechanismen, die letztlich darauf abzielen, das biochemische Gleichgewicht zu erhalten, das die physische Basis für den Zustand »Gesundheit« bildet. Der Schluß, es gebe auch für das Körpergewicht einen solchen Regler, ist also naheliegend. Mehrere Theorien wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte aufgestellt, um dessen Wirkungsweise zu erklären. Die sogenannte lipostatische Theorie beispielsweise besagt, daß die Energieaufnahme langfristig über die Menge an gespeichertem Körperfett geregelt wird. Experimente mit Ratten, die in einer »Hypothalamus« genannten Hirnregion verletzt wurden, unterstützen sie. Demnach scheint der Hypothalamus eine Steuerfunktion auszuüben (interessant ist übrigens, daß der Hypothalamus nicht nur für die Kontrolle des Appetitverhaltens, sondern auch für den Hormonstatus, die Wärmeregulation und das Geschlechtsverhalten »zuständig« zu sein scheint). Bei mechanisch bewirkten Störungen dieser Himregion kann sich dieser Schwellenwert für das Körpergewicht nach oben oder unten hin verschieben: Auch über- beziehungsweise untergewichtige Tiere regeln 179 offenbar ihr Körpergewicht genauso wie normalgewichtige, aber an einem anderen Fixpunkt. Das bedeutet: Der Körper »will« einen bestimmten Anteil an Fettgewebe und stimmt Nahrungsaufnahme, körperliche Aktivität und Stoffwechselleistung so ab, daß dieser Anteil gleichbleibt. Wie das vor sich geht, ist aber trotz intensiver Forschung nicht klar. Um einen einfachen Rückkoppelungskreis handelt es sich mit einiger Sicherheit nicht (etwa derart, daß sich die Fettzellen gewissermaßen ihre eigenen Essensmarken ausstellen oder an den Fußsohlen Druckrezeptoren das Körpergewicht registrieren und dem Gehirn melden). Dennoch gibt es eine Reihe von Hinweisen, die das Problem einkreisen: So wissen wir beispielsweise, daß die Zahl der Fettzellen beim Menschen konstant ist. Der individuelle Körperbau wird von der Anzahl dieser Zellen bestimmt. Diese Zellen scheinen bestimmten Gesetzen zu gehorchen; sie speichern nur eine gewisse Menge an Fett, wachsen aber nicht über eine offenbar vorgegebene Größe hinaus. Dabei spielt die Veranlagung eine gewisse Rolle. Der Genetiker Lois Zucker konnte dies an durch Zuchtwahl selektierten Rattenstämmen beweisen (sie heißen nach ihm »Zuckerratten«). Zucker sonderte durch viele Rattengenerationen hindurch immer diejenigen aus, die dicker als der Durchschnitt waren, und ließ sie sich weiter vermehren. Schließlich erhielt er Tiere, die bereits zehn Wochen nach der Geburt etwa doppelt soviel wogen wie normale Ratten; ihr Übergewicht bestand ausschließlich aus Fett, und zwar deshalb, weil die Tiere eine abnorme Anzahl großer Fettzellen besitzen, eine Eigenschaft, die durch die Erbmasse bedingt ist. Ein genetischer Defekt kann also zum Entgleisen des Mechanismus führen, der das Körpergewicht in normalen Grenzen hält. Ähnliches kann - wie wir gesehen haben - auch durch Hirnoperationen erreicht werden. Da derartige Experimente- Zuchtwahl und Hirnmanipulation — beim Menschen glücklicherweise nicht ausgeführt werden, bleibt damit offen, ob die Ergebnisse dieser Tierversuche auch für homo sapiens gelten. Beobachtungen über die familiäre Häufung von Übergewicht, vor allem an Zwilligen, zeigen jedenfalls, daß Kinder hinsichtlich ihres Anteils an Körperfett stark den Eltern und noch mehr den Geschwistern gleichen. Daraus folgt, daß Erbanlagen für das Körpergewicht mitbestimmend sind. Die wenigen verläßlichen Zwillingsstudien zu diesem Thema bestätigen übereinstimmend, daß Korpulenz zu etwa 75 Prozent erblich ist. Der unterschiedliche Fettanteil von Perso180 nen, die unter ähnlichen Bedingungen leben, ist also mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis angeborener Unterschiede. Das bedeutet jedoch nicht, daß ein dicker Mensch genetisch dazu »verurteilt« ist, in jedem Fall dick zu werden, denn sonst dürfte es nicht passieren, daß Menschen in der einen Umgebung ihr Körpergewicht im Normalbereich zu halten vermögen, aber deutlich zunehmen, wenn sie die Umgebung wechseln, und umgekehrt. Tatsächlich gibt es Migrationsstudien, die solches unter Beweis stellen - das heißt, erst die Umgebung bestimmt die Auswirkung des genetischen Programms. Damit ist immer noch nicht geklärt, wie der vermutete Regelmechanismus funktioniert. Ein interessantes Ergebnis erbrachte aber das folgende Experiment: Zwei Tiere wurden durch einen chirurgischen Eingriff so miteinander verbunden, daß das Blut von einem zum anderen fließen konnte. Wurde beispielsweise eine dünne Ratte auf diese Weise mit einer fetten »vereinigt«, dann verminderte sich sowohl die Menge der aufgenommenen Nahrung wie auch das Körpergewicht der ersteren - ein deutlicher Hinweis auf einen im Blut zirkulierenden Faktor, der im Zusammenhang mit der Fettmenge im Organismus steht. Dieser Faktor signalisiert dem dünnen Tier eine (im vorliegenden Fall falsche) Botschaft über die Energiereserven — Nahrungskarenz ist die Folge. In ähnlicher Weise beginnt eine normale Rate zu fressen, wenn sie mit einem hungernden Tier verbunden wird, hört aber damit auf, wenn der »Partner« gesättigt ist (Lit. 74). In den letzten Jahren fanden die Wissenschaftler einige Signalsubstanzen, die als Regler eine Rolle spielen dürften. Eine davon ist das Glyzerin, ein Baustein der Fette. Die Menge an Glyzerin im Blut, so zeigte sich, steht in direktem Verhältnis zum Fettgehalt der-Körperzellen. Injiziert man Ratten Glyzerin, so hören sie fast völlig auf zu fressen. Daneben gibt es aber noch andere Substanzen, Hormone wie Insulin oder Cholecystokinin, die den Drang nach Nahrungsaufnahme beeinflussen. Auch der Blutzuckerspiegel wirkt an der Appetitkontrolle mit (er kann jedoch nicht das Ausmaß der Fettspeicherung beeinflussen). Offenbar hat der Körper mehrere biochemische Möglichkeiten, die Größe seiner Fettdepots wahrzunehmen und zu regeln. Begnügen wir uns mit dieser Feststellung; eine ausführliche Diskussion der vorliegenden Forschungsergebnisse würde viel Raum beanspruchen, aber letztlich wohl mehr verwirren, als Klarheit schaffen. 181 Leerlauf im Stoffwechsel Nehmen wir an, es gebe einen Regler für die Fettspeicherung und in der Folge für das Körpergewicht; dann muß es auch einen oder mehrere Mechanismen geben, die dafür sorgen, daß ein allfälliger Überschuß an zugeführter Nahrungsenergie, der weder im Stoffwechsel noch zur Arbeitsleistung benötigt wird, wieder abgegeben wird, ohne in einem Fettdepot zu landen. Auch hier sind wir noch auf Vermutungen angewiesen. Aus Tierversuchen wissen wir, daß es verschiedene Typen von Fett gibt. Das sogenannte braune Fett ist in der Lage, durch eine Art Leerlaufreaktion Energie zu verbrennen - die Fachleute sprechen von »Thermogenese« (Wärmebildung). Auch der Mensch hat Ablagerungen braunen Fetts. Es ist aber noch nicht bewiesen, daß diese im Sinne einer Kontrolle der Fettmenge wirksam sind. Interessant ist jedenfalls, daß sich das braune Fettgewebe mit zunehmendem Alter zurückbildet; ein deutlicher Abfall beginnt im Alter von etwa dreißig Jahren - genau dann, da viele Menschen beginnen, »Speck« anzusetzen (Lit. 75). Die Biochemiker kennen eine Reihe von Möglichkeiten, über die der Stoffwechsel Energie »verschwenden« kann. Der Abbau von Glukose über Brenztraubensäure zu Kohlendioxid beispielsweise erfolgt in mehreren Reaktionsschritten, bei denen energiereiche chemische Bindungen entstehen, die als Transportform für Energie ähnlich wie ein Treibstoff fungieren. Solche Abbauvorgänge können auf verschiedenen Stoffwechselwegen und unter Zuhilfenahme verschiedener Enzymsysteme erfolgen; diese unterscheiden sich in ihrer Effizienz, das heißt in der Art und Menge der dabei gebildeten Treibstoffe. In gewisser Hinsicht handelt es sich dabei um das chemische Korrelat der im Volksmund verbreiteten Anschauung vom guten und schlechten Futterverwerter. Das Auskoppeln von Stoffwechselvorgängen aus dem Prozeß der Bereitstellung von Energie dürfte in den sogenannten Mitochondrien (Bestandteilen der Zelle) stattfinden. Die Forscher fanden heraus, daß dort die »Natriumpumpe« in Gang gesetzt wird, wodurch Natriumionen und Kaliumionen entgegen dem Konzentrationsgefälle transportiert werden: Ein Vorgang, bei dem Energie »verschwendet« wird (Lit. 76). Tatsache ist, daß Versuchspersonen, die über einen bestimmten Zeit182 räum mehr essen und trinken, als sie benötigen, in aller Regel beträchtlich weniger an Körperfett ansammeln als dem Mehr an Zufuhr entspricht und daß sie den verbleibenden Fehlbetrag durch Erhöhung der Wärmeproduktion abgeben. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie zeigt, daß ein Zuviel an Energie, das eine maximale Zunahme des Körpergewichts um 5 Kilogramm bewirken könnte, in der Praxis nur zu einer Gewichtszunahme von etwa 2,7 Kilogramm führt; kalorimetrische Messungen beweisen, daß der Restbetrag an Energie durch eine Erhöhung der Wärmeproduktion um sieben Prozent kompensiert wurde (Lit. 77). Fassen wir zusammen: Der menschliche Organismus hat offenbar die Möglichkeit, das Ausmaß der Speicherung von Körperfett zu steuern (allerdings nur, soweit es das Gesetz von der Erhaltung der Energie zuläßt). Diese Steuerung wird benutzt, um das Körpergewicht innerhalb enger Grenzen konstant zu halten. Mehrere Faktoren können allem Anschein nach den von diesem Reglersystem gewählten Bezugspunkt (das aktuelle Körpergewicht) nach oben oder unten verschieben. Mehrere Stoffwechselwege bieten die Möglichkeit, zugeführte Nahrungsenergie mehr oder weniger effizient zu verwerten. Für die Diskussion um die Ursachen der Fettsucht ergibt sich daraus, daß es nicht notwendigerweise eine zu hohe Aufnahme von Nahrungsenergie ist, die zur Ansammlung von Körperfett führen kann, sondern eher eine Umstellung im System der Energieverwertung, mit anderen Worten, eine Verschiebung des Reglers für das Körpergewicht. Gründe, um schlank werden zu wollen Nach diesem Ausflug in das Reich der medizinischen Biochemie wollen wir zu den Schlankheitsdiäten zurückkehren und uns die Frage stellen, aus welchen Motiven heraus Menschen eigentlich abnehmen wollen. Das augenscheinlich enorme Interesse an der Diätetik zur Gewichtsreduktion ist der Ausdruck eines Wunsches, der verschiedene Ursachen haben kann. Ärzte und Gesundheitspolitiker empfehlen seit Jahrzehnten mit wechselnder Intensität, man solle das sogenannte »Idealgewicht« (Idealgewicht errechnet sich aus dem Betrag für die Körpergröße in Zentimetern minus 100, wobei anschließend für Männer noch 10 Prozent und für Frauen 15 Prozent abgezogen werden) 183 anstreben, weil es im statistischen Durchschnitt mit der höchsten Lebenserwartung assoziiert sei. Der Zusammenhang zwischen relativem Körpergewicht und Lebenserwartung wird uns noch weiter unten beschäftigen. Hier interessiert uns zunächst die Frage, ob Übergewichtige - dem ärztlichen Ratschlag folgend - aus gesundheidichen Erwägungen abnehmen wollen. Umfragestudien zeigen zwar übereinstimmend, daß das Interesse der Bevölkerung an Gesundheitsfragen beträchtlich ist und in den letzten Jahren noch zugenommen hat. Läßt man aber in der Fragestellung beispielsweise die Alternativen »ich möchte abnehmen, um besser auszusehen« und »ich möchte abnehmen, um gesund zu bleiben« zu, so zeigt sich, daß der Wunsch nach gutem Aussehen dominiert. Vor allem in der Jugend führt der Wunsch nach Fitness und gutem Aussehen zu Zurückhaltung beim Essen; erst mit zunehmendem Alter steigt auch die Bedeutung gesundheitlicher Argumente. Nur jeder fünfte Bürger entschließt sich, so ergab eine Repräsentativumfrage, weniger zu essen, um in der Zukunft zu befürchtende gesundheitliche Störungen zu vermeiden (Lit. 78). Auf einer ähnlichen Ebene liegt ein bemerkenswertes Resultat einer großangelegten Befragungsaktion, die für den Deutschen Ernährungsbericht 1980 durchgeführt wurde: Dabei zeigt sich ganz eindeutig, daß Essen und Trinken primär unter dem Aspekt des Genusses gesehen werden. 70 Prozent der Befragten betonen, Essen sei ein Genuß, und nur 28 Prozent betrachten Essen eher als eine notwendige Nebensächlichkeit. Der gesundheidiche Aspekt in der Ernährung besitzt für die Mehrheit deudich sekundären Stellenwert, denn selbst im Fall der Unvereinbarkeit von geschmacklichen und gesundheitlichen Anforderungen würden sich 46 Prozent für die schmackhafte, aber nur 26 Prozent für die gesunde Mahlzeit entscheiden (28 Prozent würden ihre Entscheidung von der jeweiligen Situation abhängig machen). Die Einstellung, eher dem Geschmack oder eher der Gesundheit den Vorzug zu geben, ist unabhängig vom Körpergewicht des Befragten (Lit. 79). Erwartungsgemäß ist auch das Motiv »Schönheit« für Frauen stärker wirksam als für Männer und wird in den höheren Sozialschichten häufiger bejaht als in den niedrigen. Darüber hinaus zeigt sich, daß nicht nur übergewichtige Personen, sondern auch jeder vierte Normalgewichtige Maßnahmen zur Gewichtsreduktion ergreift; das bedeutet: Zahlreiche Menschen nehmen ab, obwohl sie es aus gesundheitlichen Gründen gar nicht notwendig hätten. 184 Aus der Geschichte des Schönheitsideals Der Wunsch, schlank und damit schön zu sein, ist kulturgeschichdich gesehen ein neues Phänomen und gilt auch heute vorwiegend nur in den wesdichen Industriestaaten. Orientalische Kulturen bevorzugen dagegen immer noch den üppigen Körper - Männer sind stolz darauf, dick zu sein, weil Leibesfülle mit Wohlstand gleichgesetzt wird, und rundliche Frauen werden verehrt, weil ein üppiger Busen und ein fülliges Gesäß als erotisch gelten und auf Fruchtbarkeit hindeuten. Dieses Schönheitsideal läßt sich zurückverfolgen bis zur allbekannten Venus von Willendorf; ein Gang durch ein kunsthistorisches Museum zeigt, daß selbst die Maler des Abendlandes bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem wohlbeleibte Objekte als darstellenswert empfanden. »Seit etwa 1400 hat der in westlichen Ländern herrschende Geschmack drei Typen von Frauen geprägt: Die erste war dickbäuchig, meistens mehr als vollschlank; wir nennen sie gebärfreudig. Um 1650 änderte sich der Geschmack, das neue Idealbild hatte einen enormen Busen und enorme Schenkel, die schmale Taille diente nur dazu, die vollen Formen zu unterstreichen. Diese Frauen nennen wir mütterlich. Zwischen 1910 und 1920 mußte diese kurvenreiche Figur ihren Platz in der angloamerikanischen Kultur aufgeben. Die neue Idealgestalt war schlank, hatte einen kleinen Busen und schmale Hüften, wir nennen sie unabhängig. Während dieser Zeit unterschied sich der Geschmack der Männer, der weiterhin zur unmodisch mütterlichen Frau zu tendieren scheint, vom Geschmack der Frauen. Später hat der sexuelle Symbolismus unserer Meinung nach der biologischen Realität veränderte Werte aufgezwungen. Jahrtausende war Körperfülle nicht nur ein Zeichen der Fruchtbarkeit, sondern ein wesendicher Faktor für den Fortpflanzungserfolg einer Frau. Seit 1910 hat nicht nur die bedingte Fruchtbarkeit für Mann und Frau zusehends an Wichtigkeit gewonnen, sondern auch der sexuelle Ausdruck« (Lit. 80). Dieser Wandel im Schönheitideal manifestiert sich auch in der Kleidung. Mieder aus Drahtgeflecht, die den Busen größer scheinen ließen, Korkturnüren zur optischen Aufbauschung des Gesäßes und steife Korsetts waren Ausdruck eines Diktats von Modeschöpfern des 18. und 19. Jahrhunderts, die damit die herrschende Auffassung von »schön« hervorheben wollten. Man vergleiche das Frauenbild des Biedermeier mit Fotos in Modemagazinen wie Vogue- welch ein Unterschied! 185 Auch beim Mann finden wir in wechselnder Folge eine Bevorzugung des muskelprotzigen Herkules, des knabenhaften Apoll oder des femininen Popidols. Natürlich ist diese Darstellung vereinfacht, zu allen Zeiten gab und gibt es individuelle Unterschiede im Geschmack; den Frauen unserer Tage steht darüber hinaus die bedauerliche Möglichkeit offen, sich mit zwei gänzlich verschiedenen und einander widersprechenden Idealen zu vergleichen: dem des Modejournals und dem des Herrenmagazins. Dementsprechend müßte die »ideale« Frau heute eigentlich zwei Körper besitzen, einen in der Öffentlichkeit herzeigbaren, angezogenen und modischen und einen nackten, sozusagen privaten Körper: Die typische Frau des Vbgwe-Magazins sieht anders aus als die im Playboy oder Hustler. Zweifelhafte Erfolge der Schlankheitshysterie Vergessen wir bei all dem nicht, daß Aussehen und Kleidung letztlich Stellvertreter sind für die symbolische Bedeutung oder vielmehr das Rollenverständnis von Mann und Frau. Nicht umsonst richten sich Emanzipationsbestrebungen der Frau gegen ein Schlankheitsideal, welches als Diktat der Männerwelt empfunden wird (siehe Seite 38). Vielleicht leiten sie, langfristig gesehen, eine Kehrtwendung ein (äußeres Anzeichen dafür könnte der Slogan »Ich bin r u n d - na und?« sein). Noch allerdings herrscht das Hollywood-Ideal der schlanken Linie vor. Wer dick ist, hat Angst, seinen Körper herzuzeigen. Viele Ärzte verstärken diesen Trend, indem sie die krankmachende Wirkung von Übergewicht betonen. »Man muß die Dicken stigmatisieren«, sagte mir der gegenwärtig in den Vereinigten Staaten lebende Wissenschaftler Siegfried Heyden anläßlich einer Diskussion über Methoden der Gesundheitserziehung. Das Ergebnis davon ist aber ein ungeheurer sozialer Druck, ja eine regelrechte Diskriminierung des Übergewichtigen. Auch und sogar aus dem Blickwinkel der Gesundheitserziehung halte ich diese Entwicklung für gänzlich verfehlt. Drohungen und Feindbilder haben bestenfalls bei einem sehr geringen Teil der Übergewichtigen zu dauerhafter Gewichtsabnahme geführt; für die Betroffenen mag dies einen Vorteil gebracht haben. Gleichzeitig aber sind den Dickgebliebenen psychische Probleme »angezüchtet« worden und die186 jenigen, die sich einseitig ernährten, um abzunehmen, sind möglicherweise davon krank geworden. Obwohl ich es nicht beweisen kann, glaube ich, daß der Schlankheitskult insgesamt mehr geschadet als genutzt hat. Diese Anschauung wird von vielen Ärzten wohl nicht widerspruchslos akzeptiert werden - zu lange haben sie die Forderung nach Einhaltung des Idealgewichts verkündet, zu lange haben sie mit »Warnungen« und Diskriminierung gearbeitet. Leben Schlanke länger? Heute ist man vielfach der Ansicht, daß es nicht pauschal das Idealgewicht ist, das man aus gesundheitlichen Erwägungen anstreben soll, sondern ein vergleichsweise breiter Bereich rund um das Normalgewicht (Normalgewicht nach Broca ist die Körpergröße in Zentimeter minus 100, Idealgewicht ist Normalgewicht minus 10 Prozent bei Männern beziehungsweise minus 15 Prozent bei Frauen). Idealgewichtig ist eine 170 Zentimeter große Frau mit 60 Kilogramm, normalgewichtig mit 70 Kilogramm. Gesundheitlich bedenkliches Übergewicht (Fettsucht) beginnt bei etwa 84 bis 90 Kilogramm. Da um die Begriffe Idealgewicht, Übergewicht und Fettsucht im Zusammenahng mit Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko beträchtliche Verwirrung zu herrschen scheint, sollen im folgenden die wichtigsten wissenschaftlichen Daten zu diesem Thema zusammenfassend wiedergegeben werden. Rückblickend läßt sich feststellen, daß die ersten Empfehlungen über die tägliche Bedarfsmenge an Nährstoffen und über das wünschenswerte Körpergewicht offenbar unter dem Eindruck augenfälliger Unterversorgung weiter Bevölkerungskreise entstanden sind: Die Werte etwa für den empfohlenen Eiweißbedarf lagen vor zirka hundert Jahren beträchtlich über den heute als gültig angesehenen. Auch die Lebensversicherungsgesellschaften schenkten damals den Untergewichtigen mehr Aufmerksamkeit als den Dicken: Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts mußten Untergewichtige im Gegensatz zu heute höhere Prämien für Lebensversicherungen bezahlen als Normalgewichtige (schließlich war die Tuberkulose bis vor nicht allzu langer Zeit für einen beträchtlichen Teil der Todesfälle verantwortlich). Zu Beginn dieses Jahrhunderts begannen amerikanische Lebensversicherungsgesellschaften jedoch zu bemerken, daß stark übergewich187 tige Versicherungsnehmer eine erhöhte Sterblichkeitsrate aufwiesen. In der Folge wurden diese mit Prämienzuschlägen bedacht, wenn ihr Gewicht um mehr als 25 bis 30 Prozent über dem des Durchschnitts der Amerikaner lag. Mitte der fünfziger Jahre veröffentlichte die Society of Life Actuaries der USA eine Studie über den Zusammenhang zwischen Körpergewicht und Mortalität (Lit. 81). Darin steht, daß das in der Folge als »Idealgewicht« bezeichnete Körpergewicht im statistischen Mittel mit der höchsten Lebenserwartung einhergeht. Die erwähnte Studie wurde denn auch zur maßgeblichen Quelle für die in der Folge weithin vertretene gesundheitspolitisch relevante Meinung, Übergewicht sei schädlich (Lit. 82). Häufig ging man dabei so weit, schon geringe Grade an Übergewicht als »krank machend« anzusehen (ich vermag das aus den Daten nicht herauszulesen). Gegen die genannte Statistik wird seit Jahren immer wieder Kritik vorgebracht. Letztere stützt sich vor allem auf folgende Argumente: Das von Versicherungsgesellschaften untersuchte Kollektiv sei nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung: Während im Versuchszeitraum nur zwei bis drei Prozent der Personen mit Lebensversicherung die oben erwähnten Extraprämien für Übergewicht zu zahlen hatten, ergaben von den Versicherungsgesellschaften unabhängige Erhebungen, daß etwa sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung gemäß der angegebenen Definition übergewichtig waren. Die von den Versicherungsagenten erhobenen Daten seien nicht glaubwürdig: Der materiell beträchtliche Unterschied in den Versicherungsprämien für »Normale« und »Übergewichtige« könnte- so die Kritiker— Anlaß gegeben haben, unrichtige Angaben zu machen; schließlich werde die Tüchtigkeit von Versicherungsagenten nach der Zahl abgeschlossener Verträge bewertet und nicht nach der Häufigkeit von vereinbarten Extraprämien. Außerdem werden in den Versicherungsdaten nicht Personen, sondern Policen berücksichtigt. So wird eine ängstliche oder kränkliche Person, die mehrere Versicherungen abschließt, mehrfach gezählt. Grundsätzlich kann dies auch auf eine Person mit nur einer Versicherung zutreffen (zum Beispiel bei einer Verlängerung einer Lebensversicherung). Wenn sie während der zweiten Versicherungsperiode stirbt, geht sie einmal als lebender, einmal als Verstorbener in die Statistik ein. Zu bedenken ist ferner, daß bei solchen Statistiken im Regelfall nur das Körpergewicht am Beginn eines Beobachtungszeitraums (also bei188 spielsweise bei Abschluß eines Versicherungsvertrags) erhoben wird. Was in den Jahren danach geschieht, bleibt meist unbekannt. Unabhängig davon erhebt sich die Frage, ein wie genaues Maß das Körpergewicht für die Ansammlung von Körperfett darstellt. Genaue Messungen des letzteren erfordern hohen experimentellen Aufwand und werden deshalb für Untersuchungen in großem Umfang nicht eingesetzt. Relatives Körpergewicht, der sogenannte BMI (Body Mass Index) und andere Meßgrößen ermöglichen jedoch nur vage Schätzungen der Menge an Körperfett. Entscheidend ist dabei, daß sie nur bei Vorliegen von Extremwerten - also bei ganz Dicken oder ganz Dünnen zutreffende Werte liefern. Nicht zuletzt liefern Statistiken immer nur Aussagen über die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs. Niemals können daraus Voraussagen für den Einzelfall abgeleitet werden, etwa wie lange Herr Maier lebt, wenn er zwanzig Kilogramm zuviel wiegt. Die Orientierung an Normalwerten, an einem »Normalmenschen«, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt, mag darum für Theoretiker interessant sein, für eine praxisnahe Gesundheitserziehung ist sie aber von beschränktem Wert. Soweit einige Argumente der Kritiker. Dazu kommt, daß es eine Reihe von Studien gibt, die andere als die oben beschriebenen Zusammenhänge zwischen Körpergewicht und Lebenserwartung fanden. In der Minnesota-Studie (Lit. 83) zeigte sich, daß — bei jeweils gleicher Körpergröße - das Durchschnittsgewicht der innerhalb von dreißig Jahren verstorbenen männlichen Probanden um 1,16 Kilogramm über dem der noch lebenden lag. Ergebnisse aus einer über 18 Jahre laufenden Untersuchung in Framingham in den USA (Lit. 84) ergaben eine positive Korrelation zwischen der Häufigkeit von koronarer Herzkrankheit und relativem Körpergewicht, aber keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Mortalität an koronaren Herzkrankheiten und relativem Körpergewicht. Die Mortalität insgesamt war negativ mit dem relativen Körpergewicht korreliert, das heißt, die Sterberate sank mit zunehmendem Gewicht. Auch eine kritische Analyse der über 14 Jahre laufenden Chicago Peoples Gas Company Study (Lit. 85) erbrachte eine negative Korrelation zwischen Sterblichkeit und Köpergewicht. Eine Studie an 3600 fettsüchtigen Patienten an der Medizinischen Klinik in Düsseldorf, die regelmäßig bis zu 17 Jahren kontrolliert wurden, konnte - außer bei extrem Dicken - keine auf das Übergewicht 189 zurückzuführende überdurchschnittliche Sterblichkeit nachweisen (Lit. 86). Der amerikanische Wissenschaftler Reubin Andres veröffentlichte schließlich 1980 eine Zusammenfassung der Ergebnisse von fast zwei Dutzend Studien über die Zusammenhänge zwischen relativem Körpergewicht, Krankheits- und Sterblichkeitsraten und schloß: »Die großen epidemiologischen Studien über Adipositas und Mortalität zeigen nicht, daß Fettsucht ein größeres Sterblichkeitsrisiko bedeutet. Es ist daher zu empfehlen, daß nicht nur die Ratschläge an Fettsüchtige neu überdacht werden sollten, sondern daß es wert wäre, die möglichen Vorteile maßvollen Übergewichts zu erforschen (Lit. 87).« Zu guter Letzt kam jüngst, ausgerechnet von dort, wo 1959 die These vom Idealgewicht ihren Ausgang genommen hatte, eine überraschende Neuheit: Die Society of Life Actuaries war in den letzten Jahrzehnten nicht untätig geblieben und hatte weiterhin die Daten von vielen Millionen Versicherungsnehmern ausgewertet. Das Ergebnis: Der mit der geringsten Mortalität assoziierte Gewichtswert liegt geringfügig unter dem durchschnittlichen Körpergewicht des Amerikaners. Dieses Durchschnittsgewicht hat aber in den letzten zwanzig Jahren zugenommen und ist heute höher als das Normalgewicht nach Broca. Mit anderen Worten: Das »neue« Idealgewicht liegt demnach in einem Bereich, der früher schon als Übergewicht galt. Ist dick also gesund? Um es nochmals klarzustellen: Wer übermäßig dick ist (dies gilt etwa für jemanden, der bei 180 Zentimeter Körpergröße 100 Kilogramm und mehr wiegt), hat zweifellos im statistischen Durchschnitt eine geringere Lebenserwartung als ein Normalgewichtiger, der nicht ganz soviel Fett mit sich herumschleppen muß. Schon Shakespeare hat offenbar um diesen Zusammenhang gewußt, als er Heinrich IV. zu Falstaff sagen ließ: Make less thy body hence, and more thy grace; Leave gourmandizing; know the grave does gape For thy thrice wider than for other men. Wer ansonsten gesund ist, braucht sich aber über leichtes Übergewicht nicht zu sorgen, das heißt, um beim soeben genannten Beispiel 190 zu bleiben, bis zu einem Körpergewicht von gut 90 Kilogramm bei 180 Zentimeter Größe. Viele Übergewichtige haben nicht nur zuviel Fett, sondern auch einen hohen Blutdruck, eine gestörte Glukosetoleranz oder hohe Blutfettwerte- oder alles zusammen. Diese »Risikofaktoren« deuten dann - wiederum im statistischen Mittel — an, daß ein erhöhtes Krankheitsrisiko vorliegt. Da sich in den meisten Fällen diese Erscheinungen normalisieren, wenn das Körpergewicht reduziert wird, empfehlen viele Ärzte, es sei in jedem Falle besser, schlank zu sein. 191 Diätkuren als Heilmittel Krebs und Ernährung Befassen wir uns zunächst mit dem Einfluß der Ernährung auf die Entstehung von Krebs. Professor Ernst L. Wynder von der American Health Foundation glaubt, daß bis zu 50 Prozent aller Krebserkrankungen bei der Frau und 30 Prozent bei Männern in den Vereinigten Staaten mit der Ernährung zusammenhingen. Der Heidelberger Krebsforscher Michael Habs hält jedoch solche Quantifizierungen des ernährungsbedingten Krebsrisikos für reine »Spekulation« (Lit. 88). Naheliegend ist, daß vor allem bösartige Wucherungen des Verdauungstraktes mit dem Verzehr bestimmter Nahrungsmittel in ursächlichem Zusammenhang stehen. Interessant ist dabei der historische Verlauf der Häufigkeit von Magenkrebs und Dickdarmkrebs. Magenkrebs hat weltweit seit Jahrzehnten eine rückläufige Tendenz, ein Faktum, das zuweilen als Beweis für eine Abnahme der karzinogenen Noxen in der Nahrung gedeutet wird. In der Bundesrepublik Deutschland fordert er aber noch immer mehr als 10 Prozent aller Krebsopfer. Magenkrebs tritt im allgemeinen in ländlichen Regionen häufiger auf als in Städten. Für vergleichende Beobachtungen bezüglich der Häufigkeit von Erkrankungen und möglichen auslösenden Ursachen (sogenannte »epidemiologische Korrelationen«) gilt jedoch grundsätzlich, daß diese allenfalls sich ergebende Zusammenhänge nahelegen, ursächliche Beziehungen jedoch nicht beweisen können. Epidemiologische Studien waren schon immer ein Instrument der Forschung, das besonders dann eingesetzt wird, wenn über die Ursachen einer Krankheit nur wenig bekannt ist. Man versucht damit, mögliche Ursachen herauszufinden. Die Resultate epidemiologischer Studien liefern somit gewissermaßen die Ideen. 193 Danach beginnt man, bei den durch Häufigkeitsvergleich errechneten Kandidaten weiterzusuchen. Zahlreiche Korrelationen erweisen sich jedoch später als Artefakte der Statistik. Während Magenkrebs, wie schon erwähnt, in seiner Häufigkeit abnimmt, scheint der Krebs des Dickdarms vor allem in den Industriestaaten im Vormarsch zu sein. Bemerkenswert ist, daß die Anteile von Dickdarm- und Magenkrebs sich fast genau zueinander verhalten wie die jeweiligen Anteile von Gemüse und Fleisch im Warenkorb: Wo viel Speisen pflanzlicher Herkunft gegessen werden, wie beispielsweise in Japan, ist das Risiko, an Magenkrebs zu erkranken, hoch und jenes, an Darmkrebs zu erkranken, niedrig. Wo Fleisch bevorzugt wird, gilt in vielen Fällen das Gegenteil. Magenkrebs tritt in ländlichen Regionen häufig auf, Dickdarmkrebs dagegen wird öfter bei der Stadtbevölkerung festgestellt (auf Seite 64 erwähnten wir schon den möglichen ursächlichen Zusammenhang zwischen Fasergehalt der Nahrung und Erkrankungen des Dickdarmes). Epidemiologische Zusammenhänge ergeben sich auch für eine Vielzahl von Nahrungsbestandteilen. Fett, einzelne Fettsäuren, Cholesterin, Aminosäuren, Mineralstoffe, Mangel an Faserstoffen, Alkohol, Kaffee und Zucker kamen ebenso in Krebsverdacht wie künstliche Farbstoffe, Saccharin, Zyklamat, Räucherwaren, Nitrate und Fluorid. Zweifelsfrei ist, daß es in Nahrungsmitteln krebserregende Substanzen gibt. Kontrovers ist jedoch die Rolle der Zusammensetzung der Nahrung, etwa hinsichtlich Fett und Kohlenhydrat. Dieser Streit um die Ursachen von Krebs ist nicht bloß eine Auseinandersetzung zwischen Schulmedizin einerseits und Außenseitern andererseits, hier sind auch die Schulmediziner unter sich ganz gehörig zerstritten. Begnügen wir uns mit dieser Feststellung. Ich halte es jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht für vertretbar, zum Thema »Ernährung als Krebsursache« eine gesicherte Aussage zu machen (außer der, daß die Fülle an Schrifttum zu diesem Thema darüber hinwegtäuscht, daß wir über die Ernährungsabhängigkeit von Krebs noch nicht genug wissen). Für nicht zutreffend halte ich aber eine Einschätzung von Robert Atkins: »Es hat so zahlreiche, vielversprechende Durchbrüche in den Bemühungen gegeben, aber die Laufbahnen der Entdecker wurden immer wieder durch die etablierte Politik zunichte gemacht. Ganze Wissensschätze wurden zu Grabe getragen, weil das Establishment Angst vor den natürlichen Krebstherapien hatte« (Lit. 89). 194 Die Gersonsche Krebsdiät Damit sind wir aber schon bei den Wundermitteln angelangt, die zur Vorbeugung und Therapie von Krebs mit wechselndem kommerziellen Erfolg angepriesen werden. Dem Thema dieses Buches entsprechend, beschränken wir uns auf solche, die mit Nahrungsmitteln zu tun haben. Eine der zahlreichen »Krebsdiäten« ist die Weintraubenkur der Amerikanerin Johanna Brandt, derzufolge Patienten siebenmal pro Tag Weintrauben essen sollen. Das ganze zwei Wochen lang. Der Arzt Max Gerson, ein deutscher Emigrant, gab vor, die »Entgiftung« des Körpers, die vermeintliche Ursache von Krebs, durch eine salzarme Diät erfolgreich gewährleisten zu können. Gerson hatte sich zunächst mit der Diättherapie der Lungentuberkulose auseinandergesetzt. »Zufolge der ihm damals noch entgegenstehenden Lehrmeinungen . . . war Gerson bemüht, die entdeckte Heilwirkung der kochsalzfreien Diät bei der Lungentuberkulose empirisch zu fundieren. 1926 erklärte Klemperer, ein führender deutscher Kliniker, die Diättherapie sei als das erste wirkliche Heilmittel für alle Formen der Lungentuberkulose anzusehen. Sie sei unsere stolze Hoffnung und mit ihr beginne eine neue Epoche in der Therapie dieser schweren Volksseuche. Die Diättherapie der Tuberkulose sei der Grundstein zu einem neuen Gebäude, dessen Ausbau erst ein kommendes Geschlecht erleben wird. Die Gersonsche Tuberkulosediät nahm ihren Ausgang an Beobachtungen nicht tuberkulöser Allergiker; so erklärte sich, daß bei der Gersonschen Diät viele Nahrungsmittel verboten wurden, die früher als notwendig und kräftigend gegolten hatten: Fleisch, Fisch, Milch, Eier, Mehlspeisen, Kakao, Kaffee. Es war das völlige Ausschalten des Kochsalzes, das als Charakteristikum seiner Diät aufgefaßt wurde, auf das Verbot der Eiweißmast hingegen wurde weiterhin nicht geachtet« (Lit. 90). Das Prinzip »salzarm« übertrug Gerson später auf die von ihm propagierte Krebsdiät. Sie beschränkt sich auf Säfte von Früchten, Gemüsen und Blättern. Alles muß, so Gerson, frisch und salzlos zubereitet werden. Die Therapie wird von Gereons Tochter in einem Therapiezentrum nahe der mexikanisch-kalifornischen Grenze mit kommerziellem Erfolg fortgeführt. Das National Cancer Institute in den USA überprüfte die behaupteten Heilungserfolge, konnte jedoch keinen Beweis für die Wirksamkeit der Gereon-Therapie feststellen. 195 Die Kuhische Schutzkost gegen Krebs Eine »Schutzkost gegen Krebs« propagierte auch Johannes Kühl; sie ist auch als Milchsäurekost bekannt und basiert auf der Vorstellung, daß die normale Sauerstoffaufnahme in der Krebszelle verlorengegangen ist. Das kranke Zellgewebe speichere infolgedessen Milchsäure im Übermaß und »erhöht das physiologische Maß der rechtsdrehenden Zellmilchsäure zur giftigen, das heißt toxischen Konzentration, die wegen der fehlenden oder im Gewebe stark herabgesetzten Zellatmung nicht verbrannt oder zu Glykogen (tierische Stärke) zurückverwandelt werden kann. Der menschliche Organismus baut die Milchsäure aus Kohlenhydraten auf, die in der als Normalkost bezeichneten Nahrung vorwiegend denaturiert zur Verfügung stehen. Diesen denaturierten Nahrungsmitteln fehlen jedoch wesentliche Fermente und Ergänzungsstoffe, die zum Abbau dieser Nahrungsstoffe zu Kohlendioxid und Wasser (Endprodukte des Verbrennungsstoffwechsels) wie zur Umwandlung der Milchsäure in Glykogen auch notwendig ist, um ihre gesunde und vitale Auswertung zu ermöglichen . . . Kühl geht von der Annahme aus, daß Milchsäure den Milchsäurespiegel wieder ins Gleichgewicht bringt, daß eine Ernährung mit ausreichenden Milchsäuregärungsprodukten einen gesunden Stoffwechsel aufrechterhält und jeder krankhaften Entartung entgegenwirkt« (Lit. 91). Die nach Kühl ideale Diät besteht aus dreimal täglich rohem Sauerkraut, dreimal täglich einem Glas Joghurt oder Buttermilch, Suppe und gekeimten Weizengerichten, Ziegen- oder Schafkäse (ungesalzen), ferner Schimmelkäse, Camembert, Roquefort und Gorgonzola. Zu der Milchsäuretheorie Kuhls ist anzumerken, daß sich die Krebszelle in vielen Belangen von der gesunden Zelle physiologisch unterscheidet; eine anomale Milchsäureproduktion ist eines unter vielen Symptomen. Wenn Kühl nun vorgibt, durch seine Kost die Milchsäure abbauen zu können, so behandelt er damit ein Symptom der Entartung, keinesfalls jedoch diese selbst. Abgesehen davon ist vom Standpunkt der Naturwissenschaft nicht einzusehen, warum Lebensmittel, die durch Milchsäuregärung entstanden sind, ihrerseits im menschlichen Stoffwechsel den Abbau von Milchsäure bewirken sollen (Kühl begründet seine Auffassung mit dem therapeutischen Prinzip »Gleiches mit Gleichem«). Regelrecht gefährlich ist das von Kühl empfohlene »milchsaure 196 Müsli«: Ein Getreidebrei aus Vollkornschrot und Mineral- oder destilliertem Wasser wird in einer Porzellanschüssel fünf Tage an einem warmen, zugfreien Ort bei 20 bis 25 Grad Celsius stehengelassen. Kühl will damit die Bildung von Milchsäure und Schimmel erreichen. Der Schimmel, von dem Kühl behauptet, er sei gesund (Tagesmenge an Schimmelgetreide 60 Gramm für Kranke und 30 Gramm für Gesunde), ist jedoch nachgewiesenermaßen gesundheitsschädlich, da er überaus wirksame Krebserreger bildet. Die Kuhische Kost ist somit nicht nur keine Schutzkost gegen Krebs, sondern eine krebserregende Kost. Kühl konnte dies zunächst allerdings nicht wissen. Die Giftigkeit des Aflatoxins, eines Stoffwechselproduktes des Schimmelpilzes Aspergillus flavus, wurde erst 1960 in England entdeckt, als etwa 100 000 Truthühner nach der Verfütterung von schimmligem Erdnußmehl erkrankten und starben. Heute wissen wir, daß es »ungefährliche« Schimmelpilze gibt (etwa die, die für die Käsereifung verantwortlich sind) und solche, die giftige Stoffwechselprodukte absondern. Diese finden sich unter anderem in schimmligem Reis und schimmligen Getreideprodukten. Den Epigonen Kuhls, die heute noch das Kuhische Müsli propagieren, muß deshalb der Vorwurf der Anleitung zur Vergiftung gemacht werden. Neben den Diätvorschriften von Gerson und Kühl gibt es noch eine ganze Reihe anderer sogenannter Krebsdiäten. Wir wollen diese nicht im einzelnen anführen. Professor Kasper von der medizinischen Klinik der Universität Würzburg versuchte auf einem Symposium der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ein Resümee: »Keiner der Autoren, die eine sogenannte Krebs-Diät propagieren, legt exakte Beweise für die meist wortreich verkündeten Therapieerfolge vor. Gesprochen wird immer von eindeutigen und überzeugenden Ergebnissen, ohne daß nachprüfbare Zahlen präsentiert werden . . . Soweit der therapeutische Wert sogenannter Krebs-Diäten bisher exakt überprüft wurde, war das Ergebnis immer negativ« (Lit. 92). 197 Das »Wundermittel« Laetrile Zahlreiche Mythen ranken sich um das Wundermittel Laetrile. Ernest T. Krebs, ein kalifornischer Arzt, begann 1920, Aprikosenkerne als Krebsmittel einzusetzen. Sein Sohn, seines Zeichens Biochemiker, stellte das in der Folge rein gewonnene Präparat Laetrile her. Seit 1950 ist es als Injektionslösung erhältlich. Er behauptet, daß Laetrile selektiv auf Krebszellen wirkt, aber gesunde Zellen nicht tangiert. Eine unbekannte, nur in Krebszellen vorkommende Substanz würde aus Laetrile die darin enthaltene Blausäure freisetzen und in der Folge zum Tod der Krebszellen führen. Gesunde Zellen dagegen enthielten eine andere Substanz, die sie vor der Blausäure schütze. Später änderte Ernest Krebs seine Erklärung für die angebliche Wirkung von Laetrile und behauptete, Krebs werde durch einen Mangel an »Vitamin B 17« hervorgerufen, und Laetrile sei mit diesem Vitamin identisch. Obwohl sich seit Jahrzehnten Dutzende Ärztekommissionen, Behörden und Institute mit dem Problem Laetrile beschäftigten und einmütig zur Schlußfolgerung kamen, Laetrile habe überhaupt keine Wirkung, verkauft Krebs jr. sein Präparat in großen Mengen. Anfang der sechziger Jahre wurde der Einsatz von Laetrile im Bundesstaat Kalifornien verboten. Da in den Vereinigten Staaten wie auch in der Bundesrepublik Deutschland nur solche Arzneimittel in Verkehr gebracht werden dürfen, die eine nachgewiesene Wirksamkeit besitzen, wurden die Hersteller immer wieder in Gerichtsverfahren verwickelt und bestraft. Laetrile wurde in der Folge unter anderem Namen und anderen Bezeichnungen vermarktet, um der Gesetzgebung auszuweichen. In den letzten Jahren ist es zum einträglichen Geschäft geworden, Laetrile in die Vereinigten Staaten zu schmuggeln. Auf dem Schwarzmarkt wird das Präparat angeblich zu einem Preis von 700 Prozent über den Herstellungskosten gehandelt. Eine Laetrilekur in Mexiko kostet weit mehr als 1000 US-Dollar. Eine kleine, aber tatkräftige Gruppe versuchte unter dem Slogan »Wahlfreiheit in der Krebstherapie« das Laetrileverbot zu bekämpfen. Man argumentierte, das Präparat sei im wesentlichen ungiftig, und es müsse doch wenigstens erlaubt sein, es Krebspatienten im Endstadium zu verabreichen. 1978 wurde es für diesen Einsatzzweck in den Vereinigten Staaten tatsächlich zugelassen. Schätzungen zufolge nehmen etwa 70 000 Amerikaner das aus Aprikosenkernen gewonnene Präparat. Trotzdem: So sehr das wissenschaftliche Esta198 blishment in Sachen Krebs ansonst uneinig sein mag - Laetrile wird in geschlossener Front abgelehnt. Wir wollen nicht vergessen zu erwähnen, daß auch Vitamin C (siehe Seite 215), Vitamin A, das Spurenelement Selen und andere als Mittel gegen bösartige Geschwüre vorgeschlagen wurden und werden. Auch die Empfehlung, ganz einfach zu fasten, wird immer wieder ins Spiel gebracht. Tatsächlich scheint Nahrungsentzug das Wachstum vieler Krebsformen zu behindern. Fraglich ist, ob es sich dabei um eine Therapie handelt. Wie dem auch immer sei, die Versprechungen von Wunderheilem, den Krebs besiegen zu können, sind eine traurige Krönung des gegenwärtigen Diätkults. Freilich, wer die verzweifelte Lage eines Krebskranken zu erfassen sucht, dem gesagt wird, er habe nur mehr kurz zu leben, mag verstehen, daß der Betroffene sich gleichsam an jeden Strohhalm anklammert. Vielleicht ist es zuweilen tatsächlich der von Wunderheilern vermittelte feste Glaube an eine Heilung, der Wirkungen zeitigt. Wer anerkennt, daß Krankheiten psychosomatische Komponenten haben, muß auch zugeben, daß für die Behandlung von Krankheiten psychische Faktoren eine Rolle spielen können. Schlimm ist es, wenn die etablierte Medizin nicht das Vertrauen genießt, um manchen Patienten Hoffnung zu machen. Unverantwortlich aber ist es gleichzeitig, wenn Außenseiter diesen Vertrauensschwund benutzen, um mit der Hoffnung von Kranken unseriöse Geschäfte zu machen. Die Haysche Trennkost In den ersten Kapiteln dieses Buches wurden zahlreiche unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Ernährungsempfehlungen beschrieben; man solle viel Fett und Eiweiß, aber keine Kohlenhydrate essen; es sei wichtig, mehr Kohlenhydrate und mehr Faserstoffe zu verzehren; gesund sei nur, Naturbelassenes zu essen; Fleisch solle man überhaupt meiden und so weiter. Wer glaubt, damit sei der Einfallsreichtum der Ernährungs»lehren« erschöpft, der irrt. Es ist eigentlich staunenswert, auf welche Ideen die Damen und Herren, vorwiegend selbsternannte Ernährungsexperten, so alles kommen. Mit einer besonderen Variante von Ernährungsempfehlung wollen wir uns nun beschäftigen, der sogenannten Hayschen Trennkost oder Trenndiät, und zwar sowohl in der ursprünglichen (um 1900 entwickelten) Variante als auch in der weit199 gehend modifizierten Form, die im deutschen Sprachraum als Köhnlechner-Trenndiät bekannt wurde. Worum geht es? »Unsere Nahrung setzt sich in der Hauptsache aus Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten, Vitaminen und Mineralien zusammen. Unsere Nahrungsmittel enthalten diese in der verschiedensten Zusammensetzung. Wenn wir aber untersuchen, zu welchem Prozentsatz sie diese enthalten, so erkennen wir, daß es Produkte gibt, wie Fleisch und Fisch, die keine Kohlenhydrate enthalten, und daß die Kohlenhydrate nur geringe Mengen Eiweiß enthalten, oft nur Spuren, also reine Kohlenhydrate darstellen. Wenn wir bei unserem Essen (aus geschmacklichen Gründen) mischen, was die Natur zu mischen unterließ, so begehen wir damit den ersten Verstoß gegen die chemischen Verdauungsgesetze . . . Der amerikanische Arzt Dr. Howard Hay erkrankte . . . an einer als unheilbar geltenden Krankheit, der Brightschen Nierenerkrankung, für deren Krankheitsverlauf eine Eiweißausscheidung charakteristisch ist. Er. heilte seine Erkrankung mit der Umstellung seiner Nahrung auf die »chemischen Nahrungsgesetze<« (Lit. 93). Richtige und unrichtige Verdauungsgesetze Die hier angesprochenen chemischen Verdauungsgesetze erklärt Hay folgendermaßen. Jeder Chemiker wisse, so Hay, daß zur Stärkeverdauung zueret der Speichel gebraucht wird. Seine Wirkung hänge aber von einem schwachen Ferment, dem Ptyalin ab, das nur bei ausreichend vorhandenen Basen wirken könne. Ohne Basengrundlage gebe es keine Pryalinwirkung auf Kohlenhydratnahrung. Hay: »Ißt man also das stärkehaltige Brot oder die gekochten Kartoffeln mit sauren Früchten zusammen, dann hat man die alkalischen Vorbedingungen beseitigt, von denen das Ptyalin abhängig ist. Es kann also seine Aufgabe nicht erfüllen, und die Stärke kommt unverdaut in den Magen. Da es im Magen aber kein Ferment gibt, das auf die Stärke einwirken kann, bleibt sie unverdaut und kommt so unmittelbar in den Dünndarm, wo wieder kein genügendes Mittel zu ihrer Verdauung vorhanden ist und wo sie bei Wärme und Feuchtigkeit dann gärt« (Lit. 94). Analoges leitet Hay auch für die Verdauung von Eiweiß ab. Sie hängt laut Hay in erster Linie von der Wirkung des Enzyms Pepsin im 200 Magensaft ab. Da Pepsin aber nur bei vorhandener Säure arbeite, handelten wir falsch, wenn wir zu einer Eiweißmahlzeit reichlich Kohlenhydrat essen, denn die Stärkemehle verlangten Basen und Eiweißstoffe verlangten Säuren. Der Magen könne nicht alles zur gleichen Zeit entwickeln, denn keine Flüssigkeit kann zu gleicher Zeit sauer und basisch sein, sowenig wie ein Zimmer zur gleichen Zeit hell und dunkel sein kann. Hay setzt seine Theorie fort mit der Empfehlung, das richtige Verhältnis von säurebildender und basenbildender Kost betrage 2: 8, das heißt nur ein Fünftel unserer täglichen Nahrungsmittel solle aus Brot, Stärke, Fleisch, Eiern, Käse und so weiter bestehen. Vier Fünftel dagegen sollten sich aus basenbildenden Stoffen wie Gemüsen, Salaten, frischen Früchten und ähnlichem zusammensetzen. Das entscheidende Kriterium der Hayschen Trennkost ist jedoch, daß man Kohlenhydrate und Eiweiß nicht gemeinsam bei derselben Mahlzeit verzehren dürfe. Versuchen wir eine kurze Zwischenbilanz: So ziemlich alles, was Hay behauptet, ist falsch. Beginnen wir schön der Reihe nach. Hay sagt, man solle zu einer Stärkemahlzeit nichts Saures essen, weil der basische Speichel angesäuert würde und das Enzym Ptyalin nicht wirksam sein, die Stärke infolgedessen nicht verdaut werden könne und dann im Darm zu gären beginne. Zwar stimmt, daß es im Mundspeichel ein Enzym gibt, das Ptyalin heißt und Stärkemoleküle abbauen kann. Der Mundspeichel, von dem täglich 1,2 Liter gebildet werden, hat aber ein pH von 6 bis 7, ist also im neutralen Bereich. In jedem Fall - egal ob Stärke in reiner Form oder zusammen mit anderen Lebensmitteln gegessen wird — bauen die Enzyme des Speichels nur drei bis fünf Prozent der Stärke zu Maltose und Isomaltose (Abbauprodukte der Stärke) ab. Der Löwenanteil der Stärke wird erst im Magen und im Dünndarm in Einfachzucker zerlegt, im Magen mit Hilfe von Enzymen, die vorwiegend im sauren Bereich arbeiten, im Dünndarm mit Hilfe von solchen, die in basischem Milieu wirken. Wenn Hay sagt, »Stärkemehle verlangen Basen und Eiweißstoffe verlangen Säuren«, so ist das einfach falsch. Unverständlich ist mir übrigens, warum Hay auf der nächsten Seite empfiehlt, man solle jedem Kind vor der Fütterung einen Teelöffel voll Orangensaft verabreichen. Jedermann weiß, daß Orangensaft sauer ist (er enthält Zitronensäure). Hay widerspricht sich also hinsichtlich seiner Ptyalintheorie selbst. Daß der Ma201 gen nicht zur gleichen Zeit Basen und Säuren entwickeln kann, wie Hay postuliert, ist natürlich richtig. Aber das verlangt ja auch niemand. Der Magensaft ist sauer, der Dünndarmsaft basisch, und in beiden Milieus wirken Enzyme, die sowohl Eiweiß als auch Kohlenhydrate (Stärke) verdauen können. Das chemische Verdauungsgesetz des Herrn Hay ist unschwer als völliger Unsinn zu entlarven. Kohlenhydrat und Eiweiß lassen sich nicht »trennen« Hay empfiehlt ferner, so wenig wie möglich Eiweiß und Stärkeprodukte und soviel wie möglich Obst und Gemüse zu essen, gleichzeitig aber solle man nur eine Eiweißart zu einer Mahlzeit, also entweder Fleisch oder Fisch essen, desgleichen nur eine Stärkemehlart. Eine Erklärung für diese seltsame Empfehlung bleibt Hay uns schuldig. Eine genauere Betrachtung der Lebensmitteltabelle, welche die Lebensmittel aufzählt, die angeblich nicht gemischt werden dürfen, zeigt außerdem, daß Hay den »Kernpunkt dieser neuen Ernährung«, die Trennung von Eiweiß und Kohlenhydraten, gar nicht gewährleisten kann. Er rechnet Vollkornbrot und Vollkorngetreide zu den Kohlenhydraten, unterschlägt jedoch dabei, daß diese bis zu 12 Prozent Eiweiß enthalten. Hätte Hay recht, müßten ja Vegetarier am Eiweißmangel sterben. Zu den nicht kohlenhydrathältigen Lebensmitteln zählt Hay »saures Obst«, vergißt aber offenbar, daß dieses weit mehr als 10 Prozent Kohlenhydrate enthalten kann. Milch hat laut Hay überwiegend Eiweiß. In jeder Nährwerttabelle kann man jedoch nachlesen, daß Kuhmilch 3,2 Prozent Eiweiß, aber 4,7 Prozent Kohlenhydrate enthält. Zur Entlastung Hays könnte man anführen, daß seine Argumentation zwar unhaltbar ist, seine Kostempfehlungen jedoch an und für sich nicht schädlich sein müssen. Schädlich kann jedoch sehr wohl sein, wenn Hay vorgibt, Krankheiten wie Nierenentzündung, Diabetes, Wassersucht, Arthritis und Krebs mit seiner Trennkost heilen zu können. Hier gilt, was schon anläßlich der Diskussion der makrobiotischen Ernährung gesagt wurde: Wenn ein Kranker den Ernährungsratschlägen der Makrobioten oder, in unserem Fall, des Herrn Hay folgt, anstatt sich medizinisch behandeln zu lassen, dann kann sich sein Zustand verschlechtern und eine spätere, wirksame Therapie erechwert oder unmöglich gemacht werden. 202 Ähnlich unsinnig scheint die von Maria Lange-Ernst empfohlene Köhnlechner-Trenndiät (Lit. 95). Dort heißt es beispielsweise auf Seite 50: »Obstessig schmeckt besser als Sie denken! Er erfrischt, seine Wirkung ist belebend - vergessen Sie den Begriff >Essig< dabei, außerdem hilft Ihnen das alte Hausrezept bei der Neutralisierung von Säuren und Basen in Ihrem Körper.« Jede Hausfrau weiß, daß Essig sauer ist; er enthält im Grunde genommen verdünnte Essigsäure. Essig kann daher niemals in der Lage sein, Säuren und Basen zu neutralisieren. Später setzt sich die Verfasserin ganz gehörig von ihrem Vorbild Hay ab: »Entscheidend ist, sie dürfen bei der Köhnlechner Trenndiät Eiweiß essen! Nicht das hochwertige Eiweiß als solches ist schuld am Übergewicht und an der Unstimmigkeit unseres Säure-Basenhaushaltes, sondern das Zuviel an Eiweiß.« Zunächst einmal ist, wie wir ja schon gesehen haben, unrichtig, daß die Haysche Trennkost Eiweiß verbietet. Sie erlaubt nur nicht, Eiweiß und Kohlenhydrate zur gleichen Mahlzeit einzunehmen. Die Köhnlechnersche Diätvariante ist aber insoweit tatsächlich eine Abkehr von der Hayschen Trennkost, als sie gewissermaßen eine Heirat zwischen Hayscher Trennkost und Atkins-Diät bedeutet: Als Eckpfeiler der Ernährung tritt an die Stelle der Kohlenhydrate Eiweiß. Ähnlich wie schon Atkins argumentiert die Verfasserin »Kalorie ist nicht gleich Kalorie« und »ein ausgetüfteltes Kalorienzählprogramm muß unweigerlich zum Mißerfolg führen« (Lit. 96)! Man kann also ruhig Alkohol trinken und Fett essen, nur nicht gemeinsam mit Kohlenhydraten. Schließlich wird Maria Lange-Ernst richtig aggressiv: »Dr. Hay fordert die Rohkost aus Gründen der gesunden Ernährung, aber der Mensch ist von seiner Veranlagung her kein Pflanzenesser, wie er es propagierte . . . Es ist keineswegs notwendig, reichlich Rohkost zu verzehren, um einen ausgeglichenen Vitaminhaushalt zu haben. Wichtigere Vitaminspender sind Fleischprodukte aller Art. Den fanatischen Rohkostanhängern sei vorgehalten, daß ein übermäßiges Rohkostangebot dem Organismus Schaden zufügen kann« (Lit. 97)! 203 Säurebildner und Basenbildner Etwas näher eingehen möchte ich noch auf das Problem des Säure-Basen-Haushaltes. Schon aus dem Grund, weil esnicht nur von Hay und seinen Gefolgsleuten, sondern auch von den Anhängern der Vollwertkost immer wieder mit verschiedenen Argumenten und Behauptungen ins Spiel gebracht wird. Unsere Zivilisationskost sei säureüberschüssig, so wird behauptet. Der Körper könne diesen Säureüberschuß nicht verarbeiten und erkranke infolgedessen. Richtig daran ist, daß es Lebensmittel mit Säureüberschuß (Fleisch, Fisch, Ei, Getreideprodukte) gibt und solche mit Basenüberschuß (Früchte, Gemüse, Nüsse, Vollmilch). Der Körper hat jedoch eine Reihe von sehr effizienten Mechanismen, um sowohl Säure-, als auch Basenüberschuß durch Nahrung auszugleichen. Denn die Konstanthaltung des pH-Wertes der Körperflüssigkeiten (der pH-Wert ist der negative dekadische Logarithmus der Konzentration an Wasserstoffionen und damit ein Maß des Säuregrades einer Flüssigkeit) ist von großer Bedeutung, da von ihm für den Betrieb der Zellen elementar wichtige Dinge abhängen. An seiner Regelung sind beteiligt: Die Pufferungskapazität des Blutes und der Körperflüssigkeiten, die Atmung und die Nieren. Indem wir durch die Lunge Kohlendioxid (das in Wasser gelöst Kohlensäure ergibt) ausscheiden, können wir den Säurehaushalt des Blutes innerhalb weniger Minuten regeln. Langsamer, dafür vergleichsweise wirksamer arbeitet die Niere, die durch Ausscheidung von Bikarbonat Wasserstoffionen einzusparen vermag. Selbst wenn bei ganz einseitiger Nahrungswahl entweder nur säureüberschüssige oder nur basenüberschüssige Kost gewählt wird, beträgt die Regulationsfähigkeit der Niere das vier- bis achtfache des jeweiligen Maximalwertes: »Die Puffersysteme des Organismus und die Anpassungsfähigkeit der Niere ergeben eine bedeutende Toleranzgrenze hinsichtlich der Belastung des Organismus durch Säuren oder Basen. Im Bereiche dieser Toleranzgrenzen ist jede Ernährungsart, ob säureüberschüssig oder basenüberschüssig, physiologisch und bietet beim gesunden keinen Vorteil vor einer anderen« (Lit. 98). 204 Rheumadiät Neben Zuckerkrankheit (siehe Seite 82), multipler Sklerose (siehe Seite 68 f.) und Krebs (Seite 195 f.) gibt es auch für Rheuma mehrere Formen der Ernährungsbehandlung, die den Außenseitern zuzurechnen sind. Die Diätvorschläge sind widersprüchlich: Die einen empfehlen eine ballaststoffreiche und vorwiegend vegetarische Ernährung, die anderen meinen, eine eiweißreiche, jedoch an Kohlenhydraten und Ballaststoffen arme Kost sei vorteilhaft. Auch dem Heilfasten wurde eine positive Wirkung zugeschrieben. Die Wirksamkeit dieser Diätvorschläge konnte bisher nicht unter Beweis gestellt werden. Das ist auch kein Wunder, fehlen doch bislang Hinweise, daß Rheuma eine ernährungsbedingte Krankheit ist. Abgesehen davon ist »Rheuma« eine ungenaue Bezeichnung: Man unterscheidet entzündliche Erkrankungen der Gelenke und der Wirbelsäule, degenerative Erkrankungen und den Rheumatismus der Weichteile (Muskulatur, Sehnen und so weiter). Rheuma ist also nicht Rheuma. Schon deshalb ist es unwahrscheinlich, daß eine bestimmte Diätform für alle diese mannigfachen Krankheitsbilder hilfreich ist. Den wohl einzigen positiven Aspekt, den man gegenwärtig für eine Rheumadiät ins Treffen führen kann, ist die Tatsache, daß Übergewichtige mit chronischem Gelenkbefall (vor allem der Beine) durch Fasten und damit verbundene Gewichtsreduktion entlastet werden - Nachlassen der Gelenkschmerzen kann die Folge sein. Die Kinder Feingolds Der Streit um die Feingold-Diät- in der Bundesrepublik Deutschland mit einigen inhaltlichen Änderungen als Kreuzzug der Mainzer Apothekerin Herta Hafer bekannt - und die Kampagnen um Fluoride sind wiederum zwei Beispiele für den Einfallsreichtum der Menschen, wenn es um Zusammenhänge zwischen Nahrung, Ernährung und Krankheit geht. Bei den Varianten des Diätkults, die uns in diesem und im nächsten Kapitel beschäftigen werden, geht es nicht für oder gegen Eiweiß oder Kohlenhydrate, auch nicht um die Verarbeitung von Lebensmitteln oder die Ablehnung von Fleisch, sondern es geht um einfache chemische Substanzen, die teils natürlich in Lebensmitteln vorkommen, teils aber vom Menschen bewußt der Nahrung hinzugefügt werden. 205 1973 trat der kalifornische Kinderarzt Benjamin Feingold mit der These an die Öffendichkeit, künstliche Farben und künstliche Aromastoffe seien die Ursache für Hyperaktivität - die vor allem bei Kindern zunehmend beobachtete Eigenschaft, unruhig, hektisch und nervös, eben hyperaktiv zu sein. Zur Behandlung und Vorbeugung von Hyperaktivität schlug Feingold eine Diät vor, die frei von diesen künstlichen Zusatzstoffen sein sollte. Auch Salizylate verdächtigte er; diese kommen in vielen Früchten, einigen Gemüsesorten und anderen Lebensmitteln natürlich vor. Ein Speiseplan ohne die genannten Substanzen ist ziemlich aufwendig, erfordert dies doch jeweils vom Rohprodukt auszugehen oder nur solche verarbeiteten Lebensmittel einzusetzen, welche die fraglichen Stoffe nicht enthalten. Außerdem dürfen manche Lebensmittel überhaupt nicht gegessen werden: viele Fertigprodukte, Süßwaren, Erfrischungsgetränke, ja sogar manche Zahnpasten mußten der Feingold-Theorie zufolge gestrichen werden. Die Feingold-Diät war aus einer Interpretation von Forschungsergebnissen über Intoleranzerscheinungen bei Aspirin entstanden. Feingold bemerkte, daß die chemische Struktur der Salizylate mit der von Aspirin übereinstimmte. Daraus folgerte er, die dem Aspirin chemisch ähnlichen Substanzen könnten unerwünschte Folgen haben, und vermeinte, diese in der Hyperaktivität gefunden zu haben. Nicht, daß Feingold nun begonnen hätte, seine zunächst theoretische Überlegung in der Praxis zu verifizieren. Auch verzichtete er darauf, seine Überlegungen in einer wissenschaftlichen Zeitschrift der Fachwelt zur Diskussion zu stellen. Statt dessen schrieb er ein Diätbuch - und wurde prompt berühmt. Im Lauf der letzten zehn Jahre änderte Feingold seine Empfehlungen immer wieder. So kam er zu dem Schluß, daß die Salizylat enthaltenden Lebensmittel nur für kurze Zeit aus dem Speiseplan gestrichen werden müßten, doch konzentrierte er sich nun stärker auf die künstlichen Zusatzstoffe. Vor kurzem schrieb Feingold ein Kochbuch, in dem neuerdings auch BHA und BHT, zwei antioxidierend wirkende Zusatzstoffe, auf die Liste der Verureacher von Hyperaktivität gesetzt wurde. Diese beiden Substanzen haben aber keine chemische Ähnlichkeit mit den oben erwähnten. »Zahlreiche Eltern, die den Empfehlungen Feingolds gefolgt waren, berichteten über Besserungen im Verhalten ihrer Kinder. Viele Familien schlossen sich in der Folge zu Feingold-Gesellschaften (Kults?) zusammen, um die Diätempfehlungen zu verbreiten« (Lit. 99). 206 Experimente mit widersprüchlichen Ergebnissen Infolge der großen Publizität Feingolds begannen die Wissenschaftler, seine Thesen auf Herz und Nieren zu prüfen. Zweifel bestanden von allem Anfang an schon deshalb, weil es unwahrscheinlich schien, daß mehrere chemisch nicht verwandte Substanzen ein und dieselbe Erscheinung - Hyperaktivität - hervorrufen sollten. Auch hinsichdich der Salizylate ergaben sich Ungereimtheiten: Feingold hatte eine Verbotsliste von Früchten und Gemüsesorten erstellt. Einige davon enthalten Salizylat nur in sehr geringer Menge, während es in anderen Lebensmitteln, die nicht auf der Verbotsliste zu finden sind, reichlich vorkommt. Trotzdem begannen einige Forscher mit Vergleichsuntereuchungen. Zwei Gruppen von hyperaktiven Kindern wurden ausgesucht. Eine davon wurde nach den Empfehlungen Dr. Feingolds ernährt, die andere erhielt Nahrung, die als Feingold-Diät ausgegeben wurde, aber in Wirklichkeit Salizylate, künstliche Farbstoffe und Aromastoffe enthielt. War die These Feingolds richtig, so mußte die Hyperaktivität in der ersten Gruppe abnehmen, in der zweiten Gruppe gleichbleiben oder sogar zunehmen. Die Eltern und geschulte Beobachter wurden instruiert, das Verhalten der Kinder zu beobachten. Über die Gruppenaufteilung wurden sie natürlich nicht informiert. Die Ergebnisse mehrerer solcher Experimente brachten heilloses Durcheinander. Zunächst einmal waren die Ergebnisse widersprüchlich. »In manchen Fällen schien es, als ob die Kinder bei Feingold-Diät ihre Zappeligkeit verloren, in anderen Fällen berichteten die Eltern über eine Besserung, während externe Beobachter dies nicht feststellen konnten. Andere Studien erbrachten überhaupt keine Unterschiede« (Lit. 100). Weitere Untersuchungen zeigten in der Folge, daß Hyperaktivität in vielen Fällen mit spezifischen Verhaltensmerkmalen der Familiensituation in Verbindung gebracht werden konnte. Trotz der Widersprüche war jedoch eine Schlußfolgerung eindeutig: Selbst dort, wo die Feingold-Diät Effekte zeigte, handelte es sich nur um geringfügige Besserungen; femer ergaben Versuche, bei denen hyperaktive Kinder ohne Wissen der Eltern die fraglichen Substanzen in zum Teil größerer Menge erhielten, kaum wirkliche Veränderungen des Zustands, und auch dies nicht in jedem Fall. Die von Feingold behauptete dramatische Wirkung war nirgendwo gegeben. 207 Feingold empfahl nicht nur gewisse Lebensmittel und Zusatzstoffe aus dem Speiseplan zu streichen, sondern riet auch den Müttern, samstags oder sonntags gemeinsam mit den Kindern zusatzstoffreie Kuchen zu backen. Nun ist Hyperaktivität eine Verhaltensstörung, über deren Ursachen und Diagnose die Fachwelt keineswegs einig ist. Möglicherweise ist Hyperaktivität nur ein Sammelbegriff für mehrere Störungen mit unterschiedlichen Ursachen. Eine davon könnte in einer gestörten Familienatmosphäre liegen. Es wäre deshalb kaum verwunderlich, wenn allein das Befolgen des Ratschlags, mit dem Kind Kuchen zu backen und sich dadurch mit ihm in neuer Weise zu beschäftigen, in manchen Fällen Besserungen bewirkte. »Feingold zog nicht die Wirkungen in Betracht, die die emotionelle Reaktion der Eltern im Zuge der Diättherapie auf die hyperaktiven Symptome der Kinder hatten. Er schob alle beobachteten Verhaltensänderungen den bei der Zubereitung der Nahrung weggelassenen Substanzen zu und beachtete nicht den möglichen Effekt, den die Änderung der Lebensumstände und der Umgebung des Kindes haben könnte« (Lit. 101). Nicht Farben sind schuld, sondern Nahrungsphosphat Die Feingold-Diät wird natürlich auch in der Bundesrepublik Deutschland diskutiert. Sie ist hierzulande aber kaum weniger bekannt als eine Behauptung der Mainzer Apothekerin Herta Hafer, die aus Erfahrungen mit einem hyperaktiven Adoptivsohn herrührt. Hier geht es um die Behauptung, die den verschiedenen Lebensmitteln zugesetzten Phosphate seien an der steigenden Zahl unruhiger und nervöser Kinder schuld. Hafer beruft sich dabei auf die Theorie Feingolds, wonach Fremdstoffe in der Nahrung Ursachen für Verhaltensstörungen sind; für sie sind aber nicht die Salizylate oder künstlichen Farbstoffe die Bösewichter, sondern Phosphate, die mit jenen chemisch überhaupt nichts zu tun haben. Hafer begann vor einigen Jahren einen regelrechten Feldzug gegen Nahrungsphosphat, bombardierte Behörden, Wissenschaftler und die Presse mit Briefen und forderte Maßnahmen. Schließlich schrieb sie ein Buch mit dem Titel Nahrungsphosphat als Ursache für Verhaltensstörungen und Jugendkriminalität. Ein Expertenforum des Bundesgesundheitsamtes, das sich mit der These Hafers be208 schäftigte, kam zu dem Schluß, es gebe »keine gesicherten Hinweise, daß eine erhöhte Phosphatzufuhr mit der Nahrung hyperkinetische Verhaltensweisen auslöst oder daß eine herabgesetzte Zufuhr solche Störungen vermindert«. Gegen die These der Apothekerin spricht auch, daß zahlreiche Lebensmittel Phosphate enthalten. Nur etwa 10 Prozent des Nahrungsphosphats stammen überhaupt aus »künstlichen« Zusätzen. Die zunehmende Häufigkeit von Hyperaktivität bei Kindern kann daher nicht den Phosphatzusätzen angelastet werden; und außerdem wird Phosphat seit längerem als Medikament zur Leistungssteigerung (Tagesdosis 5 bis 7 Gramm) verschrieben, ohne daß hyperkinetische Erscheinungen auftraten. Seit langem bekannt: Nahrungsmittelallergie Die von Feingold und Hafer behaupteten Effekte betreffen spezielle Fälle eines an sich nicht außergewöhnlichen Phänomens, der sogenannten Nahrungsmittelallergie. Bereits seit der Antike weiß man, daß Nahrungsmittel bei manchen Menschen krankhafte Reaktionen verursachen können. Man unterscheidet verschiedene Typen der Unverträglichkeit: zum einen gibt es die eigendiche Allergie, die durch eine immunulogisch vermittelte Überempfindlichkeit auf einen Inhaltsstoff bedingt ist, weiter gibt es nicht allergische Formen, bei denen das Immunsystem keine Rolle spielt, und schließlich sogenannte Intoleranzen, krankhafte Reaktionen, die beispielsweise durch einen Enzymdefekt (etwa Mangel an dem milchzuckerspaltenden Enzym Laktase) bedingt sind. Etwa fünf bis zehn Prozent der Erkrankungen unseres Verdauungssystems sind allergisch bedingt. In fast vierzig Prozent der Fälle ist Kuhmilch dafür verantwortlich, ein Drittel kann auf den Genuß von Hühnereiern zurückgeführt werden. In jedem zehnten Fall rufen Fische allergische Reaktionen hervor. Seltener sind Unverträglichkeiten als Folge des Konsums von Zitrusfrüchten, Erdbeeren, Nüssen, Hülsenfrüchten, Gemüse und Zwiebeln. Oft sind es also Naturprodukte, die eine Allergie auslösen können. Kaum verwunderlich, daß es auch Produkte der chemischen Industrie gibt, die nicht vertragen werden, etwa Aspirin (der Ausgangspunkt für die These Feingolds). Derartige 209 Erscheinungen sind jedoch vergleichsweise selten. Wollte man all jene Lebensmittel oder, genauer gesagt, deren Bestandteile verbieten, die bei manchen Personen zu Unverträglichkeitserscheinungen führen, müßten wir wahrscheinlich verhungern. Bei einer seltenen Krankheit, der sogenannten Zöliakie, werden sogar Getreideprodukte nicht vertragen, weil sie Gluten enthalten, welches die Darmschleimhaut so verändert, daß Durchfälle entstehen und die Nährstoffe nicht mehr aufgenommen werden können. Wichtig ist, daß Nahrungsmittelallergien als solche erkannt werden (das ist häufig nicht der Fall). Dazu eignen sich unter anderen sogenannte Provokationstests. Die Therapie besteht meist im Weglassen des auslösenden Faktors- wer auf Erdbeeren allergisch ist, darf sie eben nicht mehr essen. Manchmal werden auch Medikamente verabreicht, um die Sensibilität des Allergikers herabzusetzen (Lit. 102). Vitaminomanie In den vorangangenen Kapiteln haben wir uns mit Substanzen auseinandergesetzt, von denen zuweilen behauptet wird, sie seien schädlich und verursachten Erkrankungen. Im folgenden werden uns nun einige Vitamine und Spurenelemente beschäftigen, die in den Ruf gekommen sind, besonders »gesundheitsfördernd« zu sein oder sonst irgendwelche herausragende Wirkungen zu zeigen. Beginnen wir mit Vitamin E, einer Substanz, die schon seit Jahrzehnten als Allheilmittel gegen Herzkrankheiten, Altern und Impotenz angepriesen wird. Vor gut einem halben Jahrhundert haben kalifornische Forscher das Vitamin E entdeckt, als sie Ratten mit einer künsdichen Diät ernährten, die alle bis dahin bekannten lebensnotwendigen Nährstoffe enthielt. Die Ratten gediehen an und für sich normal, paarten sich - aber in den meisten Fällen starb der Fötus. Die Forscher begannen nun, die Rattendiät mit einzelnen Nahrungsmitteln anzureichern und entdeckten, daß bei einer Zugabe von Kopfsalat die Vermehrung wieder funktionierte. Die Schlußfolgerung war klar: Im Kopfsalat mußte es eine Substanz geben, die zumindest bei Ratten für die Fortpflanzung wichtig ist (die hypothetische Substanz wurde auf den Namen Tokopherol getauft, von griechisch tokos = Geburt und phero = ich bringe). 1938 wurde die Substanz erstmals in der Retorte 210 hergestellt. In der Folge begann man, mehrere Tierarten mit einer Diät ohne Tokopherol = Vitamin E zu füttern, und beobachtete die unterschiedlichsten Resultate: Affen entwickelten eine seltene Muskelkrankheit, bei Hühnern erkrankte das Gehirn, Kälber erlitten Herzschäden und so weiter. Wenig später begann man, Vitamin E bei menschlichen Patienten mit Fertilitätsproblemen und Muskeldystrophie als Versuchsmedikament einzusetzen. Die Ergebnisse waren enttäuschend. Keine einzige Krankheit konnte entdeckt werden, deren Verlauf das Tokopherol günstig beeinflußte. Vitamin E blieb auf der Suche nach einer Krankheit erfolglos. 1953 begann in einem amerikanischen Bundesstaat ein Versuch, der wegen ediischer Bedenken heute wohl nicht mehr durchgeführt werden könnte: 38 Versuchspersonen wurden acht Jahre lang Vitamin-Earm ernährt. Alle 38 blieben glücklicherweise gesund, die mittlere Lebenszeit der roten Blutkörperchen war bei ihnen zwar etwas kürzer, aber sonst wurden keine außergewöhnlichen Effekte beobachtet. Allerdings bekamen neun Versuchspersonen Magengeschwüre. Trotz intensiver Nachforschungen ergab sich aber kein Hinweis, daß der Vitamin E-Mangel dafür ursächlich war (trotzdem wird heute noch Vitamin E zuweilen als Heilmittel für Magengeschwüre angepriesen). 1967 wurde schließlich durch einen Zufall die Unentbehrlichkeit von Vitamin E für den Menschen unter Beweis gestellt. Bei elf Frühgeburten war eine Form der Anämie aufgetreten, die durch frühzeitige Zerstörung der roten Blutkörperchen gekennzeichnet ist. Die Babys hatten weder Kuhmilch noch Muttermilch erhalten, sondern einen nur geringe Mengen Vitamin E enthaltenden Milchersatz. Nach zusätzlichen Gaben dieses Vitamins verschwand die Anämie. Bis heute aber gibt es keinen schlagkräftigen Beweis, daß Vitamin E auch für den erwachsenen Menschen lebensnotwendig sei. Abgesehen davon enthalten zahlreiche Lebensmittel geringe Mengen der fettlöslichen Substanz, so daß ein Auftreten von Mangelerecheinungen bei halbwegs ausgewogener Ernährung ohnehin unwahrscheinlich scheint. Der einzige Bericht über einen Heilungseffekt durch Vitamin E erschien im Jahre 1946 im Nachrichtenmagazin Time und bezog sich auf Beobachtungen der Ärztebrüder Shute aus Ontario. Sie hatten einige Dutzend Patienten mit Arteriosklerose, Angina Pectoris und koronarer Herzkrankheit mit massiven Dosen von Vitamin E behandelt und eine Besserung des Zustandes beobachtet. Veretändlicherweise begannen 211 kurz danach zahlreiche Forscherteams in aller Welt mit Versuchen, diese Ergebnisse zu verifizieren. Trotz intensiver Anstrengung ist dies bis heute nicht gelungen. Soweit die Fakten, die jedermann nachprüfen kann, wenn er das medizinisch-wissenschaftliche Schrifttum durchsucht. Eine von mir durchgeführte ausführliche Recherche in medizinischen Datenbanken konnte dies bestätigen. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Die antioxidierende Wirkung des Vitamin E spielt im menschlichen Stoffwechsel zweifellos eine wichtige Rolle, ebenso das Zusammenwirken von Vitamin E mit dem Spurenelement Selen etwa hinsichtlich unseres Immunsystems. Ich halte es für durchaus möglich, daß in der Zukunft spezifische Umstände entdeckt werden, in denen das Vitamin einen therapeutischen Effekt hat. Bis jetzt ist dies jedoch keineswegs nachgewiesen, vor allem nicht hinsichtlich der behaupteten Wirkungen »Heilmittel für Herzinfarkt«, »Lebensverlängerung« und »Potenzhilfe«. Dies hindert aber Ärzte wie etwa Robert Atkins keineswegs daran, dem Vitamin E wunderbare Wirkungen zuzuschreiben: »Typisch für meine Empfehlungen ist der Diätplan, den ich für Mary James zusammengestellt habe. Sie suchte mich in meiner Praxis auf, um ihre Wechseljahrsbeschwerden behandeln zu lassen. Östrogen wollte sie nicht nehmen, und ihr Hausarzt bot ihr keine hilfreichen Alternativen dazu. Ich setzte Mary (die schlank war) auf die Fleisch- und Hireediät, nahm ihr eine Haarprobe zur Untersuchung ab, verordnete das Vitamingrundrezept und darüber hinaus 400 Einheiten Vitamin E. Die Dosis steigerte ich langsam und beobachtete Marys Fortschritte. Ihre Hitzewallungen hörten auf, als sie bei 800 internationalen Einheiten täglich angelangt war. Bei anderen Patientinnen steigere ich das Vitamin E bis auf 2000 internationale Einheiten, wenn die Wallungen nicht vorher nachlassen« (Lit. 103). Atkins behauptet also im Gegensatz zu zahlreichen Forschem, Vitamin E sei wirksam bei »Wallungen«. Zwar ist es nicht möglich, ihm in dem konkreten Fall von Mary zu beweisen, daß es wohl nicht das Vitamin E gewesen war, das geholfen hat; dennoch meine ich, daß solchen Beobachtungen in der Regel ein geringerer Geltungswert zukommt als der Summe der vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen. 212 Linus Pauling und Vitamin C Nicht ganz so eindeutig ist die Lage bei einem anderen Vitamin, das als Vorbeugung gegen Erkältungskrankheiten eingesetzt wird: Bei Vitamin C oder Askorbinsäure. Als der Nobelpreisträger für Chemie (1954) und Friedens-Nobelpreisträger (1962), Linus C. Pauling, 1970 sein mittlerweile berühmtes Buch Vitamin C and the Common Cold veröffentlichte, löste er einen Ansturm auf Vitamin C und später auf Vitamine überhaupt aus. Die »Mega-Vitamintherapie« wurde bei manchen Ärzten und zur Selbstmedikation populär. Pauling selbst nennt seine Anschauungen ortho-molekulare Medizin (ein Terminus, der auch von Atkins und anderen aufgegriffen wurde). Pauling behauptete, daß eine Tagesdosis von 1000 Milligramm Vitamin C (der Tagesbedarf wird von Ernährungswissenschaftlern meist mit 75 Milligramm angegeben) die Anfälligkeit für Erkältungskrankheiten um 45 Prozent senkt. Wenn ein weltberühmter Chemiker und zweifacher Nobelpreisträger so etwas sagt, dachten Journalisten und Öffentlichkeit, so muß doch etwas dran sein. Millionen Amerikaner begannen Vitaminpillen zu schlucken, und auch in Europa florierte das Geschäft alsbald. Die pharmazeutische Industrie war (und ist) glücklich. Nichtsdestoweniger ist das Thema Vitamin C in der Fachwelt nach wie vor kontrovers. Sehen wir uns zunächst die Argumentation von Linus Pauling näher an. »Im menschlichen und tierischen Körper erfüllt Askorbinsäure anscheinend eine Vielzahl verschiedener Aufgaben. Diese sind an Meerschweinchen und Affen näher untersucht worden. Beides Tiere, die wie der Mensch auf Zufuhr von Askorbinsäure mit der Nahrung angewiesen sind. Es hat sich ergeben, daß das Tier bei ungenügender Zufuhr des lebenswichtigen Nährstoffs Symptome von Skorbut zeigt, darunter Blutungen in Muskeln und unter der H a u t . . . Weiterhin hat sich gezeigt, daß hohe Dosen von Askorbinsäure die Widerstandsfähigkeit von Meerschweinchen, Ratten und Affen gegen Kälte erhöht. An Menschen ist ein Absinken der Askorbinsäurekonzentration im Blut unter Bedingungen besonderer Beanspruchung wie bei Operationen und als Folge von Verletzungen und Brandwunden beobachtet worden . . . Ferner liegen Berichte vor, nach denen die in Fällen von Zigarettenrauchern und anderen Tabakkonsumenten nicht seltenen Krebsgeschwüre in der Blase beim Einnehmen hinreichend hoher Askorbinsäuredosen- ein Gramm pro Tag und m e h r - einen Rückgang ver213 zeichnen . . . An Patienten mit Infektionskrankheiten verschiedener Art hat Askorbinsäure nach weiteren Berichten ebenfalls eine zuträgliche Wirkung gezeigt... Die Fähigkeit des Körpers, sich vor Krankheit zu schützen, beruht zum Teil auf der Zerstörung von Bakterien durch die weißen Blutkörperchen, die Phagozyten. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen die Phagozyten in ihrem Inneren eine gewisse Konzentration von Askorbinsäure aufrechterhalten. Dieser Befund trägt zur Erklärung der Schutzwirkung von Askorbinsäure gegen Bakterieninfektionen bei. Auf welchem Mechanismus die Schutzwirkung gegen Virusinfektionen, wie etwa Erkältungen, beruht, ist noch nicht geklärt« (Lit. 104). Pauling berichtet in seinem Buch über zahlreiche Versuche des medizinischen Establishments, seine These als »lächerlich« abzuqualifizieren. Gegner der Paulingschen Auffassung von der Notwendigkeit hoher Zufuhr von Vitamin C führen ins Treffen, das Vitamin C könne schon deshalb in hohen Dosen keine besonderen Wirkungen haben, da jeder Überschuß durch die Niere ausgeschieden werde. »Der Organismus vermag nur eine begrenzte Menge an Askorbinsäure zu speichern. Viele Untersuchungen haben übereinstimmend ergeben, daß die Aufrechterhaltung einer Sättigung des Organismus mit Askorbinsäure eine tägliche Zufuhr von etwa 70 bis 100 mg Askorbinsäure für den gesunden, erwachsenen Menschen erfordert. Bei einer Sättigung mit Askorbinsäure findet man im Plasma eine Askorbinsäurekonzentration von 1 bis 1,2 mg/100 ml« (Lit. 105). Demgegenüber argumentiert Pauling, dies sei ein Trugschluß. In Wirklichkeit stelle sich im Körper ein stationärer Zustand ein, bei dem die Askorbinsäurekonzentration im Blut der Zufuhr ungefähr proportional sei. Erhöht man die Tagesdosis auf das Zehnfache, so steige auch die Konzentration im Blut auf ungefähr den zehnfachen Wert. Für diese Behauptung Paulings habe ich in der wissenschaftlichen Literatur keinen Hinweis finden können. Trotzdem bleibt das Faktum, daß es klinische Studien gibt, die eine vorbeugende Wirkung von Askorbinsäure bei Erkältungskrankheiten statistisch untermauern, und solche, die keinen Zusammenhang zwischen hohen Vitamin-C-Gaben und Erkältungskrankheiten hinsichdich Häufigkeit und Verlauf finden. »Nach Betrachtung der vorliegenden Ergebnisse schließen die meisten medizinischen Wissenschaftler, daß hohe Dosen von Vitamin C weder Erkältungen verhüten noch deren Dauer vermindern. Vitamin C kann 214 geringfügige Effekte auf den Schweregrad der Symptome von Erkältungskrankheiten haben, hohe Dosierung kann aber andererseits zur Bildung von Nierensteinen und anderen Problemen führen« (Lit. 106). Mit Vitamin C gegen Krebs Die Kontroverse um Linus Pauling und das Vitamin C bezieht sich aber nicht nur auf die behauptete Wirkung bei Erkältungskrankheiten. Pauling machte Vitamin C auch als Heilmittel gegen Krebs populär. Seit 1971 wurden in einem schottischen Krankenhaus unter Leitung von Dr. Ewan Cameron Versuche unternommen, die Lebenszeit von Krebspatienten im Endstadium mit hohen Dosen von Askorbinsäure zu verlängern. Das Ergebnis: Vitamin C erhöht die Überlebenszeit um durchschnittlich 255 Tage oder 670 Prozent. Auf der Basis dieses Berichts propagierte Pauling in der Folge Vitamin C auch als Heilmittel für Krebs; bei jeder sich bietenden Gelegenheit verweist er darauf, daß er ständig Vitamin-C-Tabletten bei sich trage, pro Tag zehn Gramm davon zu sich nehme und trotz hohen Alters bei bester Gesundheit sei. In der Folge wurde an der amerikanischen Mayo-Klinik eine Studie durchgeführt, die zu dem Ergebnis kam, Vitamin C erhöhe keineswegs die Überlebensspanne terminal Krebskranker. Eine kürzlich erschienene Publikation versucht zwar, für diese Diskrepanz eine Erklärung zu finden, dennoch bleibt der Eindruck, wieder einmal hätten verschiedene Forschergruppen- beide mit dem Anspruch wissenschaftlicher Seriosität- widersprüchliche Resultate ermittelt (Lit. 107). Pauling unterscheidet sich insoweit etwa von Atkins oder Howard Hay, als letztere dem wissenschaftlichen Schrifttum unbekannt sind. Pauling kann man jedoch nicht ohne weiteres zum Außenseiter stempeln. Dazu kommt, daß zweifelsfrei erwiesen ist, daß Askorbinsäure etwa die Bildung von krebserregenden Nitrosaminen im Verdauungstrakt verhindert oder doch herabsetzt. Wie auch für Vitamin E gilt für Vitamin C, daß es im Stoffwechsel zahlreiche wichtige Funktionen ausübt. Mindestens ebenso zahlreich sind daher die Möglichkeiten einer gewissen pharmakologischen Wirksamkeit. Dennoch steht Pauling mit seiner Behauptung, Vitamin C sei wirksam bei Krebs, in der Fachwelt noch weitgehend alleine da. 215 Krankenkost »Klinische Diätetik« ist ein Fachgebiet der Medizin. Es umfaßt verschiedene Formen der Ernährungstherapie, das heißt Ernährungsformen für kranke Menschen. Hier unterscheidet sich die klinische Diätetik von der »klassischen Diätetik«, die mit Bezug auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes diaita (siehe Seite 11) eine ganzheitliche Gesundheitslehre darstellt. »Mit diesem Geistesgut... hat jenes medizinische Fachgebiet, das heute den Terminus »klinische Diätetik< trägt, nichts mehr zu tun. Nicht einmal die Ernährung des normalen und gesunden Menschen spielt hier eine Rolle, sondern nur noch jene besonderen Probleme, die die Ernährung bereits kranker Menschen betreffen« (Lit. 108). An dieser Stelle sei auch noch der Unterschied zwischen den Begriffen »Diätberatung« und »Ernährungsberatung« erwähnt. Jene wendet sich an kranke Menschen und ist demgemäß eine Therapie, diese befaßt sich mit dem Gesunden auch im Sinne einer Vorbeugung. Gerade bei den sogenannten ernährungsabhängigen Krankheiten ist diese Unterscheidung in der Praxis jedoch ungemein schwierig. Ist ein massiv Übergewichtiger mit hohem Blutdruck, der sich subjektiv (noch) wohlfühlt, gesund oder krank? Da die moderne Medizin zunehmend auf Vorbeugung ausgerichtet ist, tendiert sie dazu, in dem augenscheinlich Gesunden die Vorboten einer Krankheit zu sehen, etwa wenn seine »Risikofaktoren« außerhalb des Normbereiches liegen, und ihn entsprechend auch als »Beinahe-Kranken« einzustufen. So begrüßenswert ein Bestreben ist, dafür zu sorgen, daß Krankheiten gar nicht erst entstehen, die Realität der präventiven Medizin hat doch ihre Kritiker gefunden. »Zusammen mit der Krankenfürsorge ist auch die Gesundheitsvoreorge eine Ware geworden— etwas wofür man bezahlt, statt daß man es selber täte«, meint Ivan Illich. Die Menschen würden dabei zu Patienten gemacht, ohne krank zu sein. Illich: »So ist die Medikalisierung der Prävention ein weiteres Symptom der sozialen Iatrogenesis. Sie führt dahin, daß die persönliche Verantwortung für die eigene Zukunft zur Verwaltung durch irgendeine Institution gerät« (Lit. 109). Auch die Lehren zahlreicher Außenseiter verwischen die Grenzziehung zwischen Ernährungs- und Diätberatung, indem sie ein und dieselbe Kur sowohl zur Gesunderhaltung als auch zur Heilung von Krankheiten empfehlen. Rechtlich gesehen ist die Diätberatung Sache 216 des Arztes und anderer Angehöriger der Heilberufe, etwa des Diätassistenten. »Ernährungsberater« hingegen ist ein Begriff, der weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in Österreich, den Vereinigten Staaten oder anderen Ländern in irgendeiner Form geschützt ist; das heißt, jede Hausfrau kann sich Ernährungsberaterin nennen und als solche ihre Tätigkeit gewerblich ausüben - ein unerfreulicher Zustand, der sicher auch zu dem Wildwuchs der Ernährungsformen beigetragen hat. Aus der Geschichte der Diätetik Wir haben in den vergangenen Kapiteln Emährungsempfehlungen hinsichtlich ihrer Aussagen eingeteilt und nicht mit Hinblick auf ihren Geltungsbereich für Gesunde oder Kranke. Viele Diätkuren konkurrieren jedoch mit Ratschlägen der klinischen Diätetik. Aus diesem Grund sollen an dieser Stelle Anmerkungen zur Entwicklung dieser Fachrichtung gemacht werden. Bemerkenswert ist, daß sich die Aussagen der klinischen Diätetik in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gewandelt haben. Die alten Lehrbücher der Krankenernährung weisen eine fast unübersehbare Zahl von Einzelvorschriften auf, ausgearbeitet nach Krankheitssymptomen und geordnet nach Krankheitsgruppen. Die Diätpraxis erschöpfte sich in meist schematischer Anwendung starrer Diätvorechriften. Heute neigen viele Kliniker dazu, diese Vielfalt zugunsten einer allgemeinen Schonkost oder Grunddiät zu vereinfachen, wobei für manche Krankheiten zusätzliche Vorschriften zu beachten sind. Immer größere Bedeutung erlangt gegenwärtig die künstliche Ernährung mit chemisch definierten Diäten. Schwerkranke und Bewußtlose werden über Monate und Jahre hinweg künstlich ernährt, indem man die erforderlichen Nähr- und Wirkstoffe durch Infusionen direkt dem Blutkreislauf zuführt. Ebensowenig wie die wissenschaftliche Ernährungslehre ist die klinische Diätetik eine unverrückbare Lehre - im Gegenteil. Zahlreiche Anschauungen haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Betrachten wir als Beispiel die Geschichte der Diabetesdiät. »Die Behandlung des Diabetes mellitus mit Diät ist die am längsten bekannte Therapieform in der Geschichte der Zuckerkrankheit. Dabei richteten sich die Behandlungsvorechläge jeweils nach den geltenden 217 Vorstellungen über die Ursache dieser Erkrankung. Abwechselnd wurde einer der drei Nahrungsmittelgruppen, bestehend aus Fett, Eiweiß oder Kohlenhydraten der Vorzug gegeben« (Lit. 110). Zunächst ging man von dem Gedanken aus, die erkrankte Bauchspeicheldrüse müsse geschont werden, damit eventuell noch vorhandene Restfunktionen solange wie möglich erhalten bleiben. Infolgedessen konzentrierte sich die diätetische Behandlung auf eine starke Beschränkung der kohlenhydrathältigen Nahrungsmittel. In den Kriegsjahren 1870/71 entdeckte man bei Diabetikern einen Rückgang der Häufigkeit an positiven Harnzuckerbefunden und erklärte dieses Phänomen mit der verminderten Nahrungsmittelzufuhr. In der Folge wurde den Zuckerkranken empfohlen, in allem mäßig zu sein, und verordnete eine kohlenhydrat- und eiweißarme Kost. In zahlreichen Diätvorschriften war Fett der Hauptenergieträger. Die Entdeckung des Insulins 1921 brachte zunächst keine wesendiche Änderung in den Diätvorschriften für Diabetiker. In der Zwischenkriegszeit begann man allerdings, allmählich von kohlenhydratarmen und fettreichen Diäten abzugehen und umgekehrt kohlenhydratreiche sowie fettarme Kost zu empfehlen. Andere wiederum propagierten die sogenannte »Freie Kost«, wonach alles und jedes gegessen werden durfte, wenn nur die zur Regulierung des Stoffwechsels erforderlichen Insulingaben in der richtigen Dosierung verabreicht wurden. Diese Ernährungsform wird mitderweile von den meisten Diabetesforschem abgelehnt. Die Schlußfolgerung: »In der Diabetes-Diät ist »alles schon einmal dagewesen< und scheint sich in regelmäßigen Abständen zu wiederholen. Theoretisch noch so gut gegründete Diätformen, in den denen bestimmte Nährstoffe im Übermaß angeboten oder eben extrem beschränkt werden, sind mit Vorsicht und unter Berücksichtigung bereits früher gewonnener Erfahrungen zu betrachten« (Lit. 111). Heute unterscheidet man verschiedene Formen der Zuckerkrankheit. Manche werden mit Medikamenten behandelt, in anderen Fällen glaubt man, mit Ernährungsvorschriften auskommen zu können. Als erstes Gebot für die Diabetesdiät gilt heute, daß diese Kostform »kaloriengerecht«, das heißt zumeist kalorienknapp, sein muß. Danach haben Fettsüchtige eine unterkalorische, Untergewichtige eine überkalorische und Normalgewichtige eine solche Diät zu erhalten, die ihnen die Aufrechterhaltung des Normalgewichtes garantiert. 218 Zwischen Sucht und Askese Das Konsumverhalten in den Zivilisationsgesellschaften trägt Merkmale der Sucht; Schlemmen, Saufen, Rauchen und Drogenmißbrauch sind Ausdruck exzessiven Genußstrebens. Die Kinder der Wohlstandsgesellschaft haben — so scheint es - das Maßhalten verlernt. Das Genießertum vor Augen, warnen Puritaner und Asketen vor den schädlichen Folgen leiblicher Exzesse. Sie predigen, man solle am besten von naturbelassenem Getreide leben, Genußmittel und vor allem die raffinierte Industriekost meiden. Sie beschuldigen die Werbemanager der Wirtschaft, den Bürger zum Überkonsum zu verleiten, und rufen nach mehr Staat, der für entsprechende Verbote zu sorgen habe. Wer meint, dieser Gegensatz zwischen Wohlstandsexzeß und Enthaltsamkeitsforderung sei ein neues, durch die Konsumgüterindustrie hervorgerufenes Phänomen, der irrt gewaltig. Im Gegenteil- er zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit. Schon der römische Dichter Horaz besang den übermäßigen Genuß wie auch das frugale, bescheidene Landleben. Dante Alighieri schilderte in seiner Göttlichen Komödie das bedauernswerte Schicksal der Schlemmer, Lekkermäuler und Bauchdiener im 23. Gesang des Fegefeuers: »All dieses Volk, das unter Zähren singet, weil es der Gurgel ohne Maß gefolget, wird hier durch Durst und Hunger neu geheiligt«. Anders die düster-sinnentrunkenen Worte des Omar-Chajjam: »Des Lebens Karawane zieht mit Macht dahin, und jeder Tag, den du verbracht ohne Genuß, ist ewiger Verlust Schenk ein Saki!- es schwindet schon die Nacht.« 219 Vergessene Gebote der Religion Zu allen Zeiten feierten die Menschen — so sie Gelegenheit dazu hatt e n - kulinarische Exzesse; zu allen Zeiten drohten Bußprediger mit der Vergeltung durch das Fegefeuer (im Christentum) oder in der nächsten Inkarnation (im Hinduismus). Für Thomas von Aquin war concupiscentia das Symbol für Lust und Begierde nach Genuß, gleich ob es sich um Appetit auf Essen und Trinken oder um geschlechdiches Verlangen handelte. In jeder der großen Weltreligionen steht die Forderung nach Mäßigung irdischen Verlangens im Mittelpunkt. Die Verheißung auf ein besseres Leben nach dem Tod hat in unserer am Diesseits orientierten, materialistischen Zivilisation offenbar keinen Platz mehr. Der warnend erhobene Zeigefinger des Predigere bleibt unbeachtet. Schon längst sind sexuelle Tabus nur noch Leerformeln altmodischer Moralisten. Kaum jemand befolgt mehr die Fastengebote der Kirche. Dazu kommt, daß Schlemmen und Genießen in früheren Zeiten ein »Privileg« einer winzigen Oberschicht war; das Volk, nur zu oft von Hungersnöten gepeinigt, konnte nur dann und wann üppigen Tafelfreuden huldigen. Heute aber haben arm und reich die Mittel, um jeden Tag im Übermaß zu genießen. Der Gedanke an das Jenseits hält sie kaum mehr davon ab. Statt dessen warnen die Gesundheitserzieher, ein unmäßiges Leben führe über kurz oder lang zu Krankheit oder Tod - an die Stelle der Drohung, die Vergeltung werde nach dem Tod folgen, tritt damit die Warnung, Raubbau habe durchaus auch diesseitige Folgen. Die Erfolgsquoten der Gesundheitserzieher sprechen allerdings nicht dafür, daß solche Drohungen abschreckend wirken. Zum einen scheinen viele Menschen von der Devise auszugehen »Lieber sechzig Jahre in Saus und Braus, als siebzig Jahre als Asket leben«. Zum anderen ist unser gegenwärtiges Leben in einem hohen Maße auf das Erbringen von wirtschaftlichen Leistungen und den Konsum der Güter reduziert, die mit dem durch Arbeit verdienten Geld erworben wurden. »Die Konsumgesellschaft prägt ihren Mitgliedern eine Konsumentenhaltung auf, die sie dazu drängt, auch da noch zu konsumieren, wo sie nicht konsumieren sollten. Zurückhaltung beim Essen und Trinken ist in einem gewissem Umfang eine asketische Haltung. Askese - wenn auch nur in Form der Teilaskese - paßt jedoch schlecht in den Überfluß der Konsumgesellschaft« (Lit. 112). 220 Essen und Trinken als irrational bestimmte Handlungen Vielleicht wäre die Gesundheitserziehung erfolgreicher, wenn Essen, Trinken und Genießen vernunftgesteuerte Handlungen wären. Beobachtung und Experiment lehren uns, daß dies jedoch nicht der Fall ist. Zunächst einmal wirken beim Ernährungsverhalten, so Rudolf Affemann, Bedingungen und. Erfahrungen nach, die längst der Vergangenheit angehören. Menschen, die im Zuge der Wanderungsbewegung der letzten Jahrzehnte in die Städte kamen und ihre überwiegend körperliche Tätigkeit gegen einen Beruf eintauschten, der wenig Muskelarbeit verlangt, neigen dazu, ihre Emährungsgewohnheiten beizubehalten, anstatt sie dem geringeren Energiebedarf anzupassen. Kochund Emährungsgewohnheiten lassen sich offenbar nur sehr langsam verändern. Das ist keineswegs überraschend, denn vom Säuglingsalter an sind Trinken und Essen mit emotionalen Erfahrungen verknüpft und haben elementare Bedeutung für das Leben des Menschen. Affemann: »Essen und Trinken sind sehr lustvolle Vorgänge. Es gehört einiges an Selbstdisziplin und Motivation hinzu, um die orale Lust zu zügeln. In den vergangenen Jahrzehnten ist jedoch vieles an Selbstdisziplin abgebaut worden. Zum Teil hatte das seine Vorzüge, denn zum herkömmlichen Charakter des Deutschen gehörte es, überdiszipliniert zu sein. Die Auflösung normativer Strukturen und der willensbetonten Einstellungen ging jedoch erheblich über ein sinnvolles Maß hinaus.« Essen und Trinken als Ersatzbefriedigung Schließlich sollten wir nicht vergessen, daß nicht nur gegessen und getrunken wird, um physiologische Bedürfnisse zu befriedigen, auch der Genuß spielt eine Rolle. Maßgebliches Motiv des Genußstrebens war und ist, innere Leere durch eine Ersatzhandlung auszufüllen. Orale Genußsucht wird so zum Surrogat für Lebenserfüllung. Ungestillter Lebenshunger wird durch Phäakentum betäubt. Die Anschauung, daß zum Leben Lust und Leiden gehören, ist weitgehend abhanden gekommen. Statt dessen setzt der aufgeklärte Abendländer Leben mit Luststreben gleich. Warum also auf Essen und Trinken verzichten? »Dazu kommt, daß ein etwaiger Verzicht auf kulinarischen Genuß in der Regel durch andersartigen Lustgewinn zu ersetzen gesucht wird« — 221 gleichsam nach dem Motto »Die Summe aller Laster ist konstant«. Wer sich häufig betrinkt, um seelische Probleme im wahrsten Sinn des Wortes wegzuspülen, wird sich nur selten den wohlmeinenden Ratschlag, Alkoholismus sei ungesund, zu Herzen nehmen und sein Verhalten ändern. In unserer durch Orientierungslosigkeit und Sinnverlust gekennzeichneten Wohlstandsgesellschaft fehlt vielen ein Bezugspunkt, um mit der persönlichen Genuß-Ökonomie ins reine zu kommen. Alle »Glückstechniken« kommen letztlich auf dem Hintergrund der jeweiligen Lebensumstände zum Tragen. Auch der an Schmerzen Leidende oder der Verhungernde wird Glückstechniken anwenden, um die Verzweiflung zu lindern, wenn auch die Notsituation doch in diesen Fällen die Lage überschattet. Umgekehrt treten die Glückstechniken in Augenblicken intensiven, positiven Affekts in den Hintergrund, etwa bei einem Verdurstenden, der endlich zu Trinken hat. Solche »existenziellen« Erlebnisse sind aber in der Wohlstandsgesellschaft sehr selten. Daher entscheiden in unserer »satten« Welt des Überflusses die Glückstechniken letzdich fast allein über das Befinden normaler, nicht von Krankheit und Leid Betroffener. »Freilich soll dabei der Alltagshintergrund der Arbeitswelt und der sozialen Einbindung nicht geringgeschätzt werden— es gibt immer noch einen beachdichen Anteil an Menschen, die schon sehr viel Glückstechniken brauchen, um ihren tristen Arbeitsalltag und die Verarmung ihrer mitmenschlichen Beziehungen, den Druck von Streß und Anpassungszwang mit einer rosigen Stimmung zu überdecken« (Lit. 113). Ernährungsverhalten kann eben nicht abgetrennt von den Lebensum-ständen der Industriegesellschaft gesehen werden. Nehmen wir als weiteres Beispiel das biologische Phänomen Streß. Ursprünglich hatte Streß eine biologische Notfallfunktion, er half den Menschen, in Gefahrensituationen am Leben zu bleiben. Der Organismus wurde blitzartig durch Adrenalinausschüttung alarmiert und in die Lage versetzt, anzugreifen oder zu fliehen. Diese sinnvolle Reaktion entgleist jedoch unter den Bedingungen der zivilisierten Welt, in der wir heute leben. Die Anspannung des Organismus wird nicht mittels Streßbeantwortung ( = Bewegung) zur Entspannung gebracht. Die im Streß mobilisierten Energien (Fettsäuren und Glukose) werden nicht durch die mit Muskelarbeit verbundene Tat verbraucht. Der Spannungszustand der Blutgefäße bleibt erhalten, und es kommt zu Fehlsteuerungen im Or222 ganismus, die bei steter Wiederholung »krank machen« können. Der termingeplagte Manager kann diesem Teufelskreis kaum entrinnen, auch wenn Entspannungstechniken wie autogenes Training dies glauben machen wollen. Das Leben im Zeitalter der industriellen Revolutionen verläuft, so gesehen, in vieler Hinsicht außerhalb des biologischen Gleichgewichtes; das gilt für Streß ebenso wie für den Ausgleich zwischen Ernährung und Bewegung sowie für den Lebensrhythmus allgemein. Dieses Gleichgewicht durch das Essen »naturbelassener« Nahrung wiederherstellen zu wollen, erscheint somit als hoffnungsloses Unterfangen. Wer aber ist bereit, die Schuld für diesen Verlust der Mittel bei sich selbst zu suchen? Schließlich suggeriert das staadiche Gesundheitswesen, für Gesunderhaltung und Behandlung von Krankheiten zuständig zu sein, der einzelne Bürger sei nicht dafür verantwortlich (besonders dann nicht, wenn die Krankenversicherung nicht einmal eine Selbstbeteiligung für den Leistungsanspruch vorsieht). Kein Wunder, daß die »Technik« pauschal zum Schuldigen gestempelt wird. Eine wenig beachtete Ursache der Industriefeindlichkeit Erasmus von Rotterdam sah in der Zubereitung von Speisen mehr als nur bloßes Kochen: »Wir wollen uns säubern, Freunde, und mit reinen Händen und reinem Sinn zu Tische gehen. Man reinigt die Hände, um vor dem Mahle allen Haß, alle Mißgunst und Gemeinheit abzulegen. Ich möchte nämlich glauben, daß das Essen so auch dem Körper zuträglicher ist, wenn es mit reinem Sinn aufgenommen wird« (Lit. 114). Getreu dem Sprichwort »Liebe geht durch den Magen« lebt heute noch unbewußt der Gedanke fort, daß ein von der Mutter oder Ehefrau mit Sorgfalt bereitetes Essen am ehesten der Gesundheit dienlich ist. Wer Rohprodukte aus biologischem Anbau kauft und sie am eigenen Herd verarbeitet, glaubt, dadurch den Schadwirkungen der modernen Technik entrinnen zu können. Ein industriell gefertigter Faschingskrapfen (sein Durchmesser hat eine Abweichung von maximal ± 2 Millimeter) kann daher gar nicht gesund sein; er wurde ja nicht von der Hausfrau, sondern von einer stampfenden Maschine gefertigt. Und außerdem - wer weiß, was in dem Industriekrapfen noch alles an »Chemie« drinnen ist? 223 Freiwillige und unfreiwillige Risiken Wir sind bereit, freiwillig beträchtliche Risiken einzugehen. Das Risiko, beim Motorradfahren umzukommen, ist 2 000 pro 1 000 000 Personen und Jahr, beim Autofahren 170. Unfreiwillige Risiken dagegen sind wesentlich »ungefährlicher«: Die Gefahr, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben zu kommen, ist »nur« 0,1 Todesfall pro einer Million Personen und Jahr. Um noch ein Vielfaches geringer sind die Risiken, durch Verunreinigungen in Lebensmitteln geschädigt zu werden. Um nicht mißverstanden zu werden: Ich bin sehr wohl der Auffassung, daß unsere gegenwärtigen Umweltprobleme massiven Einsatz und beträchtliches Umdenken erfordern; dennoch besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Gefahren, die sich der Mensch freiwillig auflastet, und den unfreiwilligen Risiken, denen man — so gesehen - übermäßig Aufmerksamkeit beimißt. Vergessen wir dabei nicht, daß auch jedes Medikament Wirkungen und Nebenwirkungen hat. Die allopathische Arzneimitteltherapie ist somit immer ein Abwägen von Vorund Nachteilen. Bei den Verfahren der Lebensmittelverarbeitung stehen gesundheitlichen Risiken ökonomische Vorteile gegenüber. Dieses Dilemma läßt sich nicht einmal am grünen Tisch beseitigen. Denn, so Donald Kennedy von der amerikanischen Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde: »Ich möchte nicht die Macht haben, ökonomischen Nutzen gegen Gesundheitsrisiken abwägen zu müssen. Es sei denn, der amerikanische Kongreß teilt mir den Wert des Lebens mit« (Lit. 115). Nochmals: Streben nach Sicherheit Dazu kommt, daß die Wissenschaft heute nicht in der Lage ist, dem Individuum - zumindest insoweit es sich nicht schon um einen kranken Menschen handelt — zu sagen, welches persönliche Risiko mit einer bestimmten Konsummenge eines Genußmittels verbunden ist. Ein am nicht existenten »Normalmenschen« und an Wahrscheinlichkeitsdenken orientierter Gesundheitsbegriff ist für die individuelle Beratung ungeeignet. Die Mitteilung, ein Übergewicht von soundso viel Kilogramm verkürze im Durchschnitt die Lebenserwartung um soundso viele Jahre, ist jedenfalls nicht überzeugend, zumal wohl jeder in sei224 nem Bekanntenkreis Beispiele vorweisen kann, daß auch Wohlbeleibte bis ins hohe Alter gesund geblieben sind. Absolute Sicherheit kann die Wissenschaft nicht vermitteln. Die Außenseiter geben vor, es zu können — und verfallen in Einseitigkeit und Dogmatismus. Wir sollten ihren Anspruch als das sehen, was er ist: als Gaukelei. Sosehr das Streben nach Sicherheit und die Forderung nach »giftfreier« Nahrung berechtigt sein mögen (vernachlässigen wir dabei die Tatsache, daß es immer die Dosis ist, die eine Substanz zum Gift macht) und so richtig die Aufforderung ist, sich ausgewogen und maßvoll zu ernähren - die Verwirklichung kann immer nur durch den einzelnen geschehen. Staatliche Maßnahmen wirtschaftspolitischer und legislativer Natur können bestenfalls begleitend wirksam sein. Ohne die Mitwirkung der Bürger müssen sie ins Leere gehen. Trotz Bevormundung durch die öffentliche Hand sind wir deshalb mehr denn je aufgerufen, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ich behaupte, daß es heute viel leichter als in der Vergangenheit möglich ist, sich das ganze Jahr über ausgewogen zu ernähren. Aber das Maßhalten kommt nicht von selbst - wir müssen es jeden Tag aufs neue anstreben. 225 Danksagung Für die wohlwollende Unterstützung und zahlreiche wertvolle Anregungen zu dem diesem Buch zugrunde liegenden Manuskript danke ich insbesondere Herrn Univ. Prof. Dr. Norbert Bachl, Frau Dipl. Diätass. Gertrud Fitzner, Frau Dr. Elisabedi Gergely, Herrn Dr. Gerhard und Dr. Thomas Gergely, Herrn Dr. Herbert Reiger, Herrn Dipl.-Ing. Otto Riedl (er hat das Manuskript in allen 4 Fassungen gelesen), Herrn Dr. Klaus Smolka, Herrn Univ. Prof. Dr. Rudolf Wenger und Herrn Univ. Prof. Dr. Herbert Woidich. Herr Alois Göschl hat sich beim Schreiben und Redigieren des Manuskripts auf dem Textautomaten große Verdienste erworben. Den Damen und Herren des Verlags und der Druckerei danke ich für die - bereits traditionell gute - Zusammenarbeit. Der Verfasser 227 Literaturverzeichnis Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. Lit. 1 P. FÄRB und G. ARMELAGOS, Consuming Passions, Houghton Melling-Company, Boston 1978, S. 216 2 G. SCHMIDT, Dynamische Ernährungslehre, Bd. 1, Proteus-Verlag, St. Gallen 1975, S. 154 3 siehe Lit. 1, S. 112 ff. 4 H. GLATZEL, Wege und Irrwege moderner Ernährung, Hippokrates Verlag, Stuttgart 1982, S. 27 5 H. MESTER, Die Anorexia nervosa, Monographien aus dem Gesamtgebiet der Psychiatrie, Springer Verlag 1980 6 M.J. ORLOSKY, The Kleine-Levin Syndrom: A Review, Psychosomatics, 23(6), 1982, S. 609 7 Der Spiegel Nr. 42, S. 284, 1983 8 D. NUTZINGER und H. G. ZAPOTOCZKY, Mitteilungen der österreichischen Sanitätsverwaltung, 1980, 6, S. 124 9 S. ORBACH, Antidiätbuch, Verlag Frauenbffensive, München 1978 10 siehe Lit. 8, S. 124 11 V. PUDEL, Zur Psychogenese und Therapie der Adipositas, Springer Verlag 1978, S. 54 12 G. GU 1 1 MANN, Kann man ein neues Ernährungsverhalten lernen?, Symposium »Ernährungssituation der österreichischen Bevölkerung« am 25. Juni 1982, Baden bei Wien 13 F. MOORE-LAPPE, Die Öko-Diät, Fischer Alternativ, 1978, S. 28 14 V. S. SUSSMANN, Die vegetarische Alternative, Verlag Hörnemann, 1980, S. 15 15 siehe Lit. 31, S. 213 16 siehe Lit. 31, S. 215 17 siehe Lit. 39, S. 21 18 siehe Lit. 49, S. 65 19 siehe Lit. 14, S. 129; siehe auch: I . M . K O C H , Ernährung, 7(11), 1983, S. 647 20 H. MOHLER, Belegte und unbelegte Theorien über Arteriosklerose und Herzinfarkt, Eigenverlag, Zürich 1983, S. 12 21 E. KOFRANYI, Einführung in die Ernährungslehre, Umschau Verlag, 1977, S. 215 22 R. KUNZ-BIRCHER, Gesund mit Bircher-Benner, Hallwag Verlag, 1981, S. 60 ff. 23 A. WAERLAND, Der Schlüssel zur Gesundheit liegt im Darm, Humata Verlag Harold S. Blume, Bern, S. 3 ff. 24 Ernährungslehre und Diätetik, Hg.: H.-D. Cremer et al., Springer Verlag, 1980, Bd. I, Teil 2, S. 457 25 J. EVERS, Warum Evers Diät, Karl F. Haug Verlag, Heidelberg 1982, S. 68 26 W. KOLLATH, Die Ordnung unserer Nahrung, Karl F. Haug Verlag, Heidelberg 1977, S. 30 27 W. KOLLATH, Die Ernährung als Naturwissenschaft, Karl F. Haug Verlag 1967, S. 7 229 Lit. 28 J. KÜHNAU, Hippokrates, 31(7), 1960, S. 213 Lit. 29 siehe Lit. 28, S. 222 Lit. 30 J. KÜHNAU, World Review of Nutrition and Dietetics, 24, 1976, S. 117 Lit. 31 M. O. BRUKER, Unsere Nahrung - Unser Schicksal, bioverlag gesundleben, 1982, S. 332 Lit. 32 siehe Lit. 31, S. 401 Lit. 33 siehe Lit. 31, S. 19 Lit. 34 A. 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Lit. 45 Der Markt für alternatives Brot, Hg.: Vereinigung Getreide-, Markt- und Ernährungsforschung, Bonn-Bad Godesberg, 1983, S 43 Lit. 46 Alternativen im Landbau, Hg.: Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Heft 206 der Reihe »Landwirtschaft angewandte Wissenschaft«, Landwirtschaftsverlag Münster Hiltrup Lit. 47 D. KNORR, Quality of ecologically grown food, Lebensmittelwissenschaft und Technologie 12/7, 1979, S. 350 ff. Lit. 48 G. OSHAWA, Zen Makrobiotik, Verlag Franz Thiele, Hamburg 1982, S. 11 ff. Lit. 49 M. KUSHI, Das Buch der Makrobiotik, Verlag Bruno Martin, Frankfurt 1979, S. 17 Lit. 50 siehe Lit. 48, S. 68 Lit. 51 E. MENDEN, Kostempfehlungen mit extremen Nährstoffrelationen, Vonrag auf dem IME-Symposium 1981; siehe auch: R. IKOR, Les dangers des alimentations carenc&es pron6es par certaines sectes, MeU et Nutr. 1981, 4, S. 273 Lit. 52 siehe Lit. 48, S. 105) Lit. 53 F. J. SCALA, Handbuch der Diätetik, Sensenverlag, Wien 1968, S. 191 Lit. 54 R. 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Fischer Verlag, Frankfurt Lit. 90 Lit. 91 Lit. 92 siehe Lit. 53, S. 57 siehe Lit. 53, S. 265 Ernährung und Krebs, Symposium der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, 18. und 19. Oktober 1982 in Hamburg, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart, 1983, S. 138 L. WALB und I. WALB, Die Haysche Trennkost, Karl F. Haug Verlag, Heidelberg 1967, S. 14 siehe Lit. 93, S. 18 M.-E. LANGE-ERNST, Die Köhnlechner Trenn-Diät, Wilhelm Heine Verlag, München 1981 siehe Lit. 95, S. 101 siehe Lit. 95, S. 76 K. LANG, Biochemie der Ernährung, Verlag Steinkopff, Darmstadt 1981, S. 113 1982, S. 183 Lit. 93 Lit. 94 Lit. 95 Lit. 96 Lit. 97 Lit. 98 1979, S. 269 Lit. 99 Lit. 100 Lit. 101 Lit. 102 Lit. 103 Lit. 104 Lit. 105 Lit. 106 V. HERBERT und S. BARRETT, Vitamins and Health Foods, G. F. Stickley, Philadelphia 1981, S. 103 J. A. MATTES und R. GITTELMAN, Arch. Gen. Psych, 38(6), 1981, S. 714; siehe auch M. A. LIPTON und J. P. MAYO, J. Amer. Diet. Ass, 83 (2), 1983, S. 132 E. M. WHELAN und F. E. 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SMITH, Science, 203, 1979, S. 1221 232 Stichwortverzeichnis Abführmittel 65 absolute Sicherheit 18 acceptable daily intake 152 Adipozyten 136 Affemann, Rudolf 225 Aflatoxin 109, 153, 197 Agrarfabrik 92 Air Force Diet 165 Aktivierungsniveau 43 Albumine 138 Alkohol 54 alkoholische Gärung 130 alternativer Landbau 91 Altes Testament 25 Aminosäuren 52, 137 Amphetamine 157 Amylase 133 Amylopektin 131 Amylose 131 Anorexie 35 Anthroposophie 14, 19, 21, 98, 103, 110 Antidiät-Buch 38 Antivitamine 147 Appetit 125, 168 Appetitzügler 157, 175 Aquin, Thomas von 224 Arbeitsgemeinschaft für naturnahen Obstanbau 94 Arbeitsumsatz 122 Aristoteles 21 Arteriosklerose 55 Ascorbinsäure 149 Aspirin 206 Astral leib 112 Ätherleib 112 Atkins, Robert C. 164, 194, 212 Atkins-Diät 15, 164 Auerswald, Wilhelm 119 Außenreizabhängigkeit 42 Außenseiter 78,84 ausgewogene Kost 118 Ausnutzbarkeit 119 Auszugsmehl 74,76 Auxone 72 Avitaminosen 147 Ballaststoffe 63,132,150 Banting, William 165 Bedeutung der Nahrung 117 Biokost 14 Biolebensmittel 31 biologisch-dynamische Wirtschaftsform 93 biologische Sättigungskurve 42 biologische Wertigkeit 52,140 biologischer Landbau 16,91,100 Biotest 94 Biotin 149 Bircher-Benner, Max 14,59,67 Blei 146, 153 BMI 189 Body Mass Index 189 Botulismus 152 Brauchtum 29 Brennwert, physikalischer 123 Brennwert, physiologischer 123 Brigitte-Diät 157 Brillat-Savarin, Jean Anthelme 30 Britische Vegetarische Gesellschaft 48 Broca-Index 187 Brockhaus 48 Brotdiät 157 Bruker, M . O . 14,50,75 Buch Daniel 23 Buch der Richter 109 Buch Genesis 24 Buch Moses 25 Buch Tobias 24 Buddha 26 Buddhismus 21, 110 Budwig, Johanna 69 Bulimie 35 Burkitt, Denis 63 Butter-Margarine-Streit 56 Cameron, Ewan 215 Carnivore 50 Chemie in der Nahrung Chlorid 145 Cholecystokinin 181 Cholesterin 55, 137 Cobalamin 149 Conrad, Stanley 38 233 Darmfunktion 67 Demeter Wirtschaftsbund 94 Denaturierung 58,74,107 Depotfett 135 Deutsche Gesellschaft für Ernährung 157, 169, 197 Deutscher Ernährungsbericht 184 Deutscher Härtegrad 142 Dextrin 131 Dextrose 130 Diabetes 82, 133 Diabetesdiät 217 Diät 11 Diätberatung 216 Diätetik 24,216 Diätmittel 23 Diätstreß 39 Disaccharide 130 Doktrin der Signaturen 22 Doppelzucker 130 Drinking Man's Diet 165 Einfachzucker 129 Eisen 53, 146 Eiweißbedarf 52 Eiweißkonzentrate 175 Eiweißstoffe 137 Eiweißüberernährung 54 Emulgatoren 132 Energie 121 Energiebilanz 120, 124, 177 Energiegehalt der Nährstoffe 122 energiereduzierte Mischkost 157 Energieumsatz 123 Enzymdefekt 209 epidemiologische Korrelation 193 Erasmus von Rotterdam 227 Ergänzungswirkung 53 Ernährungsberatung 154,216 Ernährungsinformation 154 Ernährungstherapie 159 Erosion des Bodens 100 essentielle Aminosäuren 52 essentielle Fettsäuren 136 Essigsäuregärung 130 Eßsucht 14,33,35 Eßverhalten 42,155 Evers, Joseph 68 Evers-Diät 68 Eyton, Audrey 172 234 F-Plan-Diät 15, 172 Fabriknahrung 84 Fabriknahrungsmittel 77 Fabrikzucker 74, 76, 79 Faserstoffe 63 Fasten 175 Fäulnisbazillen 62 FdH 156 Feingold, Benjamin 206 Feingold-Diät 205 Feingold-Theorie 15 Fett macht schlank 165 Fettbedarf 136 Fette 134 Fettsäuren 134 Fettsucht 42, 187 Feuerbach, Ludwig 111 fibrilläre Proteine 139 Fleischkonsum 54 Fleming, Alexander 159 Folsäure 53, 149 food dispenser 40 Förster, Harald 166,168 Fremdstoffe 151 Freud, Sigmund 34, 36 Frischkost 59 Früchteesser 50 Fruchtzucker 129 Frugivore 50 Fruktose 130 Gabelle 28 Galaktose 130 Gandhi, Mahatma 28 Ganzheitslehre 19 Gärungsbazillen 62 Geisteswissenschaft 103 Gemeinschaftsritual 22 Gemeinschaftsverpflegung 150 Gerson, Max 195 Geschäft mit der Angst 90 Geschmackswert 119 Gesundheit 11 Gesundheitsbewußtsein 10 gesundheitsbezogene Angaben 101 Gesundheitserziehung 15 Gesundheitsnahrung 82 Gesundheitswesen 10 Getreidemühle 82 Gewichtsreduktion 156 Gicht 54, 166 giftfrei 99 globuläre Proteine 138 Globuline 138 Glucagon 133 Glückstechniken 226 Glukose 130, 166, 168 glukostatische Theorie 125 Gluten 69,139,210 Glykogen 132,133,168 Glyzerin 134, 181 Graham, Sylvester 51,87 Gregor III. 27 Gründonnerstag 29 Grundumsatz 122 Grüne Läden 83 Guttmann, Giselher 43 Habs, Michael 193 Hafer, Herta 208 Haltbarmachung 150 Hanisch, Otto 115 Harnsäure 54 Harnzucker 168 Härte, permanente 142 Härte, vorübergehende 142 Hauser, Gaylord 70 Hay, Howard 200 Haysche Trennkost 199 heilige Kühe 26 Heilmittel 23 Hektarertrag 97 Hemizellulose 132 Herbizide 92 Herzinfarkt 54 Heyden, Siegfried 186 Hochleistungs-Saatgut 92 Hufeland, Ch. W. 104 Hunger 44,118,124 Hungerzentrum 125 Hygiene 17 Hyperaktivität 206 Hypervitaminosen 147 Hypothalamus 125, 179 Hypovitaminosen 147 Ich-Organisation 112 Idealgewicht 16,183,187 Illich, Ivan 11,216 Immun-Milch 69 Industriefeindlichkeit 227 Industriekost 23 Insektizide 92, 100 Insulin 166, 168 Intoleranz gegen Nahrungsmittel 209 Invertzucker 130 Kadmium 146, 153 Kalium 144 Kalzium 144 Kannibalismus 22,27 Kartoffel 22,79 Kartoffeldiät 171 Kasten 30 Keith, Sir Arthur 60 Kellogg, John Harvey 51,87 Kennedy, Donald 228 Keratin 139 Ketose 167 Kilojoule 121 Kilokalorie 121 Kleine-Levin-Syndrom 35 klinische Diätetik 216 klinische Erfahrung 159 Klistier 66 Knorr, Karl Heinrich 85 Kochsalz 143 Kofranyi, Ernst 58 Kohlenhydratbedarf 133 Kohlenhydrate 79, 129 Kohlenhydrattoleranz 166 Köhnlechner-Trenndiät 200,203 Kollagen 139 Kollath, Werner 14,57,70 Konservenindustrie 85 Konservenkost 74 Konservierungsmittel 152 kontrollierter klinischer Versuch 159 Koran 25 koscher 25 Krankenkost 216 krankheitsbezogene Angaben 101 Krebs 15,108,215 Krebs, Ernest T. 198 Krebsdiät 195 Krebsrisiko 193 Kühl, Johannes 196 Kühnau, Joachim 73 Kultobjekt 22 235 Kummerspeck 34, 124 Kushi.M. 108 Laetrile 198 Lakto-ovo-Vegetarier 48 Laktose 130 Lane, Sir Arbuthnot 60,70 Last Chance Diet 175 latent Adipose 42 Lebenserwartung 16 Lebensmittel 71 Lebensmittel, erlaubte 170 Lebensmittel, verbotene 170 lebensmitteltechnologische Verfahren 150 Lebensmittelverarbeitung 74 Lebensmittelzusatzstoffe 151 Leviticus 26 Liebig, Justus von 85, 96 Linde, Carl von 85 Linolensäure 134 Linolsäure 56, 134 Lipase 135 Lipide 134 Lipoide 134, 137 Lipoproteine 55 lipostatische Theorie 125 Lorenz, Konrad 15 Lutz, Wolfgang 165 Lysin 52 Mac Donald's 22 Magersucht 14, 33, 34 Maggi, Julius 85 Magnesium 145 Makrobiotik 14, 19, 50, 103, 104 Malthus, Thomas 47 Maltose 130 Malzzucker 130, 131 Margarine 85 Materialismus 19,58,103 Mayr, Franz Xaver 64, 67 Mazdaznan-Bewegung 115 Meersalz 29 Mega-Vitamintherapie 213 Mege-Mouries, Hyppolite 85 Menden, Erich 169,171 Mesotrophie 72 Milchleistung 98 Milchsäure 196 Milchsäuregärung 130 236 Milchzucker 130 Mineraldünger 92 Mineralstoffe 143 Monokulturen 100 Müller, Hans 94 multiple Sklerose 68 Mundspeichel 133 Müsli 81, 102 Mutterkorn 17 Nährstoffbedarf 127 Nährstoffbilanz 126 Nahrungsmittel 23,71 Nahrungsmittelallergie 209 Nahrungstabus 22 Nahrungstrieb 43 Nährwerttabellen 119 Narzißmus 36 Natrium 143 Natriumpumpe 182 naturbelassen 70,81 naturfarben 83 Naturkäse 83 natürlich 83,93 Niacin 149 Nitrit 153 Normalgewicht 187 Nudeldiät 171 Nulldiät 175 Ökologie 91,93,100 Öl-Eiweiß-Diät 69 Oralerotik 34, 38 Orbach, Susie 38 Organfett 135 organisch-biologisches Bauerntum 94 ortho-molekulare Medizin Oshawa, Georges 104 Oxidationswasser 142 Pantothensäure 149 Paracelsus 21 Pasteur, Louis 85 Pasteurisierung 81 Pauling, Linus 213 Pektin 132 Pennington's Diet 165 Pepsin 200 Pferdefleisch 27 Pflanzengummi 132 213 Phosphor 145 Photosynthese 121 Placebo 159 Planck, Max 76 Plinius 86 Pökeln 152 Polynesier 25 Polypeptide 138 Polysaccharide 131 Prinzip der Viergliedrigkeit 21 Pritikin 170 Protein Sparing Modified Fast 175 Proteine 137 Pudel, Volker 35,40,41 Punkte-Diät 173 Purine 54 Pyridoxin 149 Quacksalber 160 Qualität 96, 120 Qualität, ernährungsphysiologische Qualität, hygienische 120 Qualität, sensorische 120 Quecksilber 146,153 120 Reckeweg, H. H. 154 Reformbewegung 14,57 Reform waren 82 Reformwarenmarkt 83 Reisdiät 171 Reservestoff 136 Reubin, Andres 190 Rheuma 15 Rheumadiät 205 Riboflavin 148 Risikofaktoren 216 Risiko-Nutzen-Abwägung 18 Rohrzucker 130 Rousseau, Jean Jacques 74 Rübenzucker 130 Rubner, Max 123 rückstandsfreie Lebensmittel 99 Rusch, Peter 94 Saccharose 130 Sahne-Milch-Diät Salz 28 Sättigung 124 167 Sättigungsgefühl 136 Sättigungszentrum 125 Säure-Basen-Haushalt 204 Schachter 40 Schlankheitsdiät 14, 39, 163 Schlankheitsmedikamente 157 Schleimzucker 129 Schnitzer, Johann Georg 81 Schönheitsideal 185 Schulausbildung 117 Schulwissenschaft 84 Schutzkost gegen Krebs 196 Schweinefleisch 25,26,154 Selbstbehandlung 62 Selbstgefühl 36 Selbstversorgungsgenossenschaften 87 Selen 212 Semmelkur 66 Shaw, George Bernard 49 Show off-foods 30 sichtbares Fett 134 Sims, Ethan A. 178 Sippy-Diät 167 Sonnenlicht-Nahrung 59 Sozialwert 120 Speisefett 135 spezifisch-dynamsiche Wirkung 123 Sport 157 Spurenelemente 145 Stand der Wissenschaft 18,84 Stärke 131 Statussymbol 30 Steiner, Rudolf 93,95,110 Sterblichkeitsrisiko 187 Stillmann-Diät 165 Streß 226 Sublimation 44 Süßigkeitserlebnis 114 Süßkraft 131 Sutoxin 154 Tabu 25 Theosophie 110 Thermogenese 182 thermostatische Theorie 125 Thiamin 148 Thoreau, Henry David 49 Tischgebet 17 Tokopherol 210 237 Traubenzucker 129 Trenndiät 199 Trichinen 17 Trypsin 139 Tuberkulose 17 Tuberkulosediät 195 Vitamin E 148,210 Vitamin H 149 Vitamin K 148 Vollkornprodukte 76,79 Vollwertlebensmittel 31 Vorkoster 17 Übergewicht 187 Überkonsum 118 Überschußproblem 47 Umweltschutz 91 ungesättigte Fettsäuren 55,134 Waerland, Aare 14, 57, 60, 67 Wagner-Jauregg 66 Wasser 141 Wasser, freies 141 Wasser, gebundenes 141 Wasser, immobilisiertes 141 Wasserhärte 142 Weight Watchers 157 Weintraubenkur 195 Weißmehl 77 Weizsäcker, C. F. von 90 Weltgesundheitsorganisation 11 Wendt, Lothar 54, 164 Withe, Allen 51 Wynder, Ernst L. 193 Veden 26 Vegans 48,53 Vegetarier 22,48 Vegetarierbund 49 Verbrauchswert 120 Verdauung 23 Verdauungstrakt 63 Veredelungswirtschaft 47 verstecktes Fett 134 Vielfachzucker 131 Virchow, Rudolf 50 Vitamine 146 Vitamin A 148 Vitamin B 79 Vitamin B] 148 Vitamin B2 148 Vitamin B6 149 Vitamin B12 53, 149 Vitamin-B-Räuber 79 VitaminC 149,213 Vitamin D 148 238 Yin und Yang 106 Zapotoczky, Hans Georg Zellulose 131 Zen-Makrobiotik 104 Zöliakie 210 Zucker 77,113 Zucker, Lois 180 Zuckerindustrie 75 zwanghaftes Essen 39 Zwangsdiät 39 39 Stefan M. Gergely Mikroelektronik Computer, Roboter und neue Medien erobern die Welt. 2. Aufl., 15. Tsd. 1983. 315 Seiten mit 82 Abbildungen. Geb. »Bücher über Mikroelektronik gibt es genug. Nicht selten behandeln sie das Thema allzu euphorisch und vermischen Realität mit Utopie. Für das vorliegende Buch hat der Autor sehr seriös recherchiert; er liefert einen korrekten und vorzüglichen Überblick der wesentlichen Aspekte der Computer, Roboter und der neuen Medien.« Neue Zürcher Zeitung ». . . verdient das Buch die Aufmerksamkeit all jener, die unserer heutigen Informationstechnik beeindruckt, interessiert, besorgt aber letztlich unwissend< gegenüberstehen. Das Buch, übrigens auf einem Mikrocomputer entstanden, ist eine empfehlenswerte Einführung für alle, die beim Thema Mikroelektronik bei Null anfangen wollen - oder müssen.« Bild der Wissenschaft »Dr. Stefan M. Gergely - ein Mann, dessen Wissen über Datenbanken und neue Informationstechniken österreichische wie deutsche Ministerien nutzen - hat für den Verlag ein gut lesbares, faktenreiches, klar gegliedertes Handbuch der Mikroelektronik für Laien geschrieben — also auch für Unternehmer und Manager außerhalb der EDV-Räume in den Firmen.« Manager Magazin Piper Bücher für den aktiven Patienten Prof. Dr. med. Horst Cotta Der Mensch ist so jung wie seine Gelenke Haltung - Bewegung - Sport _ Ernährung - Behandlung. Unter Mitarbeit von Dr. med. Arnim C. Braun, Dr. med. Baidung M. Gärtner, Antje Hüter, Dr. med. Fritz U. Niethard, Dr. med. Wolfgang Stein, Dr. med. Klaus Steinbrük. 4. Aufl., 46. Tsd. 1983. 297 Seiten mit 154 Zeichnungen von Horst Busse; 7 Fotos. Serie Piper 275 Martin I. Green Erste Hilfe für dein Kind Vorbeugung und richtiges Verhalten in allen Notfällen. Aus dem Amerik. von Elisabeth Piper. Medizinische Beratung von Peter Holzer. 1983. 177 Seiten mit vielen Illustrationen. Kt. Prof. Dr. med. Ludwig Rausch Mensch und Strahlenwirkung Strahlenschäden • Strahlenbehandlung • Strahlenschutz. 1982. 347 Seiten mit 117 Abbildungen. Kt. Prof. Dr. med. Gotthard Schettler Der Mensch ist so jung wie seine Gefäße Arteriosklerose - Herzinfarkt - Schlaganfall - Durchblutungsstörungen. Entstehung • Risiken • Vorbeugung • Behandlung. Mit Beiträgen von Prof. Dr. med. M. DeBakey, Prof. Dr. med. H. Mörl, Prof. Dr. med. E. Nüssel. 1982. 307 Seiten mit 62 Tafeln von Rüdiger Gay und Rainer Benz; 9 Farbfotos. Geb. Prof. Dr. med. Robert F. Schmidt Medizinische Biologie des Menschen Eine Einführung für Gesunde und Kranke. 2 , überarbeitete und erweiterte Aufl., 14. Tsd. 1983. 482 Seiten mit 81 Tafeln von Rüdiger Gay und Rainer Benz. Geb. Prof. Dr. med. Robert Schmidt/Prof. Dr. med. Albrecht Struppler Der Schmerz Ursache, Diagnose, Therapie. 2. Aufl., 14. Tsd. 1983. 304 Seiten. Serie Piper 241 Schwangerschaft, Geburt und Säuglingspflege Herausgegeben von The Boston Children's Medical Center. Bearbeiter der deutschen Ausgabe: Prof. Dr. med. Klemens Stehr. Aus dem Amerik. von Wolf-Dieter Bach, Edith Mundt. 5. Aufl., 29. Tsd. 1984. 540 Seiten mit 114 Fotos und Grafiken. Geb. Piper '•Jiät Uc natuHi fen n e r . D ... t O/rf-rv-. 4 r " " otejn_n--" Jat — *«i - - F^ r^a^ ^otj/c