Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Geisler · Tonwahrnehmung und Musikhören
Phänomenologische Untersuchungen
Herausgegeben von
BERNHARD WALDENFELS
Band 34
Josephine Geisler
Tonwahrnehmung
und Musikhören
Phänomenologische, hermeneutische und
bildungsphilosophische Zugänge
Wilhelm Fink
Umschlagabbildung:
Toni Zenz, Der Hörende
Pfarrkirche St. Gereon, Köln-Merheim
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn
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Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
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INHALT
EINLEITUNG ........................................................................ 9
I
TON UND TONFOLGEN IN HUSSERLS ANALYSEN
ZUM INNEREN ZEITBEWUSSTSEIN .......................... 27
1
2.4
2.4.1
Fazit
Ausgangspunkt: Die wahrgenommene Welt
(Objektivität) als Phänomen.............................................35
Leibhaftigkeit, Zeitlichkeit...............................................37
Das absolute Bewusstsein, Zeitobjekte ............................39
Adäquanz und Inadäquanz ...............................................41
Horizontintentionalität .....................................................44
Das Wahrnehmungsobjekt Ton ........................................48
Passive Einheitskonstitution von Körperobjekten und
Tonobjekten .....................................................................51
Passive und aktive Synthesis ............................................52
Die Konstitution der Tondauer innerhalb passiver
Synthesen .........................................................................55
Der Ton als urbewusste Empfindung ...............................57
Das Versinken des Tones in die Vergangenheit...............61
Anschauungsverlauf des ruhenden, sichtbaren
Gegenstandes ...................................................................65
Anschauungsverlauf der Tonfolge ...................................68
Einheitskonstitutionen während der Tonwahrnehmung ...74
.........................................................................................77
II
TON UND LEIB........................................................ 79
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
2
2.1
2.2
2.2.1
2.2.2
2.3
3
Der Ton ............................................................................85
3.1
Die Leiblehre Husserls .....................................................86
3.2
Der weltliche Ton (Leib-Raum-Bezug des Tones) ..........90
3.3
Der Ton als Gegenstand und Zustand ..............................97
3.4
Der Ton als ästhetisches Objekt .....................................101
Zwischenfazit ..............................................................................107
6
4
4.1
4.1.1
4.1.2
4.1.3
4.1.4
4.2
4.2.1
4.2.2
4.2.3
Fazit
INHALT
Musik-Erleben und -Verstehen nach Plessner und
Anders ............................................................................ 109
Strukturgesetze der Sinnlichkeit nach Plessner ............. 111
Arten der Sinngebung (Anschauung)............................. 112
Leib-Geist-Verhältnisse ................................................. 116
Die Leibähnlichkeit des Tones als Ursprung des
Mitvollzuges .................................................................. 121
Musikalisches Verstehen als Mitvollzug ....................... 127
Der musikalische Mitvollzug nach Anders .................... 131
Umstimmung als Verwandlung ..................................... 135
,In-Musik-sein‘ als zeitliche Enklave ............................ 137
Selbsterschließung im Mitvollzug ................................. 144
....................................................................................... 147
III
MUSIKALISCHES VERSTEHEN –
BESINNUNG VS. MITVOLLZUG ............................. 151
5
5.1
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.1.3.1
5.1.4
5.1.4.1
5.1.5
5.1.6
Fazit
Die Musik in Heideggers Kunstwerkabhandlung .......... 163
Die Frage nach dem Sein des Kunstwerkes ................... 167
Das Dinghafte am Kunstwerk ........................................ 168
Das Wahrheitsgeschehen im Kunstwerk........................ 171
,Welt‘ im Kunstwerk...................................................... 176
,Welt‘ und das musikalische Kunstwerk ........................ 181
,Erde‘ im Kunstwerk ...................................................... 187
,Erde‘ und das musikalische Kunstwerk ........................ 193
Das Werk: In-sich-Ruhen und höchste Bewegtheit ....... 198
Entschlossenheit............................................................. 204
....................................................................................... 211
IV
DER BILDUNGSSINN DES MUSIKHÖRENS .............. 215
6
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
Bildungskategorialer Ansatz nach Franz Fischer........... 221
Theorie des Sinnes von Sinn .......................................... 224
Das horizontale Schema der Bildungskategorie ............ 227
Das vertikale Schema der Bildungskategorie ................ 232
Methodische Konsequenzen .......................................... 238
Rückbezug zum Bildungssinn des Musikhörens ........... 242
INHALT
7
8
9
10
Fazit
7
Der Bildungssinn des Musikhörens nach Husserl ..........247
Der Bildungssinn des Musikhörens nach Plessner.........251
Der Bildungssinn des Musikhörens nach Heidegger ....257
Der Bildungssinn des Musikhörens nach Anders ..........265
.......................................................................................271
AUSBLICK ....................................................................... 273
KOMMENTARTEIL ............................................................ 283
LITERATURVERZEICHNIS ................................................. 303
DANKSAGUNG ................................................................. 317
EINLEITUNG
Die vorliegende Arbeit beabsichtigt, anhand verschiedener Ansätze
eine Antwort auf die Frage ,Was ist Musik‘ zu geben. Dies könnte
zu der Annahme führen, es würde der Versuch unternommen zu
klären, was ein Hörbares zu Musik macht bzw. welche Kriterien
erfüllt sein müssen, um ein Hörereignis als Musik zu bezeichnen.
Genauer müsste hier gefragt werden, wann ein Hörbares als Musik
aufgefasst wird, denn grundsätzlich ist dasselbe nicht per se und
von sich aus Musik, sondern verschiedene Umstände, die nicht nur
im Hörbaren selbst liegen, tragen dazu bei, dass der Hörende das
Hörbare als Musik auffasst und sich entsprechend zu ihm verhält.
Diese Problemstellung ist sicher eine spannende, soll hier allerdings nicht erörtert werden. Die Arbeit geht vielmehr von der Voraussetzung aus, dass der Mensch ohne Zweifel in die Lage kommt,
Musik zu hören – auch wenn zugestanden wird, dass er zuweilen in
Hörsituationen gerät, die es ihm nicht leicht machen, das Hörbare
als Musik zu identifizieren. Menschen hören und erleben Musik
und um die Beschaffenheit dieses Erlebens soll es gehen.
Wenn von Musik-Erleben die Rede ist, so wird eine Beschreibung
jener Strukturmerkmale in Angriff genommen, die konstitutiv für
das Musikhören sind. Es sollen die Anschauungs-, Erlebens- und
Verstehensspezifika systematisch herausgearbeitet werden, die in
Abhängigkeit vom Wahrnehmungsgehalt Musik bestehen. Dabei
werden Zeitlichkeit, Leiblichkeit und Gestimmtheit als strukturelle
Momente herausgestellt, in welchen Musik den Hörenden anzusprechen vermag. Diese Strukturmerkmale, in denen sich Musik als
Hörereignis konkretisiert und dem Hörenden erschlossen ist, werden
zugleich als Bildungskategorien bezeichnet, weil hier eine musikspezifische Bestimmung und Veränderung des Hörenden vorliegt,
insofern er sich in einer Verantwortung des von der Musik ausgehenden Anspruches versteht. In diesem Zusammenhang wird die
Frage nach dem Bildungssinn des Musikhörens aufgeworfen, welche
zu ihrem Gehalt kommt, wenn Musik-Erleben als eine bestimmte
Art und Weise des Selbstverhältnisses in Betracht gezogen wird.
Die Arbeit kommt zu folgenden grundsätzlichen Erkenntnissen:
Musik wird als zeitliches Geschehen in wahrnehmungsbezogenen,
passiven Bewusstseinsleistungen zum Erlebnis. Allerdings ist Musik-Erleben nicht auf das (gegenständliche) Bewusstseinsereignis
reduzierbar, sondern reklamiert im Zuge einer ästhesiologischen Betrachtung den Leibaspekt, welcher eine gegenständlich-zuständliche
Erlebensform und zugleich musikspezifische Verstehensform fun-
12
EINLEITUNG
diert. Darüber hinaus wird das zuständliche Moment in einer musikspezifischen Gestimmtheit gefunden. Die zeitgebundene gegenständlich-zuständliche Anschauung von Musik wird im Begriff des Mitvollzugs gefasst. Dieser Begriff bestimmt musikalische Anschauung
zum einen als ein aktiv-passives Geschehen, zum anderen impliziert er ein an den musikalischen Ablauf gebundenes, leibbezogenes
Sinnverstehen, das als eine Art der Erkenntnis und des Verstehens
sui generis gesehen werden muss. Musikalisches Sinnverstehen hat
Bezüge zur Sprache, doch kann musikalischer Sinngehalt nicht in
Sprache überführt werden, sondern bleibt an die spezifische Anschauung des musikalischen Ablaufes (an den Mitvollzug) gebunden.
Musikalisches Sinnverstehen bezieht sich einerseits auf musikalische Sinngehalte, hat aber auch, zurückzuführen auf das Moment
der Gestimmtheit, einen Bezug zum Selbsterleben. In diesem Zusammenhang wird das zeitbezogene In-Musik-Sein als Entfremdungsgeschehen dargestellt, das die Möglichkeit einer musikspezifischen Selbsterfahrung bzw. Selbsterkenntnis birgt.
Musik kann nur im Ereignis des Musikhörens sinnvoll thematisiert werden, d.h. die jeweilige Abstraktion eines Gegenstandes
Musik (Objektivierung) bzw. des menschlichen Erlebens (Subjektivierung) blenden die gegenseitige Bedingtheit beider Anteile aus.
Es gibt keinen außerhalb des menschlichen Erlebens befindlichen
Gegenstand Musik, wenngleich das Reden über Musik sich durchaus auf die Musik als Gegenstand beziehen kann. Nur der Mensch
hat Musik, und dies nur als Hörereignis, welches zeitliches, seelischleibliches Erleben impliziert. Etwas begegnet dem Menschen in
diesem Erleben. Im Sprechen über Musik könnte nun der Eindruck
entstehen, es würde sich um eine autonome Entität handeln: das
Lied, das Stück, das Werk. Auch ist die Rede davon, dass das
Lied/Stück einen Charakter bzw. einen Ausdruck hat, so als ob das
Stück den Charakter und Ausdruck für sich hätte. Doch beide, das
Stück und sein Ausdruck, sind an das zeitgebundene Geschehen
geknüpft, welches außerhalb menschlichen Erlebens nicht denkbar
ist. Ebenso wenig gibt es ein Musik-Erleben, das musikunabhängig
besprochen werden könnte. Es gibt keine leiblich-seelische Empfindungsdimension, die ohne die spezifische Materie des erlebten Ereignisses sinnvoll thematisiert werden könnte. Das lebendige Objekt
der Anschauung existiert nur im Erleben, wie auch das Erleben in
seinem Sosein vom Anschauungsobjekt abhängt. Die Gefahr besteht,
dass in der theoretischen Betrachtung entweder der subjektive oder
EINLEITUNG
13
der objektive Anteil als erlebens- und verstehensbegründend bestimmt wird. Dergleichen geschieht in Beschreibungen, die von
einem akustischen Reiz ausgehen, der auf einen Hörenden trifft
und erst infolge der kognitiven, an diverse Gehirnleistungen gebundenen Verarbeitung als Musik für den Menschen erleb- und
verstehbar wird (Vorrang des Subjektiven) bzw. in denen von Musik
als einer autarken Ausdruckswelt die Rede ist, die als autonomes
Gebilde in den Hörenden einströmt und ihn bewegt (Vorrang des
Objektiven).
Mit der Absicht, der wechselseitigen Bedingtheit von objektiven
und subjektiven Anteilen gerecht zu werden, versucht die Arbeit,
diese Anteile in einem Bedingungsgefüge von Anspruch und Entsprechung zusammenzudenken. Methodisch erfolgt die Untersuchung anhand des phänomenologischen und hermeneutischen Zugriffs. Phänomenologisch wird zunächst an Husserls Intentionalitätsgedanke und seinem begrifflichen Gefüge von noema und noesis
angeknüpft. In abgewandelter Form versucht auch Plessner mit seiner Beschreibung von Anschauungsgehalt und Anschauungsweise
– hier allerdings unter Einbezug des Leibaspektes – die Vermittlung von subjektivem und objektivem Anteil. Und auch Anders
strebt in seiner Darstellung des erlebensspezifischen In-Musikseins an, die Gestimmtheit des Hörenden bzw. die Stimmigkeit des
Hörbaren als zwei Perspektiven desselben Ereignisses, nämlich des
Musikhörens aufzuweisen. Mit Fischer wird vom bildungstheoretischen Standpunkt aus gezeigt, dass Bewältigung von Wirklichkeit
nur als Vermittlungsgeschehen von gemeintem (objektivem) Wirklichkeitssinn und darauf sich beziehendem auslegendem (subjektivem) Denken und Sagen stattfindet.
Wenn die Arbeit – mit Husserl – vom Primat des Wahrnehmungsereignisses ausgeht, dann unter dem Leitgedanken, dass jede
Theoretisierung in begrifflichen Systemen als unhintergehbare
erste Voraussetzung auf das Wahrnehmungsereignis rekurrieren
muss. Jede (Natur-) Wissenschaft, die mit ihren Begriffen und
Modellen menschliche Wahrnehmungsereignisse erforschen will,
hat als Ausgangspunkt das lebensweltliche Wahrnehmungserlebnis. Um die Qualität des erlebten Wahrnehmungsereignisses geht
es der phänomenologischen Methode, weshalb sie sich dem Phänomen unter bewusstem Verzicht auf (natur-) wissenschaftliche
Erklärungsmodelle nähert. Es geht demnach nicht um eine psychologische Analyse der Subjektemotionen in der Begegnung mit
14
EINLEITUNG
Musik, welche thematisiert, wie Musik individuell auf den Menschen wirkt und was sie in ihm auslöst. Auch die biologisch-physikalischen Faktoren bleiben außen vor. Weder stehen die (hirn-)
organischen Bedingungen der Musikwahrnehmung im Mittelpunkt
noch die Analyse der Verarbeitung wahrgenommener Reize.
Ebenso wenig wird der Sachverhalt musikwissenschaftlich auf
seine Struktur hin überprüft; es werden keine formalen Analysen
der musikalischen Materie gegeben. In der Annahme, dass jede
theoretische Begriffsbildung, jede Modellierung und Materialisierung des Phänomens die Wahrnehmungsdimension nicht trifft
bzw. dass durch genannte Maßnahmen das Phänomen vorbestimmt
und selektiv betrachtet wird, soll rein auf der Basis der Wahrnehmung das Charakteristische des Ton- und Musikerlebens beschrieben werden. Aus der Untersuchung des Wahrnehmungsereignisses heraus wird das Wesentliche des Ton- bzw. MusikErlebens extrahiert und in eine sprachlich logische Form gebracht.
Die Darstellung ist demzufolge als vorwissenschaftliche zu verstehen, erhebt aber, indem sie eine systematische Beschreibung der
Erlebensdimension geben will, dennoch den Anspruch, eine wissenschaftliche zu sein. Dabei beabsichtigen die Bemühungen keineswegs, die traditionelle theoretische Betrachtung zu ersetzen,
wohl aber, ihre Grenzen aufzuzeigen. Sie rekurrieren, indem sie
die Erlebensdimension betonen, auf den gemeinsamen Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Beschreibungen: auf das vorfindliche Wahrnehmungsereignis, das der Mensch bei aller Anstrengung um Klärung von Fragen bezüglich Musik und Musikwahrnehmung immer schon hat.
Wenn die Wahrnehmung von Musik in den Mittelpunkt gerückt
wird, dann ist damit ein spezifisches Sinnverstehen eingeschlossen.
Musikalischer Sinn als Ausdruckssinn wird verstanden, doch der
Musik Hörende ergreift musikalischen Sinn nicht auf den gängigen
Wegen des Reflektierens und logischen Schlussfolgerns; auch besteht das Verstandene nicht in einem gegenständlich-vorstellbaren
bzw. sprachlich verobjektivierbaren Sachverhalt. Mit Gadamer gesprochen geht es um Formen der Erkenntnis innerhalb des Kunst-,
genauer des Musik-Erlebens, die sich von herkömmlichen Wissensformen und deren Genese unterscheiden bzw. von letzteren
nicht ersetzt werden können. 1 Anschauung und Gehalt von musi1
Hans-Georg Gadamer: Einleitung, in: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik (Tübingen 41975) XXVII, XXIX.
EINLEITUNG
15
kalischem Sinn werden – nach Plessner – über eine Hermeneutik
des Hörsinnes ästhesiologisch hergeleitet. Wie und Was an Musik
verstehbar ist, wird auf Grundlage des sinnlichen Stoffes – welcher
nicht losgelöst von der spezifischen Wahrnehmungsleiblichkeit
gesehen werden darf – erklärt. Hier ist nun wichtig zu bemerken,
dass sich der angestrebte hermeneutische Zugriff nicht als Musikinterpretation begreift. Nicht, wie Musik verstanden werden soll
nach historischen oder technischen Maßgaben zum Zweck einer
verständigen Realisierung bzw. Aufführung ist von Interesse; die
Darstellung bemüht sich darum, das musikalische Verstehen zu
verstehen. Es geht ihr um die Problematik des Zuganges zum rein
musikalischen Gehalt als Frage nach der Anschauung des Hörbaren. Dabei interessiert die bedingende eigentümliche Beschaffenheit des Hörbaren in Zusammenhang mit der Modalität des
sinnlichen Hörens. Es interessieren nicht die technische Gestaltetheit von Musik oder (außer-)musikalische Kenntnisse zum besseren Verständnis des Hörbaren.
Weil die spezifische Anschauungs- und Verstehensform bezüglich von Musik bei Plessner, wie auch bei Anders auf Grundlage
des Tonereignisses herausgerarbeitet wird, beschränkt sich vorliegende Arbeit auf solche Musik, die aus Tönen besteht, im Genauen: auf absolute Instrumentalmusik. Es soll darüber hinaus bewusst
ein Ereignis gefunden werden, bei dem von einer ungeteilten Hinwendung des Hörers an ein Hörbares ausgegegangen werden kann,
wobei dieses Hörbare seine Sinngehalte aus nichts anderem als aus
musikalischer Materie konstituiert. Vokalmusik hat (meist) eine
Textgrundlage, Programmmusik ein außermusikalisches Thema,
Funktionsmusik begleitet ein außermusikalisches Tun – hier wird
also noch anderes verstanden als rein musikalischer Sinn bzw. soll
mit Hilfe der sprachlich-bildlichen Unterlage der Zugang zu hörbarer Musik in eine bestimmte Richtung gelenkt werden – die Musik
bedeutet etwas, beschreibt etwas, untermalt etwas, das der Sache
nach nicht Musik ist. Dieser Verstehensvorgang, der sich auf
Außermusikalisches richtet, interessiert hier nicht. Das rein im
musikalischen Ablauf Verstehbare rückt in den Blick. Musikalischer Sinn wird, so die Annahme der Arbeit, nur von demjenigen
ergriffen, der sich dem Hörbaren nicht nur beiläufig, abgelenkt von
einem außermusikalischen Sachverhalt, sondern in aufmerksamer
Hinwendung widmet; genau dies geschieht in der Wahrnehmung
reiner Instrumentalmusik, die ausschließlich geschaffen wurde, um
16
EINLEITUNG
aufmerksam angehört zu werden. Damit ist ausgesagt, dass es sich
um eine exklusive, kulturell geprägte Hörsituation handelt, die es
so erst seit etwa zweihundert Jahren gibt. Erst mit einem gewissen
Komplexitätsgrad des Hörereignisses wird erforderlich, dem Hörbaren ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Im Fall
des aufmerksamen Anhörens ändert sich aber auch der Selbstbezug
bzw. finden Erschließungen des Selbst im Musikhören statt.
Vorliegende Arbeit versucht, die wechselseitige Abhängigkeit in
der Begegnung Mensch-Musik sprachlich auszudrücken und gerät
damit zwangsläufig in Schwierigkeiten. Nicht allein darin bestehen
diese Schwierigkeiten, dass jedes Wahrnehmungsereignis in seiner
Erlebensqualität sprachlich nicht eingefangen, sondern nur umschrieben werden kann. Darüber hinaus hat im Musik-Erleben eine
Form des Sinnverstehens ihren Platz, die ausdrücklich nichtsprachlicher Natur ist. Die allgemeine Beschreibung dessen, was
im Musikhören verstanden werden kann – als Anspruch des Hörbaren an den Hörenden – wird in Bezügen zur Zeitlichkeit, Leiblichkeit und Gestimmtheit aufgezeigt, und zwar mit Hilfe von
sprachlichen Aussagen. Bereits der allererste Anfang stellt dabei
eine Herausforderung dar: Die phänomenologische Beschreibung
des Tones fasst die Merkmale des Tonhörens in Begriffe (,Eindringlichkeit‘, ,Impulswert‘), die zwar den Ausgangspunkt der weiteren Phänomenologie bilden, aber ihrerseits wiederum der Klärung bedürften. Der Anfang wird mit diesen Begriffen aus der Not
des ersten Anfangens heraus gesetzt – in dem Bewusstsein, dass
kein einziger dieser Begriffe, obwohl er sich unmittelbar auf das
Wahrnehmungsereignis bezieht, selbsterklärend ist, wenngleich
zumindestens plausibel erscheint, was er zur Aufhellung des Phänomens beiträgt. Auch wenn der musikalische leiblich-gestimmte
Mitvollzug als adäquate Anschauungsform von Musik erläutert
wird, bleibt die Schwierigkeit, nicht-sprachliches Verstehen sprachlich darstellen zu müssen.
Die Arbeit beschränkt sich im Bemühen um Klärung der aufgeworfenen Probleme auf einzelne Vertreter, die sich im Rahmen
von erkenntnistheoretischen Fragestellungen mit Ton- und Musikwahrnehmung auseinandergesetzt haben. Eine konkrete Musikphilosophie liegt dabei nicht immer vor. Im Zeitraum von ca. 1860 bis
ca. 1930 wendet sich die Forschung verstärkt dem Sachgegenstand
der Musikwahrnehmung zu; eine phänomenologische Untersuchung
EINLEITUNG
17
des Gegenstandes bildet sich dabei aus der psychologisch-naturwissenschaftlichen Linie heraus. Helmholtz beschreibt in seiner
Lehre von den Tonempfindungen noch einen Kausalzusammenhang zwischen physikalisch-akustischer Ursache und physiologisch-psychischer Wirkung. 2 Carl Stumpf widerspricht dieser
Auffassung in seiner Tonpsychologie und weist auf die Eigengesetzlichkeit der psychischen Funktionen hin; hier rückt die
Ebene des Bewusstseinserlebens verstärkt in den Vordergrund. 3
Riemann führt die Gedanken Stumpfs fort, indem er eine Zusammenführung von musikalischem Ereignis und Bewusstseinserleben
anstrebt: Töne führen zu eigenständigen musikalischen Vorstellungen, und zwar nicht in Form von Einzeltönen, sondern von
Tonfolgen. 4 Riemanns Ansatz verweist damit deutlich auf gestaltpsychologische und phänomenologische Konzepte. 5 Husserl, als
2
3
4
5
Herrmann von Helmholtz: Lehre von den Tonempfindungen als psychologische
Grundlage für die Theorie der Musik (Braunschweig 61913) [1863].
Carl Stumpf: Tonpsychologie. Zwei Bände (Hilversum, Amsterdam 1965)
[1883-1890]. Vgl. Stephan Höllwerth: Musikalisches Gestalten. Ein Beitrag zur
Phänomenologie der Interpretation tonaler Musik. (Bern 2007) 127 f.
Hugo Riemann: Lehre von den Tonvorstellungen, in: Jahrbuch Peters 21/22
(Leipzig 1914/15) sowie Hugo Riemann: Neue Beiträge zu einer Lehre von den
Tonvorstellungen, in: Jahrbuch Peters 23 (Leipzig 1916). Vgl. Stephan Höllwerth: Musikalisches Gestalten, a.a.O. 128 f.
Vgl. Stephan Höllwerth: Musikalisches Gestalten, a.a.O. 128 f. Als Gegenentwurf zu dieser Linie sind die Arbeiten von Ernst Kurth zu sehen. Hier werden
unbewusste psychische Energien in Verbindung mit den musikalischen Phänomenen gebracht; der Anspruch einer Phänomenologie erscheint vor diesem Hintergrund fragwürdig. (Ernst Kurth: Musikpsychologie (Olms 1969) [1931]). An
Primärtexten sind weiterhin Arbeiten zur Musikwahrnehmung bzw. zum MusikErleben zu nennen, welche die phänomenologische Methode wenigstens dem
Namen nach zur Bearbeitung des Gegenstandes wählen, z.B. Paul Bekker: Von
den Naturreichen des Klanges. Grundriss einer Phänomenologie der Musik
(Stuttgart, Berlin 1925). Bekker orientiert sich an naturwissenschaftlichen Beschreibungsformen. Worin in seiner Abhandlung der phänomenologische Zugang besteht, wird nicht erklärt. Hans Mersmann: Versuch einer Phänomenologie der Musik (Darmstadt 1973) [1922/23]. Mersmann beabsichtigt eine Untersuchung des musikalischen Kunstwerkes als Erscheinung; von einer Anlehnung an Husserl ist nirgendwo die Rede, eher rückt der Autor sich nach eigenen
Angaben in die Nähe der musikalischen Hermeneutik nach Kretzschmar (vgl.
Hans Mersmann: Versuch einer Phänomenologie der Musik, a.a.O. 3, dort Anmerkung 1; Auswahl Werke Kretzschmars siehe Anmerkung 7). Die Erscheinung des Kunstwerkes wird einerseits „als Gesamtheit der in ihr beschlossenen
Funktionen und Kräfte“ thematisiert, andererseits will der Autor das Kunstwerk
„als Produkt einer historischen Entwicklung, also historisch“ in den Blickpunkt
rücken (ebd. 2).
18
EINLEITUNG
Schüler Carl Stumpfs, weist auf die strikte Unterscheidung von
Psychologie als Tatsachenwissenschaft und Phänomenologie als
Wesenswissenschaft hin. Zwar verfasst er kein einziges musikphänomenologisches Werk, doch widmet er sich in seinem Programm zur Erkenntnisabsicherung dem zeitgebundenen Hörereignis, um hier Fragen zu Identität und Objektivität zu erörtern. Im
Mittelpunkt stehen Grundlinien des Erlebens von Ton und Tonfolge noch vor jeder Identifizierung mit ästhetischen Gesichtspunkten.
Sekundärtexte zur Thematik des Musik-Erlebens in phänomenologischer Hinsicht existieren bis heute nur spärlich, zur Gruppe der
hier gewählten Vertreter gar nicht. Die Literatur beschränkt sich
zumeist auf die Darstellung jeweils eines Autors. 6 Ähnlich stellt
sich die Lage dar mit Blick auf Sekundärtexte zur Musikhermeneutik bzw. zum Musik-Verstehen. Hermeneutik wird, wie bereits
angedeutet, nicht im Sinne einer inhaltsdeutenden musikalischen
Hermeneutik verstanden, 7 auch nicht als Programm, Musik unter
Hinzuziehung außermusikalischer Daten zu dechiffrieren 8 oder sie
unter Zuhilfenahme musiksoziologischer Aspekte zu entschlüsseln. 9
Hermeneutik im hier bevorzugten Verständnis meint die in der
Tradition Heideggers und Gadamers stehende philosophische Hermeneutik, in welcher Selbst- und Fremdverstehen in einem dynamischen Geschehen zusammenfließen. Sie geht von einem Vorverständnis des Verstehenden bezüglich seiner eigenen Person wie
6
7
8
9
Zu Edmund Husserl: Franz Orlik: „Inneres Zeitbewusstsein“ und „attentionale
Modifikation“. Ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Zeit und musikalischer Gestalt im Anschluss an Husserl, in: Archiv für Musikwissenschaft 51 4
(1994) 253-273; Tom Rojo Poller: „…wie die Zeit vergeht…“. Zu Husserls
Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins aus musikphilosophischer Perspektive. pdf-Dokument, 1-20. http://www.trpoller.de/WebsiteContent/wie%20
die%20zeit%20vergeht.pdf; Daniel Schmicking: Hören und Klang. Empirisch
phänomenologische Untersuchungen (Würzburg 2003).
Vgl. August Ferdinand Hermann Kretzschmar: Anregungen zur Förderung der
musikalischen Hermeneutik (Leipzig 1902); August Ferdinand Hermann Kretzschmar: Neue Anregungen zur Förderung der musikalischen Hermeneutik (Leipzig 1905).
Vgl. Constantin Floros: Hören und Verstehen. Die Sprache der Musik und ihre
Deutung (Mainz 2008).
Vgl. Peter Schleuning: Kann eine Sinfonie revolutionär sein? Beethoven und
seine „Eroica“, in: Albrecht Riethmüller (Hg.): Revolution in der Musik. Avantgarde von 1200 bis 2000 (Kassel und Basel 1989); Peter Schleuning: Der Bürger
erhebt sich: Geschichte der deutschen Musik im 18. Jahrhundert (Reinbek 1984).
EINLEITUNG
19
auch des Gegenstandes des Verstehens aus. Damit ist zugleich auf
die Historizität jeder Verstehensleistung verwiesen. 10
Ein Sonderfall der gewählten Ansätze stellt der Plessnersche dar.
Plessner arbeitet zur philosophischen Anthropologie, zur Biologie,
zur Soziologie. Er bedient sich dabei der phänomenologischen
Methode unter Rückgriff auf die Philosophie Kants. In der Zusammenführung von Phänomenologie und formalem Aspekt der
kritischen Lehre beabsichtigt Plessner eine Rehabilitierung der
Sinnlichkeit (Erkenntniswert der sinnlichen Wahrnehmung) und
damit eine Begründung der allgemeinen Hermeneutik. Die Untersuchungen zum musikalischen Sinnverstehen stellen einen Beitrag
Plessners zu einer Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdruckes dar.
Musikalischer Sinn wird – hergeleitet auf Grundlage der Beschaffenheit des Tones – gleichberechtigt neben andere Sinnformen gestellt. Die musikphilosophischen Schriften Plessners sind bisher
kaum wahrgenommen worden. 11
10
11
Zu Heidegger: Michael Eldred: Sprache (und Musik) bei Heidegger, in: Michael
Eldred: Twisting Heidegger (Cuxhaven 1993) 153-178; Hartmut Flechsig: Anstöße
Heideggers zum Selbstverständnis in der Musikwissenschaft, in: Musikforschung
30 (1/1977) 26-30; Kalisch, V.: …von den Musen geschenkte Werke. Heidegger und
Strawinsky, in: Studien zur Musikgeschichte: Eine Festschrift für Ludwig Fischer,
hg. von Annegrit Laubenthal (Kassel u.a. 1995) 718-726; Andreas Luckner: Zeit,
Begriff und Rhythmus. Hegel und Heidegger und die elementarische Macht der
Musik, in: Musik in der Zeit – Zeit in der Musik, hg. von Richard Klein, Eckehard
Kiem und Wolfgang Ette (Weilerswist 2000) 108-138; Eduardo Marx: Heidegger
und der Ort der Musik, in: Würzburger wissenschaftliche Schriften, Bd. 237
(Würzburg 1998); Günther Pöltner: Mozart und Heidegger – Die Musik und der
Ursprung des Kunstwerkes, in: Heidegger Studies 8 (1992) 123-144; Günther
Pöltner: Heidegger, in: Musik in der deutschen Philosophie. Eine Einführung, hg.
von Stefan Lorenz Sorgner und Oliver Fürbeth (Stuttgart/Weimar 2003) 155-172;
Günther Pöltner: Musik und das Wesen der Kunst nach Heidegger, in: Mesotes.
Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog, Supplementband (1991) 172-182;
Bernhard Schleiser: Musik und Dasein. Eine existenzialanalytische Interpretation
der Musik, in: Europäische Hochschulschriften, Bd. 184 (Frankfurt a.M. 1998).
Zu Plessner: Martin Asiáin: Sinn als Ausdruck des Lebendigen. Medialität des
Subjekts – Richard Hönigswald, Maurice Merleau-Ponty und Helmuth Plessner
(Würzburg 2006); Kurth Fischer: Einige Bemerkungen zu Helmuth Plessners
Reflexionen zum Phänomen Musik, in: Unter offenem Horizont. Anthropologie
nach Helmuth Plessner, hg. von Jürgen Friedrich und Bernd Westermann (Frankfurt a.M. 1995) 156-159; Josef König: Briefessay über Helmuth Plessners „Die
Einheit der Sinne“, Anzio 25. 7. bis 27. 8. 1927, in: Josef König/Helmuth Plessner:
Briefwechsel 1923-1933. Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth
Plessners „Einheit der Sinne“, hg. von Hans-Ulrich Lessing und Almut Mutzenbecher (Freiburg/München 1994) 219-310; Hans-Ulrich Lessing: Hermeneutik
der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer „Ästhesiologie
des Geistes“ nebst einem Plessner-Ineditum (Freiburg/München 1998).
20
EINLEITUNG
Ähnlich wie Plessner legt auch Anders eine Musikphilosophie
auf anthropologischer Grundlage vor. 12 Seine Überlegungen zu Ton
und Stimme weisen viele Gemeinsamkeiten zu Aussagen Plessners
auf. Plessner wird allerdings mit keinem Wort in der Andersschen
Schrift erwähnt, was daran liegen könnte, dass Anders das Buch
Plessners nicht kannte. Höchstwahrscheinlich rühren die Ähnlichkeiten daher, dass Hegel Gewährsmann für beide Autoren ist.
Anders’ Überlegungen zum Musik-Erleben ruhen, wie auch bei
Plessner, auf einer Anthropologie des Tones unter Verwendung der
phänomenologischen Methode zur Beschreibung des sinnlichen
Erlebens. Doch dem musikalischen Verstehen gibt Anders eine
andere Wendung, indem er Hegels Gedanken der Befindlichkeit
und des Selbstgefühls mit der Terminologie Heideggerscher Fundamentalontologie verbindet und den hier zentralen Gedanken der
Selbsterschließung über die Gestimmtheit in seine Musikphilosophie einfließen lässt. 13
Der Gang der vorliegenden Untersuchung setzt bei Husserl und
seinen Analysen des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917) ein
(Kapitel I). Diese phänomenologische Untersuchung bezieht sich
noch nicht auf Musik, sondern rein auf die Wahrnehmung von
Tönen unter dem Gesichtspunkt des Erlebens eines dauernden
Kontinuums. Husserl wählt bewusst die von allen weltlichen Bezügen gelöste immanente Tonempfindung, um an diesem Modell
erlebter Dauer die maßgeblichen Leistungen des inneren Zeitbewusstseins aufzuzeigen. Damit geht einher, dass dieser Art Töne
jeder ästhetische Charakter abgeht; Husserl spricht nicht von
12
13
Die musikphilosophische Habilitationsschrift des in vorliegender Arbeit behandelten Autors Günther Anders, welche sich explizit an der phänomenologischen
Methode orientiert, wird derzeit auf die Veröffentlichung vorbereitet. Günther
Anders: Philosophische Untersuchungen über musikalische Situationen (im Folgenden PhU) (Typoskript, 184 Bl., um 1930). Österreichisches Literaturarchiv
der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA), Wien, 234/04: Nachlass Günther
Anders, 6.
Günther Anders: PhU, a.a.O.; vgl. weiterhin Reinhard Ellensohn: Der andere
Anders. Günther Anders als Musikphilosoph, in: Europäische Hochschulschriften, Bd. 725 (Frankfurt a.M. 2008); Franz-Josef Knelangen: Günther Anders und
die Musik oder „Der Klavierspieler mit dem Zeichenstift“, in: Text + Kritik.
Zeitschrift für Literatur, hg. von Heinz Ludwig Arnold 115 (1992) 73-85;
Thomas Macho: Die Kunst der Verwandlung. Notizen zur frühen Musikphilosophie von Günther Anders, in: Günther Anders kontrovers, hg. von Konrad
Paul Liessmann (München 1992) 89-102.
EINLEITUNG
21
Musik, wenn er Töne meint. 14 Zentral ist der Gedanke der Intentionalität, wenngleich Husserl das begriffliche Gefüge von Auffassungsakt und Auffassungsgegenstand bezüglich der Tonempfindung
verabschiedet: Tonerleben hinsichtlich seiner Dauer konstituiert
sich nicht aus einer Aufeinanderfolge vergegenständlichender Akte,
sondern geht mit einer gesonderten Intentionalität einher, der Ton
ist urbewusst (auffassungslose Retention). Das Tonobjekt jedoch
ist intentionales Objekt, d.h. bewusstseinsmäßiger Gegenstand. Als
wertvoll wird sich u.a. die Erkenntnis Husserls herausstellen, dass
die identische Toneinheit nicht Produkt einer Abstraktionsleistung
ist, sondern im Fluss der Wahrnehmung selbst sich konstituiert und
herausgestellt wird. 15 In der Gesamtschau der Ergebnisse dieses
Kapitels ist zu sagen, dass die Bezugnahme auf die Tonwahrnehmung im Modus des reduktiven Als-ob zur Veranschaulichung
menschlichen Zeiterlebens geeignet, zur Beschreibung von Musikwahrnehmung allerdings nur begrenzt aufschlussreich ist. Dies soll
nicht als Mangel der Phänomenologie Husserls gewertet werden.
Husserl hatte mit seinen Arbeiten anderes im Sinn, als das MusikErleben phänomenologisch zu beschreiben. Ihm ging es, im Rückgang auf das reine Bewusstsein, um eine Absicherung von Wahrheit und Erkenntnis; die Analysen zur Phänomenologie des inneren
Zeitbewusstseins dienen dabei der Begründung von Objektivität
und Identität. Für die Thematik des Musik-Erlebens interessieren
die Bemühungen Husserls um die Klärung der Problematik des
zeitlichen Kontinuums.
Die vorliegende Arbeit setzt ihre weiteren Untersuchungen nun
an zwei Punkten an, die thematisch miteinander zusammenhängen:
Zum einen muss der Begriff der Intentionalität in Hinblick auf den
Wahrnehmungsgehalt Ton (nicht als Empfindungsdatum, sondern
14
15
Es ist der Musikauffassung des 19./20. Jahrhunderts geschuldet, dass alle angeführten Philosophen es als selbstverständlich ansehen, dass Musik aus Tönen
besteht und möglichst im tonalen System situiert ist. Musikalische Formen, die
sich an unkonventionellen Tonsystemen orientieren oder die aus tonfreiem
Klangmaterial bestehen (Geräusche, geräuschhafte Stille), bleiben unerwähnt.
Die Frage stellt sich, ob die hier genannten Begriffe und Konzepte auch auf unkonventionelle Formen übertragen werden können. Auch das zur Charakteristik
der Musik mindestens ebenso wichtige rhythmische Element kommt nur am
Rande zur Sprache.
Dieses Argument enthält im Keim den Gedanken des Mitvollzuges, der bei
Plessner und Anders – unter Absehung des Intentionalitätsbegriffes – erst voll
herausgearbeitet wird. Mit ihm wird das musikalische Verstehen als wahrnehmungsbegleitendes Verstehen begründet.
22
EINLEITUNG
als Objekt) korrigiert werden; zum anderen muss aus dem reduzierten Tonmodell ein musikalisch-ästhetisches werden, d.h. die
von Husserl absichtlich ausgesparten weltlich-leiblichen Bezüge
müssen in die Wahrnehmung wieder miteinbezogen werden. Der
Leibaspekt ist im Begriff der passiven Synthesis zwar enthalten,
doch eingeschränkt auf reines Bewusstseinserleben. Der Hinweis
auf die Leiblichkeit der Tonwahrnehmung führt aber zu entscheidenden Argumenten für die Korrektur des Intentionalitätsbegriffes
(Kapitel II).
Der Leibaspekt wird zunächst aus der Husserlschen Lehre selbst
entwickelt. Wichtige Erkenntnis ist die von Husserl festgestellte
Unräumlichkeit des Tones und dessen fehlende Relativität zu koexistierenden sichtbaren Gegenständen. Als problematisch stellt
sich heraus, dass der Ton bei Husserl als erlebtes gegenständliches
Gegenüber beschrieben wird; ihm eignet immer nur ein, wenn auch
unbestimmtes Dort-sein zu. Die Gerichtetheit des Hörers entspricht
derjenigen im Erleben eines sichtbaren Gegenstandes bzw. jeder
Gerichtetheit auf einen beliebigen Bewusstseinsgegenstand; genau
dies meint der Begriff der Intentionalität. Mit dem von Plessner
und Anders verwendeten Begriff der Fernnähe kann aber gezeigt
werden, dass dem Ton eine Indifferenz in Bezug auf seine Situiertheit zugesprochen werden muss: Dem Ton eignet ein unbestimmtes Dort und Hier; diese Indifferenz schlägt sich im Phänomen der
Doppelempfindung nieder: Der Ton ist Gegenstand und Zustand
zugleich. Husserl hatte für das Hörfeld die Möglichkeit der Doppelempfindung ausgeschlossen. Plessner und Anders machen sie,
im Rückgang auf Hegel, für den Wahrnehmungsgehalt Ton fruchtbar. Der zentrale Gedanke besteht darin, dass der Ton nicht in Gerichtetheit wahrgenommen wird, sondern sich seine Anschauung
zwischen einem gegenständlichen Haben und einem zuständlichen
Erleben bewegt. Beide Anteile sind nicht voneinander trennbar.
Plessner sieht in den Merkmalen der Eindringlichkeit und Voluminosität (Leibähnlichkeit) die Zuständlichkeit des Tones begründet.
Anders bringt mit dem Begriff der Zuständlichkeit nicht die Leibthematik, sondern die Gestimmtheit ins Spiel. Tonwahrnehmung
vollzieht sich als Indifferenz von Akt und Stimmung; zeitlicher Ton
und ebenso zeitliche Gestimmtheit des Hörenden sind deckungsgleich. Mit Anders können zwei weitere Korrekturen zum Ereignis
der Tonwahrnehmung, wie Husserl es sieht, vorgenommen werden.
Erstens findet Anders mit dem Begriff des Lauschens ein aktives
EINLEITUNG
23
Moment in der Tonwahrnehmung, die bei Husserl rein passiv gewesen war. Der Hörende richtet sich nicht rein empfangend auf das
Tonobjekt, sondern hört ihm auch aktiv entgegen; das Hören wird
vom Impuls des virtuellen Singens begleitet. Zweitens ist der vergegenwärtigte Ton nach Auffassung von Anders nicht ideelles
Tonwesen, sondern immer aktuell Ertönendes, dessen Zeitlichkeit
nicht abgezogen werden kann.
Mit dem bei Plessner eingeholten Leibaspekt wird die ästhetische Dimension der Tonwahrnehmung hergestellt. Aufgrund
seines leiblich-instrumentalen Ursprunges wird der Ton anders
gehört als zufällig entstandene Geräusche – nämlich tonbezogen
und nicht ursprungsbezogen. Das rein hyletische Wahrnehmungsdatum Ton wird angereichert, indem die temporären Leerauffassungen, welche im ersten Kapitel die Quintessenz für den Ton als
Wahrnehmungsfeld ergeben, ergänzt werden um weitere, die leibbezogenen. Auf diese Weise kann auch die besondere Hinwendung
zum Ton (anhaltend aufmerksames Hinhören) plausibel werden.
Das stärkste Argument gegen die Anwendung des Intentionalitätsbegriffes bildet der bei Plessner und Anders aus dem Zuständlichkeitsaspekt entwickelte Begriff des Mitvollzugs. Plessner
fasst hierunter das wahrnehmungsgebundene, leibbezogene Sinnverstehen der Tonbewegung, in deren Vollzug musikalische Bewegung in leiblich-seelische Bewegtheit umgesetzt wird. Grundlage
ist die durch die Leibähnlichkeit des Tones ermöglichte Gestaltung
verleiblichten Sinnes in der Tonbewegung. Anders dagegen denkt
Mitvollzug im Sinne einer Reproduktion des Bewegungssinnes
durch den Hörenden. Derselbe gleicht sich stimmungsmäßig diesem Bewegungssinn an, d.h. der Hörende ist ein Bewegtes von der
Art der Bewegung des Hörbaren. Der enge Bezug zwischen Ton
und Empfindung ist bei Anders Grundlage für die Auffassung des
musikalischen Mitvollzuges als Umstimmungsgeschehen, welches
so radikal ist, dass Anders im Sinne der Existenzphilosophie Heideggers hier von einer Verwandlung des Daseins spricht (In-Musiksein als Nicht-in-der-Welt-sein). Er definiert die musikalische Situation als zeitliche Enklave, in der die Existenzialien (Sorgestruktur)
zeitweilig zurückgedrängt werden. Die Möglichkeit musikalischen
Verstehens sieht Anders in der Selbsterfahrung des Hörenden in
erweiterten Erlebensdimensionen, wie sie die jeweilige Musik eröffnet.
24
EINLEITUNG
Musikalisches Verstehen, ob es sich, wie bei Plessner um musikalischen Ausdruckssinn oder, wie bei Anders, um ein Selbsterschließungsgeschehen handelt, ist nur möglich in der mitvollziehenden Anschauung. Deren Realisierung ist gebunden an ein
aufmerksames Einlassen auf das Hörbare. Mit Heideggers Begriff
der Entschlossenheit aus Der Ursprung des Kunstwerkes wird auf
eine außerhalb der Musik liegende Bedingung für den gelingenden
Mitvollzug hingewiesen (Kapitel III). Zugleich sollen die bei
Plessner und Anders gewonnenen Erkenntnisse als Referenzpunkt
dienen, um eine kritische Überprüfung des Wahrheitsgeschehens in
Heideggers Kunstwerkabhandlung vorzunehmen. Die Problematik
zeigt sich dabei in Heideggers Ableitung des Wahrheitsgeschehens
aus dem Begriff der ij઄ıȚȢ. Die damit zusammenhängende Anwesung des Kunstwerkes sowie die entsprechende Anschauungshaltung des Rezipienten sind in Hinblick auf die Musik nicht angemessen. Heideggers Rede vom In-sich-Ruhen des Werkes, welches
höchste Bewegtheit ist, trifft auf das Musik-Erleben nicht zu. Die
beschriebene Wesensschau birgt Probleme, weil zum einen das
Sein in der Musik nicht aussagbar ist und zum anderen auch nicht
in besinnender, wahrnehmungsübersteigender Schau vernommen
wird. Mit der Ästhesiologie Plessners kann gezeigt werden, dass
noch vor jeder Frage nach dem Sein des Kunstwerkes bzw. nach
den Möglichkeiten der Seinsentbergung im Kunstwerk die Stofflichkeit des jeweiligen Werkes und die hieran gebundenen Anschauungs- und Verstehensformen untersucht werden müssen. Was
die Musik zu entbergen hat, bestimmt in erster Linie die Eigenart
ihrer Substanz, nicht ihr Sein als Kunstwerk. Die ästhesiologischanthropologische Frage geht demnach der ästhetischen voraus.
Beide hier grob skizzierten Argumentationslinien – die husserlkritische wie auch die heideggerkritische – orientieren sich rein am
Sachgegenstand des Musik-Erlebens und -Verstehens, d.h. bei
ihrer Entfaltung rückt die philosophische Heterogenität der Vertreter bzw. auch die Entwicklung ihrer philosophischen Biographien
vollkommen in den Hintergrund. So wären Heidegger und Plessner
in dieser Hinsicht schwer miteinander vereinbar, ihre Beiträge zum
Sachgegenstand sind es aber sehr wohl. In der Abwägung der einzelnen Argumente aus unterschiedlichen philosophischen Ansätzen
treten grundsätzliche Inkongruenzen in den Hintergrund, solange
das einzelne Argument für eine nähere Bestimmung des Phänomens tauglich ist.
EINLEITUNG
25
Wenn im letzten Schritt der Arbeit nach dem Bildungssinn des
Musikhörens gefragt wird (Kapitel IV), dann greift sie damit das
Kernstück des bildungskategorialen Ansatzes nach Franz Fischer
auf, der den Bildungssinn eines Gegenstandes an der Gegebenheit
des Wirklichkeitsbezuges in ihm festmacht. Die Bildungsbewegung
vollzieht sich nach Fischer als stetige (sprachliche) Auslegung unsprachlichen Wirklichkeitssinnes. Nicht in der Übertragung dieses
Sinnvermittlungsgedankens besteht nun die Anlehnung an Fischer,
sondern in der Bezugnahme auf das Moment der Erschließung von
Wirklichkeit. Fischer fragt im Kontext der Bildungskategorien
nach den Formen, wie in den Natur- und Geisteswissenschaften,
aber auch in den Künsten Wirklichkeit erschlossen wird und daran
knüpft vorliegende Arbeit an. Sie versucht anhand der Ansätze von
Husserl, Plessner, Anders und Heidegger freizulegen, wie Musik
dem Menschen erschlossen ist, worin der Anspruch des Musikhörens an den Menschen besteht. Ihre phänomenologischen und
hermeneutischen Studien zum Ton und zur Musik verstehen sich
methodisch als Rückgriff auf die Sache selbst, doch als eine Sache,
die an menschliches Erleben geknüpft ist. Sie bestimmt menschliches Erleben und kann nur aus der Position menschlichen Erlebens bestimmt werden.
Bei Husserl wird, in Betrachtung des Wahrnehmungsereignisses,
dieser Bildungssinn in der Zeitlichkeit gefunden. Damit ist auf die
unauflösbare Verbundenheit von zeitlicher Musik und wahrnehmendem Menschen hingewiesen. Das Zeitobjekt Musik gehört
dem zeitlichen Menschen und ist abhängig von dessen Erleben.
Daraus ergibt sich eine Verantwortlichkeit für den Musik bewahrenden und anschauenden Menschen. Auch gibt es bei Husserl, mit
der Erkenntnis der auffassungslosen Retention, einen Hinweis auf
die Kognitivität der Wahrnehmung.
Der bei Husserl gefundene enge Bezug zwischen Mensch und
Musik wird mit den bei Plessner extrahierten Begriffen der Leiblichkeit und seelischen Zuständlichkeit ergänzt. Für das musikalische Verstehen ist die nur hier stattfindende unmittelbare Ansprache
des Leibes (Tanz) und des seelischen Lebens (z.B. Weinen) durch
das Hörbare charakteristisch. Musikalischer Sinn (Geist) wird nicht
allein durch den Geist erkannt, sondern die Sinnlichkeit selbst ist,
obwohl außerhalb von Begrifflichkeit und Gegenständlichkeit liegend, aufschlussreich und geistvoll. Hierin liegt eine Form des
Verstehens und der Sinnhaftigkeit, die mit sprachlich-logischen
26
EINLEITUNG
Formen nichts zu tun hat, aber dennoch auf einen eigenwertigen
Erkenntnisbestand verweist. Dieser ist nicht von der sinnlichen
Materie ablösbar.
Mit Heideggers Begriff der Entschlossenheit wird die vorurteilsfreie Hinwendung des Hörers als entscheidende Voraussetzung für
eine gelingende (mitvollziehende) Begegnung mit Musik herausgestellt. Diese Ansprechung durch Musik ist nur möglich, wenn das
Hörbare nicht als Zeug benutzt wird, sondern Ereignis im Leben
des sich bereithaltenden Hörenden wird. Dazu muss er zweifellos
wissen, wann er sich bereitzuhalten hat. Die Musik selbst wie auch
der Kontext geben Aufschluss darüber, wann er beiläufig oder aber
aufmerksam Musik anhören soll.
Mit dem Begriff der Umstimmung (Verwandlung) im Musikhören bei Anders wird auf einen weiteren Aspekt musikalischen
Bildungssinnes hingewiesen. In Anlehnung und Abgrenzung von
Heideggers Daseinsontologie stellt das Musik-Erleben als Nichtin-der-Welt-sein eine Suspension des daseinsontologischen Befundes dar. In-Musik-sein weist weder auf ein entschlossenes noch auf
ein verfallenes Dasein hin, sondern hier liegt Entfremdung von
Alltäglichkeit und Sorge vor. Stattdessen erfährt sich das entfremdete Dasein in musikabhängigen erweiterten Erlebensdimensionen.
Wegen dieses Aufschlusspotenzials ist die musikalische Situation
eine kognitive, erkenntnisbringende Situation. Musik als eigenzeitliches, ungegenständliches Geschehen eröffnet eine Möglichkeit
ungegenständlichen Selbstverstehens.
I
TON UND TONFOLGEN IN HUSSERLS ANALYSEN
ZUM INNEREN ZEITBEWUSSTSEIN
Ziel Edmund Husserls ist es, anhand der Analyse wesentlicher
Funktionen des Bewusstseins zu untersuchen, wie Wahrheitsüberzeugungen innerhalb des Erkenntnisgewinns, aber auch in der alltäglichen Erfahrung zustande kommen. Er benennt Wahrnehmungsund Erinnerungsleistungen sowie Erwartungshaltungen als solche
Strukturmomente. Im Zusammenspiel von wahrnehmungsbezogenem
Vor- und Rückblick konstituiert sich ein konstantes Welterleben,
das Voraussetzung ist für Möglichkeiten der Revision und Veränderung. Das Erleben von Objektivität sieht Husserl untrennbar verbunden mit den Leistungen des Zeitbewusstseins. 16 Er bezeichnet
sie als Fundament jeglichen höherstufigen Erkenntnisgewinns.
Im Fall der zeitlichen Bewusstseinsstrukturen handelt es sich
nicht um Inhalt bergende Formen, sondern um Arten der Bewusstheit. Ein Erinnerungsakt ist ein anderes Bewusstseinserlebnis als
ein Wahrnehmungsvorgang. Da Bewusstsein immer Bewusstsein
von etwas ist, muss ein Etwas gefunden werden, an dem sich die
Analysen des Zeitbewusstseins exemplarisch vollziehen lassen.
Husserl verwendet hierzu das veranschaulichende Beispiel des
Tones bzw. der Tonfolge. Unter Zuhilfenahme dieser Wahrnehmungsobjekte erhellt er die Strukturmomente des zeitlichen Bewusstseins und gibt gleichzeitig indirekt Hinweise bezüglich der
phänomenalen Gegebenheit von Ton und Tonfolgen. Diesen Umstand macht sich die vorliegende Arbeit zunutze: Sie will prüfen,
inwiefern diese Hinweise als Grundlagen einer Phänomenologie
der Wahrnehmung von Ton und Tonfolge dienen können. In Verbindung mit Husserls Erkenntnissen zur passiven Synthesis soll
untersucht werden, welche Bewusstseinsleistungen erbracht werden müssen, damit ein Ton als Ton erlebt werden kann und im
Falle einer gegebenen Tonfolge bzw. Melodie das Bewusstsein
eines ganzheitlichen Kontinuums entstehen kann.
16
Jedoch stößt Husserl auf die Zeitproblematik nicht im Zusammenhang mit der
Konstitution von Objekten, sondern mit dem konstituierenden Subjekt (siehe
auch Anmerkung 28). Es ist eben dieses Ich, von dem – als konstituierende Subjektivität – Husserl in seinen Ideen I den Bogen zur Zeitproblematik schlägt.
Zwar ist das reine Ich inhaltslos, doch seine Erlebnisse laufen in einem Erlebnisstrom ab, welcher die Zeitlichkeit selbst ausmacht. Gemeint ist hier allerdings
nicht die objektive Zeit, sondern die „phänomenologische Zeit“ (Edmund Husserl:
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, hg. von Karl
Schumann (Hamburg 2009) 161). Vgl. hierzu Inga Römer: Das Zeitdenken bei
Husserl, Heidegger und Ricœur (Heidelberg/London/New York 2010) 23 f.
30
I TON UND TONFOLGEN IN HUSSERLS ZEITANALYSEN
Das Verhältnis des wahrnehmenden Subjektes zum Wahrnehmungsobjekt Ton wird also dergestalt thematisiert, dass der Ton
ausschließlich als Bewusstseinserlebnis relevant ist; allein seine
Phänomenalität dient als Untersuchungsfeld. Diese Aussage soll
keinesfalls auf eine psychologisch-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise hindeuten, welche die Tonempfindung, die Qualität des
Tones ausschließlich in das Bewusstsein des Subjektes verlegt. Sie
versucht vielmehr, die hier auftretenden Probleme zu umgehen.
Wahrnehmungspsychologische Ansätze verstehen das Erleben der
Qualitäten (heterogen, sich gebend als unteilbare Kontinuität bzw.
Bewegung) als abgetrennt von dem das Erlebnis auslösenden Reiz.
Jener wird, als subjektunabhängige Faktizität, in den homogenen
Raum verlegt (teilbare Bewegung), wo nun Berechnung diverser
Parameter (Richtung, Länge, Geschwindigkeit) stattfinden kann. 17
Unklar bleibt allerdings, wie sich eine Übereinstimmung zwischen
subjektunabhängigen homogenen Außenreizen und subjektabhängigen heterogenen Qualitätsempfindungen gestalten soll – eine Lösung wäre die Annahme einer prästabilierten Harmonie. 18 Nach
physikalischer bzw. wahrnehmungspsychologischer Auffassung ist
der Ton in erster Linie ein Schallereignis, zurückzuführen auf Luftbewegungen, die als Druckwellen im Ohr in elektrische Impulse
umgesetzt und an das Gehirn weiter geleitet werden. 19 Die Reizverarbeitung, also die Umwandlung von mechanischen Impulsen in
elektrische, wird neurophysiologisch in Angriff genommen; der
Bruch bleibt: Wie hängen messbarer Reiz und lebendige Tonwahrnehmung zusammen? Führt der Weg zur Qualität über die Aufschlüsselung der zerebralen Funktionen? Ist das Tonerlebnis in die
Materie eingelegt? Sind hier organische Voraussetzungen auffindbar, die das Subjekt befähigen, Ton bzw. Musik zu verstehen? 20
Die Überwindung dieses Dualismus versucht bspw. Bergson in
einer Zusammenführung von Wahrnehmungsvorgang und Wahr17
18
19
20
Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist (Hamburg 1991) 200 f., 217 f.
Vgl. ebd. 203. Vgl. auch Helmuth Plessner: Anthropologie der Sinne (1970), in:
Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Günter Dux, Odo Marquard und
Elisabeth Ströker (Frankfurt a.M. 1980) 62.
Vgl. Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk (Stuttgart/New York 92009) 25, 55 ff.
Vgl. Wilfried Gruhn: Lernziel Musik. Perspektiven einer neuen theoretischen
Grundlegung des Musikunterrichts (Hildesheim 22010) sowie Wilfried Gruhn:
Der Musikverstand. Neurobiologische Grundlagen des musikalischen Denkens,
Hörens und Lernens (Hildesheim 32008).
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