Untitled - Widerspruch - Münchner Zeitschrift für Philosophie

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Widerspruch
Problem Bildung
„Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung“
Hegel
„We don’t need no education.
We don’t need no thought control“
Pink Floyd
Editorial
Thema
7
Was ist - „Bildung“ heute?
Oliver v. Criegern / Sibylle Weicker /
Alexander v. Pechmann
Drei Positionen zur bildungspolitischen Diskussion
9
Artikel
Ursula Reitemeyer
Bildung - ein Projekt ohne Aussicht?
24
Alexander von Pechmann
Philosophie - Erzieherin der Menschheit ?
34
Bücher zum Thema
38
Hartmut von Hentig: Kreativität.
Jadwiga Adamiak
4
Hartmut von Hentig: Bildung. Ein Essay.
Sibylle Weicker
39
Dieter Lenzen/ Niklas Luhmann (Hg.):
Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem.
Ignaz Knips
39
Eva Ruge: Sinndimensionen ästhetischer Erfahrung.
María Isabel Peña Aguado
46
Bericht
Jürgen Mittelstraß: Brauchen wir einen neuen
Bildungsbegriff? Ignaz Knips
51
Artikel
Clemens K. Stepina
Die Begriffe ‚Herrschaft‚ und ‚Knechtschaft‚ in den
Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von
Karl Marx
54
Rezensionen
Martin Schraven
Vom Siechtum der deutschen Philosophie
70
Manuel Knoll
Anmerkungen zum ‘Magister Philosophiae’
der philosophischen Institute in München
82
Aristoteles: Organon Band 1.
Georgios Karageorgoudis
90
Martin Bondeli: Der Kantianismus des jungen
Hegel. Alexander v. Pechmann
94
Norbert Brieskorn: Menschenrechte.
Wolfgang Habermeyer
96
Manfred Faßler: Was ist Kommunikation? Matthias
Groll
98
Geronimo: Glut und Asche.
Jonas Dörge Weidemann
100
Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen
Vernunft. Alexander v. Pechmann
103
Hans Joas: Die Entstehung der Werte.
Wolfgang Habermeyer
106
Ulrich Kohlmann: Dialektik der Moral.
Manuel Knoll
110
Rainer Rotermundt: Plädoyer für eine Erneuerung
der Geschichtsphilosophie. Reinhard Jellen
113
Nietzsche. Ausgewählt und vorgestellt von Rüdiger
Safranski. Konrad Lotter
117
John R. Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wolfgang Thorwart.
119
Annegret Stopczyk: Sophias Leib. Gesina Stärz
123
Berichte
Anhang
Trüffel, Schweine und Brainscanning Die Wirklichkeit des Konstruktivismus II.
Gesina Stärz
126
To enlarge the audience - Richard Rorty in
München. Alexander v. Pechmann
130
Philosoph kämpft um seine Wiedereinstellung
132
Berichtigung
133
Autoren
134
Impressum
135
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser.
Seit Beginn dieses Jahres erscheint die Zeitschrift wieder im WiderspruchVerlag. Unsere dreijährige Zusammenarbeit mit dem Attempto-Verlag ist
damit beendet. Wir benutzen diese Gelegenheit, bisherige Schwächen zu
beseitigen und unsere Stärken auszubauen. Noch mehr als bisher wollen wir
die Philosophiezeitschrift sein, in der und mit der professionelle Philosophen, Philosophiestudenten und Philosophieinteressierte schreiben und
kommunizieren. Deswegen werden einiges verändern.
Die bisherige Schwerpunktsetzung des Heftes bleibt zwar erhalten, doch
werden wir ihm nur noch drei Artikel und die Rezension wichtiger Bücher
zum Thema widmen. Um flexibler und vielseitiger auf aktuelle Themen und
interessante Veröffentlichungen und Beiträge eingehen zu können, werden
wir auch Beiträge veröffentlichen, die auf aktuelle Diskussionen Bezug
nehmen, oder die der Redaktion anderweitig als interessant und publikationswürdig erscheinen. Mehr als bisher wird die Redaktion auf die Straffung
und die gedankliche Zuspitzung der Beiträge achten.
Ein großer Mangel in der philosophischen Diskussion ist, daß die Rezensionen von Neuerscheinungen oft mehrere Jahre auf sich warten lassen. Dem
wollen wir entgegenwirken, indem wir unsere Rubrik „philosophische
Neuerscheinungen” wesentlich erweitern und die Rezensionen möglichst
aktuell erscheinen lassen. Die besprochenen Bücher sollen längstens ein Jahr
veröffentlicht sein. Im Laufe eines Jahres werden damit mindestens 40
Neuerscheinungen im Widerspruch rezensiert sein.
Des weiteren wollen wir den lokalen Bezug des Widerspruch wieder mehr
hervorheben. Es sollen Beiträge und Diskussionen aus der „Münchner
Philosophie“ veröffentlicht werden, die von lokalem und von allgemeinem
Interesse sind. Deshalb werden wir den Widerspruch in „Münchner Zeitschrift für Philosophie“ rückbenennen.
Wir streben an, die Erscheinungsweise der Hefte zu ändern. Nicht nur die
Bindung der Nummern an ein Schwerpunktthema, sondern auch der halbjährliche Turnus haben behindert, daß der Widerspruch zu einem lebendigen „Forum der Diskussion“ werden konnte. Die Replik auf einen Beitrag
ein halbes Jahr später und in einem anderen thematischen Kontext bildet
8
Editorial
keinen Diskussionszusammenhang. Wir werden uns daher bemühen, den
Widerspruch dreimal im Jahr erscheinen zu lassen.
Eine weitere Veränderung betrifft den Preis. 18.- DM für das Einzelheft
wurde von vielen möglichen Lesern, insbesondere Studierenden, nicht
akzeptiert, so daß der Absatz seit dieser Preiserhöhung rückläufig war. Wir
haben wir uns daher entschlossen, den Preis pro Einzelheft auf 12.- DM
(Abo: 11.- DM) herabzusetzen. Uns erscheint dieser ungewöhnliche Schritt
möglich, weil wir in Zukunft zur Herstellung ein preisgünstigeres Druckverfahren wählen und den Umfang der Hefte auf ca. 120 Seiten beschränken
werden. Gleichzeitig wenden wir uns an Interessierte, den Widerspruch als
einen aktuellen und auflagenstarken Anzeigenträger im Bereich der Philosophie zu nutzen.
Abschließend wenden wir uns mit einer Bitte an die Abonnenten und die
Leser des Widerspruch. Die neuen Kommunikationsmittel machen den
Austausch der Informationen leichter. Das Internet bietet uns eine weitere
Möglichkeit, das Widerspruch-Projekt in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Unter http://www.widerspruch.com haben wir eine - wie wir meinen, gelungene – Homepage eingerichtet, auf der wir auch die Planung der Themen
der künftigen Hefte mitteilen. Das Internet bietet aber umgekehrt auch die
Möglichkeit, per e-mail die Formen der Mitarbeit an der Zeitschrift zu erweitern. Wir laden daher unsere Leser ein, diese neuen Möglichkeiten zu
nutzen. Teilen Sie uns Ihre Kritik und Ihre Anregungen zu Themen und
Beiträgen für die künftigen Hefte unter unserer Adresse :info@widerspruch.
mit! Insbesondere sind wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns aus Ihrem Arbeitsgebiet auf relevante Neuerscheinungen in der Philosophie hinweisen.
Darüber hinaus ist die Redaktion an der Erweiterung des Kreises der Mitarbeiter interessiert. Falls Sie die Möglichkeit sehen, durch Artikel, Rezensionen oder Berichte zur inhaltlichen Gestaltung des Widerspruchs beizutragen, teilen Sie uns bitte ihre Bereitschaft mit. In diesem Fall senden wir
Ihnen gerne die Liste der Themen und der geplanten Buchbesprechungen
zu.
Die Redaktion
Was ist „Bildung“ heute?
Drei Positionen
zur bildungspolitischen Diskussion
Vorbemerkung
Die Zeit der bundesweiten Hochschulstreiks und Studentendemonstrationen ist vorbei. Im Rückblick ist leicht zu verstehen, was diese Unruhe
der Universitäten verursacht hat: die unzureichende finanziell-materielle
Ausstattung der Hochschulen, die fehlenden Perspektiven für viele Studenten am Arbeitsmarkt sowie die bildungspolitischen Pläne, den Bildungsbereich dem „Wirtschaftsstandort Deutschland“ anzupassen.
Die Gründe für das klanglose Ende dieses Protestes aufzufinden, ist weit
schwieriger. Sicher waren dafür die mangelnde Klarheit der Forderungen
auf Seiten der Protestierenden sowie die Unbeweglichkeit der Politiker
und Kultusbürokraten verantwortlich. Darüber hinaus zeigte der Protest
aber auch eine tiefe Verunsicherung darüber, was heute denn überhaupt
unter „Bildung“ zu verstehen sei. Es mag sein, daß diese Unsicherheit,
wie mancher Ex-Aktivist so beredt beklagt hat, aus der Theorielosigkeit
der heutigen Studierenden herrührt. Doch warum sollten die Studenten
klüger als die Gesellschaft sein? Wir meinen, daß die Verunsicherung
über das, was „Bildung“ heute heißt, kein bloß bildungs- und hochschulpolitisches Phänomen ist, sondern die geistig-politische Situation in
Deutschland betrifft. Das stille Scheitern der Hochschulbewegung weist
auf Grundsatzprobleme hin.
Von Seiten der „beobachtenden“ Sozialwissenschaften, insbesondere
von Niklas Luhmann, ist seit langem darauf verwiesen worden, daß in
das Bildungs- und Erziehungssystem im Grunde zwei verschiedene und
verschieden begründete Zielvorstellungen eingehen: die eine manifestiere
sich in einem Feld zielgerichtet qualifizierender Beeinflussungen, die andere in einem breiteren Feld der Persönlichkeitsentwicklung. Die auf Ausbildung gerichtete Erziehung, so Luhmann, sei eine Zumutung, die auf die
Persönlichkeit bezogene Bildung ein Angebot. Und ebenso ist von dieser
10
Zum Thema
Seite seit längerem angemahnt worden, daß diese beiden Ziele, Ausbildung und Bildung, in der Gefahr stehen, sich nicht mehr wechselseitig
vermitteln zu können, sondern sich gegenseitig zu behindern, und daß
dieser Zielkonflikt zur Krise und zum Stillstand des Bildungssystems
führen könne.1
Im folgenden nehmen wir diese Beschreibung des Bildungssystems zwar
auf, aber wir wollen dessen Krise nicht dadurch erklären, daß eine, die
beiden Ziele Bildung und Ausbildung vermittelnde Konzeption fehlt,
sondern daß sich in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion mehrere
Bildungskonzeptionen finden, deren Begründungen und Orientierungen
verschieden sind, und die ihre je eigene Tradition, Legitimität und Überzeugungskraft haben.
Hierbei nehmen wir Bezug auch auf Diskussionen in unserer Redaktion,
die uns gezeigt haben, daß die Frontstellungen nicht nach dem Muster
„Klarheit gegen Unklarheit“ verlaufen, sondern daß die jeweilige Position durchaus auf einem Wissen dessen gründet, was „Bildung“ sei. Diese,
nicht auf dem Mangel, sondern auf der Pluralität der Konzepte gegründete
Situation ist es, die unseres Erachtens die bildungspolitische Unsicherheit
und handlungslähmende Orientierungslosigkeit erzeugt.
Die folgenden drei Beiträge stellen, gleichsam idealtypisch, drei Konzeptionen von „Bildung“ vor. Der erste ist ein Plädoyer für die Bildung als
Selbstzweck; der anschließende Beitrag begreift die Bildungs- und Ausbildungsprozesse als Mittel, die der Emanzipation des Menschen dienen; und
der dritte schließlich bringt Argumente, Bildung als eine pragmatische Veranstaltung zu verstehen. Da die Artikel nicht nur inhaltlich, sondern auch
der argumentativen Form nach mehr oder weniger die Auffassung und
Überzeugung der Autoren zum Ausdruck bringen, haben wir darauf
verzichtet, sie einander methodisch „anzugleichen“.
Siehe: Dieter Lenzen/Niklas Luhmann (Hg.), Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem, Frankfurt/Main 1997; sowie die Rezension von I. Knips in diesem
Heft.
1
Oliver von Criegern
Menschenbildung
Die Frage nach dem Wesen des Menschen, seinem Werte und dem Sinn
und Zweck seines Daseins beschäftigte die Philosophie seit der Antike.
Eine jede Anthropologie, die auf solche Fragen Antworten zu geben
versucht, definiert notwendig allgemeine Wesenseigenschaften des Menschen, die von der Empirie weitgehend unabhängig sind: etwa eine Würde, die jedem Menschen naturgemäß zukommt, unabhängig von seinem
wie auch immer würdelosen Verhalten, den Zweck seines Strebens, mag
er auch, dem Augenscheine nach, etwas ganz anderes erstreben, und das,
was ihm not tut, auch wenn er selbst von dieser Not nie etwas geahnt
hat. Über die Befindlichkeit des Menschen wird etwas empirisch nicht
nachweisbares ausgesagt, und eben dadurch wird eine Deutung der empirisch vorfindlichen Menschen und ihres Verhältnisses zur Welt möglich. Dieses Schema, welches sich nicht nur von der „Höhle“ Platons bis
zum „falschen Bewußtsein“ der Frankfurter Schule durch die Philosophiegeschichte zieht, sondern auch unserer Verfassung und all unseren
Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten zu Grunde
liegt, ist, bei all seiner Fragwürdigkeit, unausweichlich für jeden Versuch,
das angemessene Verhalten des Menschen wie auch dem Menschen
gegenüber verbindlich und im Allgemeinen zu bestimmen. Eine solche
Bestimmung aber kann auch dem Staate nicht gleichgültig sein, wofern er
sich nicht als Selbtzweck versteht, sondern als eine Einrichtung um des
Menschen willen, die dem Menschen gerecht werden soll.
Der Begriff der Bildung in seiner emphatischen, idealistisch geprägten
Form versteht so den Menschen als ein vernünftiges und freies Wesen;
doch diese Vernunft und diese Freiheit sind nicht eine ohne Weiteres
gegebene Tatsache, sondern etwas, was günstiger Umstände zu seiner
Entfaltung bedarf. Dieser Begriff des Menschen setzt sich selbst in einen
Gegensatz zur vorfindlichen Wirklichkeit; doch er wird durch diesen
Gegensatz nicht widerlegt, sondern gewinnt daraus die Kraft, die Wirk-
12
Zum Thema
lichkeit zu verändern: eben dadurch erweist er sich als normativ. Die
Veranlagung des Menschen zur Vernunft gebietet, sie herauszubilden.
Wegen der Vernunft ist der Mensch Zweck seiner selbst und zur Freiheit
bestimmt, und nur durch vernunftgeleitetes Handeln kann er diese Freiheit erreichen. Nicht nur muß er, um mit sich selbst als Vernunftwesen
übereinzustimmen, seine verschiedenen Neigungen, Auffassungen, die
disparaten Züge seines Charakters etc. zu einer organischen Ganzheit
vereinigen, sondern auch um in Übereinstimmung mit sich selbst handeln zu können, die Welt als eine Einheit begreifen, in der alles Einzelne
in einem Verhältnis zum Ganzen steht, und sich selbst darin wiederfinden , um sich in freier Einsicht zu seinen Handlungen zu bestimmen.
Freie Selbstbestimmung kann sich weder in Ignoranz gegenüber der
Wirklichkeit vollziehen, gleichsam in einem absoluten Jenseits, noch auf
die Ritzen und Winkel sich beschränken, die von den Notwendigkeiten
des Lebens noch nicht verstellt sind (gemäß dem Worte, frei sein heiße,
nicht an der Leine zu zerren), sondern ihr Raum ist die gesamte Wirklichkeit, in der wir handeln. Diese Wirklichkeit freilich kennen wir am
Anfang noch genau so wenig, als uns selbst; so muß mit der Entwicklung
der Fähigkeiten, die um des Handelns willen erworben werden, die Weltund Selbsterkenntnis einhergehen und schritthalten, durch die allein die
freie Entscheidung für eine Handlung möglich ist.
Diese Entfaltung des menschlichen Wesens als einer organischen Einheit
konnte, nach Humboldts Überzeugung, durch Zwang und Beschränkung
nur behindert werden, selbst durch einen Zwang, der pädagogische Ziele
verfolgt. Die Bildung sollte ganz der Spontaneität des sich bildenden
Menschen überlassen bleiben, welche der Staat nicht beeinflussen, sondern ihr lediglich den Raum schaffen sollte, in dem sie möglich ist. Nicht
allein konnte dieses Bildungsprojekt öffentlich die Selbstzweckhaftigkeit
für sich in Anspruch nehmen, die man dem Menschen zusprach, sondern es setzte auch voraus, daß der Mensch naturgemäß in sich den
Trieb zur Bildung hat, daß er danach strebt, besser, vollkommener und
ganz er selbst zu werden, und daß, wer sich selbst hat bilden können,
notwendig auch die Gesellschaft und die Menschheit bereichern werde.
Doch bereits Nietzsche stellte fest, wie wenig sich diese hohen Ansprüche und Verheißungen erfüllt hatten. Die Bildung, auf die seine Zeit sich
Bildung
13
so viel zu Gute hielt, sei zu einem bloßen Wissen um die Bildung verkommen, die „Innerlichkeit“ der Gebildeten stehe in eklatantem Gegensatz zur Barbarei ihres wirklichen Lebens. Wo das Wissen um das, was
einmal war, die Geschichte, die der Mensch deutend sich aneignet, ihn
fähig machen sollte, die Gegenwart zu beurteilen und in ihr zu leben,
ohne sich ihr zu unterwerfen und anzugleichen, neutralisiert das in großen Mengen ohne Bedürfnis angelernte Wissen seinen Gegenstand zum
toten, bedeutungslosen Faktum. An Stelle der Utopie, dessen, was sein
könnte, tritt die nackte Banalität dessen, was ist, und eben weil es ist,
auch so sein muß, wie es ist. Die Unfähigkeit des Verbildeten, seine Welt
zu deuten führt so zur Resignation jedes Anspruches des Lebens gegenüber der Realität, oder zu deren verzweifelt optimistischer Affirmation,
dem „Götzendienst des Tatsächlichen“ (Nietzsche). Bildung, nicht länger fähig, auf ein allumfassendes Ganzes zu verweisen, auf dessen Hintergrund die Wirklichkeit zu verstehen wäre, wird zum Instrumentarium,
all das in die immer schon vorgegebene Wirklichkeit zu integrieren, was
einmal den Blick und das Streben darüber hinaus hätte ermöglichen
können, zu einem diabolischen Integrationsapparat, der allem und jedem
den Anspruch und die Kraft, den Menschen, sein Leben und die Welt zu
verändern, also eben Anspruch und Kraft der Bildung, vernichtet. Was
einmal ihr Anliegen war, wird in die Sphäre des Unseriösen verbannt:
Ein „bewußtes Leben“ beschränkt sich heute oft auf den Verzehr von
Naturkost, „Selbstverwirklichung“ auf die Töpferwerkstatt im Keller.
Daher vermag auch die so gescheiterte Bildung ihren Anspruch auf
Selbstzweckhaftigkeit öffentlich nicht aufrecht zu erhalten, und die, dem
Anspruch von Bildung im Grunde so fremde, Frage nach deren Zweckmäßigkeit behält ihr Recht.
Indem aber Bildung, zur Selbsterhaltung, sich äußeren Zwecken verschreibt, besiegelt sie ihre Abschaffung. Der Begriff, dessen Unerfülltheit
ihn zu einem utopischen und schließlich auch durch kein Menschenbild
mehr gerechtfertigten hat werden lassen, bestimmt sich neu im Sinne des
Sozialdarwinismus, als der wahren Anthropologie unserer Zeit. Die
Funktion der Bildung ist danach, den Menschen fähig zu machen, sich
im Kampf um das Dasein, und das heißt vor allem, im Berufsleben, zu
behaupten und voranzubringen. Andere Funktionen, wie die der Ver-
14
Zum Thema
mittlung von Werten, die man der Bildung oft noch zuschreibt, zur
Stabilisierung des Staates und weil man einen neuen Faschismus gerne
vermeiden möchte, bleiben vollkommen wirkungslos. Werte kann man
nicht vermitteln, dazu sind wir heute alle zu aufgeklärt, um nicht die
pädagogische Verlogenheit all solcher Wertvermittlung intuitiv zu durchschauen; doch Werte vermitteln sich selbst, wo ihnen objektive Kraft
und Bedeutung zukommt. Man darf sich nicht darüber täuschen, welche
Werte heute solch eine Bedeutung haben: gerade die Bildungsdebatte
zeigt, daß diejenigen Unterschiede zwischen den Menschen, auf die es
auch bildungspolitisch mehr und mehr ankommt, nach darwinistischen
Kriterien bemessen werden, nach eben jener Lebenstüchtigkeit, die so
wohl als Inbegriff dessen gilt, wozu ein Mensch sich zu bilden hat, als sie
auch staatlich, als Standortsicherung, das unbedingt Notwendige ist, dem
sich alles andere zu fügen hat.
Wo aber das philosophische Denken sich des Abgrundes seiner faktischen Belanglosigkeit bewußt geworden ist, wird es möglich, daß der
Bildungsgedanke aufhört, Bildungsgut zu sein, und zur lebendigen Hoffnung wird, es könne Vernunft doch in irgend einer Weise gerechtfertigt
sein. An ihm wäre es, diese Hoffnung in einem Bildungsbegriff aufrecht
zu erhalten, der sich, im vollen Bewußtsein seiner Unwirklichkeit, noch
nicht den Möglichkeiten seiner Verwirklichung geopfert hat.
Bildung
Sibylle Weicker
15
Eine bessere Gesellschaft durch
Bildung
In der Zeit nach dem Faschismus dominierte in Deutschland zunächst
die geisteswissenschaftliche Pädagogik (Nohl, Spranger, Flitner, Litt,
Weniger), in der die Bildung zum zentralen Begriff erhoben wurde und
das Problem des Erhalts und der Tradierung von Bildungsgütern, gehalten und -werten im Mittelpunkt der Erziehung stand. Hier diente
Bildung vor allem der Erhaltung der Kultur und wies über das Bestehende nicht hinaus. So sah die Pädagogik ihre Hauptaufgabe darin, die Form
und den Geist der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung auf zukünftige
Generationen weiterzutragen.
In den 60er Jahren wurde allerdings der Gegensatz zwischen den Intentionen des Grundgesetzes, den demokratischen und individuellen Rechten, und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die noch weitgehend autoritär und hierarchisch strukturiert war, immer deutlicher und führte
schließlich zur außerparlamentarischen Opposition und den Studentenprotesten, die für die grundlegende Neuorientierung der Bildungsinhalte
und des Bildungssystems mitbestimmend wurden. Das zunächst von der
„Frankfurter Schule“ (Adorno, Habermas) artikulierte und geschärfte
Bewußtsein für die fremdbestimmenden Mechanismen einer Gesellschaft, die nur dem Namen nach als „Demokratie“ bezeichnet werden
konnte, deren Strukturen jedoch mit diesem Anspruch nicht übereinstimmten, war in der deutschen Nachkriegszeit zum Auslöser einer „emanzipatorischen“ Bildungskonzeption, deren oberste Ziele mit den
Begriffen „Selbstbestimmung“ bzw. „Mündigkeit“ und „Chancengleichheit“ beschrieben werden können.
Hauptanliegen emanzipatorischer Bildung ist das Herausführen des Individuums aus dem Zustand der Unmündigkeit in Richtung auf mehr
Freiheit. Fremdbestimmende Mechanismen, die den Einzelnen daran
hindern, seine Rechte und unverfälschten Interessen wahrzunehmen,
sollen transparent gemacht und durch die Änderung der sie verursa-
16
Zum Thema
chenden gesellschaftlichen Verhältnisse abgebaut werden. „Ein derart
emanzipatorischer Begriff von Erziehung“, schrieb der Pädagoge K.
Mollenhauer 1971, „ist ... im Sinne des gegebenen sozialen Systems disfunktional. Er markiert einen gesellschaftlichen Konflikt. Der Pädagogik
als Praxis wie als Theorie 'fällt' die Aufgabe zu, in der heranwachsenden
Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderungen hervorzubringen.“1 Alle gesellschaftlichen Strukturen müssen der Kritik unterzogen werden; kritisches Bewußtsein und Ich-Stärke sind wesentliche Bestandteile emanzipatorischer Bildung. Das Ziel einer derartigen Bildungskonzeption ist die permanente Auseinandersetzung mit der
Gesellschaft, um im Rückgriff auf das demokratische Regelsystem eine
fortschreitende Demokratisierung zu erreichen, die die Widersprüche
zwischen der Verfassung und der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufzuheben bzw. zu verringern vermag.
Zwar ist das Wort „Emanzipation“ im Zusammenhang mit Bildung
relativ neuen Ursprungs, - die Grundgedanken dieser Konzeption reichen jedoch direkt auf die Ideen der Aufklärung und die Ideale der französischen Revolution zurück. So formulierte Kant 1784, prägnant und
klar im Hinblick auf die Selbstbestimmung des Denkens: „Aufklärung ist
der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne
Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung
eines anderen zu bedienen.“2 - Ebenso deutlich erkennt man die politische Dimension einer Erziehung zur Mündigkeit, die aus dem Plan zur
Reorganisation der französischen Schulen hervorging, der vom Marquis
de Condorcet 1792 der Nationalversammlung in Paris vorgelegt wurde:
„jedem die Möglichkeit zu sichern, ... sich für gesellschaftliche Funktionen vorzubereiten, zu diesen berufen zu werden er berechtigt ist, den
ganzen Umfang seiner Talente, die er von der Natur empfangen hat, zu
entfalten und dadurch unter den Bürgern eine tatsächliche Gleichheit
herzustellen und die politische Gleichheit, die das Gesetz als berechtigt
1
2
K. Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation, München 1971, S. 67.
I. Kant, Was ist Aufklärung? Gesammelte Werke Bd. VIII, Berlin 1968, S. 35.
Bildung
17
anerkannt hat, zu einer wirklichen zu machen: dies muß das erste Ziel
eines nationalen Unterrichtswesens sein.“3
So sind es denn die Forderungen der bürgerlichen Revolution von 1789
nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, die die Vertreter einer emanzipatorischen Bildungskonzeption antreibt, um die noch „unvollendete
Moderne“ zu vollenden. Alle Mitglieder einer Gesellschaft sollen gleichermaßen an den Errungenschaften der Moderne teilhaben. Bildung
wird dabei als das Hauptmittel angesehen, das die Menschen dazu befähigt, sowohl frei und selbstbestimmt zu handeln wie auch die Mechanismen zu erkennen, die dies verhindern und zu ihrer Beseitigung beizutragen. Bildung als Selbstzweck des Einzelnen zur Vervollkomnung
seiner selbst wird damit aufgegeben zugunsten einer politischen Konzeption von Bildung, die im Dienste einer Verbesserung und Veränderung
der Gesellschaft im Hinblick auf mehr Freiheit insbesondere für die
Unterprivilegierten und Schwachen steht.
Wie sehr diese Konzeption der bildungspolitische common sense in der
Bundesrepublik war, zeigt der Bildungsplan der Bundesregierung 1970:
„Der Verfassungsgrundsatz der Chancengleichheit muß durch eine intensive und individuelle Förderung aller Lernenden in allen Stufen des
Bildungssystems verwirklicht werden. Bildung soll den Menschen befähigen, sein Leben selbst zu gestalten. Sie soll durch Lernen und Erleben
demokratischer Werte eine dauerhafte Grundlage für freiheitliches Zusammenleben schaffen und Freude an selbständig-schöpferischer Arbeit
wecken.“4 Die Bundesregierung reagierte mit diesen Forderungen auf
statistische Untersuchungen, die gezeigt hatten, daß große Gruppen der
Bevölkerung lediglich auf der untersten Stufe des Bildungssystems zu
finden waren. Besonders Mädchen und Arbeiter waren in mittleren und
höheren Ausbildungsgängen unterrepräsentiert. Auch das Gefälle von
Stadt- und Landkindern zeigte große Unterschiede hinsichtlich ihres
Marquis de Condorcet, Bericht und Entwurf einer Verordnung über die allgemeine
Organisation des öffentlichen Schulwesens, Weinheim 1966, S.20.
4 Bildungsbericht '70. Bericht der Bundesregierung zur Bildungspoltik, Bonn 1970,
S.9.
3
18
Zum Thema
Bildungsgrades auf.5 Diese Tatsachen standen in Widerspruch zu den
Grundgesetzartikeln 2 und 3, nach denen jeder das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat und niemand wegen seines Geschlechts,
seiner Herkunft oder seines Glaubens benachteiligt werden darf.
Um Demokratie und Selbstbestimmung im Sinne einer emanzipatorischen
Bildung einüben zu können, sollte das Bildungssystem von überkommenen
Abhängigkeiten und autoritären Strukturen befreit werden. So wurde insbesondere in den Schulen und Hochschulen ein repressionsarmer Freiraum
geschaffen, in dem im „herrschaftsfreien Diskurs“ auf argumentativem
Wege in Konfliktsituationen ein Konsens hergestellt werden sollte. Dennoch gelang es selbst im schulischen Bereich nicht, auf Sanktionen und
Regulierungen gänzlich zu verzichten.
Im Rückblick läßt sich feststellen, daß sowohl hinsichtlich des Abbaus
von Ungleichheiten wie auch bei der Einführung und Einübung demokratischer und selbstbestimmter Verhaltenweisen zumindest Teilerfolge
erreicht worden sind. So haben Mädchen auf allen Gebieten ihre Unterrepräsentation im Bildungssystem aufgeholt; Arbeiterkindern ist dies
nicht im selben Ausmaß gelungen. Autoritäre Stukturen in den Schulen
sind weitgehend verschwunden: Lehrer und Schüler haben meist einen
verständnisvollen Umgang miteinander.
Die Hoffnung der Initiatoren des emanzipatorischen Bildungskonzeptes,
eine Veränderung der gesamten Gesellschaft durch eine Veränderung im
Bildungssystem zu erreichen, hat sich jedoch bisher nicht erfüllt. Zwar
forderten radikale Vertreter von Anfang an, eine emanzipatorische Erziehung müsse im aktiven Kampf gegen die spätkapitalistischen Produktionsverhältnisse und die daraus resultierenden fremdbestimmenden
Mechanismen münden.6 Aus ihnen spricht das deutliche Bewußtsein
über die enge Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Bildung in der
Gesellschaft. Dennoch wurde auch von ihnen nicht hinreichend klar
Vgl. S. Grimm, Soziologie der Bildung und Erziehung, München 1987; bes. S.1724.
6 Vertreter dieser Richtung verwendeten bewußt den Terminus „Erziehung“ statt
„Bildung“, da es ihnen nicht um die Entwicklung von Individuen zu tun war, wie in
der bürgerlichen Pädagogik „Bildung“ stets verstanden worden ist, sondern um eine
Veränderung der Gesellschaft. Vgl J. Beck u.a., Erziehung in der Klassengesellschaft,
München 1971; bes. A. Pressel, Sozialisation, S.136-150.
5
Bildung
19
gesehen, wie bestimmend die wirtschaftlichen Entwicklungen für die
anderen Bereiche sind. Bereits die erste Wirtschaftskrise am Anfang der
70er Jahre machte die meisten Hoffnungen der Bildungstheoretiker zunichte. So wurde in keinem Bundesland die Gesamtschule als einzig
verbindliche Schulart durchgesetzt, obwohl alle Beteiligten sich gerade
aus der Abschaffung des dreigiedrigen Schulsystems den größten Effekt
im Hinblick auf mehr Gleichheit erhofft hatten.
Es verwundert daher nicht, wenn diese Konzeption schon sehr bald in
ihrer Radikalität eingeschränkt wurde. Zwar ist „Selbstbestimmung“ als
Zweck menschlicher Lebensführung nicht aufgegeben worden, ja reüssierte zum allgemeinen Zweck menschlicher Bildung überhaupt.7 Doch
Bildung wird nur auf das Individuum bezogen: „bilden ist sich bilden“8.
Sie wird (wieder) lediglich als subjektive Aneignung von Mündigkeit,
Kritikfähigkeit und Selbstbestimmung verstanden. Die objektive Seite
der Emanzipation als politischer Kampf gegen alle unnötigen und unmenschlichen Formen von Herrschaft hingegen wird in das Belieben des
Einzelnen gestellt.
Heute, im Zeitalter von Globalisierung und einem Kapitalismus, der nicht
mehr durch die Systemalternative in Schranken gehalten wird, sieht es so
aus, als gerieten die Vorstellungen emanzipatorischer Bildung gegenüber
den Argumenten der Wettbewerbs- und Standortorientierung unserer
Bildungspolitiker ins Hintertreffen. Als die unmittelbar Betroffenen wissen
Studenten, Schüler und Lehrer, wie der Hochschulstreik gezeigt hat, am
ehesten, daß auf die Forderung nach einer emanzipatorischen Bildung
nicht verzichtet werden kann, wenn das, was „Bildung“ heißt, nicht völlig
unter die Räder einer ausschließlich am Wettbewerb und der Profitmaximierung orientierten kapitalistischen Ordnung geraten soll. Um dies zu
verhindern, halten sie an diesen alten und neuen Forderungen fest, wenn
sie Parolen wie „Recht auf Bildung“ und „Bildung für alle“ auf ihre Transparente schreiben.
Vgl. W. Klafki, Die Bedeutung der klassischen Bildungstheorien für ein zeitgemäßes
Konzept allgemeiner Bildung, in: Zeitschrift für Pädagogik 1986/4.
8 H. Hentig, Bildung. Ein Essay, München/Wien 1996, S.39.
7
Alexander von
Pechmann
Bildung als Ausbildung
Die dritte Konzeption hat in der bildungstheoretischen Diskussion argumentativ den schwierigsten Stand. Denn ihr fällt es schwer, der Kritik
zu entgegnen, Bildung technokratisch und bloß zweckrational als Anpassungsleistung der Individuen an die bestehenden Machtverhältnisse zu
verstehen. Statt das autonom handelnde Individuum und den mündigen
Bürger als Bildungsziel anzunehmen, gelte hier, so die Kritik, als Ziel
gelungener Ausbildung die Eingliederung in das bestehende System –
und damit die Unterordnung des Subjekts unter die gegebenen Machtund Herrschaftsverhältnisse. Und in der Tat entsprechen die Worte und
die Taten vieler so genannter „Bildungsreformer“ weitgehend dieser
Kritik.
Gräbt man jedoch tiefer, so verbirgt sich hinter dieser Praxis ein durchaus eigenständiges Bildungskonzept, das den Bereich der Ausbildung mit
der Forderung nach Bildung in spezifischer Weise vereinigt. Das Anstößige dieses Konzepts scheint es jedoch zu sein, daß es an keinem transzendenten oder transzendierenden Begriff vom „Wesen des Menschen“
als dem Maßstab oder Endzweck von Bildung festhält, daß es also antimetaphysisch in dem Sinne ist, daß es sich weigert, für das Bildungssystem irgendeine Art von Letztbegründung zu geben.
Die wohl größte Zumutung, die dieses Konzept speziell für die deutsche
bildungstheoretische Diskussion enthält, ist, daß es nicht von einem, wie
auch immer gefaßten, Ideal des Menschen als Bildungsziel ausgeht, an
dem der gegenwärtige Zustand zu bemessen wäre, sondern daß es vielmehr umgekehrt das, was man die „gegenwärtigen Verhältnisse“ nennt,
in seinem Kern anerkennt und gutheißt. Es nimmt daher nicht wunder,
daß diese Überzeugung von der „Sittlichkeit“ des Bestehenden am meisten in der amerikanischen Demokratie - besser: im Bewußtsein des Amerikaners von seinem Land als „God’s own country“ - verwurzelt ist und
Bildung
21
sie diesem Bewußtsein entspringt, - und daß dieser Überzeugung die
Empörung der deutschen Bildungsseele entspricht.1
Und in der Tat läßt sich allein auf dieser Basis der Akzeptanz der gegenwärtigen Verhältnisse plausibel machen, daß der Erwerb fachlicher
Kompetenz in den Ausbildungsinstitutionen nicht in die Entmündigung
und Entsubjektivierung des Subjekts führt, sondern daß im Gegenteil
dieser Erwerb zugleich die Ausbildung zum selbstbewußten und handlungsfähigen Ich befördert. Konkret heißt das, daß nach dieser Auffassung die Ausbildung im Rahmen der gegenwärtigen Strukturen des sozialen Wettbewerbs und der dadurch bewirkten Erfolgsorientierung nicht das Sein
des Menschen behindert, sondern daß der Einzelne vielmehr durch und
mittels dieser Strukturen zum handlungsfähigen Teilhaber und Teilnehmer an den Belangen der Gesellschaft wird.
Ohne allzu tief in den philosophischen und soziologischen Grundlegungen dieses Bildungsmodells zu schürfen, sei nur darauf verwiesen, daß
die es tragende Philosophie auf einen letztgültigen Wahrheitsbegriff zwar
verzichtet, daß sie aber doch auf einen Begriff von Wahrheit rekurriert,
der die Lerninhalte, die Begriffe und Theorien, der praktischen Erfolgskontrolle unterwirft, und sie daher den Erwerb von kognitiver Kompetenz im Studium als Instrument zur praktischen Lösung von Problemen
versteht. Wissenschaftliche Theorien gelten nicht als gültige Einsichten
in die Beschaffenheit des Gegenstandes, sondern werden instrumentalistisch als intellektuelle Werkzeuge verstanden, die künftiges Handeln ermöglichen. Im Rahmen dieses Modells steht also der Erwerb epistemischer
Kompetenz nicht im Gegensatz zu einem bloß verfahrenstechnischen
Wissen; Bildung ist eo ipso Ausbildung zu praktischer Kompetenz.2
Im Bereich der Philosophie hat diese Überzeugung am pointiertesten der amerikanische Philosoph Richard Rorty in seinem Aufsatz: Der Vorrang der Demokratie vor der
Philosophie artikuliert (In: Forum für Philosophie (Hg), Zerstörung des moralischen
Selbstbewußtseins: Chance oder Gefährdung?, Frankfurt/Main 1988, S.273-289). –
Zur Kritik siehe K.O. Apel, Zurück zur Normalität? (In: ebd., S. 91-142); auch J.
Habermas, Rortys pragmatische Wende. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie
5/1996, S.715-741.
2 Zum Verständnis der erkenntnis- und wahrheitstheoretischen Grundlagen seien
hier nur die „klassischen Schriften“ angeführt: W. James,, Was ist Pragmatismus? Mit
einer Vorbemerkung von R.-P. Horstmann, Weinheim 1994; J. Dewey, Democracy
and Education, 1916 (dt. Demokratie und Erziehung, 1930).
1
22
Zum Thema
In soziologischer Hinsicht geht dieses Modell davon aus, daß zwischen
dem Erwerb einer sozialen und damit systembedingten Rolle und der
Entwicklung der Persönlichkeit kein Gegensatz besteht. Die beiden Pole,
die der Soziologe G.H. Mead das objektive „me“ als Produkt der Umwelt und Erziehung und das subjektive „I“ als das handelnde und gestaltende Selbst genannt hat, werden dialogisch als die beiden Seiten der
einen Medaille betrachtet, so daß das selbstbewußte „I“ sich nicht ohne
das lernende „me“ bilden kann, und das aktiv-handelnde „I“ das sich
auszubildende „me“ befördert.3
Wie dem im Einzelnen auch sei – argumentativ gründet das Unterlaufen
des Gegensatzes von Bildung und Ausbildung in diesem Modell auf dem
grundlegenden Vertrauen der Bildungssubjekte in das System. Auf der
Basis dieses Vertrauens bedeutet die Eingliederung in die arbeitsteilige
und kompetitive Welt der Berufe für den einzelnen keinen Verzicht auf
Individualität und Subjektivität, sondern befördert umgekehrt deren
Ausbildung. Wenn daher heute die Bestrebungen sich verstärken, auch in
die bundesdeutschen Universitäten Muster der gegenseitigen Evaluation
zu implantieren, und allgemein die gesellschaftlichen Regeln des Wettbewerbs auch hier Platz greifen sollen, so entsprechen diese Bestrebungen einem Verständnis der Bildungsinstitutionen, das diese weder als
eine autonome Veranstaltung zur Bewahrung und zur Pflege des Gutes
„Bildung“ noch als eine ethisch-politisch motivierte Stätte der Egalität
begreift, sondern als eine Einrichtungen, die den einzelnen zur kompetenten und selbstbewußten Lösung von Problemen befähigen soll.
Solche pragmatistischen Tendenzen entsprechen zweifellos einer „Amerikanisierung“ unseres Bildungssystems, die zugleich auf die Ablösung
Zur soziologischen Grundlegung siehe insbesondere G.H. Mead, Geist, Identität
und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/Main 1973. - Mit
Recht ist auf die Parallelität von Meads Dialogik von „I“ und „me“ und Hegels
Darstellung des dialektischen Prozesses von subjektivem und objektivem Geist
hingewiesen worden. Bei aller methodischen und begrifflichen Differenz liegt beiden
Modellen etwas zugrunde, was Hegel die „Sittlichkeit“ nennt, und was sich – gegen
den Kantischen Dualismus von moralischem Sollen und natürlichem Sein - als eine
Art ursprünglichen Glaubens in die Vernünftigkeit der Verhältnisse interpretieren
läßt. Vgl. dazu: E. Meinberg, Das Menschenbild in der modernen Erziehungswissenschaft, Darmstadt 1988, S.131 ff. Auch A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur
moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/Main 1994.
3
Bildung
23
spezifisch „deutscher“ Bildungstraditionen drängen. Mit Grauen hätten
sich damals gleichermaßen Adorno und Heidegger, der progressive wie
der konservative Bildungstheoretiker, von diesem Verständnis von Bildung abgewandt. Daß dies heute nicht mehr durchgängig so ist, weist auf
eine Verschiebung und auf eine starke Verunsicherung darüber hin, was
heute „Bildung“ heißt.
Ursula Reitemeyer
Bildung - ein Projekt ohne
Aussicht?
Die von Adorno 1959 vorgelegte „Theorie der Halbbildung“1 markiert
einen Einschnitt innerhalb der bildungstheoretischen Diskussion, weil
das Projekt Bildung seitdem nicht nur in noch weitere Ferne gerückt,
sondern infolge uneingelöster Geltungsansprüche gestaltlos geworden
ist. Bildung, sowohl individual- als auch menschheitsgeschichtlich betrachtet, existiert nur noch anonym, ist namenlos geworden. Ihr rein
plakativer Wert entspricht der warenfetischisierten Scheinexistenz des
Individuums in der pluralisierten bürgerlichen Gesellschaft. Zwar konnten die Studenten- und Jugendbewegungen der sechziger und siebziger
Jahre den öffentlichen Diskurs um Bildungsinhalte und die damit zusammenhängenden Erziehungsmethoden neu entfachen, was aber - trotz
der sogenannten „Bildungsreform“ - grundsätzlich nichts daran änderte,
daß Bildung ihres prospektiven menschheitsgeschichtlichen Charakters
endgültig beraubt worden war. Gibt es Bildung nur als Ganzes, - und ist
das Ganze die Menschheit, durch deren Gesamtpraxis sie sich geschichtlich manifestiert und praktisch fortschriebe, - dann zerfällt Bildung im
gleichen Augenblick, in dem Menschheit als einziger Ort vergangener,
gegenwärtiger und zukünftiger Geschichte substanzlos geworden ist.
Kann die Idee der Bildung nicht mehr formuliert werden, weil das Subjekt, die Menschheit als Ganzes nicht mehr existiert, nurmehr zersetzt in
Klassen, Nationen und fraktionelle Interessengruppen, hat dies unumgängliche Konsequenzen für den Prozeß, in dem die Idee sich bildungsgeschichtlich zu entfalten hätte: der Prozeß ist stillgestellt, Bildung geschieht nicht mehr. Ebenso wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
zu einem statischen Augenblick zusammenschmelzen, die Welt gewissermaßen in einer geschichtslosen, naturwüchsigen Unmittelbarkeit untertaucht, ebenso verschwindet Bildung im ungeschichtlichen Hier und
Th. W. Adorno: Theorie der Halbbildung, in Gesammelte Werke, Bd. 8, Frankfurt
1972, p 93-121
1
Bildung - ein Projekt ohne Aussicht?
25
Jetzt, das ohne Geist, oder wie Hegel sagt, ohne dies „Werden seiner
selbst“2 existiert. Weil der Prozeß der Bildung nicht von ihrer Idee abgelöst werden kann, bzw. weil ohne die Idee eines in der menschheitsgeschichtlichen Praxis zu sich selbst kommenden Geistes keine Bildung
geschehen kann, ist der Bildungsprozeß nicht bloß vorübergehend stillgestellt, als ließe sich seine innere Dialektik durch einen äußeren aufklärenden Anstoß wieder ankurbeln. Sowie der faktische Lauf der Geschichte aufhört, von Geist durchdrungen zu sein, kein zweckmäßiger
Plan der Menschheitsgeschichte mehr zugrunde liegt, der in mühevoller
Arbeit der Natur abgerungen wurde, hört die Menschheitsgeschichte
selbst auf und zerfällt in Zufälligkeiten und Augenblicke, die beliebig
aneinandergereiht werden können. Zurückgestoßen in eine geschichtslose Naturwüchsigkeit, die mehr vom Fetisch als von der Ware selbst regiert wird, bedarf der Mensch keiner Bildung, um sich durchs Dickicht
der unmittelbaren Gegenwart zu schlagen. Technisches Wissen und
instrumentelle Vernunft reichen aus, die Gegenwart praktisch-existentiell
zu bewältigen, sowohl als Herrschender wie auch als Beherrschter.
Dem sogenannten postmodernen Bewußtsein zerläuft die Geschichte
zum Immergleichen, in dem es sich aktuell zurechtfinden muß. Darin
unterscheidet es sich nicht von dem allgemeinen, unaufgeklärten Bewußtsein aller vergangenen Epochen, das damals wie heute ohne Metaphysik auskommt. Bildung dagegen, begriffen als Geschichtlichwerden
des objektiven Geistes, oder in Anlehnung an Kant, als Annäherungsprozeß an die Idee der Menschheit3, steht, von den Bedingungen
ihrer Möglichkeit her betrachtet, auf dem Boden metaphysischer Voraussetzungen, die, wenn auch noch so offen und unbestimmt gedacht wie
im Prinzip der perfectibilité bei Rousseau4, metaphysisch in dem Sinne
G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3,
Frankfurt 1969-71, p 365
3 I. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784),
in: Kants gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der
Wissenschaften (1902-1923), Bd. VIII
4 J.J. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1754), in: Schriften, hrsg. v. H. Ritter, Frankfurt 1988,
Band I. Vgl. in diesem Zusammenhang auch U. Reitemeyer: Perfektibilität gegen
2
26
Ursula Reitemeyer
sind, als die bildungsgeschichtliche Entfaltung der menschlichen Natur
zweckmäßig veranschlagt wird, so daß sie als Bildungsgeschichte des
Geistes erscheint. Die nur metaphysisch zu begründende Zweckmäßigkeit der Natur leitet sich in die der Zweckmäßigkeit entsprechende Idee
der Bildung weiter, welche im gleichen Augenblick zerbricht, in dem die
positiven Wissenschaften das Telos der Natur außer Kraft setzen. Der
postmoderne Standpunkt unterscheidet sich vom kritischen dadurch,
daß er vor dem Hintergrund des unermeßlichen Tatsachenwissens alle
Metaphysik von den Fakten überrollt sieht, während das kritische Denken noch in der maßlosen Anhäufung positiven Wissens einen sich selbst
nicht durchschauenden metaphysischen Schwindel erkennt, der an die
Stelle der zweckmäßig angeordneten Natur die zweckmäßige Anordnung
des Wissens setzt. Ungeachtet der zunehmenden Wissensvermehrung
und des explodierenden Fortschritts steht hinter der Negation des metaphysischen Gesamtzusammenhangs der Menschheit oder eines planvollen Laufs der Geschichte das Vertrauen auf eine das vielfältige Material
ordnende Vernunft. Diese Vernunft existiert aber so wenig wie die Objektivität der Wissenschaft oder die individuelle Ausprägung der Bildung.
Die hinter aller Kontingenz und Beliebigkeit des Denkens vermutete
strukturelle Seinslogik baut nämlich nicht auf Zufall und Genie, sondern
auf Ordnung und Sukzession. „Anything goes“5, heißt eben nicht, daß
im Namen der Wissenschaft alles möglich wird, also auch die Vernichtung des Bewußtseins und der geschichtlichen Welt. „Anything goes“
heißt, der Wissenschaft die Welt anzuvertrauen und einen universalen
Diskurs der Einzeldisziplinen vorauszusetzen, der deren auseinandertreibende Zwecksetzungen in einen Gesamtzweck überführt.
Postmodernes Denken, so sehr es sich das Ende aller Werte, aller Geschichte, aller Metaphysik auf die Fahnen geschrieben hat, hält am Wissenschaftspositivismus fest, der nicht ohne Metaphysik ist, und steht im
gleichen ökonomischen Verwertungszusammenhang wie die profitorientierte Warenproduktion kapitalistischer Systeme. Unter dem Diktat der
Profitrate mag jeder erforschen, was er will, jede Methode sich ihrer
Perfektion. Rousseaus Theorie gesellschaftlicher Praxis, Münster 1996, bes. Kap.
VI.2.
5 vgl. P. Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Frankfurt 1986
Bildung - ein Projekt ohne Aussicht?
27
eigenen Logik bedienen. Jede Handlung erscheint als existentieller Akt,
und Lebensstile passen sich geschwind an die gesellschaftlich funktionalen Anforderungen an. Noch nie war Individualität so deckungsgleich
mit dem Zwang zur Anpassung wie im Zeitalter des massenmedial organisierten Warenfetischismus6. Individualität, die jedem Menschen naturrechtlich anerkannt werden muß, erscheint als käuflicher Massenartikel.
Die von Adorno und anderen Aufklärern des 20. Jahrhunderts im Nationalsozialismus festgestellte extreme Vermassung des Individuums als
Resultat eines perfekten Zusammenspiels von totalitärer Politik und
kapitalistischer Profitgier wurde mit veränderten Vorzeichen unter der
Diktatur akkumulierenden Kapitals in allen Gesellschaftsformen fortgesetzt und propagandistisch perfektioniert. Die Massenmedien haben die
Schranken zwischen privatem und öffentlichem Raum geöffnet und
besetzen das individuelle Bewußtsein mit einer schablonierten Bilderwelt,
deren Unmittelbarkeit es sich nirgendwo entziehen kann, so wenig wie
der Zuckerrohrschneider seiner Plantage. Jede Handlung ist existentieller
Akt, ja, aber nicht substantiell. Substantiell wird jede Handlung nur innerhalb eines wie auch immer strukturierten Bildungsprozesses, als Praxis in der Geschichte der Menschheit.
Die Zusammenarbeit der Massenmedien mit Politik und Kapitalfraktionen hat nicht nur den privaten und öffentlichen Raum zerstört und das
Individuum einer warenfetischisierten Scheinindividualität ausgeliefert dem Nährboden seiner posttraditionalen Vermassung; darüber hinaus
hat sie den Prospekt einer menschheitsgeschichtlichen Zukunft vernichtet mitsamt den zugehörigen Eigenschaften wie Freiheit, Frieden und
Gerechtigkeit. Dieser zerstörte Prospekt einer geschichtlichen Zukunft,
gleichzusetzen mit dem Verlust der Idee der Menschheit, bzw. eines
übergeordneten Leitmotivs gesellschaftlicher Praxis, stürzt die postmoderne Gegenwart in jene „leere Geschäftigkeit“, vor der Kant schon
warnte, weil sie „das ganze Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich
Dieser Aspekt scheint mir in Josef Früchtls sonst hervorragender Analyse einer
postmodern ästhetisierten Lebenswelt etwas zu kurz zu kommen. (vgl. J. Früchtl,
Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, Frankfurt/Main 1996, bes. Kap. II:
Postmodern – ästhetische Rehabilitierung der Ethik)
6
28
Ursula Reitemeyer
selbst auf diesem Glob als bloßes Possenspiel“7 begreift, das ebenso
zwecklos wie beliebig wäre. Gesellschaftliche Praxis, die allein durch
äußere ökonomische und politische Umstände zustande kommt, ist dem
Zufall ausgeliefert und nimmt der Geschichte jegliche Richtung. Ohne
eine Richtung, die nur von der Vernunft vorgeschrieben werden kann,
unterscheidet sich gesellschaftliche Praxis prinzipiell aber nicht vom
triebdeterminierten Verhalten, weshalb sie auch in keine Geschichte der
Freiheit mündet, sondern naturwüchsig bleibt.
Die Posttraditionalisten negieren den von Aufklärung, Idealismus und
dialektischem Materialismus formulierten Anspruch, die naturwüchsigen
gesellschaftlichen Verkehrsformen in freie gesellschaftliche Praxis umzuwandeln und setzen stattdessen auf eine durch Verfahrensrationalität
gestützte Reproduktionskraft sozialer Systeme.8 Solche systemische Reproduktionskraft entläßt zwar keinen geschichtlichen Prospekt, scheint
aber das bestehende System zu sichern. Systeme können sich nicht geschichtlich bewahrheiten. Sie müssen funktionieren, d.h. ihren Mechanismus erhalten oder zu besser funktionierenden Systemen weiterentwickeln. Damit Systeme funktionieren, bedarf es keiner Autonomie des
Subjekts, keines aufgeklärten oder gebildeten Bewußtseins und keiner
frei verantworteten geschichtlichen Praxis. Nötig ist allein ein auf allen
Ebenen gesellschaftlicher Praxis zu gewährleistender Ausbildungsstandard, der die Funktionstüchtigkeit erhält und verbessert. Aus der Perspektive unlebendiger funktionaler Zweckrationalität betrachtet, hat
Bildung sich ebenso überflüssig gemacht wie die Idee eines subjektiv
oder objektiv vernünftigen Leitfadens der Geschichte. Im Unterschied
zum Standpunkt der philosophischen Kritik, die an der Idee der Bildung
festhält, obgleich die vollständige Entfaltung des gebildeten Bewußtseins
auf dem Boden der Halbbildung undenkbar ist, eliminiert die systemfunktionale Argumentation die Idee der Bildung von vornherein aus dem
Bereich zweckmäßig organisierter Handlungszusammenhänge. Die von
Adorno in der „Adenauer-Ära“ noch bitter beklagte Unmöglichkeit eines
7 I. Kant: Streit der Fakultäten (1798), in: Kants gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. IX,
A 138
8 Zum Paradigma der Verfahrensrationalität vgl. J. Habermas: Faktizität und Geltung,
Frankfurt 1992
Bildung - ein Projekt ohne Aussicht?
29
aufsteigenden Bewußtseinsprozesses angesichts des Irrationalen, das sich
der Vernunft und der Menschen bemächtigt, wird inzwischen nur noch
festgestellt. Vor diesem Hintergrund erscheint Adornos Anklage als
hoffnungslos vorgängiger, traditioneller Reflexionsstandpunkt. Leitformel einer posttraditionalen Bildung ist nämlich nicht mehr der Aufstieg
oder die Arbeit des individuellen Bewußtseins zum Standpunkt des allgemeinen Wissens, in dem einzelwissenschaftliche Resultate in ein universales menschheitsgeschichtliches Licht getaucht würden. Leitformel
einer posttraditionalen Bildung könnte sein, anything goes, sofern das
gesellschaftliche System strukturell nicht beschädigt, und die Frage nach
der moralischen Verantwortung gegenüber der zukünftigen Generation
ausgeklammert wird.
Begrifflich schwammig, aber um so zielorientierter verläuft die derzeitige
Diskussion um Bildung. Neben beruflicher und fachlicher Qualifikation
käme es zunehmend auf die Ausbildung fächerübergreifenden Denkens
an. Soziale und kommunikative Kompetenz sei zu fördern in Familien,
Schulen und Ausbildungsstätten. Allgemeine Bildungsinhalte müßten
wieder einen festen Platz einnehmen in den Curricula der allgemeinbildenden Schulen. Die Verkabelung aller Schulen im Internet sei umgehend einzuleiten, um den „Standort Deutschland“ international attraktiv
zu gestalten. Ausbildung- und Studienzeiten seien ebenso zu verkürzen,
wie die gesamte Schulzeit um ein Jahr. Gefordert wird ein Zentralabitur
und die verwaltungstechnische Überwachung von Regelstudienzeiten.
Das Studium an Fachhochschulen ersetzt zunehmend die Ausbildung an
Berufsschulen9, und die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachbereiche der Universitäten verkommen mehr und mehr zu schlecht ausgestatteten Verwahranstalten der Jugend in einer Mittelschichtsgesellschaft.
Diese Verkürzung des Bildungsanspruchs auf blanke Berufsqualifikation
ist politisch gewollt und folgt den obersten Regeln des kapitalistischen
Wirtschaftssystems, Profit zu maximieren und Kapital zu akkumulieren.
vgl. etwa den Forderungskatalog der StudentInnenvertretung der Katholischen
Stiftungsfachhochschule München vom 4.12.97. Dort heißt es unter Punkt 12: "Wir
lassen uns nicht zu Schmalspur-Fachidioten ausbilden. Kein Schnellstudium für die
Masse und Vollstudium für eine kleine Elite. Diesen Demokratieabbau werden wir
nicht dulden. ... Bildung ist Menschenrecht!"
9
30
Ursula Reitemeyer
Es geht in der öffentlichen Diskussion schon längst nicht mehr um Bildung10. Es geht um die Besetzung von Arbeitsplätzen in einem System,
das seinen eigenen Funktionsmechanismen zufolge nur eine begrenzte
Anzahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung stellen kann, um profitabel zu
sein. Bilden mag sich, wer genug Geld und Muße aufbringt, sein Denken
und Fühlen vor der manipulativen Gewalt der Bewußtseinsindustrie zu
schützen, die die Warenzirkulation antreibt und zum Erhalt des bestehenden Wirtschaftssystems entscheidend beiträgt. Mögen die Städte im
Abfall und die Dritte Welt im Sondermüll ersticken, die Verpackung
kann aufgrund zu erwartender rasanter Umsatzeinbrüche nicht auf ein
notwendiges Minimum reduziert werden. Deshalb müssen Kinder der
hochindustrialisierten Gesellschaften weiterhin minderwertige Nahrung
zu sich nehmen und unter Karies leiden, wodurch sie gleichzeitig dazu
beitragen, das gegenwärtige Arbeitsplatzkontingent im Versicherungsund Gesundheitswesen zu erhalten.
Einmal in die irrationalen Tiefen der kapitalistischen Systemrationalität
herabgestiegen, zeigt das System seine logischen Strukturen: die Teilbereiche sind miteinander unauflöslich vernetzt und funktionieren als Subsysteme der Warenproduktion. Die ökonomische Vernetzung aller gesellschaftlichen Praxisbereiche erzeugt jene, nicht einmal besonders neue
Zentralperspektive, von der die Apologeten eines posttraditionalen Pluralismus behaupten, daß sie verloren gegangen sei. Der von sogenannten
postmodernen Pädagogen11 als Indiz herangezogene Verzicht moderner
Kunst auf perspektivische Darstellung läßt nun aber nicht darauf schlie10 Dies ist den Studierenden nicht entgangen. Vgl. dazu Oliver Schilling: Diese Studenten sind anders, in: Die Zeit Nr. 51 vom 12.12.97. In dem Beitrag des AstaVorsitzenden zur studentischen Protestbewegung heißt es: "Es gilt die Degradierung
des Menschen zum reinen Objekt zu bekämpfen. Die Studierenden wehren sich
gegen eine Reduktion von Menschen auf Produktion und Leistung, gegen die Aufkündigung jeglicher humanistischer Ideale und gegen ein rein funktionales Verständnis von Bildung. Das ist eine Fundamentalkritik am Menschenbild der Politik der
vergangenen zwanzig Jahre, doch kaum jemand nimmt das so richtig wahr. Die
einengende Beschreibung der Proteste als reine Mehr-Geld-Bewegung entspricht
eher der Nachfrage der Öffentlichkeit, die sich auf komplizierte Erklärungsmuster
nicht einlassen will. Wer heute etwas anderes fordert als mehr Geld, wird nicht verstanden."
11 Vgl. H. Kupffer: Pädagogik der Postmoderne, Weinheim/Basel 1990.
Bildung - ein Projekt ohne Aussicht?
31
ßen, daß die vielfältigst sich aufsplitternde gesellschaftliche Wirklichkeit
einer logischen Struktur sich entzieht; allenfalls ist der Rückschluß erlaubt, daß die „Tilgung der Perspektive in der neuen Malerei durch
„Korrespondenz mit der vorperspektivischen“12 bestehende Wahrnehmungsschemata auflöst, die bereits von der Warenzirkulation aufgeprägt
wurden. Richtet sich moderne Kunst in erster Linie gegen die Vermarktung des Wahrheitsgehalts ihrer Werke, die sie deshalb verschlüsselt und
vor der Gewalt des warenfetischisierten Bewußtseins versteckt, bringt sie
nichts anderes als ihre Kritik gegenüber der ökonomisch determinierten
gesellschaftlichen Gesamtstruktur zum Ausdruck, deren Logik dem
Wahrheitsgehalt des Kunstwerks widerspricht. Die Zentralperspektive
mußte von der modernen Malerei aufgegeben werden, um den Wahrheitsgehalt der Werke dem verwertenden Zugriff zu entziehen, der seinen Spielraum desungeachtet erweitert.
Die daraus entstehende A-Perspektivität des Kunstwerks deutet nun
nicht auf die allseits beschworene Perspektivlosigkeit der bürgerlichen
Gesellschaft, sondern auf die Eröffnung einer Gegen-Perspektive. Als
Gegen-Perspektive zum herrschenden Realitätsprinzip präformuliert die
Moderne ebensowenig einen beliebigen ästhetischen Reflexionszugriff
wie eine geschichtslose Gegenwartsanalyse. Als vollbrachte bestätigen
Kunstwerke ihren Wahrheitsgehalt noch dann, wenn sie an der fetischisierten Wirklichkeit teilhaben, die sie transzendieren13.
Sowenig die Moderne unter dem Anspruch der Humanität den Verlust
perspektivischer Reflexion präformuliert14, den der im Dienst von Kapitalfraktionen stehende Positivismus zu verantworten hat, sowenig resultieren
die postmodernen Wahrnehmungsebenen aus dem gescheiterten Projekt
der Moderne. Zwar ist das Kontinuum der Geschichte noch einmal zerbrochen, vielleicht zum letzten Mal, wie Skeptiker aus allen Wissenschaftszweigen befürchten. Aber daraus folgt nicht, daß das historische Nacheinander von Moderne und postmoderner Reflexionsattitüde systematisch,
d.h. begriffslogisch miteinander verknüpft wäre. Das systematisch Vorgängige des Postmodernen ist nicht die an sich selbst gescheiterte Moderne,
Th.W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1973, p 314
ebd. p 506
14 so H. Kupffer: Pädagogik der Postmoderne, Weinheim/Basel 1990, S. 10 f.
12
13
32
Ursula Reitemeyer
mit anderen Worten, die an der harten Wirklichkeit gescheiterte Idee der
menschlichen Freiheit, sondern die durch alle historischen Epochen hindurchgehende Anpassungstendenz des allgemeinen Bewußtseins an den
Zwang der bestehenden Verhältnisse. So steht die postmoderne Reflexion
in der Tradition affirmativer Gesellschaftstheorien, denen bei aller Unterschiedlichkeit im Detail das Arrangement mit dem Bestehenden, so wie es
ist, nicht wie es sein soll, gemeinsam ist. Damit rückt alle sich postmodern
gebärende Reflexion in die Nähe zur politischen Macht, deren einziges Ziel
'Expansion' ist, weil sie sich anders nicht erhalten kann.
Ihrer Verstrickung mit dem Positivismus kann posttraditionale Theoriebildung nicht entgehen, ebensowenig wie der methodischen Reduktion bildungstheoretischer Entwürfe auf Sozialisationstheorien. Auf deren Grundlage werden undurchführbare Bildungsprozesse in praktikable Ausbildungsprogramme umgewandelt. Strenggenommen schließen sich
posttraditionaler Strukturalismus als Abgesang auf die Idee der Freiheit
oder als Negation eines nicht zu verdinglichenden Restbewußtseins und
klassische Bildungstheorie aus, obgleich es Hinweise darauf gibt, daß der
von Hegel als vollständige Selbst-Entäußerung verstandene Prozeß bildungsgeschichtlicher Entfaltung den Umschlag von Selbst-Bildung in Anpassung ans Bestehende schon enthält. Vielleicht ist es Hegels phänomenologische Darstellung der Bewußtseins- und Wissenschaftsgeschichte, die,
ihre eigene Dialektik im Prozeß der totalen Selbst-Entäus-serung stillstellend, zeigt, wie die Überantwortung des Subjekts an die objektiven Verhältnisse bildungstheoretisch gedacht werden kann: die objektiven Verhältnisse werden um so vernünftiger, je mehr das Subjekt sich an sie veräußert,
oder weniger abstrakt ausgedrückt, je schneller der individuelle, leiblich
konkrete Mensch sich den gesellschaftlichen Anforderungen anpaßt und in
deren Strukturen verschwindet.
In der zügigen Entwicklung schnell veralteter Anpassungsstrategien
überrundet sich affirmative Pädagogik selbst: ein reformpädagogisches
Konzept reiht sich an das andere, heute diesen, morgen jenen Schwerpunkt setzend, und wird von den Fakten überholt, sobald es in der Faktizität Fuß faßt. Pädagogen fühlen sich überall zu Hause, bei den Hirnforschern ebenso wie bei den Psychoanalytikern oder den SoftwareEntwicklern. Kein Bereich gesellschaftlicher Praxis ist so abgelegen, daß
Bildung - ein Projekt ohne Aussicht?
33
nicht der Pädagoge als Sachverwalter des zukünftigen Humankapitals
seine Aufgaben darin fände. Umgekehrt muß die Wissenschaft von der
Erziehung des Menschen sich nicht wundern, wenn andere Ressorts ihr
die Richtlinien vorschreiben. Hat sie, vielleicht infolge der unabdingbar
scheiternden pädagogischen Praxis vor der Idee der Bildung, Bildung als
wissenschaftlichen Reflexionsgegenstand insgesamt eliminiert, wird ihr
Gebiet zwangsläufig okkupiert und in das System kapitalbildender Warenproduktion integriert. Bildung gerät unter den Maßstab der Leistung,
und Leistung unter den der Profitmaximierung. Leistung muß sich wieder lohnen, heißt nichts anderes, als solche Ausbildungsgänge und Arbeitsbereiche finanziell zu fördern, die das System funktionabel erhalten
und für die nächste Zukunft stabilisieren.
An dieser gegenwärtig von der Politik formulierten Bildungs- oder besser
Ausbildungsmaxime hat sich seit Inkrafttreten einer allgemeinen Schulpflicht prinzipiell nichts geändert, die auch nur unter dieser Maxime
stehend eingeführt werden konnte. Niemals ging es der vom Staat verantworteten öffentlichen Erziehung um Bildung. Je mehr sie sich die
klassischen Bildungsformeln vor die Curricula schrieb, um so effizienter
paßte sich das öffentliche Erziehungssystem den gesellschaftlichen, insgesamt aber irrationalen Verhältnissen an. Vom Anpassungsdruck ausgenommen sind schon längst nicht mehr die Universitäten, deren gegenwärtige Generation aber doch wohl zu ahnen scheint, daß ihnen etwas
vorenthalten wird, das es vielleicht noch nie gab, oder je geben wird, und
dennoch unveräußerbares Menschenrecht ist: Bildung.
Alexander
von Pechmann
Philosophie - Erzieherin der
Menschheit ?
zum 20. Weltkongreß der Philosophie,
Boston, 10.-16. August 1998
Es wird gigantisch werden, richtig amerikanisch. Noch nie - hier dürfte
das Wort einmal passen - werden so viele Philosophen sich zu derselben
Zeit an demselben Ort versammelt haben. Mehr als fünftausend Philosophen aus aller Welt werden in diesem August ihre Hörsäle, Seminarräume und Studierstuben verlassen und, mit ihren „Contributed Papers“
und neuesten Veröffentlichungen bewaffnet, zusammenströmen, um
sich hier, in Boston, zum Weltkongreß der Philosophie zu vereinen. Die
großen Versammlungen der Weisen Chinas, die Konzilien der Christenheit, ja selbst alles, was man bisher so „Weltkongreß“ nannte, - sie waren
nur Vorspiele und Vorübungen für das Ereignis, da jetzt, am Ende des
„Jahrhunderts der Extreme“ und an der Wende der Millennien, die
Schicksalsfragen der Menschheit einer philosophischen Antwort
entgegenharren.
Und in der Tat, welch anderer Ort wäre für eine solche Versammlung
der Geister geeigneter als Boston? Ist hier doch der Ursprung, die αρχη
der Neuen Freien Welt, wo sie einst sich von der Nabelschnur der Alten
Welt getrennt, und wo der freie Mensch, freilich erst nach dem Verschwinden der Amerikaner, seine Freistatt gefunden hat. Und so setzt
uns Boston, das „Athen Amerikas“, die Stadt der Universitäten, Bibliotheken und Institute, das Zeichen: der Geist des neuen Jahrtausends - er
wird seine Heimstatt in Amerika haben, er wird amerikanisch sein.
Und so hat sich denn das „Amerikanische Organisationskomitee“ (AOC)
für den Andrang aus aller Welt gerüstet. Per Internet
(www.bu.edu/WCP/) wird erstmals der Strom der Gelehrten, der sich
vom 10.-16. August über die Stadt ergießen wird, gelenkt und geleitet,
wird jedem Teilnehmer sein Ort und seine Zeit zugewiesen. 45 Sektionen hat man gebildet, die von der „Philosophy of Arts“ bis zur „Philosophy of Value“ alle nur möglichen Themenbereiche umfassen. Vier
Philosophie - Erzieherin der Menschheit?
35
Plenarsitzungen zum Thema des Kongresses, fünf Symposien, sechs
Spezialsitzungen, zehn interkulturelle Sitzungen, achtzig Themensitzungen und einhundertsiebzehn Rundtischgespräche werden die drohende
Flut der Gedanken aus aller Welt kanalisieren und bündeln. In über siebenhundertsiebzig Veranstaltungen werden die großen und die kleinen
Themen während der sechs Kongreßtage „abgearbeitet“. Ein rigider
Zeitplan verlangt von den Philosophen, all die Fülle des Mitteilens- und
Diskussionswerten auf den 15-Minuten-Takt zu beschränken. Selbst die
Maße der Stellwände sind von den Organisatoren vorgegeben. Die
Buchverleger und Sponsoren sind verständigt und bereit. Und das CyberCafé wird den Staunenden aus aller Welt den Einsatz der neuen
Technologien in Philosophie und Bildung demonstrieren. Wie gesagt: die
Dimensionen des 20. Weltkongreß der Philosophie werden amerikanisch
sein.
Doch - um alles in der Welt - wer hat es den Verwaltern des Weltgeistes
eingegeben, dies Spectaculum dem Thema zu unterstellen: „Philosophie Erzieherin der Menschheit“? Genügt den Versammelten nicht das erhabene Gefühl dabei zu sein, zu hören und gehört, sehen und gesehen zu
werden? Reicht es nicht hin, weiterhin solche Themen zu stellen, die
Philosophen auch bearbeiten können: „Universalität des Wissens“, „Zukunft des Wissens“, „Erkenntnis und Interesse“? Muß von der Weltversammlung der Philosophen auch noch der Auftrag ausgehen, von hier
und heute gleich noch die ganze Menschheit zu erziehen? Soll Boston
tatsächlich der Ort der Umkehr werden, wo brave Arbeiter am Begriff
und an der Sprache zu strammen Erziehern an der Menschheit werden?
Können wir uns überhaupt vorstellen, Jaako Hintikka, der AOCPräsident, werde seine linguistischen Studien beenden und von nun an
die Menschheit suchen, um sie mit seinen Erkenntnissen über das Wesen
der Sprache und das richtige Sprechen zu beglücken? Bestehen nicht
Zweifel, ob es seinem Kollegen, Robert C. Neville, dem es bislang kaum
gelang, der eigenen Schar seine Beweise über „God the Creator“ recht zu
vermitteln, nunmehr gelingen wird, all die anderen von dem überzeugen
wird, was ihnen fehlt? Und können wir glauben, Richard Rorty werde
nach dem August all die Ironie vergessen haben, mit der er bislang die
Philosophie bedacht hat, um fortan sein literarisches Schaffen in den
36
Alexander v. Pechmann
Dienst der Menschheit zu stellen? Noch haben wir sie ja im Ohr, die
beredten Denunziationen des Universalismus, die Verabschiedung der
Meisterdenker und die Erhebungen der Philosophie zur Privatsache und
zum intelligenten Glasperlenspiel. Irgendetwas scheint da nicht zu stimmen.
Doch nein, so entnehmen wir dem Hinweis der Veranstalter: nicht der
Philosoph ist es, der die Menschheit erzieht; der Philosophie sei es, sie zu
erziehen. Ist es denn nicht seit je her der Philosophie edelster Auftrag,
ihr Bildungswerk an der Menschheit zu verrichten? Und, kantisch gewitzt, mag man hinzufügen: in jedem einzelnen die Menschheit zu erkennen.
Nun - so wollen wir uns fragen: was ist denn die Philosophie, über die
zwar der Philosoph sich genüßlich lustig macht, deren Auftrag es jedoch
sei, die Menschheit zu erziehen? Ja nun, so tönen uns die Grüße über
den Atlantik entgegen, diese menschheitserziehende Philosophie, das
sind die „two thousend five hundred years of Western philosophy“1; das
ist der nicht abreißende Strom der Tradition, der, von Ost nach West
fortschreitend immer „westlicher“ wurde, der von Griechenland als
Quelle ausgehend, das christliche Abendland und die europäische Aufklärung in sich aufnehmend, sich in die moderne Zeit ergießt, die heute
in Amerika ihren Ort gefunden hat. Diese Philosophie hat uns zu den
großartigen Denkern und Vorbildern der Menschheit gemacht, die wir
heute sind. Und eben diese unsere Großartigkeit erlaubt es uns, vielmehr:
verpflichtet die Philosophie, die Menschheit zu erziehen. Weil nun aber
unser Apologet der „Western philosophy“ auch ein Bürger Amerikas ist,
versichert er uns, daß, so wie die Vereinigten Staaten, sich vom Atlantik
zum Pazifik erstreckend, unter ihren Bürgern Vertreter aller Weltkulturen umarmen (embrace), in dieser Philosophie natürlich auch die anderen
Weltkulturen, weil dort auch viel über die Menschheitserziehung nachgedacht worden ist, ihren Platz haben. Und kaum vernehmlich murmelt
er: natürlich - die einen mehr, die anderen weniger.
Dies alles sei die Philosophie. Und ergriffen von der Bedeutung seiner
Worte erscheint es ihm, daß auch die Menschheit der Erziehung durch
Zitate aus: American Organizing Commitee, PAIDEIA. Twentieth World Congress
of Philosophy: Philosophy Educating Humanity, Boston 1997.
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Philosophie - Erzieherin der Menschheit?
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die Philosophie harrt. Mögen auch Milliarden Menschen der Nahrung
bedürfen; doch die Menschheit bedarf dieser Philosophie, um, wie er sagt,
die Beziehungen der durch Verkehr, Wirtschaft und Information verbunden „world society“ zu zivilisieren. Und so soll denn die Weltversammlung der Philosophen ein kraftvolles („powerful“) Zeichen in das
nächste Jahrtausend setzen, um die Menschheit so großartig zu machen
wie die amerikanische Philosophie es heute schon ist.
So stehen wir denn, in unserer Alten Welt, ungläubig, skeptisch und
kleinmütig vor diesen menschheitsbeglückenden Postulaten für das
kommende Jahrtausend und meinen, nur einen wohl inszenierten Theaterdonner zu vernehmen. Hat er sich verzogen, erinnern wir uns der
Worte des derzeit wohl bekanntesten Philosophen: „I'm just an American, we have just to persuade the others that our way is the right one.“
Besprechungen
Bücher zum Thema
Hartmut von Hentig
Kreativität.
Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff
München 1998 (Carl Hanser Verlag), geb., 80 S., 20.- DM.
In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts haben sich Intelligenzforscher dem Begriff Kreativität zugewandt, um die schöpferischen Fähigkeiten von Menschen besser
darstellen zu können, die mit einem
zu eindimensional geratenen Intelligenzkonzept nicht auszuloten waren. Heute hat die Kreativität nicht
zuletzt deshalb Konjunktur, weil ihr
die Rolle des Hoffnungsträgers für
den Standort Deutschland zugeschrieben wird. Die in diesem Sinn
beschworene Kreativität meint
technisch und wissenschaftlich vorn
zu sein, hebt der Autor hervor.
Diese Kreativität sucht nicht einen
Ausweg aus dem Netz der Systemzwänge, wie etwa der Rationalisierung der Arbeitsvorgänge und der
Dominanz der Wirtschaft über alle
Lebensbereiche, vor allem über die
Politik.
Auch in der Bildung wird die Sichtweise der Wirtschaft und der Auftrag, den diese erteilt, akzeptiert.
Die Bildung gibt damit ihren Anspruch auf eine Kreativität preis, die
die Entfaltung eines - vernachlässigten - Teils unserer Persönlichkeit
meint. Ist von Kreativitätsförderung
die Rede, ist Produktivität, Ordnung
und ein wenig Wohlbefinden gemeint, rundet von Hentig die Bestandsaufnahme in seinem Essay ab
und setzt dagegen: Kreativität ist in
erster Linie befreites Denken, nicht
gehemmt von Furcht oder Routine
oder einem perfekten Vorbild, es ist
kein anderes Denken. Die Spontaneität, die dabei zur Geltung
kommt, kann man nicht - wie von
Bildungspolitikern gewünscht - in
der Schule oder Uni veranstalten,
methodisieren, einüben. Man könnte aber Menschen gegenüber den
Sach- und Systemzwängen stärken,
sie von dem lähmenden Gemisch
aus Angst und Bequemlichkeit
befreien, ihre Bereitschaft zu Risiko
und die Kraft für das Ungewöhnliche beleben. Aber angesichts der
Art, wie versucht wird, Kreativität
vorwiegend zur Lösung von Wirt-
Bücher zum Thema
schaftsproblemen zu instrumentalisieren, outet sich von Hentig als
Bedenkenträger gegenüber der Rolle
des Hoffnungsträgers Kreativität als
deus ex machina.
Jadwiga Adamiak
Hartmut von Hentig
Bildung. Ein Essay
München 1996 (Hanser), geb., 216
S., 34.- DM.
„Bildung statt Eurofighter“ – dieser
Parole im bundesweiten Streik der
Studenten stimmt Hartmut von
Hentig ohne Vorbehalte zu und beendet sein Essay mit den Worten:
„Bildung ist nicht nur wichtiger als
der Jäger 90, die Schwebebahn und
der Ausbau des Autobahnnetzes, sie
ist auch wichtiger als die uns gewohnte Veranstaltung Schule. Dafür, daß man dies erkenne und
besser verstehe, habe ich dieses
Buch geschrieben“ (209).
Übersichtlich und in gewohnt klarer
Sprache verfolgt Hentig zumindest
zwei unterschiedliche Anliegen, die
er jedoch miteinander zu verknüpfen versteht: So will er einmal den
großen Stellenwert von Bildung am
Ende des 20. Jahrhunderts aufzeigen und zum zweiten seine vehemente Kritik am bestehenden
Schulsystem fortsetzen und über
39
eine Klärung des Bildungsbegriffes
diese Kritik auch begründen.
Ein Drittel des Essays widmet Hentig der notwendigen Präzisierung,
was unter Bildung verstanden werden kann und was Bildung zu leisten imstande ist. Er nähert sich
einer begrifflichen Klärung, indem
er zunächst einmal „geläufige Fragen“ stellt: „Was bildet den Menschen? Welche Bildungsvorstellungen haben wir/wollen wir haben? ...
Welche Eigenschaften und Fähigkeiten, Tugenden und Qualifikationen
braucht
der
heutige
Mensch/die heutige Welt?“ (36) Bei
dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, stößt Hentig zwar nicht
auf eine kurze und bündige Definition von Bildung; dennoch erfahren
wir, was Bildung nach Ansicht des
Autors zu leisten imstande sein
müßte: „Übersicht, die Wahrnehmung des historischen und systematischen Zusammenhangs, die Verfeinerung und Verfügbarkeit der
Verständigungs- und Erkenntnismittel, die philosophische Prüfung
des Denkens und Handelns“ (56).
So muß Bildung beides leisten: „die
Stärkung der Person [und zwar]
durch die Klärung und Aneignung
von ‚Welt‚„ (163). Mit dieser Auffassung bekennt sich Hentig zum
bürgerlichen Bildungsideal Wilhelm
von Humboldts, allerdings in seiner
radikalen, nicht institutionalisierten
Variante, die als Ziel der Bildung
40
Bücher zum Thema
„die sich selbst bestimmende Individualität“ vor Augen hat – „aber nicht um
ihrer selbst willen, sondern weil sie
als solche die Menschheit bereichert.“(41).
Einen großen Teil seiner Ausführungen widmet Hentig den Maßstäben, an denen sich Bildung beweisen und bewähren muß. Diese
Maßstäbe sollen in erster Linie
Plausibilität besitzen für jeden, der
sich mit Bildung beschäftigt und vor
allem natürlich für den Leser dieses
kleinen Büchleins. An erster Stelle
dieser Bewertungsgrundlagen steht
für Hentig „die Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit“ (76).
Gleich an zweiter Stelle steht jedoch
– ganz im Geiste der Verfassung
der Vereinigten Staaten, in denen
sich Hentig längere Zeit aufhielt –
„die Wahrnehmung von Glück“
(78). Es folgen als weitere Maßstäbe: Fähigkeit und Wille zur Verständigung, ein Bewußtsein der
Geschichtlichkeit der eigenen Existenz, Wachheit für letzte Fragen
und – last but not least – die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und
Verantwortung in der res publica.
Diese Maßstäbe können nicht einfach in das Bildungssystem Schule
übertragen werden, sie entziehen
sich der Meß- und Operationalisierbarkeit; dennoch finden sich genügend Anlässe, Quellen und Mittel
für eine Bildung, die diesen Maßstäben genügt.
Bei der Darstellung dieser Anlässe
wird deutlich, wie ungenügend unsere Schulen, die doch hauptsächlich gemeint sind, wenn von Bildung in den Institutionen gesprochen wird, einem Bildungsauftrag
im Sinne Hentigs nachkommen.
Bildung für alle wird aufgrund der
Dreigleidrigkeit unseres Schulsystems unmöglich gemacht; die Vorbereitung auf das Leben nach der
Schule besteht darin, die Selektionsmechanismen einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft so
früh wie möglich einzuüben und zu
akzeptieren. Der eigentliche Bildungsauftrag, „nämlich den einzelnen zum Subjekt seiner Handlungen, also auch seiner Bildung“ (162)
zu machen, wird zwar von allen
„Schulleuten“ betont, fällt aber dem
„gesellschaftlichen Auftrag ..., nämlich Ausbildungs-, Erwerbs- und
soziale Aufstiegschancen zu verteilen“ (163) zum Opfer.
Letztlich versucht Hentig in seinem
Essay die Quadratur des Kreises.
Auf der einen Seite betont er die
Bedeutung von Bildung, die zwar
auf das Leben vorbereiten müsse,
dies jedoch nicht auf Kosten der
Persönlichkeitsbildung und damit
der Fähigkeit zu Selbstbestimmung
und Kritikfähigkeit leisten dürfe.
Auf der anderen Seite kritisiert er
die heutige Veranstaltung Schule,
der er aber dennoch einräumt – und
dies in vielen beeindruckenden
Bücher zum Thema
Beispielen aus seiner Praxis an der
Bielefelder Laborschule deutlich
macht –, daß sie für seine Vorstellung von Bildung nutzbar gemacht
werden könnte. Hentig läßt hierbei
außer acht, daß die Schule eben
keinen gesellschaftlichen Freiraum,
sondern im Gegenteil ein Spiegelbild der Gesellschaft darstellt, auf
die sie vorbereitet. Nähme Hentig
diese Spiegelbildfunktion von Schule ebenso ernst wie die Bildung, so
müßten seine Schlußfolgerungen
radikaler und systemkritischer ausfallen, als sie in seinem dennoch
lesenswerten Beitrag zur gegenwärtigen Bildungsdiskussion zum Ausdruck kommen.
Sibylle Weicker
Dieter Lenzen/
Niklas Luhmann (Hg.)
Bildung und Weiterbildung im
Erziehungssystem.
Lebenslauf und Humanontogenese
als Medium und Form
Frankfurt/Main 1997 (Suhrkamp),
249 S., 19.80 DM.
Paradoxien symbolisieren
zunächst einmal kognitive
Inkompetenz.
(N. Luhmann)
Der hier vorgestellte Band zu den
Themen „Erziehung“ und „Bildung“ setzt die seit 1982 von Niklas
41
Luhmann
und
Karl-Eberhard
Schorr bis zu dessen Tod 1995
herausgegebene Reihe von Kolloquienbänden zu „Fragen an die
Pädagogik“ fort. Da die Einführung
in die Thematik leider allzu rudimentär geblieben ist und einiges an
Vorkenntnissen
zu
den
systemtheoretischen Fragestellungen
verlangt, sei hierzu der Band „Zwischen System und Umwelt“ (Frankfurt/Main 1996) besonders berücksichtigt, der es erlaubt, die neueren
systemtheoretischen
Grundlagen
konzentriert darzustellen.
Die „Fragen an die Pädagogik“ sind
auf deren „Reflexionsniveau“ ausgerichtet, also auf das, was die Pädagogik als Reflexionstheorie von
Erziehung reflektiert oder nicht.
Eine der Leitfragen Luhmanns ist
die, ob das Erziehungssystem in der
Lage ist, sich auf die für es selbst
konstitutiven
Unterscheidungen,
besser: auf die als Selbstkonstitution
begriffenen
Unterscheidungen,
wiederum unterscheidend zu beziehen. Dies wäre eine Voraussetzung
dafür, etwaige Paradoxien zwischen
gesellschaftlichen Funktionen und
Selbstzuweisungen überhaupt wahrzunehmen und weniger folgenreich
werden zu lassen.
Von einem System, so Luhmann in
dem Aufsatz „Das Erziehungssystem und die Systeme seiner Umwelt“, könne man nicht sprechen,
ohne daß die Umwelt des Systems
42
Bücher zum Thema
mit in den Blick komme. Dies markiert eine Grundkonstruktion der
„allgemeinen Theorie sozialer Systeme“: Als autopoietische, selbstreferentielle Systeme konstituieren
sich soziale Systeme in Unterscheidung von ihrer Umwelt. Indem sich
ein System in Operationen der
Beobachtung auf etwas bezieht,
bleibt etwas anderes unbeobachtet
und ausgeschlossen. Beobachtungen
erzeugen
„Zwei-Seiten-Formen“
(vgl. D. Baecker (Hg.), Probleme
der Form, Frankfurt/Main 1993).
Eine allgemeine Theorie sozialer
Systeme betrachtet nun gezielt eine
Einheit der Differenz von System
und Umwelt, beobachtet also sozusagen die in den Teilsystemen verdeckten und unverfügbaren Kehrseiten mit. Im Sinne der neuer angewendeten Konstruktion eines
„Re-entry“ (G. Spencer Brown)
wird ein und dieselbe Unterscheidung als andere betrachtet. Die
Systemtheorie soll sich in den Unterscheidungen bewegen, ohne sich
darin zu verfangen (vgl. auch: Die
Wissenschaft der Gesellschaft,
Frankfurt/Main 1992, 189 ff).
Paradoxerweise gehört für Luhmann der Bereich des Humanen weil der Mensch „keine durch Natur programmierte und angetriebene
Trivialmaschine“ ist, „die immer zu
dem gleichen richtigen Ergebnis
kommt“ - zur Umwelt des Erziehungssystems. Was für den „sche-
mabasierten“
Erziehungsbereich
tragend ist, Lernschritte, Leistungsbeurteilung, Selektion, Qualifikationsaussagen, erfasse gerade nicht
die psychischen und physischen
Systeme und deren Entwicklung, die
ihrerseits wiederum Gegenstand
psychologischer und medizinischer
Beobachtungen sein können. So
müßten psychische und physische
Systeme als Medien von Erziehung
vorausgesetzt werden, obwohl oder
auch weil sie zur Umwelt des Erziehungssystems gehörten. Auch im
Blick auf das Verhältnis des Erziehungssystems zum politischen System läßt sich „die Einheit der Differenz von System und Umwelt“ nur
paradox formulieren, als „Einheit
von Unabhängigkeit und Abhängigkeit“. So begreife sich das Erziehungssystem in einer relativen Autonomie, müsse andererseits aber
vom politischen System Entscheidungen verlangen, die etwa die
Schulorganisation und die Ressourcenzuweisungen betreffen.
Luhmanns Betrachtung soll darauf
aufmerksam machen, „daß jede
Paradoxie auch anders konstruiert
werden und damit andere Möglichkeiten der Entfaltung durch Anschlußunterscheidungen freigeben
kann“. Eine Leitfrage ist hierbei:
„Wie wird in der modernen Gesellschaft die Ordnungsform der Hierarchie ersetzt?“, eine Ordnungsform, die dem Erziehungssystem
Bücher zum Thema
mit einer unterstellten Pädagogisierbarkeit sozialen Geschehens einen
nur scheinbar festen Platz einräumt.
Hier fragt Luhmann in Nähe zu J.F. Lyotards „Le differénd“ (Paris
1983) nach „polyzentrischen“ Gesellschaftsbeschreibungen für eine
nicht mehr hierarchisch darstellbare
Gesellschaft.
Im Vorwort zu „Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem“
betonen die Herausgeber, daß Erziehung und Bildung keineswegs
dasselbe seien: „Erziehung ist eine
Zumutung, Bildung ein Angebot.“
Der Unterschied scheint zunächst
der zwischen einem Feld zielgerichtet qualifizierender Beeinflussungen
und einem breiteren Feld von Persönlichkeitsentwicklung zu sein.
Auch wenn das, was „Weiterbildung“ genannt wird, Teile
beruflich relevanter Qualifizierung
einschließe, lasse sich nicht von
einem einheitlichen System von
Erziehung und Bildung sprechen.
Ebenso sei im Blick auf Einrichtungen, „die eine abgeschlossene Erziehung in Schulen und Hochschulen voraussetzen und weitere Bildungsmöglichkeiten
offerieren“,
eine Unterscheidung von „institutioneller und praktischer Bedeutung“ Daher könne man nicht „von
einem einheitlichen Funktionssystem ausgehen“. Umgekehrt ließen
sich Erziehung und Bildung respektive Weiterbildung auch nicht als
43
jeweils „eigene, operativ geschlossene Systeme“ begreifen; denn die
Grenzen des Erziehungssystems
wiesen ständig wachsende Erweiterungen auf.
In dem Aufsatz „Erziehung als
Formung des Lebenslaufs“ fragt
Luhmann nach Gründen für eine
derartige Konzeptlosigkeit. Ein
Hauptgrund liege darin, daß das
Erziehungssystem zu eng mit der
Differenz von „Kindern und Erwachsenen“ operiere, mit einem
Konstrukt, das angesichts der zunehmenden Lebenserwartung und
angesichts der Vorstellungen von
einem lebenslangen Lernen suspekt
werden müsse. In Anlehnung an die
wahrnehmungspsychologische
Unterscheidung von „Ding und
Medium“ (F. Heider) wird nach
dem „Medium“ gefragt, welches das
Erziehungssystem benutzt, um
„Formen“ zu bilden. Dabei kommt
zunächst das Medium „Kind“ in
den Blick, „das als Potential für sehr
verschiedene
Fähigkeiten
vorausgesetzt werden muß“. Doch dieser Begriff sei ein Differenzbegriff
zu dem des Erwachsenseins und
daher „nur auf Familienerziehung
und Schulerziehung anwendbar“.
Mit der Medium/Form-Unterscheidung bringt Luhmann seine
neuere Betrachtung von Kommunikationsmedien in einen Ansatz ein,
der die Beschreibung einer Herausbildung von erwartbaren und „co-
44
Bücher zum Thema
dierbaren“ Kombinationen aus
einer „nicht ausschöpfbaren Menge
von Kombinationsmöglichkeiten“
erlauben soll (vgl. Die Gesellschaft
der Gesellschaft, Frankfurt/Main
1997, 190ff). So wird im Blick auf
das Erziehungssystem nach einem
„Transformationsbegriff“ gesucht,
der
besser
als
die
Kind/ErwachsenenUnterscheidung den komplexen
gesellschaftlichen Einlagerungen des
Erziehungssystems und der Ausweitung seiner Grenzen Rechnung tragen soll. Vorgeschlagen wird der
Begriff des „Lebenslaufs“: Der Lebenslauf als Medium und Form des
Erziehungssystems. Der Lebenslauf
wird definiert als „eine Beschreibung, die während des Lebens angefertigt und bei Bedarf revidiert
wird“, als eine „Konjekturalbiographie“ im Sinne Jean Pauls. Deren
Komponenten
sind
„Wendepunkte“: etwas, was auch jeweils
hätte anders ausfallen können; kontingentes, das in einer „Integration
von Nichtselbstverständlichkeiten“
nach Mustern über eine „rhetorische Leistung“ verarbeitet wird. Der
Lebenslauf gilt hierbei einerseits als
„Medium im Sinne eines Kombinationsraums von Möglichkeiten“,
andererseits als „eine von Moment
zu Moment fortschreitende Festlegung von Formen“. Beide Seiten
seien „nur im Bezug aufeinander
realisierbar“.
Luhmann bringt den „Lebenslauf
als Schema der Personwahrnehmung“ in einen engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Massenmedien, mit einem „Verdrängen
unmittelbarer
Lebenserfahrung
durch die Realitätskonstruktionen
der Massenmedien“, denn ständig
geschehe eine Eigenwahrnehmung
vor dem Hintergrund von Mustern
„formgewordener
Lebensläufe“.
Gerade weil es sich um ein „Produkt der Rhetorik und nicht um
sachbasiertes Wissen“ handele, sei
der so verstandene Lebenslauf zum
„Medium für eigene Formbildungen“ des Erziehungssystems geworden. Dieses Medium erlaube dem
Erziehungssystem die üblichen ‚selffulfilling-prophecy’-Operationen,
weil von einer „Lebenslaufrelevanz“
bestimmter Formen und Schritte
der Erziehung ausgegangen werden
könne. Zu einem gesellschaftstheoretischen Problem wird derartiges
für Luhmann dann, wenn diese
Operationen nicht „in einer auf
Erziehung zugeschnittenen Theoriesprache wiederzufinden sind“.
Die Lehrerschaft und das „reflektierende Establishment“ der Pädagogik wissen dann schlechthin
nicht, was sie tun, wenn sie das tun,
was sie tun.
So könne das Erziehungssystem
also „nicht mehr teleologisch und
auch nicht mehr adaptionistisch“
begriffen werden. Angenommen,
Bücher zum Thema
die Anregungen bewirkten ein über
die Pädagogik zu vermittelndes
„Reflexionsniveau“, wäre das Erziehungssystem mehr den Fragen
nach der eigenen Autonomie ausgesetzt und mehr auf „Selbstorganisation“ und „Selbstbeurteilung“
verwiesen. Auch müßte sich die
Pädagogik bei den Verlusten einer
Plausibilität von Werten und Zielen
eben mit diesen beschäftigen und
mit sich selber.
Dieter Lenzen wendet in seinem
Aufsatz „Lebenslauf oder Humanontogenese?“ modifizierend ein,
daß der Begriff „Lebenslauf“ stets
auch mit teleologischen Konstrukten verbunden gewesen sei und dies
auch heute noch sei. Zwar bestehe
ein Bedarf an „nichtteleologischer
Theorie“ im Sinne Luhmanns; aber
es sei auch eine „Humanontogenese“ als andere Seite des kontingenten Lebenslaufes zu berücksichtigen, - gerade angesichts neuerer
neurophysiologischer Forschungen,
die ihrerseits in paradigmatischer
Nähe zur Systemtheorie stehen.
Lebenslauf und Humanontogenese
könnten durchaus als „zwei Seiten
eines Systemcodes“ im Erziehungsund Bildungsbereich gelten. Zwar
komme damit eine vertraute „Binarität von Freiheit und Bestimmung“
ins Spiel, aber auch sei eine Destabilisierung geisteswissenschaftlicher
Traditionslinien der Pädagogik zu
erwarten, wenn es denn überhaupt
45
zu einer folgenreichen Rezeption
jener Forschungen komme.
In anderen Beiträgen des Bandes
werden konkrete Anliegen an eine
Neu- oder Umorganisation des
Erziehungs- und Bildungsbereichs
vorgestellt. In Jürgen Zinneckers
Aufsatz „Sorgende Beziehungen
zwischen Generationen im Lebenslauf“ wird eine „Novellierung des
pädagogischen Codes“ gefordert,
die statt des „Dualismus einer erziehenden und einer erzogenen
Generation“ eine „Gesellschaft der
vier zeitgleich lebenden Generationen“ berücksichtigen solle. Jürgen
Wittpoth weist in dem Beitrag
„Grenzfall Weiterbildung“ unter
anderem darauf hin, daß die durch
die Sozialgesetzgebung vorgesehene
Weiterbildung von Arbeitslosen
längst zu einem Instrument der
Arbeitsmarktregelung und der Beschönigung von Statistiken geworden ist: Eine Planung von „Maßnahmekarrieren“ statt konkreter
Hilfestellungen. Die „Lebensläufe“
müssen das dann anders erzählen.
Es können hier nicht die Wirkungen
von Luhmanns Anregungen eingeschätzt werden; denn die systemtheoretisch angeregten Beiträge sind
eben systemtheoretisch angeregte
Beiträge. Es sind Zweifel angebracht, inwieweit die Reflexionsabstufungen im pädagogischen Feld
sozusagen kulminieren könnten, da
ja für Luhmann die pädagogischen
46
Bücher zum Thema
Reformen auch „von dem Irrtum
(leben), unlösbare Probleme für
lösbare zu halten“, und es zudem
keine „logischen oder kosmologischen Zwänge“ gebe, von den Operationen der Systemtheorie auszugehen. Die Systemtheorie legt
„Wert auf Distanz, nicht auf Nähe“:
„Sie will irritieren, nicht legitimieren.“
In dem Sinne, daß „ein System tut,
was es tut“ (Luhmann), gelangt die
systemtheoretische Betrachtung zu
den Ergebnissen, zu denen sie gelangt. Allerdings beansprucht sie,
Anschlußmöglichkeiten, Möglichkeiten von Veränderungen sichtbar
zu machen unter der Auflage, Paradoxien stets weiter zu bearbeiten in
der Beobachtung des eigenen Beobachtens. Die hier versuchte Darstellung gelangt zu einem paradoxen
Immanenzproblem der Systemtheorie Luhmanns: daß nämlich die ihr
eigene Relativierung nur aus dem
Theoriesystem ‚Theorie sozialer
Systeme’ heraus sichtbar gemacht
werden kann.
Ignaz Knips
Eva Ruge
Sinndimensionen ästhetischer
Erfahrung.
Bildungsrelevante Aspekte der
Ästhetik Walter Benjamins
Münster / New York / München /
Berlin 1997 (Waxmann-Verlag), 218
S., 49.90 DM.
Es ist gar nicht so lange her (was
sind fünfzehn Jahre für eine Disziplin wie die Philosophie?), daß Heinz
Paetzold sich mit Recht über das
Desinteresse der gegenwärtigen
Philosophie für die Ästhetik beklagte.1 Als ob die Götter seine Klage
gehört hätten: prompt avancierte
die Ästhetik unabdingbar zu einer
der wichtigsten Bereiche im philosophischen Diskurs der Gegenwart.
Nicht nur deshalb, weil ihr weites
Feld wichtige, immer wiederkehrende Probleme der Philosophie gut
abdeckt, sondern auch, weil ihre
Grenzen die Durchdringung anderer Bereiche, wie der Ethik ja sogar
der politischen Theorie gut zulassen. So vermag die philosophische
Ästhetik den Anforderungen, mit
denen die Philosophie aktuell konfrontiert wird, am besten zu genügen.2 Nicht zuletzt, weil ein modus
aestheticus viel geeigneter für den
Umgang mit der Vielseitigkeit und
den zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten unserer gegenwärtigen
Welt ist als der modus logicus, der das
philosophische Tun stark geprägt
H. Paetzold, Die Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer
Rationalität bei Baumgarten, Kant,
Schelling, Hegel und Schopenhauer,
Wiesbaden 1983.
2 J. Früchtl, Ästhetische Erfahrung und
moralische Urteil, Frankfurt/Main 1996.
1
Bücher zum Thema
und beeinflußt hat. Dieser modus
aestheticus möchte allerdings auch
gelernt sein und dafür gibt es keine
bestimmte Regel; denn die Regeln,
die wir brauchen, müssen in jeder
neuen Situation, in jedem Kontext
wieder neu gefunden werden. Nur
durch Übung und durch Bildung
können wir die dafür notwendige
Sensibilität entfalten. Die Übung
einerseits macht uns für diese Suche
fähig. Die Bildung andererseits aber
ist die Garantie, daß die dadurch
getroffenen Entscheidungen sowie
die entstandenen Meinungen mehr
als nur vertretbar sind.
Bildung und Ästhetik sind von
daher untrennbar und traditionell
seit je verbunden. Desto erfreulicher, daß Eva Ruge in ihrem neuen
Buch den Akzent auf diese Zugehörigkeit und ihre Bedeutung vor
allem für „das Projekt einer Rehabilitierung des Bildungsbegriffs“ (4)
setzen möchte. Ein ehrgeiziges
Projekt, das Ruge in der Einleitung
eindrucksvoll und überzeugend
darstellt und dessen Stoff für mehr
als eine Dissertation reichen könnte.
Ehrgeizig, weil Ruge die Verbindung zwischen Ästhetik und Bildung nicht in der klassischen Form
behandelt. Sie wechselt die Perspektive. Statt zu fragen, wieviel Bildung
oder welche Art von Bildung unsere
Fähigkeit fordert, ästhetische Erfahrungen zu machen, möchte sie
vielmehr wissen, wie ästhetische
47
Erfahrung und die dadurch gewonnene Erkenntnis für ein neues Verständnis von Bildung relevant sein
kann. Diese Relevanz möchte Ruge
hauptsächlich anhand der Ästhetik
Walter Benjamins zeigen, wenn
auch der Kant der dritten Kritik in
diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Vor allem, weil Eva Ruge
schließlich durch die Verflechtungen zwischen Ästhetik und Bildung
eine Brücke zwischen Philosophie
und Pädagogik herzustellen beabsichtigt.
Ästhetische Erfahrung ist zunächst
eine subjektive Erfahrung, die ebenso in einem subjektiven Prozeß
erlebt wird. Ruge glaubt jedoch,
diesen Prozeß in sechs Momenten
festlegen zu können. Was gleichzeitig diese ästhetische Erfahrung trotz
Subjektivität für ein pädagogisches
Programm tauglich macht. Diese
sechs Momente oder Phasen ästhetischer Erfahrung ordnet Ruge wie
folgt: Das erste Moment ergibt sich
in der ersten Berührung mit dem,
was bei uns den Prozeß der ästhetischen Erfahrung auslösen soll.
Daraufhin und als zweites Moment
wird eine Distanznahme erforderlich, die Ruge mit der Interesselosigkeit, die Kant auch den ästhetischen Urteilen zuspricht, verstanden
wissen möchte. Hier ist eine kontemplative Haltung angesagt, die
erst im dritten Moment durch Reflexion aufgehoben wird. Dieser
48
Bücher zum Thema
Reflexionsprozeß ist nicht anderes
als sich der möglichen zwangfreien
Entsprechung zwischen Natur und
Geist bewußt zu werden. Ruge
spricht von Korrespondenz, ähnlich
wie Kant von Übereinstimmung.
Dieses dritte Moment könnte man
dann mit der Erfahrung des Schönen zusammenfassen, bei der Harmonie und Lust im Mittelpunkt
stehen. Bedeutend im vierten Moment ist die Sensibilisierung, die uns
fähig macht, trotz der Subjektivität
ästhetischer Erfahrung, offen für
andere „Sinnentwürfe“ zu sein (58).
Was Ruge unter Sinnentwurf versteht, ist so klar nicht. Ist man offen
für die verschiedenen Möglichkeiten, individuell eine ästhetische
Erfahrung zu machen, oder sind die
verschiedenen ästhetischen Erfahrungen mehrerer Individuen, das
was respektiert wird und für das
man offen ist? Angesichts des
nächsten Moments innerhalb des
von Ruge konzipierten Prozesses,
sollte man sich eher für die erste
Variante entscheiden. Denn im
fünften Moment ist der „Sinn der
krisenhaften Selbstüberschreitung,
ein Außersich- und Übersichhinaussein“ (61) erreicht. Anknüpfend an
die Postmoderne, spricht Ruge hier
ganz explizit von einer Ästhetik des
Erhabenen. Sie sieht in der Erfahrung des Erhabenen die Möglichkeit
der „Selbstbezogenheit und Selbstvergessenheit“ (62). Warum aller-
dings diese Erfahrung so positiv
sein soll, wie Ruge sie darstellt,
scheint mir nicht sehr plausibel.
Einerseits dient das Erhabene als
Metapher vom „Erleben der heute
permanenten
gesellschaftlichen
Krise“, so daß ein Weg gefunden
wird für die Auseinandersetzung mit
Erfahrungen, die unsere Wahrnehmungen, sowie unsere gewohnten
Handlungsweisen zunächst überfordern. Andererseits wird ein Ausweg aus dieser Überforderung mit
der Akzeptanz unserer Begrenzung
und mit dem Verzicht auf ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der
Natur beschrieben - so Adornos
Uminterpretation des Kantischen
Gefühls vom Erhabenen -, ohne auf
die Gefahren hinzuweisen, die dieses von Ruge auch sehr positiv
bewertete, kathartische Moment in
sich birgt. Eine „totale Selbstbezogenheit“ kann schnell in eine immer
stärker werdende melancholische
und passive Haltung münden, wie
eine intensivere Beschäftigung mit
Lyotards Begriff des Erhabenen
zeigt.3 Auf die Konsequenzen einer
totalen „Selbstvergessenheit“ hat
bereits Kant am Beispiel des Enthusiasmus hingewiesen. Über die
Irrationalität und die Fatalität, die
manche terroristische Taten der
Dieses Problem habe ich in „Ästhetik
des Erhabenen. Burke, Kant, Adorno,
Lyotard“, Wien 1994 ausführlicher
behandelt; insb. S.91-116.
3
Bücher zum Thema
Selbstvergessenheit begleiten, hören
wir in den Nachrichten zu genüge.
Das sechste und letzte Moment in
dem von Ruge vorgeschlagenen
Prozeß ästhetischer Erfahrung
scheint mir daher besonders problematisch. Denn dieses „durch das
über die 5. Stufe freigewordene
produktive Potential“ soll einen
„erneuten Durchgang durch die fünf
Sinnebenen“ (64) ermöglichen. In
diesem Zusammenhang hebt Ruge
die Bedeutung der verschiedenen
Übergangsphasen von einer Stufe in
die andere hervor, die wiederum
mehrere Einstiegswege in den Prozeß der ästhetischen Erfahrung
zulassen. Daß ein wiederholter
Durchgang der verschiedenen Stufen unsere „Selbst- und Weltverhältnisse“ positiv zu beeinflussen
vermag, ist unbestreitbar. Auch das
eigene Lernen kommt ohne ihn
nicht aus. Wie aber diese ästhetische
Erfahrung mitteilbar wird und für
pädagogische Zwecke nutzbar gemacht werden kann, scheint mir
nicht sehr überzeugend dargelegt zu
sein. Außer wenn Bildung in einer
sehr elitären Bedeutung gefaßt wird,
was Ruges Darstellung nicht ausschließt. Auch wenn die Autorin
erkennt, welche Bedeutung die
ästhetische Urteilskraft im Zusammenhang mit ästhetischer Erfahrung oder ästhetischer Erkenntnis
haben kann und auch wenn sie die
Relevanz des Urteilsvermögens so-
49
wohl für eine an der Ästhetik angelegte Handlungstheorie (5-7) als
auch für Bildung und Erziehung
(S.65-68) mehrmals betont, erschwert Ruges ständiger Rekurs auf
die Ästhetik des Erhabenen ein
soziales Verständnis von Bildung.
In diesem Punkt vermißt man bei
ihr einen Blick auf die Tradition des
Bildungsbegriffs, die für unser heutiges Verständnis von Bildung sehr
prägend bleibt und ebenso auf die
Tradition des Geschmacksbegriffs,
wie z.B. bei Baltasar Gracián zu
finden, an dem sich die „immanente“ - so Ruge - Verbindung zwischen Ästhetik und Bildung sehr
deutlich erklären läßt. Vielleicht
deswegen macht sich am Ende der
Lektüre eine gewisse Enttäuschung
bemerkbar.
Die Ästhetik Walter Benjamins wird
mit einer postmodernen Brille gelesen, was durchaus legitim ist, aber
Ruges Vorhaben nicht einlöst. Die
Bildungsproblematik sowie ihre
Relevanz im Zusammenhang mit
neuen Ansätzen in der Pädagogik
kommt schließlich zu kurz und wird
durch eine zum Teil interessante
Sammlung von Zitaten schnell
abgehandelt. Der LeserIn wäre
etwas mehr geholfen, hätten beide
Aspekte Eingang in die Diskussion
gefunden. Vielleicht bleibt dies dem
nächsten Buch von Frau Ruge vorbehalten. Sehr wünschenswert, ja
fast notwendig wäre m.E., daß Ruge
50
Bücher zum Thema
das nächste Mal eine etwas einfachere, ästhetische und für unsere
Sinne freundlichere Sprache wählen
würde. Trotz spannenden Themas
erfordert die Lektüre des hier rezensierten Buches immer wieder Überwindung. Die Sätze und einige
Termini sind zum Teil sehr kompliziert gebaut. Leider wird in der
Philosophie sehr oft Originalität mit
unnötiger Künstlichkeit verwechselt. Eine etwas literarische Ader
wäre so schön!!!
María Isabel Peña Aguado
Bericht
Jürgen Mittelstraß:
Brauchen wir einen neuen
Bildungsbegriff?
Vortrag an der Karl Rahner-Akademie Köln,
7. Januar 1998
I. Jürgen Mittelstraß, derzeitiger
Präsident der „Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie“, Professor
für Philosophie an der Universität
Konstanz und Mitverfasser der vom
Kultusministerium der Landes
Nordrhein-Westfalen
betreuten
Schrift „Bildung im Umbruch Schule der Zukunft“ (1997), hob
hervor, mit dem Thema „Bildung“
nicht als Pädagoge oder Schulmann
umzugehen, sondern von der Philosophie her. So gehe es zunächst um
eine kritische Prüfung von Begriffen
und Redeweisen, von Zeitsignaturen, die daraufhin zu befragen seien,
ob sie denn einlösen könnten, was
sie versprächen.
„Bildung“ sei kein Anhängsel an ein
wie auch immer lebbares Alltagsleben, kein Zusatzangebot für Erbauung und Freizeit, sondern integrierender Teil von Kultur und Orientierung, die menschliche Wesen und
Gemeinwesen zu dem gemacht
hätten und machten, was sie seien
oder sein sollten. Kultur und Orientierung gelten hierbei als Dispositionen einer mündigen und tätigen
Weltaneignung und -bearbeitung
und einer Selbstformung, die Mit-
telstraß mit einem „LeonardoZeitalter“ verbindet, in dem die
Menschen seit nun schon geraumer
Zeit lebten. Auch Kants Verständnis von „Aufklärung“, sich von einer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien zu können, gehöre in
dieses Zeitalter, und vor allem, nun
im Blick auf ein Verhältnis von
Bildung und Ausbildung, Humboldts integratives Ideal einer Verwirklichung der jeweils „individuellen Idee“ in einer überdisziplinär angelegten Aneignung und
Bearbeitung von Traditionen und
von Neuerem, jeweils Zeitgenössischem: Bildung als „Erzeugung eines Universums in der Individualität“.
Dem nun stehen für Mittelstraß
Entwicklungen und Zeitzeichen
entgegen, die nur scheinbar jenes
Bildungsideal ersetzen oder ablösen
könnten: „Information statt Wissen“, „Medien statt Erfahrung“ und
ein „Wertewandel“ mit einer postmodernen Partikularisierung und
Pluralität von Rationalitätsvorstellungen und vor allem von sozialen
Lebensformen. So beklagte Mittelstraß die weiter zunehmende Zahl der
52
Bericht
Ehescheidungen, die Aussichten auf
eine vaterlose Gesellschaft und die
mehr und mehr schwindende gesellschaftliche Funktion der Ehe, der
Familie und der Kirchen.
Zum Schluß des Vortrages ging es
darum, was angesichts jener falschen Ablösungen eines universellen Bildungsbegriffs denn die Aufgabe der Schulen sei. Die Schulen
sollten durchaus disziplinäres, also
auf Ausbildung und berufliche
Entwicklung ausgerichtetes Verfügungswissen vermitteln, aber auch
verstärkt ein überdisziplinäres Orientierungswissen und ein integratives Lernen des Lernens. Gefordert
sei so ein unzeitgemäßes Lernen in
der Struktur einer unzeitgemäßen
Schule. So sei die gymnasiale Oberstufe zu revidieren. Die Frage
„Brauchen wir einen neuen Bildungsbegriff?“ wurde mit „Nein“
beantwortet, denn der alte sei noch
nicht abgearbeitet.
II. Gewiß stehen Fragen und Probleme der Verhältnisbestimmung
eines Ausbildungs- und eines Bildungsauftrages der allgemeinbildenden Schulen im Mittelpunkt derzeitiger Erörterungen (vgl. hierzu den
von Dieter Lenzen und Niklas
Luhmann herausgegebenen Band
„Bildung und Weiterbildung im
Erziehungssystem“,
Frankfurt/
Main 1997; s. auch die Besprechung
in diesem Heft). Die Erörterungen
aber verdecken mehr als sie klären
können, wenn sie nicht von dem
ausgehen, was der Fall ist, wozu
auch die Frage gehört, welche Bildungsbegriffe und -vorstellungen
genauer im Spiel sind. So müsste
Mittelstraß etwa wissen, daß es
seitens der Hochschulen zwar Klagen über eine mangelnde Allgemeinbildung von Studierenden gibt,
andererseits aber auch stärker praxisorientierte Kurzzeitstudiengänge
im Gespräch sind, die spezielle
propädeutische Anforderungen an
die Schulausbildung stellen. So
stehen Schulen tatsächlich in einem
Spannungsfeld zwischen Bildungsund Ausbildungsauftrag. Und wenn
das so ist, sollten sich Bildungstheoretiker damit beschäftigen.
Was Mittelstraß hervorhebt, nämlich von der Philosophie her eine
Reflexion und Prüfung der verwendeten Begriffe zu leisten, geschieht
gerade nicht. Sonst käme es nicht zu
willkürlichen und historisch groben
Epochalisierungen eines „Leonardo-Zeitalters“ und eines Zeitalters
des Humboldtschen Bildungsideals.
Bedenklich ist hierbei, ein humanistisches Menschenbild der Renaissance oder Humboldts Neuhumanismus als konstant und unverändert prägend zu unterstellen durch
Markierungen etwa des industriellen
Zeitalters und die Barbareien und
Katastrophen des 20. Jahrhunderts
hindurch und für ein nachindustrielles Zeitalter, von dem heute viel die
Bericht
Rede ist. So bleibt völlig offen, wie
Mittelstraß die Wirkungen von
Humboldts Bildungsideal datieren
möchte.
Die von Mittelstraß geführte Rede
vom „Wertewandel“ ist offensichtlich von der Überzeugung getragen,
daß sich bestimmte Werte nicht
wandeln könnten oder gewandelt
werden dürften, es sei denn um den
Preis, sich von der menschlichen
Gattung zu separieren. Dabei werden die Werte von Ehe, Familie und
Kirchen hervorgehoben. Sie sollen
denn Universalien sichern, die keiner Begründung bedürften. Mittelstraß bewegt sich so in einer wertekonservativen Dogmatik.
Jener Wertewandel, eine Partikularisierung und Pluralität von Lebensformen, sei grundsätzlich inhuman
und verfehle 'den Menschen'. Aber
wie ist dann das von Mittelstraß sei es auch nur marginal - erwähnte
Mündigkeitsideal der „Aufklärung“
unterzubringen? Bestimmt ließe es
sich aus der Sicht von Mittelstraß
nicht unterbringen im Sinne von
Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ (1947), die
bekanntlich angesichts einer Geschichte der Aufklärung und der
53
Moderne die Invertierbarkeit von
Prinzipien und Idealen zu bedenken
gibt. Auch die späten Schriften
Foucaults erheben Einwände gegen
Sichtweisen, die Prinzipien und
Ideale reflexionslos von ihrer Praxis
und von der Geschichte ihrer Praxis
abzulösen versuchen und folgenlos
werden lassen in einer bloßen facon
de parler (vgl. hierzu: Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992).
In einer aktualisierenden Betrachtung von Kants „Was ist Aufklärung?“ (1784) geht es um Fragen
der Befreiung aus einer „Unmündigkeit“ im Beherrschtwerden durch
jene disparaten „Machtdispositive“,
die hinter den vergangenen und
gegenwärtigen Varianten eines dezisionistischen
Prinzipiendenkens
verdeckt sind. Soll eine Vorstellung
von „Bildung“ die Ideale von Mündigkeit und Selbstbestimmung einschließen, muß die reflexionslose
Unterstellung einer Idealität von
Idealen ebenso suspekt bleiben wie
die oft damit einhergehende subtile
Diabolisierung des Wandels und der
Veränderung überhaupt von Werten.
Ignaz Knips
Clemens K. Stepina
Die Begriffe ‚Herrschaft’ und ‚Knechtschaft’ in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten von
Karl Marx
Einleitung
Gegenüber rein historischen Analysen versucht die folgende Arbeit, die
Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Karl Marx als Synthese der
Kritik bürgerlicher Ökonomie und Hegelscher Philosophie in zwei hermeneutischen Orientierungsstrukturen zu fassen: Die eine geht auf Ansätze von W. D. Hund1 zurück, der den Doppelcharakter im Marxschen
Arbeitsbegriffs als Natur- und Gesellschaftskonstante faßt und so die
freie Tätigkeit als stoffliche Existenznotwendigkeit, die entfremdete
hingegen als aufzuhebende Form der Entäußerung begreifen kann. Die
andere hat H. R. Jauß2 angedeutet; sie besteht in der Rekonstruktion der
in den Philosophien von Hegel und Marx impliziten Handlungstheorien
mithilfe des aristotelischen Dualismus von Poiesis und Praxis. Beide
Deutungsstrukturen werden hier miteinander verknüpft und mit einer
systematischen Analyse der Manuskripte verbunden.
Die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (kurz: ÖphM)3 wurden 1844
niedergeschrieben und gelten in der Entwicklung von Marx als neuartige
Synthese von Ökonomie und Philosophie. Sie entstanden aus der Kritik
der bürgerlichen politischen Ökonomie einerseits und der Hegelschen
Philosophie andererseits. Seit ihrer Veröffentlichung in der MEGA im
Jahre 1932 - besonders aber in den fünfziger Jahren, als mit dieser Schrift
„die bloßgelegten Ursprünge des Kommunismus als eines Humanismus
... im grellen Gegensatz zur inhumanen Gestalt der kommunistischen
W. D. Hund, Geistige Arbeit und Gesellschaftsformation. Zur Kritik der strukturalistischen Ideologie, Frankfurt/Main 1973 (= Stud. z. Gesellschaftstheorie), bes. 21
ff.
2 H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/Main
1984, 103-105 u. 114-117.
3 zitiert wird nach: MEW, Erg-Bd. l, S. 465-588. Zur Entstehungsgeschichte: S. XVII
f. (Vorwort des Inst. f. Marxismus-Leninismus beim ZK der SED)
1
Herrschaft und Knechtschaft
55
Diktatur“4 standen - sind sie zum Gegenstand einer anhaltenden Kontroverse darüber geworden, welches Verhältnis Marx zum Idealismus um
1844 hatte. Diese Auseinandersetzung läßt sich in der Frage zusammenfassen, wie in seiner dialektischen Theorie die anthropologische Dimension zu
beurteilen sei, nämlich daß er zum einen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Menschen aus dessen Naturverhältnis heraus begreift, und daß er
zum anderen das im Naturverhältnis erarbeitete schöpferische Potential
des Menschen einem gesellschaftlichen Zusammenhang entgegenstellt,
der im Begriff der entfremdeten Arbeit das sozioökonomisches Verhältnis
von Herr und Knecht aufspannt.
Der westliche, undogmatische Marxismus lobte die ÖphM wegen ihrer
anthropologisch-humanistischen Prägung und benutzte sie als ein
Kampfmittel gegen die sowjetmarxistische Sterilität, den Begriff des
„Menschen“ durch den der objektivierenden „Produktivkraft“ zu ersetzen. So verschieden diese nicht orthodoxen Interpretationsansätze auch
waren, so hatten sie doch als gemeinsamen Nenner, daß hier zwei zentrale Begriffe des Marxismus, Arbeit und Entfremdung, noch nicht in die
eiserne Maske eines unkritisierbar wissenschaftlichen Sozialismus gegossen sind, sondern vielmehr das menschliche Antlitz eines jungen Philosophen offenbaren, der - wiewohl er diesen Begriffen eine unbestreitbar
materialistische und sozialrevolutionäre Wende gibt - in fruchtbarer Weise die Auseinandersetzung mit ihrer idealistischen Herkunft sucht.
I. Die Tradition der Herr/Knecht-Figur
Seit dem Bestehen der abendländischen Philosophie drückt sich die Idee
der menschlichen Freiheit in einem substantiellen Paradoxon aus, nämlich in der Gedankenfigur von Herrschaft und Knechtschaft, die auf der
bipolaren Theorie von selbst- und fremdzwecklicher Arbeit gründet. Marx
verstand es, aus dieser Struktur, von der griechischen Polis Aristoteles‚
bis zum preußischen Zensurstaat Hegels, die europäische
‚Welt‚geschichte der Freiheit des Menschen als ein in sich paradoxes
J. Habermas, Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den
Marxismus (1957). Anhang zu: ders., Theorie und Praxis, Frankfurt/Main 1989,
S.389.
4
56
Clemens Stepina
Gewaltverhältnis zwischen Ungleichen, also zwischen Herr und Knecht,
zu deuten. Sein Versuch, diese Ungleichheit durch eine vorübergehende
Verkehrung - der Arbeiter sei ‚Herr‚ und der Kapitalist ‚Knecht‚ - aufzuheben, lässt ihn als Vollender einer Tradition verstehen, die er doch
zugleich überwinden wollte.
1. In seiner Politik, 1. Buch behandelt Aristoteles als erster antiker Philosoph den Begriff der menschlichen Tätigkeit im bipolaren Kontext von
Herrschaft und Knechtschaft. Er nimmt im Tätigkeitsbegriff klassenideologisch eine Differenzierung in körperliche und geistige Arbeit, in
fremdzweckliche Poíesis und selbstzweckliche Prâxis, vor: So wie in
jedem Menschen das Selbst sich nur in der Regentschaft der herrischselbstdisziplinierenden Vernunft (Nous) über den sklavischfremdbegehrenden Trieb (Orexis) setzen könne, so bilde im Sozialgefüge
das abstrahierte Selbst aller Menschen, die substantielle Polis als das Ziel
des akzidentiellen Oikos, die Herrschaft des Nousträgers, des Herren,
über für beide feiern: Der Herr als der Handlungsbevollmächtigte zur
Zeugung des symbolischen Kulturakts5 setzt sich durch den Sklaven, der
für den Herrn das poietische Werkzeug ist.
In der aristotelischen Theorie ist also die Denunziationsstrategie an einem Naturrechtsverhältnis aufgehängt, die das Recht der herrschenden
Klasse als ein quasi präexistentes, der körperlichen Arbeit vorgreifendes
Recht legitimiert: Was der ‚minderfähige‚ Mensch als Poiesisträger, unter
mehr oder minder deutlich ausgesprochener Todesandrohung6, in der
Naturbezwingung an tränenreichem Werk herauswindet, wird im pathetischen Vor-Schein objektiv-naturgesetzlicher Produktionsverhältnisse
zum schon fertigen, zum Werden sich stiftendes Potential des befähigten
Praxisträgers, der dies Potential als Bürger oder Staat den Orexisträger,
den Sklaven, ab (1254 b 2 ff.). Dieses Herrschaftsverhältnis bezeichnet
Aristoteles ausdrücklich als gerecht7, weil durch die Natur vorgegeben.
Dieser Kulturakt ist als soziale Praxis nichts anderes als ein Ausbeutungsverhältnis
(vgl. 1280 a 13 ff.) unter dem Deckmantel der „gegenseitige(n) Freundschaft“ (1255
b 13 f.).
6 vgl. M.I. Finley, Die Sklaverei in der Antike, Frankfurt/Main 1985.
7 Mit tendenzieller Ausnahme der Sklaverei aus einem ungerechten Krieg: Pol. I,
1255 b 5 ff.
5
Herrschaft und Knechtschaft
57
Denn da Aristoteles annimmt, daß die Natur von den Ordnungsprinzipien bestimmt sei, wonach „immer Eines aus Mehrerem zusammengesetzt ist und ein Gemeinsames entsteht“, kann er sagen, daß in der Natur
immer sich „ein Herrschendes und ein Beherrschtes“ (1254 a 29 ff.)
zeige. Und weil er die soziale Ordnung der Naturordnung, als „zweite
Natur“, nachbildet, kann er die Beherrschung des Sklaven durch den
Herrn als Sieg der Vernunftdenker repräsentiert.
2. Bei Hegel, dem ‚Aristoteles‚ des Deutschen Idealismus, wird die
Herr/Knecht-Figur im Paradigma des sich selbst setzenden Bewußtseins
zu einer universalen und weltgeschichtlichen Kategorie weitergeführt. Im
Rückgriff auf die aristotelischen Begrifflichkeit8 dient hier das Verhältnis
von Herrschaft und Knechtschaft dazu, den (welt)geschichtlichen Prozeß und die universale Konstituierungsproblematik der Arbeit als Bildungsmoment der bürgerlichen Gesellschaft auszugeben: Das Selbstbewußtsein muß sich, so Hegels naturrechtliche Ideologie der herrschenden Klasse als bourgeoisen Sinnbilds der Sittlichkeit und des Staates, um
sich selbst als vernünftig einsetzen zu können, in einer selbstverwirklichenden Handlung qua Todeskampf als unterlegenes wie überlegenes
Subjekt darstellen. In dieser Handlung wird jedoch der Primat nicht der
Arbeit als der natürlichen materialen Gattungsäußerung (Poiesis) zugewiesen, sondern allein der bürgerlichen Geistespraxis, die die Vermittlung
von Mensch und Natur immer schon voraussetzt. 9
Hegel hat die aristotelische Trennung von Praxis und Poiesis, und damit die
Herr/Knecht-Figur, schon in seiner frühen rechtsphilosophischen Arbeit Über die
wissenschaftliche Behandlung des Naturrechts ... (Werke, II, 434-529) übernommen und sie
später, v. a. in der Phänomenologie des Geistes und den Grundlinien der Philosophie des Rechts
systematisiert.
9 J. Habermas (Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, Frankfurt/Main 1969) und
A. Honneth (Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/Main 1994) haben versucht, die handlungstheoretische Aporien, die
der Herr-Knecht-Figur innewohnen, anhand einer Reformulierung der Jenenser Realphilosophie Hegels zu entgehen. Nicht mehr das Prinzip des Selbstbewußtseins oder
der Arbeit, sondern das der Kommunikation, das bei den sprachlich agierenden
Subjekten ansetzt, bzw. das der sozialen Beziehung wechselseitiger Anerkennung sei
hier das Paradigma, das zugleich das der Moderne sei. Meines Erachtens läßt auch
die Jenenser Realphilosophie sich nicht als Theorie intersubjektiver Beziehung interpretieren, sondern muß reflexionslogisch verstanden werden. Denn bei Hegel ist das
Verhältnis des Liebenden zum Geliebten, von Verbrecher und Opfer, von Herr und
8
58
Clemens Stepina
3. Marx schließlich hat die Hegelsche Herr/Knecht-Figur des theoretisch-endlichen Selbstbewußtseins als Darstellungsverhältnis des Geistes
in eine materialistische Knecht/Herr- (in ökonomischer Analyse: Arbeiter/Kapitalist-) Bewegung des praktisch-endlichen Selbstbewußtseins
übersetzt und somit das idealistisch-denunziatorische Verhältnis von
fremdzwecklich-instrumenteller
Herstellung
(Poiesis)
und
selbstzwecklich-emanzipatorischer Handlung (Praxis) umgekehrt. Diese
Umkehrung konnte Marx gelingen, weil er in der Gegenüberstellung der
materialen Arbeit des Knechts zu der Geistesarbeit des Herrn den Begriff der Entfremdung aus ihrem Ursprung, der entfremdeten Arbeit, gewonnen hat, und ihn auf alle Formen der Knechtschaft anwenden konnte.
Entfremdung meint in Marx‚ ÖphM einen Zustand, in dem dem Menschen, in Verkehrung der Subjekt-Objekt-Dialektik, das Ergebnis seiner
eigenen Arbeit verselbständigt gegenübertritt und als sachliche Gewalt
beherrscht. Die entfremdete Arbeit ist demnach der Ursprung aller Entfremdung: Entfremdung vom Produkt der eigenen Arbeit, von sich
selbst, vom Gattungswesen sowie von harmonischen Sozialverhältnissen;
schließlich Entfremdung von der Natur und den eigenen fünf Sinnen
(510 ff., 240). Marx nennt die so entfremdete Arbeit bei ihrem sozioökonomischen Namen: Sie ist Lohnarbeit unter der Gewalt des Privateigentums, und als solche Verkehrung der schöpferischen Gattungstätigkeit
zum bloßen Mittel des rohen Selbsterhalts des Arbeiters wie verfeinerte
Profitmaximierung für den Kapitalisten.
Der Begriff der entfremdeten Arbeit drückt sich bei Marx also in sozioökonomischen Beziehungen aus. Diese werden im folgenden im Kontext
von Herrschaft und Knechtschaft in zweifacher Weise nachvollzogen:
Einmal als Ergebnis des Marxschen Studiums der Nationalökonomie
seiner Zeit, das in den Kapiteln über Die entfremdete Arbeit und Privateigentum und Kommunismus enthalten ist (II); einmal als kritische Analyse des
Knecht usw. kein „Kampf um Anerkennung“ zwischen wirklichen Menschen, sondern ein logisch-kategoriales Gehaltsmoment des Selbstbewußtseins, das erst dann in
seinem - somit bewußt als defizitär konstruierten – ‚intersubjektiven‘ Intermezzo
befriedet ist, wenn es in den absoluten Geist übergeht. Vgl. dazu J. Heinrichs, Die
Logik der ‚Phänomenologie des Geistes‘, Bonn 1983, S.180 f.
Herrschaft und Knechtschaft
59
Hegelschen Systems im Kapitel über die Kritik der hegelschen Dialektik und
Philosophie überhaupt (III).
II. Marx und die Nationalökonomie
Marx bestimmt die Arbeit des Menschen - im Unterschied zum Tier - als
bewußte und zweckgerichtete Formveränderung der Natur; sie ist allgemeine Bedingung des gesellschaftlichen Lebens. Die Stellung des Menschen zu sich selbst ist daher bestimmt durch die stoffliche Arbeit in
zugleich gesellschaftlicher Form. Als solche drückt sie ein doppeltes
Verhältnis aus: Die Beziehung des Menschen zur Natur wie die der Menschen zueinander - als Individuen und als Gattung. Dieses doppelte
Verhältnis des Arbeitsbegriffs10 – stofflich als Verhältnis des Menschen
zur Natur, der Form nach als gesellschaftliches Verhältnis – enthüllt für
Marx die anthropologische Geschichtserkenntnis als ökonomische Gesellschaftstheorie; und es dient ihm, den Zustand einer Gesellschaft
entweder als ein widersprüchliches – im Zustand der Nationalökonomie
- oder als harmonisches Verhältnis – im Zustand des Kommunismus zu beschreiben. Der natürliche Mensch ist als Teil der Gattung im Sinne
eines sich selbst erzeugenden Entäußerungsprozesses in der Arbeit das
stoffliches Charakteristikum, das sich mit dem gesellschaftlichen dialektisch verschränkt: Als Naturbearbeiter ist der Mensch zugleich Gesellschaftswesen.
Dieses Fürsichwerden des Menschen - die Entfaltung seines Wesens
durch die „Vergegenständlichung“ in der Arbeit - vollzieht sich allein im
Rahmen der historischen Formen der materiellen Produktion; dabei
kommt der kapitalistischen Gesellschaft dieses fortschreitende Vergegenständlichungsmodell als „Entfremdung“, als soziale Beziehung der
Ausbeutung zu. Diese soziale Beziehung der Ausbeutung ist jedoch, auf
der Folie des Begriffs der entfremdeten Arbeit als Prinzip des nationalökonomischen Zustands, die spezifisch sozioökonomische Form der
Arbeit als eines Herr/Knecht-Verhältnisses der Menschen zueinander:
10 zum doppelten Arbeitsbegriffs als Natur- und Gesellschaftsverhältnisse siehe: D.
Hund, Geistige Arbeit und Gesellschaftsformation. Zur Kritik der strukturalistischen
Ideologie, Frankfurt/Main 1973, bes. 21 ff.
60
Clemens Stepina
Der Kapitalist als Herr wird zum persönlichen Repräsentanten der
Macht des Kapitals als Geld - „die Eigenschaften des Geldes sind ...
seines Besitzers ... Eigenschaften und Wesenskräfte“ (564); der Arbeiter
als Knecht wird auf seine tierische Reproduktion - Erhaltung seiner
„physischen Bedürfnisse“ (517) - reduziert. Das heißt: die Gattungsreproduktion als schöpferisch-genossenschaftlicher Arbeitsakt im Sinne
der Gleichheit aller Menschen stellt sich im Kapitalismus in der Ungleichheit der Menschen als Verhältnis der ausgebeuteten Arbeit zum
Geld dar. Im Geld, schreibt Marx, ist als einer fremden Macht das „entfremdete, entäußerte und sich veräußernde Gattungswesen der Menschen“ (510 f.) zu sich gekommen.
Marx‚ Formulierung eines elementaren Widerspruchs des Seins als eines
dynamischen Selbstverhältnisses in seiner Darstellung von Stoff und
Form ist in der kapitalistischen Gesellschaftsformation ökonomisch
evident geworden und deutet schon auf seine dialektische Aufhebung im
Reich der kommunistischen Idee hin. Das Verhältnis des Menschen zur
Natur wie zu seiner kapitalistischen Formbestimmtheit entbirgt sich als
aporetisch: Auf der einen Seite sieht Marx das Reich der Freiheit, das im
Kommunismus des verwirklichten Gattungswesens die Notwendigkeit
der Ausbeutung der Arbeit aufhebt. Arbeit, wie es im ersten Band des
Kapitals wohl im Rekurs auf die ÖphM heißt, wird hier definiert als „allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur,
ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens, vielmehr allen seinen
Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.“ (MEW 23, 198) Diesem Reich
der Freiheit steht das Reich der kapitalistischen Notwendigkeit gegenüber,
dem ein entsprechender Arbeitsbegriff korrespondiert: „Der Arbeiter
fühlt sich ... in der Arbeit außer sich... Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung
eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer
ihr zu befriedigen.“ (514) Nicht die Arbeit an sich, als gegenständliche
Arbeit, entfremdet den Arbeiter von sich, sondern das soziale Beziehungssystem, in dem die Arbeit - als Ausdruck eines entfremdeten Naturverhältnisses – vollzogen wird.
Damit entwickelt Marx die ökonomischen Kategorien seiner Kapitalismuskritik anhand der Stoff/Form-Figur für die Idee der vollkommenen
Herrschaft und Knechtschaft
61
sozialen Einheit zu einer harmonischen Allseitigkeit sowohl der Gesellschaftlichkeit als auch der Selbstbestimmung weiter. Zum ersteren: Der natürlich vorhandene Widerspruch des Stoffwechselprozesses Mensch-Natur
ist allen Gesellschaften als ein aufzuhebender in gleicher Weise inhärent:
die menschliche Gattung muß die Natur kultivierend umformen, um die
eigene, menschliche Natur gegen sie zu erhalten. Dieser Widerspruch
hebt sich unter der nationalökonomischen Formation der Klassengesellschaft in der Form der Produktionsbeziehung des Arbeiters zu seinem
Gegenstand auf, der sich, als Privateigentum, in der Gewalt des Kapitalisten befindet (517 ff.). Dieses Produktionsverhältnis ist als Rechtsverhältnis legitimiert und Ausdruck des kollektiven Erkenntnisinteresses der
herrschenden Klasse. Hier tritt das stoffliche Element der Arbeit als
Naturbearbeitung mit seinem Formelement als kapitalistische Lohnarbeit in
einen unversöhnlichen Widerspruch, - bis hin zur revolutionären Krise,
die als Weltrevolution zu einer weltgeschichtlichen Kategorie wird (537
ff.). – Zum zweiten: Arbeit an sich ist nicht nur allgemeingesellschaftliche Bestimmung der Gattung, sondern auch individuelle
Selbstbestimmung des Menschen im Sinne von „Selbsttätigkeit, ...freier
Tätigkeit“ (517), des „absoluten Herausarbeitens seiner schöpferischen
Anlagen“11. Ist einmal die Einheit von Stoff und Form als Arbeit an sich
in der utopia socialis wiederhergestellt, indem im Arbeitsprozeß die Gesellschaftlichkeit der Gattung und die Selbstbestimmbarkeit des Individuum
einander bedingen und eins geworden sind, so wird, im dialektischen
Wechselspiel, die Notwendigkeit der Arbeit zur Freiheit und die Freiheit
der Betätigung wiederum zur Notwendigkeit12.
11 MEW 42, S.387. Dort heißt es weiter: „In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anderes, als die im universellen
Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen?“
12 ÖphM, S.536: „Dieser Kommunismus ... ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre
Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung
und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum
und Gattung.“ Vgl. die diesbezüglichen Kritik von H. Marcuse, „Zur Kritik des
Hedonismus“. In: Zeitschrift für Sozialforschung 1938, VII. S.80 ff, Ideen zu einer
kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1969, S.129 ff.
62
Clemens Stepina
Marx bestimmt die ökonomische Form des Kapitalismus als „zur Auflösung treibendes Verhältnis“ (533). Seine Analyse will zeigen, daß die
kapitalistische Ideologie von der dialektischen Einheit von Stoff und
Form nur scheinbar den Klassengegensatz aufhebt. Diese Ideologie
werde als nationalökonomische Wissenschaft von den intellektuellen
Stellvertretern des Staates thematisiert und produziert, die das Sittliche,
das absolute Selbstverhältnis des Absoluten, unter dem Primat des endlichen Selbstbewußtseins als Herrschaft des Kapitals darstellt.13 Marx‚
kritische Analyse der Arbeit zeigt in diesem Stadium zwar, daß das Kapital sich geschichtlich als verdinglichte Gattung in der Nationalökonomie
naturwüchsig als endliches Selbstbewußtsein darstellen mußte; sie entkommt aber nicht der Zirkelschlüssigkeit ihrer Argumentation: Die
Strukturgleichheit des Kapitals mit der kapitalistischen Gesellschaft im
Selbstdarstellungsmedium
des
nationalökonomischen
Herrschaft/Knechtschaft-Modells ist die Selbstdarstellung des Absoluten,
weil es den Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital ignoriert. Im
Geld erscheint dieser auf der Ausbeutung beruhende Klassengegensatz
aufgehoben. - Aber: Das Absolute teilt sich als die Stoffursache in der
Form von Staat und Sitte im Herrn mit. Er allein kann das Stoffpotential
des Kapitals vernünftig formieren, da er es ja – unter der Bedingung von
Ausbeutung - stofflich repräsentiert; und nicht der Knecht, der es zwar
in seiner Selbstentfremdung formiert, aber nicht stofflich repräsentiert.
Somit wäre, zumindest rein theoretisch, eine - wie immer auch ideologisch verzerrte - Staatsform möglich, die de jure sich die gesellschaftlichen Lebensformen im Sinne von Klassen unterordnet; de facto freilich
ist die kapitalistische Staatsform nichts anderes als die repraesentatio
13 ÖphM, S.531: „Nicht nur wächst der Zynismus der Nationalökonomie relativ von
Smith über Say bis zu Ricardo, Mill etc., insofern die Konsequenzen der Industrie den
letzteren entwickelter und widerspruchsvoller vor die Augen treten, sondern auch
positiv gehn sie immer und mit Bewußtsein weiter in der Entfremdung gegen den
Menschen ..., aber nur weil ihre Wissenschaft sich konsequenter und wahrer entwickelt. Indem sie das Privateigentum in seiner tätigen Gestalt zum Subjekt machen,
also zugleich den Menschen zum Wesen und zugleich den Menschen als ein Unwesen zum Menschen machen, so entspricht der Widerspruch der Wirklichkeit vollständig dem widerspruchsvollen, das sie als Prinzip erkannt haben. Die zerrissene
Wirklichkeit der Industrie bestätigt ihr in sich zerrissenes Prinzip, weit entfernt, es zu
widerlegen. Ihr Prinzip ist ja das Prinzip dieser Zerrissenheit.“
Herrschaft und Knechtschaft
63
dominorum. Marx indes postuliert: Alle Menschen sind gleich; aber
manche sind, da sie in sich das Stoffpotential der Arbeit tragen, über eine
revolutionäre Periode hinweg gleicher. Dies ist im Diktum von der vorübergehenden „revolutionären Diktatur des Proletariats“ qua Knechtschaft/Herrschaft-Figur festgelegt14. Somit hat der kommende Mensch,
gestiftet durch die Idee der vollkommenen sozialen Einheit, sich aus der
Idee der harmonischen Menschengattung als Klassenbegriff abzuleiten.
Diese sei in ihrer absoluten Verkehrung kapitalistischer Produktionsverhältnisse schon in der Arbeiterklasse (d. i. methodisch ein kollektives
Subjekt des nun ökonomisch zu evozierenden Gattungsbegriffs) angelegt; sie müsse nur klassenkämpferisch hervorgebracht werden:
„ ... Die Emanzipation der Gesellschaft vom Privateigentum etc., von
der Knechtschaft, (spricht) in der politischen Form der Arbeiteremanzipation
sich aus..., nicht als wenn es sich nur um ihre Emanzipation handelte,
sondern weil in ihrer Emanzipation die allgemein menschliche enthalten
ist, diese ist aber darin enthalten, weil die ganze menschliche Knechtschaft in dem Verhältnis des Arbeiters zur Produktion involviert ist und
alle Knechtschaftsverhältnisse nur Modifikationen und Konsequenzen
dieses Verhältnisses sind.“ (521)
Das heißt, daß Marx einerseits die moralische Forderung nach einem
Gattungsverhältnis einklagt, in dem sich semimythologisch eine soziale
Einheit unentfremdeter Produktionsverhältnisse vorkapitalistischer Prägung vorfindet. Andererseits aber hat dieser Zustand durch eine soziale
Revolution zu erfolgen, die auf die kapitalistischen Entfremdungsformen
der wissenschaftlich-technischen Revolution zurückgreifen soll (dies
hatte Marx eindrücklich gegen Lists utopischen Sozialismus erstritten
und im Lob der Industrie besungen). Marx‚ Hypothese ist nun die, daß
er erstaunlicherweise dem zutiefst entfremdeten Wesen des Kapitalismus
das zu entbergende wahre Gattungswesen im Keim der Arbeiterklasse
repräsentiert sieht. Wenn Marx in ökonomischen Kategorien davon
14 zur „revolutionären Diktatur des Proletariats“ siehe: Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 28; zur „Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt“ siehe: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW 7, 89 f. - Beide sind in den ÖphM
schon angelegt. Siehe das folgende Zitat.
64
Clemens Stepina
spricht, daß das Kapital mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, ja aufzulösen wäre, dann heißt das im Rückbezug auf die Wurzeln seiner anthropologischen Geschichtstheorie, daß er schlichtweg die Neuerschaffung
des Menschen, die Aufhebung des ‚kapitalistischen Sündenfalls‚, einklagt.
Weil die menschliche Arbeit bei Marx als zentrales Instrumentarium
eines harmonischen Vergegenständlichungsmodells fungiert, enthält sie
die Idee einer sozialen Einheit nur in einem Begriff der Arbeit, der eine
harmonische Gattung in sich trägt. Vertreter dieser Gattung sind die
„sozialistischen Menschen“ (542), die in ihrer poietischen Welterschließung schon das Produkt der genossenschaftlichen Gattungstätigkeit noch ausgebeutet - in sich tragen. Die wahre Sittlichkeit des Menschen
ist daher nur durch seine Arbeit als das Primum gesellschaftlicher Praxis
zu entbergen. Insofern deutet der Arbeiter im endlichen Selbstbewußtsein poietischer Arbeit - ist diese von kapitalistischer Entfremdung zur
sozialistischen Vergegenständlichung befreit - auf den endzeitlichen
Zustand sozialer Harmonie hin. Ist in ihr doch das instrumentelle Herstellen als materiale Praxis normativ verbürgt. Die geschichts- wie erkenntnisbildende Rolle der Arbeit zeitigt für Marx also das Proletariat als
Richtschnur für eine kommende Menschheit.15
Der Schluß liegt nahe, daß Marx die bei Hegel vorgefundene
Herr/Knecht-Figur16 des theoretisch-endlichen Selbstbewußtseins zur
Knecht/Herr-Figur des praktisch-endlichen Selbstbewußtseins verkehrt
hat. Steht hier der Mensch als die in gemeinschaftlicher Arbeit zu sich
kommende Gattung als Desiderat kommunistischer Universalität da, so
muß dort - im kapitalistischen Begriff der Gattung - der Mensch als sich
15 Vgl. Ch. Taylor, Hegel, Frankfurt/Main 1983, S.550: „Solange sich der allgemeine
Mensch in Widerspruch zu seiner tatsächlichen historischen Verkörperung in der
Klassengesellschaft befindet, kann der Mensch nicht deutlich erkennen, was er tut.
Aber wenn dieser Widerspruch durch das Proletariat überwunden wird, wird sein
Handeln selbstbewußt.“
16 Diese Figur erscheint hier, obgleich Marx der Sache nach nur die Nationalökonomie behandeln will, zeitweise als Konglomerat nationalökonomischer Empirie und
Hegelscher Theorie. Das erklärt auch, weshalb ursprünglich in die nationalökonomisch orientierten Kapiteln der Arbeit immer wieder Passagen zu Hegel eingestreut
waren, die erst in den MEGA- und MEW-Redigierungen zum geschlossenen Kritikteil zusammengefügt wurden. Vgl. ÖphM, Anm. 118, 120 und 121 sowie die Anm. 99
generell.
Herrschaft und Knechtschaft
65
entfremdeter, durch das Geld als Sinnbild des verkommenen Mußemenschen agieren (564). Beides zeigt an, daß die angestrebte Gesellschaftskritik nationalökonomischer Strukturen mit der Einführung des doppelten
Verhältnisses der Arbeit als Stoff und Form das Defizit der Abstraktheit
anthropologischer Geschichtstheorie nur in der Abstraktheit ökonomischer Theorie verdoppeln kann: Das gezeichnete Bild der kapitalistischen
bzw. der kommunistischen Gesellschaftsformation besteht während
dieser Phase der Marxschen Analyse erst noch als Ansatz. Es ist viel
mehr durch eine spekulative Ideenlehre17 im Sinne einer materialistischen
Umdeutung der Begriffe der hegelisch determinierten Nationalökonomie
gekennzeichnet, als durch - so Marxens eigenes Selbstverständnis - „eine
ganz empirische“ (467) Quellenforschung.
III. Marx und Hegel
In der Auseinandersetzung mit der „Hegelschen Dialektik“, namentlich
der Phänomenologie des Geistes, lobt Marx Hegel dafür, das Wesen der Arbeit begriffen, d. h. mit den Termini Entfremdung und Vergegenständlichung erfasst zu haben (574); wiewohl er nicht an der Kritik spart, diese
erfahren bei Hegel eine idealistische Gleichsetzung. Was die logische
Figur der Entfremdung konkret bedeutet, lässt sich am deutlichsten in
Hegels Erörterung der Arbeit im Kontext seiner Herr/Knecht-Figur
ablesen. Da einer der ersten Schritte zur eigenen Arbeitswertlehre für
Marx bekanntlich darin bestand, diese Figur materialistisch umzukehren,
soll im folgenden dieses Umfeld des Hegelschen Arbeitsbegriffs näher
untersucht werden.
17 Das ist auch der Grund, weshalb Marx in den ÖphM (510 f.) die widerspruchsvolle
gesellschaftliche Entwicklung noch spekulativ als Akkumulation des Elends ausgibt,
während sie in den gefestigten Ökonomiestudien als Gegensatz von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen analysiert wird. Diese Ökonomisierung ist insofern
von tragender Bedeutung für den Arbeitsbegriff, da Marx dadurch das undifferenzierte, utopische Naturverhältnis einer kommenden Gesellschaft als ein differenziertes, realökonomisches Gesellschaftsverhältnis - qua Negation der kapitalistischen
Gesellschaftsformation - zu deuten vermag. Damit entfällt allerdings zunehmend die
Natur als Pendant der menschlichen Selbstschöpfung. Vgl. MEW 23, S.198; MEW
25, S.828.
66
Clemens Stepina
Im Abschnitt Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie (Werke III, Frankfurt 1986,
S.145-155) versteht Hegel Arbeit als die Verwirklichung eines Zweckes;
diese wird durch den Übergang eines Subjekts zur Selbstobjektivierung
erklärt. Der Zweck als inneres Motiv entfaltet sich nur durch die Verwirklichung seines Anderen, des Objekts. Der Begriff der Entfremdung
oder Entäußerung (hier wird nicht differenziert), der die zentrale erkenntnistheoretische Kategorie zur Erfassung der Subjekt-ObjektDialektik wird, ist bei Hegel als ein Prozeß bestimmt, in welchem das
Subjekt durch seine objektive Außenwelt zu sich selbst kommt und wirklich wird. Auf der höchsten Stufe gegenseitiger Durchdringung von Subjekt und Objekt ist es, so idealistisch Hegel, der Geist selbst, der sich als
reines Selbstbewußtsein anschaut. Am Herr/Knecht-Beispiel verdeutlicht Hegel „die Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins“ (145) im Geiste der aristotelischen Tradition: Das Selbstbewußtsein muß, um sich als vernünftig setzen zu können, sich in einer selbstverwirklichenden Handlung qua Todeskampf als unterlegenes, als
Knecht, sowie als überlegenes, als Herr, manifestieren. Trotz der ‚antiken‚ Ideologie, der Staat könne sich nicht anders als durch den Primat
des Geistes darstellen, hat Hegel mit seiner Rehabilitierung des Verwirklichungsvorgangs des Menschen als Poiesis, als reiner, zu sich selbst
kommender Entäußerung, doch seinen eigenen Idealismus überwunden.
Diese Überwindung kündigt sich dadurch an, als daß der erscheinende
„Werkmeister“ Geist sich selbst nur durch seine Tätigkeit gegenständlich
ist. Das Medium dafür aber ist die poietische Arbeit; in ihr durchdringen
sich Subjekt und Objekt wahrhaft. Der produzierende Mensch ist in
seinem Anderssein bei sich:
„Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist demnach das knechtische
Bewußtsein. Dieses erscheint zwar zunächst außer sich und nicht als die
Wahrheit des Selbstbewußtseins. Aber wie die Herrschaft zeigte, daß ihr
Wesen das Verkehrte dessen ist, was sie sein will, so wird auch wohl die
Knechtschaft vielmehr in ihrer Vollbringung zum Gegenteile dessen
werden, was sie unmittelbar ist; sie wird als in sich zurückgedrängtes Be-
Herrschaft und Knechtschaft
67
wußtsein in sich gehen und zur wahren Selbständigkeit sich umkehren.“
(152)
Zwar schaut der Knecht sich im Medium der Arbeit selbstbewußt in
seiner Entäußerung, in seinen Produkten an; jedoch ist diese Anschauung eine gegen ihn gekehrte. Zwar herrscht der Herr über den Knecht,
bzw. unterwirft sich der Knecht dem Herrn; aber der Herr kann, da er
wesenhaft weder Muße und Genuß von den, vom Knecht geschaffenen,
Gegenständen erfahren kann, selbst kein Selbstbewußtsein erreichen.
Den Schlüssel für diese Beziehung nennt Hegel hier „das Gefühl der
absoluten Macht“ (153) als ontische Struktur. – Die hier erreichte Position der Dialektik von Herr und Knecht nimmt Hegel dann jedoch in den
Grundlinien der Philosophie des Rechts zurück. Dort denkt er die ontologische
Primatstellung des Geistes, wenn er darstellt, wie die sittliche Natur zu
ihrem tatsächlichen Recht gelangt, nämlich durch die Dominanz der
Vernunft (Zeichen des Herrn) über die Begierde (Zeichen des Knechts).
Bei all dem bleibt Hegel jedoch die Einsicht in den nationalökonomischen Zustand, d. h. die Kapitalismusstrukturen dieser Ideologie, verwehrt. Er unterschlägt das realdialektische Verhältnis von Kapital und
Lohnarbeit und rechnet in naturrechtlicher Spekulation das Primum der
Sittlichkeit den Herren als deren eigentlichen Inhaltsträgern zu. Die Arbeiter sowie ihre „Geschicklichkeit“ als „reine Form“ des „Wesens“
(Werke III, 155) gelten ihm, da sie ihren Zweck außer sich haben, als
ehrlos. Hegel vollendet damit die Geschichte des abendländischen Denkens als einer Geschichte der Legitimation der Philosophie durch das
Dogma der Trennung der geistigen von der körperlicher Arbeit (Freiheit
und Notwendigkeit), das mit der logischen Figur der Entfremdung jede
Möglichkeit der Synthese von Muße und Arbeit denunziert. Mit einem
Wort: „Die Naturrechtslehre (ist) mit Hegel vollkommen zu Ende gedacht“ worden18. Während im Mythos der homerischen Helden körperliche und geistige Arbeit „noch nicht gänzlich [voneinander; Vf.] getrennt
waren“19, etabliert die aufkommende Philosophie den ideologischen
18 N. Bobbio, Hegel und die Naturrechtslehre. In: M. Riedel, Materialien zur Hegelschen Rechtsphilosophie, Frankfurt/Main 1975, S.81.
19 E. C. Welskopf, Probleme der Muße im alten Hellas, Berlin 1962, S.120; auch: B.
Snell, Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1946, S.18 f.
68
Clemens Stepina
Überbau des entstehenden Privateigentums als Logos: die Arbeit, mit der
Formierung der Klassengesellschaft zur Zwangsarbeit geworden, wird in
den idealistischen Begriffen der Philosophie als eine „Naturnotwendigkeit“, im Sinne eines objektiven Scheins ihrer Kategorien, widergespiegelt.
Marx‚ zweifellose Leistung, wenn auch utopische Forderung nach der
Einheit von Freiheit und Notwendigkeit wie von Praxis und Poiesis, liegt
nun darin, dem idealistischen, d.h. „abstrakt geistigen“ (574), Begriff der
Arbeit sein materialistisches Wesen im Sinne einer historischen Umkehrung Hegels enthüllt zu haben. Für ihn besteht die erkenntnisbildende
Rolle der Arbeit in der sozialethischen Gewißheit, daß sie nicht nur als
Werkzeug zum materiellen Reichtum aufgefasst werden kann, sondern
vor allem als zentraler Schlüsselbegriff für das gesellschaftliche Ideal der
sozialen Einheit. Sein genuiner Entwurf eröffnet sich chronologisch am
fruchtbarsten dort, wo der philosophische Entfremdungsbegriff Hegels
mit dem einer Kritik an der klassischen Nationalökonomie zusammengedacht wird. Denn damit wird der Begriff Entfremdung zum realdialektischen Instrumentarium der Gesellschaftskritik. Dieser übersteigt jedoch
die Hegelsche formallogische Figur der Entfremdung nicht, ohne sie
‚ökonomisch‚ rezipiert zu haben. Marx kritisiert Hegel wegen des Primats
des Geistes in dessen Entfremdungsbegriff; Hegel wolle überhaupt die
sinnliche Gegenständlichkeit aufheben, damit die eigentliche ‚Vergegenständlichung‚ des Menschen als reines Bewußtsein – gegen die sinnlichtätige Anschauung - sich selbst darstellen könne. Mit anderen Worten:
Hegel habe die Vergegenständlichung nur als Darstellungsmittel zu ihrer
Aufhebung durch das synthetische Selbstbewußtsein mißbraucht, das
sich als wahre Gegenständlichkeit bei ihm nur in der Abstraktion erfüllt.
Das Wahre sei für Hegel die Idee, und die Natur werde für die Darstellung ihres Andersseins mißbraucht (584 f.). Entfremdung kann somit für
Hegel nur ein negativ besetzter Begriff bleiben, da die wirklichen Subjekte – die bei ihm zu Funktionen der allgemeinen „mystischen Substanz“
werden - nicht zwischen sinnlichen Gegenständen überhaupt, die sich
durch harmonische Vergegenständlichung qua menschliche Selbstbestimmung entbergen, und deren gesellschaftlich entfremdeten Form unterscheiden können. Gegen diese Ignoranz der Differenz, „die Lüge
Herrschaft und Knechtschaft
69
seines Prinzips“ (581), die unwesenhafte Erkenntnisleistung der Herren
(Kapitalisten) als ontologischen Naturzustand zu interpretieren, verwehrt
Marx sich aufs Schärfste.
Diese inhaltlich absolute, formal relative Differenz der Entfremdungsmodelle zieht dann in der Entwicklung des Hegelschen und Marxschen
Systems ihre sich voneinander entfernenden Kreise. Um nicht sich die
Blöße eines vordergründigen Zirkelschlusses zu geben, muß auf ein
bestehendes Ganzes, d. h. Absolutes, der Wirklichkeit rekurriert werden.
Für Hegel ist dies Absolute die Idee des Weltgeists, den er als sittlichen
Mantel den Herrn, der Bourgeoisie, umwirft. Für Marx ist es in Übersetzung dieser Hegelschen Idee die materiale Idee einer Gattung20, die die
Knechte, das Proletariat, wie aus der kommunistischen Pistole geschossen, stiften sollen21.
Von der Marx wohlweislich als von einer „ideelle[n] Totalität“ (579) schreibt.
Derart inspiriert spricht etwa Trotzki vom Menschen in der „kommunistischen
Lebensweise“ als von einem Menschen „höheren gesellschaftlich-biologischen Typus“, von „einem Übermenschen“ (L. Trotzki, Literatur und Revolution, Berlin
1972, S187 ff.).
20
21
Martin Schraven
Vom Siechtum der deutschen
Philosophie
„Ich bin der Dr. Eisenbart,
kurier die Leut nach meiner Art ...“
(Deutsches Studentenlied, um 1818)
Die Philosophie ist der Kritik ausgesetzt. Das ist nichts Neues, ist die
Kritik doch eines ihrer Lebenselexiere. Sie selbst kritisiert fortwährend
andere Positionen und kritisiert sich selbst; warum sollte sie nicht auch
von anderen kritisiert werden? Ein Dummkopf also, der glaubte, die
Wissenschaft der Wissenschaften, die Hüterin über These und Antithese,
sei der Kritik enthoben. Warum sollte es der gegenwärtigen Philosophie
anders ergehen, wenn sich schon Thales der Häme einer thrakischen
Magd aussetzen mußte?
Den jüngsten, aber gewiß nicht letzten Versuch, die Patientin „philosophia“ zu kurieren, unternahm nun Joachim Jung aus Wien.1 Was er vorfand, ist keine mit Lebenslust erfüllte junge Frau. Sie vermag schon
längst nicht mehr, dem Manne in schwierigen Lebenslagen Trost zu
spenden. Nach Jungs Diagnose ist es schon euphemistisch, die philosophia überhaupt als Patientin zu bezeichnen, die bloß zu kurieren wäre;
sie befindet sich vielmehr im Zustand des Siechtums, dem Tode näher
als der Genesung. Jungs Buch über den „Niedergang der Vernunft“ ist
also eine Polemik. Sie ist erfrischend in ihrer Respektlosigkeit, sie ist in
manchen Teilen sehr einseitig, und sie ist oft sehr ungerecht. Dies alles
gehört zu einer Polemik, und wenn der Nutzen den Schaden überwiegt,
sollte man ihr und ihrem Autor die kleineren und größeren Unsachlichkeiten nachsehen. Dabei zielen Jungs Pfeile nicht so sehr auf die Philosophie im allgemeinen, sondern eher auf die akademische Philosophie
und vor allem den Philosophiebetrieb, wie er sich an den Universitäten
in den deutschsprachigen Gegenden Europas etabliert hat. Unter „deutscher Philosophie“ will er also die akademische Philosophie in DeutschJoachim Jung, Der Niedergang der Vernunft. Kritik der deutschsprachigen Universitätsphilosophie, Frankfurt/New York 1997.
1
Vom Siechtum der deutschen Philosophie
71
land, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz verstanden wissen.
Joachim Jung ist vom Fach; seine Polemik ist also ernst zu nehmen. Er
hat sein Philosophiestudium mit der Promotion abgeschlossen, lebt
heute als freier Journalist in Wien und ist Herausgeber der kleinen Philosophiezeitschrift „Kontroversen in der Philosophie“. Also hat er sich
nach seinem erfolgreichen Studium nicht von der Universitätsphilosophie umarmen und unterkriegen lassen.
Die Anamnese
Jung breitet sehr viele Krankheitssymptome aus. Nur einige markante
sollen hier zitiert werden: Die deutsche Philosophie ist nicht mit den
brennenden Problemen dieser Welt, sondern meistens nur mit sich selbst
beschäftigt; sie schaut nicht über ihren eigenen Tellerrand hinaus, ihr ist
das praxisnahe Denken fremd (14). „Die Welt der Wissenschaft“ (offenbar also nicht nur die der Philosophie!) „leidet an Realitätsschwund. Man
lebt scheinbar abgehoben von den Erscheinungen des Alltags auf den
Bergen des Daseins, zwischen Eis und Fels, von Nebelschwaden umwabert, und nimmt die Realität im Tal nur noch wie eine winzige Spielzeuglandschaft wahr“ (172f.).
Signifikant für das geistige, praxisferne Klima, das im gegenwärtigen
Philosophiebetrieb herrscht, ist der Umgang deutscher Philosophieprofessoren untereinander. Die Professoren vermeiden, wenn sie auf Kongressen unter sich sind, die inhaltliche Auseinandersetzung. Statt dessen
tausche man sich über Stellenbesetzungen und die Schwächen der nicht
anwesenden Kollegen aus. Des weiteren nehmen die Herren Professoren
nur sich selbst und ihre gleichrangigen Kollegen ernst. Die Meinungen
von Studenten oder Angehörigen des akademischen Mittelbaus sind
grundsätzlich nicht diskussionswürdig. Und Widerspruch und Kritik an
einzelnen Lehrmeinungen werden stets als persönliche Beleidigung aufgefaßt (168f.). Darüber hinaus kann man ganz allgemein eine Abschottung der verschiedenen philosophischen Schulen untereinander feststellen, die soweit geht, daß einzelne Professoren anderen allein deswegen
die Kompetenz bestreiten, weil sie sich einer anderen Denkrichtung,
einer anderen philosophischen Tradition zurechnen.
72
Martin Schraven
Die deutsche Gegenwartsphilosophie befaßt sich „fast ausschließlich mit
der Aufarbeitung von historischem Wissensgut“ (15). Bei dieser Rezeption des tradierten Gedankenguts verstehen ihre gegenwärtigen Bearbeiter
und Verwalter nicht einmal, die ohnehin komplizierten Gedankengänge
der „Originaldenker“ in eine einfache und zeitgemäße Sprache zu übertragen, sondern drücken sich „noch komplizierter, noch weitschweifiger
und unverständlicher“ als ihre Ideenlieferanten aus. Damit lösen sie nicht
einmal jene Aufgabe, die den Philosophiehistorikern (wenn überhaupt)
allein noch zugestanden werden kann: die Vermittlung der Vergangenheit an die Gegenwart.
Kann man behaupten, Jung habe mit seiner Zustandsbeschreibung der
deutschen Philosophie das Thema verfehlt? In diesem Falle könnte man
sein Buch ohne Kommentar beiseite legen, dann wären auch diese Zeilen
ein zu großer Aufwand. Jung trifft seinen Gegenstand; er legt nicht nur
auf eine sehr populäre Art und Weise seine Finger in einige Wunden des
gegenwärtigen Philosophiebetriebs, sondern in seiner Polemik drückt
sich auch das Ohnmachtsgefühl aus, das vor allem viele Studenten befällt, wenn sie sich durch das Gestrüpp der gegenwärtigen philosophischen Institutionen (Einrichtungen und Lehren) hindurcharbeiten sollen.
Auch artikuliert Jung Bedürfnisse der gegenwärtigen Studentengeneration. Wenn er etwa von den Philosophiehistorikern fordert, daß sie die
komplexen Gedankengänge der großen Philosophie „in kleine handliche
Teile zu zerhacken“ haben (16), damit das philosophische „Gedankengestrüpp“ (ebd.), das jene Philosophen hinterlassen haben, begehbar würde, dann äußert sich darin das Bedürfnis nach schnellen und knappen
Informationen, die möglichst nicht länger als ein Werbespot sein dürfen.
Das mag man bedauern und sich fragen, wie solche Leute das Philosophieren lernen sollen; aber man kann die Augen vor der Wirklichkeit
dieses Bedürfnisses nicht verschließen. Daß die Sozialisation dieser Studentengeneration wenigstens zum Teil durch das Fernsehen vollzogen
worden ist, und daß damit die Aufnahmefähigkeit besonders durch dieses Medium geprägt wurde, wird niemand ändern können.
Die Diagnose
Vom Siechtum der deutschen Philosophie
73
Auf der Suche nach den Ursachen des beschriebenen Siechtums ist unser
Arzt fündig geworden. Die komplizierte Sprache, mit der die Autoren
vorgeben, eine komplexe Sache adäquat und nicht vereinfachend zu
erfassen und zu vermitteln, sei nicht bloß eine Unfähigkeit, sich
verständlich auszudrücken. Es äußere sich darin vielmehr ein typisches
Verhältnis der Philosophieprofessoren untereinander und zu ihren Studenten: Diese Sprache sei das Mittel, fachliche Unfähigkeit und Unwissenheit zu verbergen und sich vor kritischen Nachfragen zu schützen.
Denn wer wagt schon eine kritische Nachfrage zu etwas vorzutragen,
was er nicht so recht verstanden hat? Und wer will durch eine ungeschickt gestellte Frage direkt oder indirekt eingestehen, der Sache nicht
gewachsen zu sein? Wer schon auf philosophischen Kongressen war,
kennt das Geraune der Versammelten, wenn jemand eine Frage direkt
zur Sache stellt. Auch in den philosophischen Zeitschriften finden wirkliche Auseinandersetzungen zur Sache eher selten statt.
Es gibt in der philosophischen Sekundärliteratur viele Beispiele, auf die
Jungs Kritik zutrifft. Aber warum versäumt er es, seine Kritik an treffenden Beispielen darzustellen? Einige wenige aus dem Kontext herausgerissenen Zitate können seine These nicht belegen. Es wäre informativ
und für die Schwere seiner Vorwürfe sogar zwingend gewesen, die
Hohlheit mancher philosophischer Abhandlung an dem einen oder anderen Beispiel aufzuzeigen. Dies allerdings hätte eine recht mühsame
Textanalyse erfordert, für die Jung wohl nicht die Zeit und vielleicht
auch nicht die Geduld aufbringen wollte. (Siehe oben!) Aber die bloße
Behauptung z. B., daß das, was Rolf-Peter Horstmann in seinem Buch „Die
Grenzen der Vernunft“2 präsentiere, „bereits in zahllosen Untersuchungen veröffentlicht worden“ (54) sei, so daß der Neuigkeitswert dieses
Buches gegen Null strebe, ist dreist, solange der Nachweis nicht erbracht
wird.
Sicher hat Jung recht, daß viele Verfasser sich nicht der Disziplin unterwerfen wollen, ihre Ausdrucksmittel einer Kritik zu unterziehen. In der
Tat gibt es viele Elaborate, die mit einer aufgeblähten Sprache nur ihre
Rolf-Peter Horstmann, Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen
und Motiven des Deutschen Idealismus, Frankfurt am Main 1991 (2. Auflage, Weinheim 1995).
2
74
Martin Schraven
Substanzlosigkeit verbergen. Nicht wenige Abhandlungen scheinen als
ersten Zweck nicht die Mitteilung von neuem Wissen zu haben, sondern
ihre Autoren scheinen sich zuerst zu bemühen, hinter geschraubten
Formulierungen das Nichtwissen zu verbergen, um mögliche kritische
Nachfragen von vornherein erst gar nicht aufkommen zu lassen. Aber
auch hier bleibt Jung jeden Beweis schuldig; und zum andern scheint er
die Erfahrung, die er selbst gemacht hat, seinen Kollegen nicht zuzutrauen. Er wird doch nicht im Ernst glauben, daß die Philosophieprofessoren, die er hier beschrieben hat, nicht allerwärts bekannt sind. Der kritische Punkt ist aber weniger der, daß es solche Leute gibt - diese gibt es
immer -, sondern daß es kaum jemand gibt, der dies den betreffenden
Leuten entweder öffentlich oder privat sagt. Es fehlt in diesen Fällen ein
Kind, das dem Kaiser sagt, daß er nackt ist, oder: es fehlt eine Diskussionskultur.
Hier trifft Jungs Kritik ins Schwarze. Im deutschsprachigen Raum ist die
Diskussionskultur eine Unkultur. Offene Kritik wird auf Kongressen
nicht und in Zeitschriften höchst selten geäußert. Die Ängstlichkeit, der
Kritisierte könnte sich vielleicht an einer anderen Stelle des philosophischen Betriebs, sei es in einem Artikel, sei es bei einem Gutachten etc.,
rächen, ist sehr hoch. Aber gerade eine offene Diskussionskultur ist für
die Philosophie eine conditio sine qua non. Sie würde auch dem anderen
Übelstand abhelfen, dessen erste Opfer die Studenten sind. Diese können - zumindest anfangs - die Verschleierung von Inkompetenz mit den
Mitteln der Sprache nicht erkennen. Ihnen wird der Eindruck vermittelt,
eine unverständliche Sprache gehöre zum Wesen der Philosophie; ihnen
wird damit der Zugang zu dem spannenden Abenteuer „Philosophie“
verbaut. Mag man das Verschleiern von Unwissen durch die Sprache
noch unter der Rubrik „Eitelkeit“ ablegen, was in vielen Fällen auch
zutrifft, so ist dies bei der Weitergabe der Philosophie an die nächste
Generation nicht möglich. Entweder resignieren die Studenten und brechen das Studium ab, oder sie werden verbogen.
Die geschraubte Sprache wissenschaftlicher Abhandlungen dient aber
nicht nur zur Abwehr von Kritik, sie dient auch als Jargon, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule oder Denkrichtung zu beweisen. Die
Zugehörigkeit vermittelt Anerkennung und Zustimmung bei den Mit-
Vom Siechtum der deutschen Philosophie
75
gliedern dieser Schule und bietet die Gelegenheit, andere auszugrenzen.
Diese Zugehörigkeit zu bestimmten Traditionen prägt auch die Rekrutierung des philosophischen Nachwuchses, und diese wiederum verstärkt
die Dürftigkeit der Diskussionskultur. Die Assistenten sind normalerweise völlig von ihren Professoren abhängig; ihnen werde, so Jung, nicht
aufgrund ihrer Leistungen die Möglichkeit geboten, sich die höheren
akademischen Weihen zu verdienen, sondern sie werden vor allem nach
ihrer Fähigkeit ausgesucht, „das philosophische Glaubensbekenntnis
ihres Meisters am frömmsten zu zelebrieren“ (25). Das Verhältnis der
Assistenten zu „ihren“ Professoren kann man zutreffend als ein feudales
Verhältnis beschreiben. Der Assistent stellt sich unter den Schutz seines
Feudalherrn. Der Schutz besteht darin, daß er seinem Vasallen die Möglichkeit eröffnet, selbst nach Ableistung der Fron in den akademischen
Stand höheren Grades aufzusteigen. Die Gegenleistung, der Lehnsdienst,
ist die Übernahme der wissenschaftlichen Vorgaben des Meisters. Kritik
kann allenfalls im höfischen Gestus einer Ergänzung, einer Marginalie
etc., vorgebracht werden. (Was Prof. xy schon richtig und tiefgründig
dargelegt hat, könnte man allenfalls noch durch eine kleine Bemerkung
ergänzen ...). Wie sehr der Assistent von der Person des Professors und
nicht von seiner Leistung abhängt, wird schlagend deutlich, wenn der
Assistent in Ungnade gefallen ist. Sei es, daß er sich zu oft dem Meister
gegenüber kritisch verhalten hat, sei es daß sich die maßgebliche Lehrmeinung geändert hat. Und diese Lehrmeinung kann sich sehr schnell
ändern; denn einerseits gibt es auch unter den Philosophieprofessoren
nicht wenige wendige, und andererseits können Emeritierungen die Verhältnisse an den philosophischen Instituten völlig umkrempeln. Der
Vertrag des Assistenten wird nicht gelöst; er wird nach allen rechtlichen
Kriterien erfüllt, bis zum Ende; nur wird er dann nicht mehr verlängert.
Die Habilitation wird nicht angenommen oder mangels Erfolgsaussicht
erst gar nicht eingereicht. Ausgebildete Philosophen von 35, 40, 45 und
mehr Jahren stehen dann (unvermittelbar) dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Diese Abhängigkeit ist der Normalzustand und an ihr ändert sich
auch dann nichts, wenn der Professor sie aufgrund seiner Persönlichkeit
nicht ausnutzen will. Abgesehen davon, daß wohl kaum ein Professor
sich das Attribut eines mittelalterlichen Lehnsherrn anhängen würde -
76
Martin Schraven
die Binnensicht ist hier oft das krasse Gegenteil der Außenansicht -,
diese Abhängigkeit vollzieht sich oft unter der wohlwollenden Zuwendung der Professoren. Denn es ist unter den gegebenen Umständen in
der Tat der Professor, der dem Assistenten den Weg ebnet; diese „Leistung“ ist nicht fiktiv. Aber auch im mittelalterlichen Lehnsverhältnis
vollzog sich unter dem Schein des gegenseitigen Nutzens ein eindeutiges
Herrschaftsverhältnis.
Ein weiteres Feld der Kritik Jungs richtet sich gegen ein Teilgebiet der
Philosophie, gegen die Philosophiegeschichtsschreibung, wenigstens so,
wie sie in der deutschen Philosophie betrieben wird. Diese befasse sich
stets nur damit, zum hundertsten Mal nachzuerzählen, was Kant und
Leibniz so alles gedacht haben. Dabei beruft sich Jung vor allem auf
Lorenz B. Puntel, der eine ähnliche Kritik schon früher vorgetragen hatte.
Nachdem Puntel Jahrzehnte hindurch zuerst Thomas von Aquin und
dann Hegel traktiert und extrahiert hatte, kam ihm nach einer Gastdozentur in den USA die Einsicht, daß die Form der Philosophie, wie sie in
Deutschland betrieben würde, nur „historisierendes Geschwafel“ sei,
„das jedes Interesse an der Sache abtötet“ (76). Puntel verließ daraufhin
das, was für ihn „der Alltagstrott“ war und wandte sich der analytischen
Philosophie zu. Nicht, daß Puntel im Laufe seines Lebens entdeckt hat,
daß ihn anderes als bisher interessiert, ist zu kritisieren, sondern wie er
sich selbst zu seiner eigenen philosophischen Vergangenheit verhält.
Puntel scheint in seiner Polemik gegen die Philosophen, die professionell
Geschichte der Philosophie betreiben, vergessen zu haben, daß er selbst
seine Qualifikation durch die intensive Beschäftigung mit dieser Geschichte erworben hat. Und wenn Jung sich auf Puntel beruft, dann
beachtet er nicht, daß Puntel nicht im Namen der Philosophie spricht,
sondern als Vertreter einer Richtung, die schon seit jeher ein besonderes
schwieriges Verhältnis zu Geschichte der Philosophie hatte. Puntels
Kritik gehört viel mehr in jene Abteilung, die Jung an anderer Stelle aufs
Korn nimmt, daß nämlich manche Vertreter der einen Denkrichtung den
Vertretern anderer Denkrichtungen die Kompetenz abstreiten.
Doch was kritisiert Jung an der philosophischen Disziplin „Geschichte
der Philosophie“? Auch Jung räumt ein, daß keine Wissenschaft ein
engeres Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte hat als die Philosophie.
Vom Siechtum der deutschen Philosophie
77
Wenn Jung der deutschen Philosophie zwei Vorhaltungen macht, daß sie
sich einerseits vornehmlich mit ihrer eigenen Geschichte und damit
andererseits mit sich selbst befasse, so gleicht dies jenem „Argument“,
das Umberto Eco seiner Romanfigur Jorge von Burgos in „Der Name der
Rose“ in den Mund legt, daß der Wesenskern der Wissenschaft das Studium und die Bewahrung des Wissens sei. „Ich sage Bewahrung und
nicht Erforschung, denn es ist das Proprium des Wissens als einer göttlichen Sache, daß es abgeschlossen sei und vollständig ist seit Anbeginn in
der Vollkommenheit des Wortes, das sich ausdrückt um seiner selbst
willen.“3 Aber während aus Jorges Worten die Angst vor dem Verlust
der Gottesfurcht infolge der Aneignung des ganzen Aristoteles und des
neuen Aufbruchs in der Philosophie des frühen 14. Jahrhunderts spricht,
diese Position also ein historisches, relatives Recht formuliert, unterstellt
Jung sie der gegenwärtigen (deutschen) Philosophie, um sie kritisierbar
zu machen. Damit aber hat Jung sich nur eine Karikatur der Philosophie
zurecht gemacht, die sehr wenig über das Teilfach „Geschichte der Philosophie“ aussagt, umso mehr jedoch von Jungs mangelhaftem Philosophieverständnis erkennen läßt.
Zunächst ist an die einfache Tatsache zu erinnern, daß das Wissen immer nur wirklich ist, wenn es aktuell, präsent ist. Das Wissen, das nur in
Büchern oder anderen Medien gespeichert ist, nicht aber in den Köpfen
wenigstens einiger Menschen, ist totes Wissen. Allein wegen des positiven, aktuellen Wissens um die philosophischen Entwürfe und Systeme
der Vergangenheit hat das Fach „Geschichte der Philosophie“ seine
Existenzberechtigung. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu, der hier der
Vollständigkeit halber erwähnt werden soll, und den auch Jung als legitim einräumt. Die Philosophieausbildung wird zu einem beträchtlichen
Teil in der Aneignung und Auseinandersetzung mit den verschiedenen
vergangenen Philosophien geschehen. Dies ist aber bei weitem nicht
alles. Man mag es bedauern; aber man kann nicht von der Tatsache absehen, daß die Rezeption der Philosophien der Vergangenheit in Teilen
höchst unbefriedigend ist. Auch heute noch werden von vielen Philosophiehistoriographen Fehlinterpretationen in den Büchern reproduziert
3
Umberto Eco, Der Name der Rose. Roman, München 1986, S.509.
78
Martin Schraven
und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben. Hier müssen die
so geschmähten Philosophiehistoriker Fehlinterpretationen korrigieren.
Dies kann nur geschehen, indem die verschiedenen Felder der Philosophiegeschichte von Spezialisten bearbeitet werden. Ohne diese Spezialisten gälte Giordano Bruno noch heute als Neuplatoniker und wäre der
späte Schelling noch immer ein Mystiker. Solche Forschungen vollziehen
sich meist in entsprechenden Fachinstituten, bei spezialisierten Lehrstühlen oder in den Redaktionen, die die Werke einzelner Philosophen historisch-kritisch herausgeben. Das sind jene, meist hochspezialisierten Fachkräfte, gegen die Jung im Anschluß an Puntel polemisiert, und auf deren
Schultern sie doch stehen oder stehen sollten, wenn sie seriöse
Philosophie betreiben wollen.
Gerade auch in den genannten Redaktionen werden auch jene neuen
Quellen der Philosophiegeschichte erarbeitet, die zum modernen Verständnis der Geschichte der Philosophie nicht bloß hilfreich, sondern
auch notwendig sind. Es geht um neues Wissen über und neue Quellen
der Geschichte der Philosophie. So ist unser sehr einseitiges Bild von der
Philosophie des Mittelalters, das durch die theologisch ausgerichtete
Rezeption geprägt ist, dem Umstand geschuldet, daß ein Großteil der
Quellen immer noch in Bibliotheken und Archiven ruht. Es mag nicht
jedermanns Sache sein, diese Arbeit zu leisten, aber von dieser Arbeit zu
behaupten, sie würde nur Bekanntes wiederholen, zeugt von Unkenntnis
und Ignoranz.
Letztlich scheint Jung überhaupt nicht über jene, seit der modernen
Hermeneutik selbstverständliche Reflexion zu verfügen, daß jede Generation sich die Vergangenheit auf ihre Weise aneignen muß. Es kann hier
nicht der Ort sein, hermeneutische Überlegungen zu erläutern. Aber
sicher ist, daß die hegelsche Philosophie, wie sie heute, am Ende des 20.
Jahrhundert, von Philosophen angeeignet wird, nicht mehr diejenige ist,
die in den siebziger Jahren - meist im Anschluß an oder im Sog einer
Marxrezeption - vollzogen wurde. Dasselbe gilt mutatis mutandis von
allen früheren Hegelaneignungen. Allein aufgrund einer sich stets verändernden gesellschaftlichen, politischen und geschichtlichen Gegenwart
ist die „Wieder-holung“ der Geschichte der Philosophie, die aus dem
genannten Grund auch nie eine Wiederholung sein kann, eine immer-
Vom Siechtum der deutschen Philosophie
79
währende Aufgabe, in der es um sehr vieles geht, am allerwenigsten aber
um die Beweihräuchern von Denkmälern.
An dieser Kritik Jungs offenbart sich am meisten, daß seine Polemik
manchmal weniger von Sachverstand getragen ist, als auf den öffentlichen Beifall bedacht ist. Dies zeigt sich auch und vor allem an den Maßnahmen, die zur Genesung der Patientin philosophia beitragen sollen.
Die Therapie
„... kann machen, daß die Blinden gehn
und daß die Lahmen wieder sehn“.4
Jung scheint sich zunächst der Meinung von Michael Nerlich anzuschließen, der gegen manche dubiosen Vorgänge in philosophischen Instituten, die sich im nichtöffentlichen Raum abgespielt haben, sagt: „Die
Universitäten glauben, sie müßten sich vor der Öffentlichkeit für ihre
Aktivitäten nicht rechtfertigen. Ich bin für die totale Denk- und Forscherfreiheit, aber ich bin auch für die Pflicht, sagen zu müssen, was ich
mache. Ich bin für die totale Transparenz.“ (171) Aber diese Stütze dient
Jung nur als Einstieg zu einer ganz anderen Forderung: Statt sich für die
Durchsetzung von „totaler Denk- und Forscherfreiheit“ und „totaler
Transparenz“ einzusetzen, ruft Jung nach der starken Hand der Politiker.
Diese soll dafür sorgen, daß sämtliche Lehrstühle, die sich überwiegend
mit Philosophiegeschichte beschäftigen, nicht nachbesetzt werden. Enthaltsamkeit sollte so lange geübt werden, bis sie auf das „gesunde Maß“
von etwa 20 Prozent des jetzigen Bestandes geschrumpft seien (181). Die
frei werdenden Gelder sollten dort eingesetzt werden, „wo tatsächlich
noch wissenschaftliche Forschung stattfindet“, nämlich in der Astronomie, Atomphysik, Genforschung und Neurophysiologie. (ebd.) Mit dieser Therapie sei dann auch noch das andere Dilemma der deutschen
Philosophie beseitigt: der Anpassungsdruck, der von seiten der OrdinaIm Unterschied zu dem Bild, das das Studentenlied von Johannes Andreas Eysenbarth (1661-1727) zeichnet, war dieser war zwar durch sein marktschreierisches
Auftreten bekannt; er war aber trotzdem wegen seines gediegenen Wissens und
Könnens sehr geachtet.
4
80
Martin Schraven
rien auf die Assistenten ausgeübt wird. Denn wo es keine Stellen mehr
gibt, entfällt auch der Anpassungsdruck (181f.).
Aber auch die Philosophen, die sich nach Meinung des Autors noch um
die wirklichen Probleme kümmern, kommen nicht unbehelligt davon: sie
sollen auf die „Fachwissenschaften verteilt (werden), die ihrem Forschungsschwerpunkt am nächsten stehen“. Auch hier wird klar, daß Jung
über keinen oder keinen zureichenden Philosophie-Begriff verfügt. Denn
seine Forderung läuft auf die Auflösung des selbständigen Fachs Philosophie hinaus. Seine Polemik gegen die Philosophiehistorie, die er im
Namen der Philosophie führt, dient ihm nur dazu, seinen Angriff auf die
Selbständigkeit des Faches zu kaschieren. Auch sein Vorschlag, die „Institute für systematische Philosophie“ mit Historikern, Philologen,
Kunstwissenschaftler, Biologen und anderen Spezialisten aufzufüllen,
dient demselben Zweck.
Jung weiß offenbar nicht, daß ähnliche Versuche, z.B. an der Universität
Gießen, schon über fünfundzwanzig Jahren in der Erprobung sind. Über
diese Versuche erfährt man in Jungs Kritik nichts. Dies ist bedauerlich,
auch weil das Stillschweigen eine Schwachstelle der Analyse Jungs offenbart. Es wäre doch höchst interessant gewesen zu erfahren, in welchem
Maße sein Vorschlag denn die gewünschte innovative und
realitätsbezogene Philosophie hervorgebracht hat.
Diskussionswürdiger ist sein Vorschlag, die Entscheidungsprozesse
transparent zu machen, Verfilzungen zu entflechten. Wenn dieselbe
Personengruppe entscheiden kann, welche Studenten Auslandsstipendien erhalten, wer in den Fachzeitschriften publizieren und damit seine
Thesen bekannt machen darf, wer einen Forschungsauftrag erhält, wer
eine Assistentenstelle besetzen, wer habilitieren kann etc., dann scheint
nur eine Entflechtung und eine wirksame Kontrolle dieser geballten
Macht entgegenwirken zu können (186).
Aber wer soll entflechten, wer kontrollieren? Sollen Vertreter der freien
Wirtschaft beurteilen, ob das „Kapital“ von Marx ein lohnenswerter
Studieninhalt ist? Was würde ein Vertreter der Kirche sagen, wenn er in
Studienplänen zwischen den Alternativen Thomas von Aquin, Spinoza
oder Feuerbach zu entscheiden hätte? Jung ruft nach den starken Politikern. Welche Resultate es jedoch zeitigt, wenn Politikern das entschei-
Vom Siechtum der deutschen Philosophie
81
dende Wort beim Einrichten, Beibehalten oder Vernichten von Lehrstühle zukommt, zeigt ein jüngeres Beispiel aus München. Kultusminister Zehetmair war maßgeblich (unter fleißiger Mithilfe der inneruniversitären Konkurrenz) an der Zerschlagung des Renaissance-Lehrstuhl an der
philosophischen Fakultät der LMU München beteiligt; es war der einzige
in ganz Deutschland. Über Fragen der Philosophie kann nur die Philosophie selbst befinden. Die Politiker können (und sollen auch) darauf
drängen, daß die Vorgänge in den philosophischen Fakultäten transparent und die Kontrollmechanismen, unter denen eine demokratische
Öffentlichkeit wohl der wichtigste ist, wirksam sind. Die Politik kann die
Rahmenbedingungen setzen; jede Einmischung in inhaltliche Fragen
kann der Philosophie nur schaden. Jungs Konzept bewirkt daher das
Gegenteil dessen, was es vorgibt. Denn ein Eingriff der Politik in die
Inhalte der Lehre und die Besetzung der Lehrstühle dürfte nur die Übertragung des jeweiligen Parteiprogramms und der Parteiideologie auf die
Lehrinhalte zur Folge haben. Eines werden die Politiker auf keinen Fall
bewirken: eine Erneuerung der Philosophie.
Die Therapie, die Jung der siechenden philosophia verordnen will, ist
eine Radikalkur, die nur ihren Exitus zur Folge haben kann. Diese Einsicht aber ist kein Grund, Jungs Buch mit dem Gestus der Entrüstung
beiseite zu legen. Wenn auch die Therapie verfehlt ist, so sind doch die
Krankheitssymptome, die es in der Anamnese aufzeigt, viel zu offensichtlich.
Manuel Knoll
Anmerkungen zum neuen Studiengang
‚Magister Philosophiae’ der philosophischen Institute in München
Ein neuer Wind in München
Die Münchner Institute für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Logik
als Avantgarde der Philosophie in Deutschland? Ist das zu glauben?
Weht wirklich ein neuer Wind in einer Fakultät, in der ein Professor des
Seminars für christliche Weltanschauung nach dem Tod Gottes die einzige Vorlesung über französische Philosophie im 20. Jahrhundert abhält,
in der ein anderer Professor seit neun Jahren versucht, seine Beschäftigung mit Nietzsche in einem Buch zu vergegenständlichen und in der ein
Plotinspezialist ein Adornoseminar abhält, in dem die sachliche Diskussion von Inhalten häufig durch wütende Polemikausbrüche behindert
wird? Die Frage läßt sich zweifellos mit ‚ja’ beantworten. Der neue Wind,
und mit ihm die Inspiration für den neuen Magisterstudiengang mit dem
Abschluß ‚Magister Philosophiae’ (M.Phil), kommt aus dem angelsächsischen Raum. Der Protagonist des geplanten Modellversuchs, Wilhelm
Vossenkuhl, Ordinarius und Inhaber des Konkordatslehrstuhls für Philosophie in München, hat einige Zeit in England studiert und dabei ein
anderes Ausbildungssystem kennengelernt, das er für besser als das in
Deutschland vorherrschende hält und das er zu gerne importieren würde1. Der neue Studiengang, der wahrscheinlich im Sommersemester 1998
vom Senat der Universität München genehmigt wird, soll zunächst über
einen Zeitraum von acht Jahren erprobt werden. Während dieser Zeit
wird der traditionelle Magisterstudiengang weiterbestehen. Wenn sich
der neue Studiengang bewährt, so die Hoffnung seines Protagonisten,
könnte er den traditionellen ‚Magister Artium’ (M.A.) ersetzen. Wenn
nicht, so die Hoffnung seiner Gegner, dann könnte der traditionelle
1 siehe Globalisierung – Hochschulreform – Philosophiestudium. Gespräch mit Wilhelm
Vossenkuhl. In: Widerspruch 31, S.95 ff.
Anmerkungen zum ‘Magister Philosophiae’
83
Magisterstudiengang gestärkt aus dem friedlichen Wettstreit der Systeme
hervorgehen, den man zumindest zulassen sollte.
Die wichtigsten strukturellen Eigenschaften des ‚M.Phil.’
Was unterscheidet den neuen ‚M.Phil.’ vom traditionellen ‚M.A.’? Das ist
gar nicht so einfach zu benennen, da es sich bei dem Studiengang sozusagen um ‚work in progress’ handelt. Solange die Hoffnung bestand,
vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) im Rahmen
des Pilotprogramms ‚Auslandsorientierte Studiengänge’ Fördermittel zu
beziehen, war Zweisprachigkeit ein wichtiges Merkmal des neuen Studiengangs. Die Möglichkeit, das Studium weitgehend auf Englisch zu
absolvieren, die den Studienstandort München auch für Ausländer attraktiv hätte machen sollen, dürfte nach dem ablehnenden Bescheid des
DAAD inzwischen weggefallen sein. Damit ist auch die Zukunft des
obligatorischen Auslandsjahres im dritten Studienjahr an einem englischen Partnerinstitut (Birkbeck College, University of London) fraglich
geworden, das sein Vorbild wahrscheinlich an dem optionalen ‚junior
year abroad’ der renommierten US-Colleges hat. Die Alternative dürfte
darin bestehen, entweder das Auslandsjahr zumindest als optionales
beizubehalten oder ein selbständiges Konzept für das dritte Studienjahr
zu erarbeiten. Soviel zu den Merkmalen des neuen Studienganges, über
deren Schicksal noch nicht endgültig entschieden wurde.
Die wichtigsten strukturellen Eigenschaften des ‚M.Phil’, der sich angloamerikanische Studiengänge und Abschlüsse zum Vorbild nimmt, stehen
jedoch bereits weitgehend fest.2 So soll die Auswahl der Studienanfänger
nach Leistungsgesichtspunkten erfolgen. Neben dem die Hochschulreife
belegenden Zeugnis werden insbesondere ein Aufsatz zu einem Thema
von philosophischem Interesse sowie ein persönliches Auswahlgespräch
gefordert. Sowohl nach dem ersten als auch nach dem zweiten StudienDie wichtigsten strukturellen Eigenschaften des Studienganges ‘M.Phil.’ sind in dem
Antrag der Philosophischen Institute der Ludwig-Maximilians-Universität München
auf Förderung im Rahmen des Pilotprogramms ‘Auslandsorientierte Studiengänge’
(DAAD) genannt, der auch bei der Podiumsdiskussion zum neuen Studiengang in
München am 11.2.1998 als Diskussionsgrundlage diente.
2
84
Manuel Knoll
jahr wird eine Zwischenprüfung abgehalten, die über das weitere Fortkommen entscheidet. In der Lehre sollen neben Vorlesungen und Seminaren zulassungsbeschränkte Tutorien mit einer geringen Anzahl von
Teilnehmern im Vordergrund stehen, die eine bessere Betreuung gewährleisten sollen. In diesen Lehrveranstaltungen werden von den Studenten häufig kleinere schriftliche Arbeiten verlangt, die von den Dozenten korrigiert, bewertet und mit ihren Verfassern besprochen werden.
Zudem erhält jeder Student seinen persönlichen Berater (adviser), mit
dem er regelmäßig seine Leistungen bespricht. Statt der traditionellen
Magisterarbeit von 80-120 Seiten wird am Ende des Studiums neben den
schriftlichen und mündlichen Prüfungen nur eine kleinere Abschlußarbeit verlangt. Die Studienzeit soll streng auf vier Jahre begrenzt werden.
Schiebefristen, d.h. die Möglichkeit Prüfungstermine zu verschieben,
werden gänzlich gestrichen. Die Studieninhalte und Fächergruppen für
Prüfungsleistungen sind weitgehend vorgegeben, was von den Befürwortern als Professionalisierung gelobt und von den Gegnern als Verschulung und Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit - da gezielt unerwünschte
Materien ausgeschlossen werden können - getadelt wird. Logik und Wissenschaftstheorie wird - wahrscheinlich neben einem frei wählbaren zum obligatorischen zweiten Nebenfach erklärt. Soviel zu den wichtigsten strukturellen Eigenschaften des ‚M.Phil.’.
Logik und Wissenschaftstheorie als obligatorisches Nebenfach
Der letzte Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit. Denn die Erhebung von Logik und Wissenschaftstheorie und damit auch der analytischen Philosophie zum integralen Bestandteil des neuen Studiengangs
wiegt schwer. Durch sie wird nämlich die Wahlmöglichkeit der Studieninhalte, die beim ‚M.Phil.’ im Gegensatz zum ‚M.A.’ schon weitgehend
vorgegeben sind, noch weiter eingeschränkt. Vor allem aber stellt sich
die Frage, ob philosophische Richtungen, die sich allzu oft durch ihre
Anbetung des Formalen auszeichnen, für jeden Philosophiestudenten
wirklich erstrebenswert sind. Damit soll natürlich nicht die Notwendigkeit von logischen Grundkenntnissen bestritten werden. Auch läßt sich
nicht leugnen, daß eine verstärkte Ausbildung der formalen Vernunft
Anmerkungen zum ‘Magister Philosophiae’
85
durch ihre vermeintlich vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten in der
von ihr durchdrungenen Gesellschaft gut zu einem Studiengang paßt, der
sich in hohem Maße als berufsqualifizierend versteht. Aber hat diese
Ausbildung noch viel mit Philosophie, mit Liebe zur Weisheit zu tun?
Kommen die der Philosophie eigentümlicheren Aufgaben - etwa die
Frage nach dem guten Leben oder die kritische Reflexion des Bestehenden in seinem Gesamtzusammenhang - bei so einer starken Gewichtung
des Formalen nicht zwangsläufig zu kurz?
Ohne die eifrigen Bemühungen einiger Mitglieder dieses Instituts wäre
der Erfolg der Logiker, Wissenschaftstheoretiker und analytischen Philosophen vielleicht nicht zustandegekommen. Diese Bemühungen erklären
sich nicht zuletzt dadurch, daß es seit dem Tod Wolfgang Stegmüllers,
des sanften Übervaters, um das Ansehen dieses Instituts nicht zum Besten steht und daß der Nachschub an Studenten gesichert werden muß.
Trotzdem: Würde es nicht genügen, es zunächst bei einem Kopierversuch der strukturellen Eigenschaften der anglo-amerikanischen Studiengänge zu belassen? Ist es überhaupt klug, die inhaltsarmen Inhalte gleich
mit übernehmen zu wollen? Schließlich geht es den Befürwortern des
neuen Studiengangs auch um die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit
des Studienstandorts Deutschland im Zeitalter der Globalisierung. Ob
eine stärkere Gewichtung der analytischen Philosophie dazu beitragen
kann, ist jedoch höchst fragwürdig. Denn der gegenwärtige Trend im
angelsächsischen Raum geht gerade wieder hin zu einer Suche nach Inhalten, die dem abnehmenden Interesse an der etablierten analytischen
Philosophie entgegenwirken soll. Wenn also die große Zeit der analytischen Philosophie in ihren Kernländern bereits dem Ende zuzugehen
scheint, was auch mit der Einsicht in die Grenzen der Formalisierbarkeit
zusammenhängt, ist es dann nicht sinnvoller, andere Disziplinen in den
geplanten Kanon aufzunehmen? Dabei denke ich vor allem an die an
den Münchner philosophischen Instituten unter-, durch ihre Gegner
oder gar nicht repräsentierten Richtungen, wie etwa Sozialphilosophie,
Postmoderne-Debatte / Poststrukturalismus und Technikphilosophie /
Medienphilosophie / Umweltphilosophie. Der Verwirklichung dieses
Vorschlags steht natürlich das Hindernis entgegen, daß es dazu entweder
zusätzlicher Mittel oder der Bereitschaft bedürfte, frei werdende Profes-
86
Manuel Knoll
suren den genannten Schwerpunkten gemäß neu auszuschreiben. Fraglich bleibt jedoch auch, ob die Pluralität der in München kompetent
vertretenen philosophischen Richtungen beim ‚M.Phil.’ zum Tragen
kommen wird. Die drohende Ersetzung des einzigen Lehrstuhls für
Renaissancephilosophie in Deutschland durch einen Lehrstuhl für Wirtschaftsethik stimmt nicht gerade hoffnungsvoll.
‚M.Phil.’ und Chancengleichheit
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante strikte Begrenzung der
Studienzeit auf vier Jahre. Mit ihr wollen die Befürworter des neuen
Studienganges der von Wirtschaft und Politik beklagten unüberschaubaren Dauer der Studienzeiten in Deutschland entgegentreten. Schließlich
besteht eines der primären Ziele des ‚M.Phil.’ darin, die Chancen der
Absolventen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Und tatsächlich, in
England oder USA, wo Hochschulabsolventen ihren ersten Abschluß
bereits nach drei bzw. vier Jahren Studium machen, haben Geisteswissenschaftler deutlich bessere Chancen auf Stellen in der „freien“ Wirtschaft als in Deutschland. Ob das alleine daran liegt, daß junge Leute um
die 22 Jahre von den Personalabteilungen weder als ungebildet noch als
verbildet und deshalb als erfolgreicher in die Arbeitswelt einzupassen
angesehen werden, mag dahingestellt bleiben. Was auch immer noch für
andere Gründe in Frage kommen mögen, die Erwartung, daß ‚Magister
Light’-Absolventen bessere Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt
haben werden als ‚M.A.’-Absolventen, erscheint nicht als unberechtigt.
Dafür spricht auch die Auswahlmöglichkeit der Studenten nach Leistungsgesichtspunkten, die auch in angelsächsischen Ländern üblich ist.
Die Frage ist nur, welcher Preis für diesen Vorteil zu entrichten ist. Genauer besehen, zeigt sich hier nämlich eine Dialektik am Werk. Einerseits
beabsichtigen die Befürworter des ‚M.Phil.’, mit ihrem Studiengang dem
Mißstand abzuhelfen, daß sich in Deutschland immer mehr rational
kalkulierende Studenten nur für die Philosophie entscheiden, wenn sie
sich wenig Gedanken um ihren künftigen Lebensunterhalt machen müssen. Andererseits bewirkt die strikte Begrenzung der Studienzeit bzw. die
gänzliche Streichung von Schiebefristen, daß sich diejenigen, die sich um
Anmerkungen zum ‘Magister Philosophiae’
87
ihren Lebensunterhalt während des Studiums Gedanken machen müssen, nicht für den ‚M.Phil.’ entscheiden können. Denn der geplante Studiengang soll so arbeitsintensiv werden, daß keine Zeit mehr für Nebentätigkeiten bleibt, mit denen sich die finanziell schlechter Gestellten ihren
Lebensunterhalt verdienen könnten. Beim momentanen Stand der Dinge
besteht höchstens eine kleine Hoffnung auf Fördermittel aus der Wirtschaft, die es ermöglichen würden, Stipendien zu vergeben. Die momentanen BAföG-Sätze sind in den meisten Fällen nicht ausreichend, um
ausschließlich davon leben zu können. Außerdem ist der Prozentsatz der
Studenten, die überhaupt ein Anrecht auf BAföG haben, nicht sonderlich hoch. Daraus folgt: Gibt es weder Stipendien noch Schiebefristen,
dann gibt es auch keine Chancengleichheit für die potentiellen Aspiranten des ‚M.Phil.’. Dann trifft auch der öfters vorgebrachte Vorwurf zu,
daß es sich bei dem neuen Studiengang um eine elitäre Institution handle. Dieser Vorwurf läßt sich meines Erachtens primär durch die zu erwartende deutliche Chancenungleichheit begründen und weniger, wie
öfters geschehen, durch den Hinweis auf die Auswahlmöglichkeit der
Studenten. Denn die angestrebten Leistungskriterien versprechen nicht
so streng zu werden, daß den ernsthaft interessierten Bewerbern, bei
denen es wahrscheinlich erscheint, daß sie ihr Studium auch wirklich
beenden, zu große Schwierigkeiten in den Weg gestellt würden.
Aber selbst wenn es gelänge, Mittel für Stipendien herbeizuschaffen,
hätte dies nur teilweise erfreuliche Auswirkungen. Diese Mittel würden
höchstwahrscheinlich nur an die ‚M.Phil.’-Studenten verteilt werden.
Denn diese haben nicht nur während ihres Kurzstudiums kaum Möglichkeiten, nebenher Geld zu verdienen, sondern müssen möglicherweise
auch noch einen Auslandsaufenthalt finanzieren. Zum einen würden
dadurch die ‚M.A.’-Studenten benachteiligt, zum anderen würde auf
diese Weise den Studienanfängern der ‚Magister Light’ schmackhaft
gemacht, was im friedlichen Wettstreit der Studiengänge unlauterem
Wettbewerb gleichkäme.
Die durch die gänzliche Streichung von Schiebefristen bewirkte Chancenungleichheit betrifft nicht nur für die finanziell schlechter Gestellten,
sondern auch alleinerziehende Mütter sowie Frauen, die während ihres
Studiums ein Kind zur Welt bringen. Denn die Betreuung eines Kindes
88
Manuel Knoll
ist so zeitaufwendig, daß sie es kaum zulassen dürfte, den neuen Studiengang innerhalb der strikt auf vier Jahre begrenzten Studienzeit zu
absolvieren.
Philosophie und Praxisnähe
Die gewichtigsten Argumente gegen die Einführung des ‚M.Phil’ sind
somit zum einen die Erhebung von Logik und Wissenschaftstheorie zum
obligatorischen Nebenfach, was gegenüber der freien Wahlmöglichkeit
der Inhalte des ‚M.A.’ eine empfindliche Beschneidung bedeutet und in
die Sackgasse des Formalismus führt. Zum anderen bewirkt ein ‚M.Phil.’
ohne Stipendien und Schiebefristen eine eklatante Chancenungleichheit.
Trotz dieser Einwände scheint die Einführung des berufsqualifizierenden
‚M.Phil.’ unaufhaltsam bevorzustehen. Es dürfte kein Zufall sein, daß die
Bemühungen um seine Einführung mit der Verschärfung des internationalen wirtschaftlichen Wettbewerbs im Zeitalter der Globalisierung zusammenfällt. Während an der friedlichen Koexistenz des deutschen und
des anglo-amerikanischen Systems über viele Jahrzehnte hinweg nicht
gerüttelt wurde, scheint es jetzt für einige an der Zeit zu sein, von der
Konkurrenz zu lernen und den Studienstandort fit zu machen. Die zunehmende Ankoppelung des Ausbildungssystems an die Erfordernisse
des Arbeitsmarktes und der vorherrschenden gesellschaftlichen Praxis
macht selbst vor der Philosophie nicht halt.
Eine Alternative zum ‚M.Phil.’ kann darin bestehen, unbeirrt an der Einsicht festzuhalten, daß die Philosophie nicht zunehmend im Getriebe
aufgehen darf und als dessen kritische Reflexionsinstanz nicht weiter
geschwächt werden sollte. Genau das zeichnet sich aber als eine Folge
des neuen Studienganges in der geplanten Form ab. Damit ist aber nicht
ein Plädoyer für die fragwürdige Einrichtung eines Lehrstuhls für Wirtschaftsethik gemeint. Vielmehr möchte ich den Gedanken stark machen,
der mir auch in der Initiative zum ‚M.Phil.’ enthalten scheint: etwas von
der geläufigen Vorstellung abrücken, daß Philosophie reiner Selbstzweck
ist. Wenn Philosophie schon unaufhaltsam praxisnäher werden muß,
dann sollte sie jedoch - wenn sie Liebe zur Weisheit bleiben will - versuchen, diese Nähe als verstärkte Reflexion über Praxis zu gewinnen. Dies
Anmerkungen zum ‘Magister Philosophiae’
89
könnte als positive Variante einer Ankoppelung des Ausbildungssystems
an die Erfordernisse der vorherrschenden gesellschaftlichen Praxis und vielleicht sogar in gar nicht so ferner Zukunft - des Arbeitsmarktes begriffen werden. Inhaltlich realisieren ließe sich dieser Vorschlag durch die
Förderung von philosophischen Richtungen wie etwa Sozialphilosophie,
Postmoderne-Debatte, Technikphilosophie, Umweltphilosophie und
Medienphilosophie. Als formaler Rahmen könnte ein reformierter
‚M.A.’-Studiengang dienen, in den positive Elemente der anglo-amerikanischen Studiengänge eingehen könnten: Bessere Betreuung, Tutorien
(im Rahmen des bestehenden Tutorienprogramms der Münchner Universität), eine gewisse Strukturierung der Lehrinhalte, mehr schriftliche
Arbeiten und moderate Auswahlverfahren. Und wer die Möglichkeiten
und den Wunsch hat, der kann trotzdem in vier Jahren abschließen.
Besprechungen
Neuerscheinungen
Aristoteles
Organon Band 1. Topik, neuntes
Buch oder Über die sophistischen Widerlegungsschlüsse.
Herausgegeben, übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen versehen
von Hans Günter Zekl. Zweisprachige Ausgabe, Hamburg 1997
(Meiner), 682 S., 128.- DM.
Während das philosophische Denken im Mittelalter und in der Renaissance der Topik des Aristoteles
große Aufmerksamkeit entgegengebrachte, galt sie später und für längere Zeit als der am wenigsten
brauchbare Teil des „Organon“ und
wird in philosophischen Auseinandersetzungen daher auch relativ
selten zitiert. Das Interesse an der
Interpretation dieses Werkes und
der Versuch der Weiterführung
seiner Gedanken bestehen erst
wieder seit den sechziger Jahren.
Dieser Versuch ist mit der Entwicklung der „Argumentationstheorie“
und der sogennanten „informalen
Logik“ verbunden. Speziell in der
deutschsprachigen Rechtsphilosophie übt das 1953 erschienene Werk
Th. Viehwegs „Topik und Jurispru-
denz“ einen gewissen Einfluß auf
die methodologische Diskussion
aus. Das Interesse an der Topik hat
in den letzten Jahren noch stärker
zugenommen.
Die Topik ist die Lehre von den
dialektischen Schlüssen. In dialektischen Schlüssen werden einleuchtende oder plausible oder auf allgemeiner Meinung beruhende Prämissen
(Endoxa) benutzt. Die Topik liefert
die Regeln (Topoi) zur Bildung dieser
Schlüsse. Diese Regeln scheinen eine
andere Struktur zu besitzen und
einen in mehrfacher Hinsicht unterschiedlichen Anwendungsbereich zu
beanspruchen als die Regeln, die der
später entstandenen Analytik abgewonnen werden können. Die Klassifikation und die Bildung der Topoi
geht - zumindest der Intention des
Aristoteles nach - von den Arten der
Prädikation aus, die in den jeweiligen
dialektischen
Problemstellungen
verwendet werden: Die Prädikationen können Prädikationen der Gattung oder des Akzidens oder des
Definiens oder eines ‚idion’ (Eigenheit, Eigenschaft, Eigentümliches,
Proprium) sein. Zu den dialektischen
Schlüssen treten noch die eristisch
Neuerscheinungen
genannten hinzu, die entweder nur
scheinbar schließen, oder nur aus
scheinbar einleuchtenden, plausiblen
oder auf allgemeiner Meinung beruhenden Prämissen schließen. Der
Ausdruck „Sophistische Widerlegungschlüsse“ bedeutet genau die
Abhandlung über die (inkorrekten)
Widerlegungen von einleuchtenden
Annahmen oder einleuchtenden
Konklusionen
durch
eristische
Schlüsse.
Die Texte der acht Bücher der Topik
und des neunten Buches, der Sophistischen Widerlegungsschlüsse, sind
sehr gut überliefert worden.
Die Interpretation der Topik wirft
zahlreiche allgemeine Fragen auf: Es
geht um die genaue Bestimmung
ihres Anwendungsbereichs sowie
um die genaue Abgrenzung zwischen dialektischer und apodeiktischer Beweisführung. Um die Unterscheidung der Topik einerseits
von der Analytik, andererseits von
der Rhetorik. Um die Begriffe und
die Struktur der Endoxa und der
Topoi sowie um ihr Verhältnis
zueinander. Um den Grund und die
Grenzen der „Gültigkeit“ der Topoi. Um die Möglichkeit der Gewinnung wahrer und nicht nur auf
Meinung bezogener Erkenntnis
durch dialektische Beweisführung.
Hinzu treten viele Fragen der korrekten Interpretation einzelner
Stellen.
91
Die neue Ausgabe der Topik und
der Sophistischen Widerlegungsschlüsse in der „Philosophischen
Bibliothek“ erscheint als erster
Band einer Neuübersetzung und
Kommentierung des gesamten Organon. Wie der Herausgeber Hans
Günter Zekl in dem Vorwort zum
Gesamtvorhaben schreibt, will er
dabei vor allem die neueren Gesamtdarstellungen der aristotelischen Logik sowie die Ergebnisse
der neuen Forschung (z.B. W. Jaeger) gegen die „rückwärtsgewandte
systemorientierte Interpretation“ bei
der Aristoteles-Interpretation berücksichtigen. Die bisher vorliegende kommentierte Übersetzung in
der „Philosophischen Bibliothek“
durch E. Rolfes aus den Jahren
1918-1922 hatte die zur damaligen
Zeit erst entstehende entwicklungsgeschichtliche Betrachtung nicht
rezipiert. In der neuen Ausgabe
erscheinen Topik und Sophistische
Widerlegungsschlüsse als erster Teil
des Organon, da ein zureichendes
Verständnis der ersten und der
zweiten Analytik den Weg über die
Topik voraussetze, deren Bücher
zudem früher entstanden sind als
die anderen Teile des Organon.
Überdies sei durch die neuere Forschung „die Distanz der aristotelischen Philosophie des Logos zu
dem, was traditionelle und moderne
Logik betrieben haben und betreiben, so evident geworden, daß
92
Neuerscheinungen
übersetzerisch und interpretatorisch
niemand mehr dahinter zurückbleiben darf“. Bereits an diesem Punkt
drängen sich dem Leser gerade
angesichts der neueren Arbeiten
von Lukasiewitz, Patzig und J. Lear,
die sowohl die Gemeinsamkeiten als
auch die Unterschiede der aristotelischen und der modernen Logik
herausgearbeitet haben, Zweifel
darüber auf, ob nun die durch diese
Arbeiten aufgewiesenen Unterschiede eine vollständige übersetzerische und interpretatorische Abkoppelung von der logischen Terminologie und Begriffsbildung
tatsächlich rechtfertigen. Die pauschalisierende Ansicht des Herausgebers zu diesem Thema wird allerdings erst dann vollständig beurteilt
werden können, wenn auch die
Übersetzungen und Kommentierungen der Analytiken vorliegen,
worauf sich die genannten Arbeiten
vorwiegend beziehen.
Dennoch ist die Entscheidung, bei
der Übersetzung von der Terminologie der Logik Abstand zu nehmen,
im Prinzip zustimmungswürdig, da
auf diese Weise in der Tat der vom
aristotelischen Text eröffnete Spielraum der Interpretation so wenig
wie möglich durch die Übersetzung
eingeschränkt wird und die Sprache
den Leser mehr herausfordert; sie
wirkt auf ihn wesentlich lebendiger,
ähnlich wie die Sprache des Originals. Grundsätzlich versucht der
Übersetzer so nahe wie möglich an
dem Text und dessen Struktur zu
bleiben.
Mit dieser Auffassung geht die
weitere Absicht des Herausgebers
einher, bei der Übersetzung - anders
als bei der der Einleitung und bei
der Kommentierung - keine
Fremdwörter zu benutzen, da auch
Aristoteles keine benutzt habe. Dies
erscheint jedenfalls bis zu einem
gewissen Grad zustimmungswürdig.
Zwar erweckt die dafür abgegebene
Begründung den Anschein eines
sophistischen Widerlegungsschlusses. Aber andererseits zeigt sich,
beispielsweise im Fall der Übersetzung von „epagoge“, daß das dafür
gewählte Wort „Heranführung“
treffender ist als das übliche „Induktion“. Auch für die Wiedergabe
der „Kategorien“ durch „Grundformen von Aussage“ und „Aussagearten“ ließen sich gute Gründe
anführen, die allerdings der Übersetzer nicht nennt. Die Entscheidung, auf Fremdwörter zu verzichten, wirkt sich problematisch aus,
wenn für ein mehrfach vorkommendes gleiches Wort, das im griechischen Text eine bestimmte Bedeutung als terminus technicus
haben könnte, unterschiedliche
Übersetzungen gebraucht werden,
wie dies zum Beispiel bei dem Wort
„topos“ oder dem Wort „eidos“
passiert. Zwar wird am Ende des
Buches sowohl ein Verzeichnis der
Neuerscheinungen
deutschen Übersetzungen mit ihren
Entsprechungen im griechischen als
auch der Index Verborum der
zugrundeliegenden Ausgabe von
Ross angefügt. Diese Verzeichnisse
sind aber nicht vollständig. Beispielsweise wird für „Eidos“ nur
„Art“, „Form“, „Erscheinung“
angegeben, während es im Text
auch durch „Anschauungsform“
übersetzt wird (zu 131 a 4-5). Letztendlich muß jeder, der feststellen
möchte, ob und wo ein solcher
Terminus vorliegt, sowohl die Verzeichnisse durchgehen als auch die
einschlägigen Stellen des Originals
vergleichen.
In der Kommentierung der Ausgabe
sind nur sehr wenige Verweise auf
neuere Forschungsarbeiten zur
aristotelischen Logik und Topik zu
finden. Auch in der Einleitung wird
nicht der Versuch unternommen, in
den gegenwärtigen Forschungsstand
einzuführen. Es fehlt auch jegliche
Bemerkung zu der Streitfrage, was
denn ein Topos ist oder auch zu
dem Wert dieser Frage.
Besonders hervorzuheben sind die
zahlreichen und kenntnisreichen
Stellenangaben aus anderen Werken
von Aristoteles oder aus anderen
zeitgenössischen philosophischen
Quellen (Doxographie, Werke und
Fragmente). Dadurch werden vor
allem die Meinungsstreitigkeiten, die
Thesen oder die Überlieferungsund Diskussionskontexte identifi-
93
ziert und relativ ausführlich erläutert, von denen Aristoteles ausgehen oder auf die er sich mit seinen
manchmal
knapp formulierten
Beispielen beziehen dürfte.
Die Interpretationen und Beurteilungen einzelner Stellen durch den
Kommentar sind in der Regel sehr
anregend: Häufig sind sie durchaus
klarstellend und sachgerecht, gelegentlich aber auch zu pauschal oder
oberflächlich (vgl. Anm. 97, 148,
188, 441), während sie in einigen
anderen Fällen auch Anlaß zu entschiedenem Widerspruch geben:
Nicht nachvollziehbar ist die Bemerkung (Anm.72), daß der Topos
„ab antecedentibus et a consequentibus“ in die Rhetorik gehöre. Es
handelt sich um die logisch gültigen
Formen des Modus Ponens und des
Modus Tollens. Auch die Anmerkung 19 zu 103 a 6, in der Zekl
behauptet, daß der Einsatz des
Identitätskapitels wie ein unabhängiger Neuanfang aussieht, verdient
keine Zustimmung, wenn man 102 a
11-12 berücksichtigt. Die Rede von
symmetrischen Relationen in Anm.
283 ist nicht korrekt: „Symmetrisch“ heißt eine zweistellige (zweigliedrige) Relation, die in beiden
Richtungen gilt, wie „x ist Bruder
von y“. Mit der Anm. 493 zum
Marxismus überschreitet der Kommentator die Grenzen der Sachlichkeit.
94
Neuerscheinungen
Der Herausgeber hat sich angesichts
der fehlenden oder nicht ersichtlichen Auseinandersetzung mit zahlreichen neueren Analysen mit großer Selbständigkeit der Bearbeitung
der Topik gewidmet. Die äußerst
pauschalisierende Behandlung mancher Punkte läßt sich nicht rechtfertigen. Nichtdestotrotz ist diese in
mehrfacher Sicht herausfordende
Übersetzung vor allem denjenigen,
die sich mit gewisser Kenntnis des
griechischen selbständig der aristotelischen Topik und deren Interpretationsprobleme annehmen möchten, besonders zu empfehlen.
Georgios Karageorgoudis
Martin Bondeli
Der Kantianismus des jungen
Hegel.
Die Kant-Aneignung und KantÜberwindung Hegels auf seinem
Weg zum philosophischen System
Hamburg 1997 (Meiner), Ln., 368
S., 132.- DM.
In Jena, so scheint es, war Hegel
plötzlich ‚da‚. Zwar wußte man,
nicht zuletzt durch G. Lukács‚ „Der
junge Hegel“, daß Hegel in seiner
frühen Berner Zeit (1792-1795) sich
vor allem als ein Vordenker der
Revolution hatte profilieren wollen
und etwas eigenartige „Theologische Jugendschriften“ verfaßt hatte,
daß er danach in Frankfurt (17971800) - unter dem Einfluß von
Hölderlin, wie Dieter Henrich annahm - intensiv die „Liebe“ und das
„Leben“ verehrt hatte, um sich
schließlich in Jena unter der Leitung
Schellings – wie dieser eifrig kolportierte – in den mainstream der
nachkantischen Systemphilosophie
einzureihen und bald zu ihrem
führenden Kopf zu werden. Daß
Hegel mancherlei Wendungen vollzogen hatte, war bekannt, aber wie
diese Steinchen sich zu einem sinnvollen Mosaik zusammenfügen
lassen, ist recht unverstanden
geblieben.
Nun hat der Berner Philosoph
Martin Bondeli, der als Dissertation
schon „Hegel in Bern“ (Bonn 1990)
vorgelegt hat, in seinem neuen Buch
eine Darstellung dieser Entwicklung
des Hegelschen Denkens gegeben.
Bondeli spricht vom „Kantianismus
des jungen Hegel“ und will „mittels
einer eng an die Kantischen Vorgaben heranführenden Darstellung“
(2) die Genese von Hegels KantAneignung und –Kritik nachvollziehen. Anhand der zwei großen Themen der praktischen Philosophie
Kants, des Sittengesetzes und der
Idee der Freiheit, rekonstruiert er
die Wandlung in Hegels Denken:
von der frühen unkritischen Akzeptanz des Sittengesetzes als der Kritikinstanz des „christlichen Unterdrückungsgeistes“ bis zum allmähli-
Neuerscheinungen
chen Zweifel an diesem Revolutionsprogramm, der in dem Vorwurf
gegen Kant mündet, die Verwirklichung des Sittengesetzes bringe statt
Freiheit erneut „Herrschaft, Negativität, Schrecken“. In ähnlicher Weise zeichnet Bondeli Hegels Auseinandersetzung mit dem Kantischen
Postulat der Existenz Gottes nach,
die Hegel vom Begriff eines moralisch Gesollten zu dem absoluten
Sein führt, das Freiheit und Natur,
Subjektives und Objektives, vereinigt und versöhnt, vom Verständnis
Gottes als oberstem Befehlshaber
zu Gott als dem Sein der Liebe, sowie die damit verbundene Ausarbeitung von Hegels späterer dialektischer Methode, das Andere als das
Andere seiner selbst zu fassen.
Der entscheidende Gesichtspunkt
von Bondelis Verfahren ist dabei,
Hegels frühe Wandlung vom kantischen Sollen zum Hegelschen Sein
primär nicht durch äußere Umstände – sei es die Zeitgeschichte oder
seine Freunde und Kollegen - zu
erklären, sondern sich in erster Linie
auf die immanente Auseinandersetzung mit zentralen Theoremen der
Kantischen Philosophie zu konzentrieren. Hegels Kant-Kritik, so Bondelis These, rekurriert auf Kant; er
argumentiert mit Kant gegen Kant.
So haben die Ideen des Schönen,
des Erhabenen und insbesondere
des intuitiven Verstandes in Kants
„Kritik der Urteilskraft“, der Lie-
95
besbegriff in Kants „Religionsschrift“, aber auch der Begriff des
„Lebens“ in der „Metaphysik der
Sitten“ die Folie abgegeben, auf der
Hegel Kant kritisiert und seine
Alternative zur Kantischen Philosophie ausgearbeitet hat. Dies gilt
auch für die Antinomienlehre, für
die Kant selbst die Mittel bereitgestellt habe, sie zu überwinden.
Kants Lehre habe „sich notwendig
selbst untergraben und über sich
hinaus in eine neue Form der Philosophie übergehen (müssen)“ (42).
Bondeli ist hierbei souverän genug,
zwischen dieser These Hegels und
ihrem tatsächlichen Gehalt zu unterscheiden.
Ohne die detaillierte und intensive
Darstellung der Argumentationsverschiebungen hier nachzeichnen zu
können, ist sie überzeugend. Sie
revidiert das obige Bild, wonach der
„junge Hegel“ aufgrund äußerer
Umstände und unter Leitung anderer philosophiert habe. Ein Bild, das
so gar nicht zu der selbständigen
und gediegener Art zu philosophieren passen will, die wir vom „späten
Hegel“ kennen. Bondeli zeigt, daß
die Genese der Hegelschen Philosophie – im Gegensatz zu den Philosophien Reinholds, Fichtes und
Schellings, die rasch „über Kant
hinaus“ gingen - in der eindringlichen und wiederholten Auseinandersetzung mit der Philosophie
Kants lag. Diese bildet gleichsam
96
Neuerscheinungen
den „roten Faden“, der die Tübinger, Berner und Frankfurter mit der
Jenaer Zeit verbindet.
Bondelis Rede vom „Kantianismus
des jungen Hegel“ scheint nicht zu
widersprechen, daß bei diesem wohl
von
vornherein
„vereinigungsphilosophische Denkressourcen“ (2) vorhanden waren, die die
Kant-Aneignung wie –kritik Hegels
motiviert und vielleicht auch gesteuert haben. Hier verweist er auf
stoische und neuplatonische Elemente. Auch hält er Hegels, fast
augustinisches Ringen um die „Person Jesu“ im Hintergrund. Dies
geschieht meines Erachtens zurecht.
Denn Bondeli will nicht klären, ob
Hegels Kantianismus „kantisch“
war, sondern zeigen, daß uns die
Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie die Genese der
Hegelschen Philosophie erklärbar
und jenes Puzzle zusammensetzbar
macht.
Mit dieser Arbeit dürfte Bondeli
mehr als nur einen Diskussionsbeitrag zum Thema „der junge Hegel“
gegeben haben. Sie stellt ein gehaltvolles, dem Hegelschen Philosophieren angemessenes Modell vor,
das in den scheinbar abrupten
Wandlungen des Hegelschen Denkens die Kontinuität erkennen läßt.
Alexander von Pechmann
Norbert Brieskorn
Menschenrechte.
Eine historisch-philosophische
Grundlegung
Stuttgart 1997 (Kohlhammer), 208
S., 36.- DM.
Brieskorn, Rechts- und Sozialphilosoph an der Münchner Hochschule
für Philosophie und - nach eigener
Angabe - langjähriger Mitarbeiter
von „Amnesty International“, unternimmt in seinem Buch den Versuch, die Geschichte und die Begründungszusammenhänge
der
Menschenrechte zu systematisieren.
Auf die Präambel zur „Erklärung
der Menschenrechte“ vom 26. August 1789 folgt zunächst ein Interpretationsversuch anhand der darin
prägnant enthaltenen Stichwörter.
Im Anschluß daran gliedert Brieskorn das Thema ‚Menschenrechte‚
in sieben Kapitel, denen er jeweils
eine eigene These voranstellt.
Die erste These besagt, daß es allen
Rechtskulturen um den Menschen
ging. Seitdem es überhaupt so etwas
wie das Recht gibt, geht es Brieskorn zufolge um den Schutz des
Menschen. „Unter Rechtskultur ist
dabei das von den Menschen einer
bestimmten Sprache und Denkart
erarbeitete, vielfältige Verhältnis zu
verstehen, welches die Rechte und
Pflichten der Menschen untereinander und das Spiel der politischen
Institutionen in ihrem Rechte-
Neuerscheinungen
Pflichten-Verhältnis bestimmt und
umfaßt“ (19). Diese Tradition reicht
also weiter zurück als bis zu französischen Revolution. Wie sich der
Schutz des Menschen in der Geschichte konkret gezeigt hat, erarbeitet Brieskorn an den Beispielen
Sparta und Rom, an der jüdischchristlichen Ausprägung, an den
Rechtskulturen des Hoch- und
Spätmittelalters - darin eingeschlossen das Problem der Minderheitenrechte am Beispiel der Juden - und
am neuzeitlichen Rechtsverständnis.
In einem, näher an der Entwicklung
der Menschenrechte bzw. deren
Vorläufer orientierten, Kapitel
stärkt er seine These, daß nicht
einzelne Menschen, sondern Gruppen die jeweiligen Rechte erstritten
haben. Die dritte These befaßt sich
mit dem Problem der Definition
von Menschenrechten bzw., genauer, mit der Definition von ‚Mensch‚
und ‚Recht‚ und der damit im Zusammenhang stehenden Machtverhältnisse.
In der vierten und wohl interessantesten These geht Brieskorn den
bisherigen Begründungsversuchen
der Menschenrechte nach. Rortys
Ansicht, daß Menschenrechte nicht
begründet werden müssen, weil sie
auf der Hand liegen und jede Begründung auf eine kontingente
Definition des Wesens des Menschen hinauslaufe, wird von Brieskorn abgelehnt. Dasselbe Schicksal
97
erleiden die Begründungsversuche
aus der Tradition oder aus der
Gottähnlichkeit des Menschen.
„Der Unterschied zwischen dem
Verständnis vom Menschen innerhalb der Menschenrechtsbewegung
und der Auffassung des christlichen
Menschenbildes ist so erheblich,
daß die Begründung entweder die
Menschenrechte oder die jüdischchristliche Botschaft verstümmeln
müßte“ (22). Ebenso lehnt er die
Begründung der Menschenrechte
durch die Diskursethik von Habermas ab. „Recht und Pflicht der
Selbstentscheidung bilden ein unveräußerliches Element der Würde
des Menschen. Er selbst ist und
bleibt Rechts- und Freiheitsträger,
der Diskurs’gemeinschaft’ kommt
solche Auszeichnung als ganzer
nicht zu“ (156). Die fünfte These
bezieht sich auf die Ausformulierung der Menschenrechte unter
Berücksichtigung der kulturellen
Unterschiede der Menschen. „Das
eine Anliegen ist plural zu normieren“ (22). Die sechste These fordert, daß die Menschenrechtsbewegung sich stets den Schwächsten
zuwenden muß, und ein wirklicher
Erfolg dieser Bewegung erst dann
zu verzeichnen ist, wenn jeder einzelne seine Rechte vor der internationalen Völkergemeinschaft wirklich einklagen kann. Die siebte
These schließlich besagt, daß auch
der Umgang mit den Menschen-
98
Neuerscheinungen
rechten einer sittlichen Vorgabe
bedarf.
Brieskorns fundiertes Wissen um
die Geschichte der Menschenrechte
und seine Erfahrungen mit dem
realen Umgang mit Menschenrechten sind an vielen Stellen erhellend.
Seine Offenheit für nur scheinbar
nebensächliche Vorgänge, die Bereitschaft, auf Fragen einzugehen,
die den eurozentrischen Gesichtskreis verlassen, würden einen tatsächlichen Diskurs über Menschenrechte mit Menschen aus anderen
Kulturen ermöglichen, wäre dieses
Buch nicht in zwei Punkten mangelhaft. Die inhaltlichen Ausführungen Brieskorns zu den einzelnen
Themenbereichen sind teilweise
entschieden zu knapp gehalten.
Habermas’ Diskursethik wird zusammen mit zwei anderen Vorschlägen auf drei Seiten vorgestellt
und kritisiert! Für eine wirkliche
Auseinandersetzung fehlen die
weiter- und tiefergehenden Argumente. Da alle anderen Begründungsversuche von Brieskorn als
entweder nicht hinreichend oder
falsch beurteilt werden, ist der Leser
natürlich neugierig, welchen Vorschlag Brieskorn selbst lanciert.
Aber er wird enttäuscht, da in diesem zentralen Kapitel des Buchs
wiederum mehr Fragen als Antworten aufgeworfen werden. Brieskorn
schlägt ein Verfahren in drei Schritten vor: aus Einsicht schlußfolgern,
einen sozial sich vergewissernden
und einen die Minderheiten befragenden Schritt. Jeder von den drei
Punkten ist notwendig; ungeklärt
bleibt dabei aber, inwieweit und
gegenüber wem diese drei Schritte
als Begründung hinreichend sind,
und welchen logischen Status sie
selbst untereinander einnehmen.
Zur „Ehrenrettung“ Brieskorns sei
aber angemerkt, daß diejenigen, die
die Macht besitzen, Menschenrechte
zu gewähren oder zu verweigern,
einer inhaltlichen Begründung für
Menschenrechte gar nicht zugänglich sind, weil diese Macht jeglicher
Begründung von Menschenrechten
zuwider läuft.
Wolfgang Habermeyer
Manfred Faßler
Was ist Kommunikation?
München 1997 (Fink-Verlag), 231
S., 24.80 DM.
Die Tatsache, daß im Jahr weltweit
etwa 80 000 Jahre telefoniert werden,
zeugt zwar vom gewaltigen Ausmaß
der telematischen Nutzung, zeigt
aber weder, was in all den Gesprächen gesagt, noch ob etwas verstanden wurde: Die Informationsnetze
funktionieren als reiner Datentransport. Die Kommunikation ertränke
Neuerscheinungen
im eigenen Saft, würden - in einer
Art Schlagwortstatistik - auch noch
Inhalte erfaßt werden.
Demgegenüber ist die menschliche
Kommunikation vollgestopft mit
inhaltsschwerem Sinn, mit Erinnerung und Widersprüchlichkeit. Ist
nun aber Kommunikation ein Austausch, der an die Verstehensleistung
gebunden ist, oder gleicht sie der
Übergabe eines beschriebenen Blattes Papier? Zwar ist die Kommunikation zu einem Weltverfahren geworden, ob aber eine e-mail kommuniziert,
ist
noch
keineswegs
ausgemacht.
Höchste Zeit also, daß der Medienwissenschaftler Manfred Faßler die
Grundsatzfrage stellt: „Was ist
Kommunikation?“ Das Buch stellt
verschiedene Kommunikationsmodelle vor und untersucht den Übergang der kommunikativen Gepflogenheiten vom Sprachtext hin zur
medialen Interaktion. Zwar verfällt
Faßler bisweilen systemtheoretischen Selbstbeschreibungen, doch
gelingen ihm entscheidende Richtigstellungen in Sachen Informationsaustausch.
Schon die Rede von der ‘unmittelbaren Kommunikation’ der Neuen
Medien ist ihm suspekt, solange sie
nicht an das gebunden bleibt, was sie
vermittelt - an den Inhalt: ‘Kommunikation’ sei nicht von ‘Bedeutung’
zu lösen. Ohne Sinnabsicht würde
sich Kommunikation sogar erübri-
99
gen. Wenn es aber einerlei ist, ob
Menschen an Kommunikation beteiligt sind oder nicht, erweise sich
Massenkommunikation als diffuse
Massenbenachrichtigung, in der
selbst Tote, die noch Post erhalten,
kommunizieren.
Faßler prüft die Dimension des
Inhalts an der Frage, ob bei Kommunikation Wissen oder ob Information kommuniziert werde. Beide
seien nicht zu verwechseln; denn die
Information umreiße einen Zustand
vor der Erkenntnis, wohingegen das
Wissen der Erkenntnis erst folge.
Information sei Wissen im Wartezustand. Es wartet darauf, humane
Weisheitsschübe auslösen zu können.
Da also die Informationsaufnahme
ein allzu menschlicher Akt ist, handelt es sich noch nicht um Kommunikation, wenn Anrufbeantworter ihren Dienst tun oder Informationen auf der Festplatte erscheinen.
Nichtsdestotrotz vermitteln die
Apparate zwischen den Kommunikationspartnern und führen einerseits am anderen Ende der Leitung
zu Erkenntnis, andererseits aber
leiden die Kommunikationspartner
zusehends an realen Kommunikationsschwierigkeiten.
Faßler analysiert eine paradoxe
Entwicklung: Die analogen Bereiche
menschlichen Verhaltens und Handelns würden formalisiert, um als
elektronisch eigenständige Realität
100
Neuerscheinungen
zu funktionieren. Computertechnologien würden in ihren materialen
und kulturellen Ausdehnungen den
Bereich der menschlichen Souveränität aufheben. Gleichzeitig aber
lieferten die Neuen Medien neue
‘Einsichten’, die durch ihre mediale
Art der Vermittlung eine „Erweiterung in der Art unseres Denkens“
bewirkten. Das Wissens- und Weisheitsmonopol scheint nicht mehr
nur der Mensch zu besitzen, vielmehr avanciere das Medium zur
„eigenständigen,
überzeitlichen
Ordnungsrepräsentation“, das dazu
einlädt, der Kommunikation als eine
Simulation des Denkens zu folgen.
Während die zwischenmenschliche
Kommunikation den vielschichtigen
Sinn einzugrenzen hat, operieren die
Apparate bereits komplexitätsreduziert und zwingen den Nutzer auf
eben dies Sinn-neutrale Plateau:
Informationen sind schlagkräftige
Waffen wider die Komplexität der
Welt. Deshalb habe - dies ist die
Pointe in der Analyse Faßlers “Information den Platz der Organisation von Wissen und Handlung
eingenommen, den bis vor wenigen
Jahrzehnten Tradition einnahm“.
Das komplex Gewachsene weiche
dem informativ Aktuellen und jede
„Hermeneutik wird zur Hermeneutik des Programms“.
Ob sich dabei noch Kommunikationsmodelle denken lassen, die auf
das Soziale bezogen sind, macht
Faßler davon abhängig, inwieweit es
die Sozialwissenschaften verstehen,
die
Feldforschung
upzudaten,
„Theorien der Software“ zu entwickeln und durch „InteraktionsAnalysen“ den Kommunikationskompetenzen ins Epizentrum zu
blicken. Erst dann würde klar werden, was zusehends suspekt erscheint: weshalb Kommunikation
überhaupt erstrebenswert ist.
Matthias Groll
Geronimo
Glut und Asche.
Reflexionen zur Politik der autonomen Bewegung, Münster 1997
(UNRAST-Verlag), br., 245 S.,
24.80 DM.
Nachdem der wissenschaftliche und
mehr schlecht als recht angewandte
Sozialismus den Status eines umstrittenen historischen Ereignisses
eingenommen hat, und die Vertreter
der dazu gehörigen wissenschaftlichen Weltanschauung mittlerweile
der roten Liste der bedrohten Arten
anzugehören scheinen, und nachdem Mutanten dieser Art, die sich
dissident wähnten, aber, so beansprucht, die wahrere Sozialistische
Theorie praxisrelevanter Provenienz
mit wissenschaftlicher Akribie zu
betreiben, mangels praxisrelevanter
gesellschaftspolitischer Ansätze und
aus
Gründen
gefälliger
Selbstdarstellung vollkommen im
Neuerscheinungen
stellung vollkommen im Himmelsschloß akademistischer Feingeisterei angekommen sind, scheint linksradikale Politik in nennenswertem Umfang nur noch in
den als ‚theoriefeindlich‚ etikettierten, autonomen und anderen kleineren, militant agierenden subversiven
Gruppen stattzufinden.
Seit geraumer Zeit ist von dort die
erfreuliche Tendenz zu vermelden,
daß über Praxis und Theorie reflektiert wird. Fast wäre man geneigt zu
sagen, endlich! Doch scheint es so
zu sein, daß dieses Unterfangen
ebenfalls Ausdruck einer, auch für
diese Gruppierungen, krisenhaften
Entwicklung ist. Einst lieferte Geronimo einer militärisch, quantitativ
und qualitativ, weit überlegenen
Streitmacht einen langen und erbitterten Kampf in den Wüsten von
Texas und Mexiko. Jetzt beansprucht er, mit der Reflexion über
autonome Politik eine Aufhebung
im besten hegelschen Sinne zu
betreiben, nämlich durch das Immer-so-weiter-machen, einer Form
des Aufhörens bisheriger autonomer Politik. In seinem neuesten
Buch, das sich nicht zuletzt auch
durch einen beträchtlichen Unterhaltungswert auszeichnet, ist der
Autor zur Erkenntnis gekommen,
daß eine Bewegung, die revolutionär
im konkreten und nicht in einem
sich selbst kostümierenden und
legitimierenden Sinne sein will, kein
101
Gedächtnis hat und sich auch nicht
für das Abheften ihrer produzierten
Schriften interessieren dürfte. Setzt
dies ein, so sei diese Bewegung an
ihr Ende gekommen. (7) Diese
Grundthese versucht der Autor mit
Fleisch zu füllen, indem er den
kollektiven Prozeß der Selbstreflexion dieser Bewegung beschreibt
und gleichzeitig an jüngeren
Beispielen das Ende der bisherigen,
sich revolutionär wähnenden, radikalen Linken thematisiert. Wie also
ist es um ein Häuflein Abenteurer
am Morgen danach bestellt, wenn
sie im morgendlichen Nebel um ihr
zu Glut und Asche gewordenes Lagerfeuer sitzen?
Das Buch läßt drei Teile erkennen.
Der erste Teil behandelt den „Autonomie-Kongress“. Der exklusive
Anspruch, autonom sein zu wollen,
ist natürlich ein Selbstwiderspruch,
wie der Autor selbstkritisch einräumt(138), da dieser Begriff nur
über die Auseinandersetzung mit
anderen linksradikalen Gruppierungen politisch zu füllen ist. Gegenüber Linksradikalen, die sich selbst
als ‚Stalinisten‚ bezeichnen, sei eine
Position von Nöten, die sich nicht
nur abgrenzt, sondern die deutlich
eine andere Politik einfordert und
eben gerade jenes Radikalismusverständnis zutiefst ablehnt, das sich
durch die Zahl der bekämpften
vermeintlichen und / oder tatsächlichen Gegner und am Grad deren
102
Neuerscheinungen
Ausmerzung definiert (139). Was
aber bedeutet praktizierte Autonomie heute? - In dem von mir als
zweiten identifizierten Teil zeichnet
Geronimo an verschiedenen Events
der 90er Jahre den Verlust politischer Substanz autonomer Praxis
auf. Erfolge (31ff.), Spitzel in den
eigenen Reihen (61ff.) und ein Abgleiten in eine Räuber-undGendarm-Dialektik (87ff.) zeigen verschiedentlich auf schmerzhafte
Weise den Verlust des Politischen:
vermeintliche Politik mutiert zur
inhaltslosen Aufrechterhaltung einer
folkloristischen Veranstaltung - im
Gegensatz zum Musikantenstadl
aber mit teilweise unmittelbar blutigen Folgen. Das Hauptdilemma ist
dabei, daß eine solche Politik zur
unbegriffenen autistischen Selbstbefassung mit inneren Widersprüchen
führt - anstatt sich als ein aus der
Gesellschaft heraus Widersprüche
forttreibendes Element zu begreifen. Dies ansatzweise begriffen zu
haben, zeigt der durchgeführte
Kongreß durch die Einsicht, mit
Kongressen den Prozeß des Begreifens „langwieriger, vertüttelter sozialer Prozesse“ (191) eben nicht
abkürzen zu können. In dem Buch
wird immer wieder deutlich, daß der
Autor auch seine eigene Rolle und
seine politische Heimat einer Selbstreflexion unterzieht (köstlich: Benimmregeln, 169ff.) und das Scheitern politischer Projekte auch auf
sich selbst bezieht. Der dadurch oft
zu unvermittelt lancierte Szenejargon ist aber nicht die einzige
Schwäche an diesem Buch: irgendwie bleibt die zentrale Kategorie des
Politischen unklar, womit der dritte
Teil des Buches zur Sprache
kommt. - Der Autor versteht das
Politische sowohl als Auseinandersetzung als auch als Meinungskampf
- ohne dabei einen Feind als persönliches Gegenüber zu bestimmen.
Denn, so versichert uns der Autor,
„wir sind nicht gegensätzlich oder
antagonistisch zueinander, wir sind
nur verschieden.“ (27) Wer ist
‚Wir‚? Die autonome Bewegung?
Dann ist dieses Buch eine Nabelschau derselben, die sich als kollektives Subjekt den Luxus einer Therapie leistet. Denn trotz aller Selbstreflexion kann der Konflikt einer
Bewegung nicht auf eine innere
Angelegenheit derselben reduziert
werden. Sind mit ‚Wir‚ also alle
Subjekte in dieser Gesellschaft gemeint? Dann hat diese Aussage
einen bestenfalls ethischen Wert;
schlimmstenfalls ist sie naiv und
falsch. In einer grundlegend antagonistischen Gesellschaft gibt es kein
‚Wir‚. Es gibt Emanzipation und
Unterdrückung, Freiheit und Unfreiheit, Gleichheit und Ungleichheit, Gewinnmaximierung und
Bedürfnisbefriedigung.
Entlang
dieser Koordinaten spielen sich die
gesellschaftlichen Konflikte ab: sie
Neuerscheinungen
sind der Motor deren Entwicklung.
Und es gibt keine Oase, die davon
ausgenommen wäre, daher sind
„politisch maskierte, rassistische,
therapeutische ... Diskurse“ (29), im
Gegensatz zur Meinung des Autors,
immer politisch und werden gerade
deswegen als unpolitisch deklariert,
um ihren gesellschaftlichen Gehalt
zu eskamotieren. Der zu kritisierende Politikbegriff des Autors führt
m.E. dazu, daß es dem Autor nicht
ganz gelingt, die Brücke von der
überzeugend dargelegten Problematik eines autonomen Politikverständnisses hin zu den Widersprüchen autonomer Politik im Klassenkampf der relevanten Zeiträume zu
schlagen.
Der/die geneigte Leser/in wird in
dieser weitestgehend auf eine Binnensicht autonomer Politik beschränkten Schrift auf Analyseversuche des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustandes, aus denen
relevante Einsichten für Praxisprobleme radikaler Politik sichtbar werden könnten, verzichten müssen.
Die immer wieder hervorgekehrte
Einsicht, daß autonome Politik das
Ziel in der Aktion antizipieren müsse, ist einleuchtend, aber hilft in
einer Situation der Agonie linker
Politikprojekte auch nicht viel weiter. Über die Selbstreflexion einiger
autonomer Politikaktionen hinaus
wären aber Überlegungen zu den
Implikationen und Antinomien
103
linksradikaler Politik notwendig
gewesen: einer Politik, die einerseits
den aufklärerischen Ansatz in Anspruch nimmt, die Massen für ein
emanzipatorisches Projekt zu gewinnen, und die andererseits die
Massen angesichts ihres reaktionären oder semifaschistischen Bewußtseins mit Chaos, Straßenkämpfen und wortmächtigen Pamphleten
oder eben mit elitärer Verachtung
bestraft.
Es bleibt zu hoffen, daß das Pseudonym nicht für das gleiche hoffnungslose Ende steht, das der Namensvetter erdulden mußte. Dagegen spricht, daß aus dem
Bewußtsein, Verlierer zu sein, ein
Ausbruch aus dem Dilemma von
Macht und Gegenmacht und von
Sieger und Verlierer im inklusiven
bürgerlichen Staat möglich scheint.
Thomas Lemke
Eine Kritik der politischen Vernunft.
Foucaults Analyse der modernen
Gouvernementalität.
Hamburg 1997 (Argument-Verlag),
412 S., 39.80 DM.
In letzter Zeit ist es um Michel
Foucault ruhiger geworden. Die
Debatten der 80er Jahre um seinen
„heillosen Subjektivismus“ (Haber-
104
Neuerscheinungen
mas) und das Begründungslose
seiner Praxis, sowie die Häme über
Foucaults vermeintlichen Rückzug
ins Private der Selbstsorge gehören
der Vergangenheit an. Im ausgehenden Kohlismus fristet er als
Lebenskünstler sein geistiges Dasein
in den Kompendien, die zum „guten Leben“ anleiten.
Thomas Lemke hat diese Ruhe gut
genutzt und aus teils noch unbekanntem Material des Pariser Foucault-Archivs die Systematik des
Gesamtwerks zu rekonstruieren
unternommen. Dabei geht es ihm
weniger um die Inhalte, die Foucault bearbeitet hat (auch wenn
diese nicht zu kurz kommen), aber
auch nicht primär um die Begriffe,
Konzepte und die Methodik, mit
denen er gearbeitet hat, sondern um
die Paradoxien, Widersprüche und
Aporien, die Foucault selbst reflektiert hat, und die ihn Mitte der 70er
Jahre zur Transformation, ja zum
„Bruch“ (Foucault) mit seiner früheren Theorie der Macht veranlaßt
haben. Lemke stellt uns Foucault
nicht nur als den bekannten Analytiker und Historiker von Machtstrukturen und –diskursen vor,
sondern als einen äußerst subversiven Denker, der seine eigenen
Konzeptualisierungen in Frage stellt
und der das zentrale Thema seiner
Philosophie, Macht und Widerstand, eher umkreist als ‚auf den
Begriff‚ bringt. Er kommt zum
Ergebnis, daß Foucault, entgegen
den Vermutungen, niemals den
Widerstand zugunsten des Privaten
aufgegeben hat; daß es aber für
Foucault das fundamentale – theoretische wie praktische – Problem
war, daß der Widerstand selbst
Macht ist, und daher die Kritik der
Macht auf sich selbst angewandt
werden muß. Foucault entziehe sich
dem gängigen Entweder-Oder und
suche die Entwicklung einer
„Grenzhaltung“. Er selbst hat diese
Haltung als einen „‚Slalom‚ zwischen der traditionellen Philosophie
und der Aufgabe jeglichen Ernstes“
(352) beschrieben.
Der erste Teil von Lemkes Arbeit
referiert überwiegend Bekanntes:
Foucaults
„Mikrophysik
der
Macht“, die die Technologien der
Disziplinierung von Individuen
anhand der psychiatrischen Klinik,
des Gefängnisses und der „Wissenschaft vom Menschen“ analysiert.
Der zweite Teil bildet den Kern der
Arbeit. Hier stellt er jene Art der
Selbstkritik Foucaults dar, die in der
öffentlichen Diskussion unbeachtet
blieb. Er stützt sich dabei auf teils
unveröffentlichte Texte und Tondokumente, die sich auf eine Vorlesungsreihe beziehen, die Foucault
1978 und 1979 am Collège de France gehalten hat. 1977 gesteht Foucault ein, bislang einen reduzierten
Begriff von Macht gebraucht zu
haben: „Es ist klar, daß alles, was
Neuerscheinungen
ich im Laufe der letzten Jahre gemacht habe, vom Modell KriegUnterdrückung ausging.“ (127)
Foucault, so versteht Lemke diese
Selbstkritik, habe den Verdacht, daß
sein strategisches Modell der Macht
noch immer in der Tradition der
juridischen Konzeption von Macht
steht, die er damit überwinden
wollte. Deshalb müsse das Modell
Krieg-Unterdrückung
überdacht,
wenn nicht überhaupt aufgegeben
werden; denn unter dem Gesichtspunkt der disziplinären Zurichtung
müssen
Widerstandspotentiale
ebenso unmöglich erscheinen wie
eine „Geschichte der Besiegten“, da
diesen per definitionem die Sprache
der Sieger aufgezwungen werde.
Darüber hinaus stellt sich die Frage,
ob „Herrschaftsprozesse nicht viel
komplexer und vieldeutiger als
Krieg“ (143) sind.
Foucault antwortet auf diese konzeptuelle Krise mit dem Begriff
„gouvernement“; Lemke übersetzt:
„Regierung“, „Führung“. Diesen
Begriff der „Regierung“ interpretiert
Lemke als Konsequenz aus den
struktur- wie subjekttheoretischen
Defiziten der bisherigen Machtanalysen. Er erhält die „Scharnierfunktion“ (31), die zwischen strategischen Machtbeziehungen und Subjektivierungsprozessen, Techniken
der Herrschaft und des ‚Selbst‚,
Politik und Ethik, vermittelt und
beide verbindet. Weil man diese
105
Neukonzeption übersehen habe, so
Lemke, habe man bei Foucault
fälschlich von einem „Übergang
von der Politik zur Ethik“ gesprochen. Entscheidend für diesen Begriff „gouvernement“ sei, daß er die
Macht über andere nicht mehr in
Kategorien der Kriegführung beschreibt, sondern auf „Wahrheit“
rekurriert. „Foucault identifiziert
Regierung als eine spezifische Form
der Machtausübung, die weniger als
repressiver Zwang oder als ideologische Verstellung funktioniert, sondern im Gegenteil über die Produktion von Wahrheit operiert. Im
Gegensatz zu anderen Machtformen verlangt Regierung auf der
Seite der Individuen nicht nur Unterwerfung und Gehorsam, sondern
Wahrheitsakte. Foucaults zentrales
Problem ist daher die Frage, ‚wie
Menschen sich selbst und andere
über die Produktion von Wahrheit
regieren’.“ (32) Auf der Grundlage
dieses Begriffs gibt Foucault eine
Genealogie des modernen Staates, die
Lemke recht ausführlich, von der
Polizeiwissenschaft des absolutistischen Staates bis zum neoliberalen
Modell der „Chicagoer Schule“,
vorstellt.
Der dritte Teil schließlich geht auf
Foucaults Ethik ein. Diese sei keine
Rückkehr zu seinem existentialistisch geprägten Frühwerk, sondern
habe die Genealogie des modernen Subjekts zum Thema und müsse als
106
Neuerscheinungen
Fortsetzung und Ergänzung der
Genealogie des modernen Staates
verstanden werden. Ging es dort
um das gouvernement des autres,
geht es hier um das gouvernement
de soi. In Der Gebrauch der Lüste und
Die Sorge um sich analysiert Foucault
anhand der Sexualität und der
Selbstsorge die Technologien, durch
die und mittels derer das moderne
Subjekt sich konstituiert. Beide
Werke verfolgen die Veränderung
der Selbsttechniken anhand der
moralischen Reflexion der Sexualität
und des Verhältnisses zu sich selbst.
Foucaults früher Tod habe die
Ausarbeitung dieses Konzepts des
Regierens anderer und sich selbst
verhindert.
Wenngleich Lemkes Buch im zweiten Teil Längen hat, die man mit
dem Hinweis auf die Unbekanntheit
des Materials rechtfertigen kann, ist
Lemkes
Foucault-Interpretation
äußerst überzeugend. Es wird jedenfalls der methodischen wie inhaltlichen Subtilität des Denkens
Foucaults gerechter als die früheren
Holzschnittdiskussionen. Vielleicht
mag es darüber hinaus eine neue
Diskussion über Macht und Widerstand und ihre Formen initiieren,
das die alten Dualismen hinter sich
läßt. Abschließend sei angemerkt,
daß der umfassenden Bibliographie
am Ende des Buches die Ergänzung
um ein Sachregister gut getan hätte,
und daß der bemühte Aktualismus
des „Waschzettels“ dem Inhalt des
Buches nicht gerecht wird.
Alexander von Pechmann
Hans Joas
Die Entstehung der Werte
Frankfurt/Main 1997 (Suhrkamp),
300 S., 48.- DM.
Joas‚ Buch ist kein historischer
Abriß über die Entstehung der
Werte. Es bezieht sich auf die
Theoriegeschichte: wie haben sich
Philosophen und Soziologen das
Entstehen und Vorhandensein von
Werten und Wertbeziehungen erklärt? Auf diese „klare Frage“ als
ersten Satz seiner Abhandlung folgt
mit dem zweiten Satz sogleich eine
klare Antwort: „Werte entstehen in
Erfahrungen der Selbstbildung und
Selbsttranszendenz.“ Was das genau
heißt, darüber handeln die restlichen
Seiten dieses Buchs, die die Erklärungsmuster von F. Nietzsche und
W. James bis zu Ch. Taylor und R.
Rorty umfassen. Daß dabei die
Ansichten des amerikanischen
Pragmatismus nicht nur im Vordergrund stehen, sondern die Basis der
theoretischen Bemühung ausmachen, darf bei Joas, dem deutschen
Herold des amerikanischen Pragmatismus nicht überraschen. Ihm geht
es in seinem Buch explizit um die
Vermittlung zweier Positionen: der
Neuerscheinungen
aus den USA kommende Kommunitarismus und seine dezidierte
Orientierung an Werten soll mit der
deutschen Lesart des Liberalismus
und Universalismus in Gestalt von
Jürgen Habermas verbunden werden. Joas beginnt mit Nietzsche,
weil er an ihm exemplarisch aufzeigen will, wie sich im jüdischchristlichen Diskurs des Abendlands eine Umwertung der Werte
vollzieht, ohne das Bezugsraster
dieses Diskurses zu verlassen. Seine
anti-religiöse Radikalität ist selbst
noch ganz befangen im Ringen um
Religiosität. Allerdings ermöglicht
Nietzsches Konstruktion eines
aristokratischen und totalen (totalitären?) Ichs die Öffnung zur vernünftigeren Frage des Selbst und
seiner Konstitution. Bei James
hingegen, dem Stammvater des
amerikanischen Pragmatismus, wird
Religion und Moralität strikt getrennt. Weder sei Religion eine
Hyper-Moralität, noch ließen sich
die Normen des rechten gesellschaftlichen Handeln aus Religion
ableiten. Religion, genauer: Religiosität, sei das Resultat von Erfahrungen der Selbstaufgabe, die wiederum
die „idealen Kräfte des Individuums
stärken und tragen können“ (86).
Mit James, so Joas, gewinnt der
Begriff des Selbst als Bindeglied
zwischen vorgängiger Gesellschaftlichkeit des Individuums und je
individueller Erfahrung seine Kon-
107
turen. Über Dewey, Mead, Durkheim, Simmel und Scheler gelangt
Joas zu Taylor und zur Bestätigung
seiner Ansicht, daß sich die Frage
nach den Werten des Individuums
und seinen Wertbindungen, die
Fragen von Moral und Ethik und,
vor allem, die Frage nach dem Guten und dem Rechten ohne Rekurs
auf die Bildung des Selbst und seiner Identität nicht beantworten
lassen.
Taylor bindet in einer Differenzierung der Wünsche auf individueller
Ebene Werte, Moral und Identitätsbildung zusammen. Dies geschehe,
weil der Mensch fähig sei, seine
Wünsche zu reflektieren und ihnen
eine hierarchische Struktur zu geben.
In dieser Reflexion lassen sich Gründe für moralische Gefühle erkennen,
die als Bezugspunkt eine Lebensform, ein Ideal bezeichnen und uns
eine „Vorstellung geben, welche Art
von Person wir nach unseren eigenen
Maßstäben sein wollen“ (203). Das
Subjekt, so Taylor, erfährt seine
eigenen starken Wertungen nicht als
Setzungen, sondern als etwas unabhängig von ihm selbst Gegebenes. Er
spricht von „‚frameworks’ qualitativer Unterscheidungen, in die unsere
Wahrnehmungen unserer selbst und
anderer, die Situationen unseres
Handelns und unsere Handlungen
eingegliedert sind“ (204). Unsere
Identität bezieht sich dem gemäß
darauf, daß wir unterscheiden kön-
108
Neuerscheinungen
nen, was uns wichtig ist und was
nicht. Wichtig für Taylor ist nun, daß
die Reflexion über und Artikulation
der höchsten Werte/Güter eine
genuine Verbindung eingehen: „Ein
Gott oder das platonische Gute, der
romantische Naturbegriff oder das
rationale Handeln im Sinne Kants
lassen sich nur als artikulierte Güter
vermitteln und begreifen... ohne explizite Formulierung in irgendeiner
Form ... stellen diese Güter nicht
einmal Optionen dar“ (Taylor, 218).
Diesen Ansatz konfrontiert Joas mit
Überlegungen des von ihm so bezeichneten „postmodernen Philosophen“ Richard Rorty. Dessen Lob
der Differenz und der Befreiung aus
der Zwangsjacke einer starren Identität relativiert Joas mit dem Einwand, Differenzen ohne Spannung
seien nicht nur langweilig, sondern
belassen die jeweiligen Protagonisten einfach in ihrem dumpfen SoSein. Das schöpferische Potential
der Differenz werde eliminiert,
„weil keiner der Beteiligten sich
mehr ans bestimmte Eigene gebunden fühlt, keiner das Andere als
möglicherweise heilsame Provokation zur ernsthaften Selbstveränderung erlebt und alle Gerichtetheit
auf einen möglichen Konsens - und
sei es den über Differenz - verschwunden ist“ (251).
Die Eingangsthese, daß Werte in
Erfahrungen von Selbstbildung und
Selbsttranszendenz entstehen, daß
also Moralität und Identität sowohl
innerhalb einer Person als auch
zwischen den Personen einen spannungsreichen Zusammenhang bilden, erweitert Joas am Ende des
Buches unter dem Titel „Werte und
Normen: Das Gute und das Rechte“. Auf der Basis des Pragmatismus
und im speziellen einer Ethik, die
sich auf die Perspektive des Handelnden und seine Not, in Handlungsproblemen zu Lösungen zu
kommen, einläßt, ließen sich nämlich zwei, einander eigentlich ausschließende Vorgänge zusammenbringen: die universalistische Moralkonzeption
und
kontingenzbezogene
Wertentstehungstheorien. „Für die Rechtfertigung von Normen gibt es in dieser
Sichtweise keine höhere Instanz als
den Diskurs. In der Perspektive des
Akteurs aber, der seine Handlungen
unter kontingenten Bedingungen
entwirft, steht nicht die Rechtfertigung obenan, sondern die Spezifizierung des Guten oder des
Rechten in einer Handlungssituation“ (267). Diesen Ansatz konfrontiert Joas nun mit der Diskursethik
von Habermas. Die rein auf Verfahrensrationalität zielende Diskursethik, zu der Habermas in den 70er
Jahren ja erst durch seine Aneignung des frühen amerikanischen
Pragmatismus gelangte, leite ihren
Universalitätsanspruch auch daraus
ab, daß nur diejenigen „Normen
Neuerscheinungen
Geltung beanspruchen dürfen, die
die Zustimmung aller Betroffener
als Teilnehmer eines praktischen
Diskurses finden können“ (275) Joas
nennt
dies
die
diskurstheoretische Lesart des kategorischen Imperativs -, und daß
sich aus dieser formalen Prozedur
des ethischen Diskurses keine substantiellen Folgerungen mehr ziehen
lassen. In unserer nachmetaphysichen Welt gilt daher für Habermas
das Primat des Rechten vor dem
Guten. Joas‚ Haupteinwand gegen
dieses Diktum bezieht sich nun
darauf, daß unter den Gesichtspunkten einer pragmatischen Ethik
sehr wohl noch substantielle und
damit partikulare und kontingente
Werte, Güter oder Ideale vertretbar
und verfechtbar sind - ohne deshalb
sofort vom Bannstrahl des Universalismus in die reaktionäre Ecke
verwiesen werden zu können. Er
widerspricht Habermas, wenn dieser
behauptet, die moralische Gemeinschaft konstituiere sich „allein über
die negative Idee der Abschaffung
von Diskriminierung und Leid
sowie der Einbeziehung der - und
des - Marginalisierten in eine wechselseitige Rücksichtnahme“ (290).
Auch die Kommunitaristen vertreten eine Gemeinschaft, die sich das
Etikett „moralisch“ an die Brust
heften dürfe, weil eben Werte reproduziert werden müssen, damit
die Gesellschaft sich nicht auflöst.
109
Und wo wäre dies besser möglich
als in einer Gesellschaft, die sich
auch als „Gemeinschaft“ (Kommune)
versteht?
So läßt das Buch zum Ende hin den
Leser ein wenig unbefriedigt zurück,
weil es so aussieht, als wäre das
ganze doch nur ein kleiner und
bescheidener Einwand gegen Habermas, der sich kürzer und prägnanter hätte darstellen lassen, und
der gewichtige Alternativen ausblendet. Zygmunt Baumanns Versuch einer postmodernen Ethik
etwa wird von Joas als „elitär“ zurückgewiesen, weil dessen These
vom Ende aller Gewißheiten diejenigen vor den Kopf stoße, die für
sich selbst noch eine Wertsicherheit
reklamieren. Über Werteverlust
klagen aber nach wie vor nur diejenigen, die sicher sind, die richtigen
Werte zu besitzen, und daß es den
anderen an Werten bzw. den richtigen Werten mangele. Das Problem
heute jedoch ist, daß zwar Werte an
sich nichts schlechtes sind, daß aber
die damit verbundene Sicherheit am
Ende dieses Jahrhunderts selbst zu
einer Frage der Moral geworden ist.
Hierfür ließen sich Beispiele aus der
jüngsten Geschichte nennen. Insofern ist der Vorwurf, Bauman sei
elitär, weil er verunsichere, wenig
einleuchtend.
Wer sich jedoch für Kommunitarismus und Pragmatismus interessiert und einen verständlichen (al-
110
Neuerscheinungen
lerdings themenzentrierten) Einstieg
zu Taylor und Dewey, James und
Rorty sucht, wird freilich fündig
werden. Dennoch hätte das Buch,
das sich wiederholt auf sich selbst
bezieht und den Fortgang der Argumentation als eine Entfaltung der
anfangs dargelegten These und der
möglichen Einwände betreibt, einer
klarer strukturierten Gliederung
bedurft. Eine Gliederung, die über
die bloße Aneinanderreihung von
zehn gleichberechtigten Punkten
hinausginge, wäre schön gewesen.
Oder verweist dies auf eine Schwäche des Buches - das eigentlich gar
nicht geplant war (7)?
Wolfgang Habermeyer
Ulrich Kohlmann
Dialektik der Moral.
Untersuchungen zur Moralphilosophie Adornos
Lüneburg 1997 (zu KlampenVerlag) , 257 S., 38.- DM.
„Ethik hat Hochkonjunktur.“ (11) Kohlmanns einleitender Feststellung ließe sich hinzufügen: Veröffentlichungen zum Thema Moralphilosophie bei Adorno auch. Kohlmanns Buch ist neben einigen Aufsätzen und einem Sammelband
bereits die dritte Monographie seit
1993, die sich primär mit diesem -
bisher weitgehend vernachlässigten
- Aspekt von Adornos Denken auseinandersetzt. Um es gleich vorwegzunehmen: eine durchweg lesenswerte Schrift von durchgängig
apologetischem Charakter.
In der ersten Hälfte seiner Schrift
präsentiert Kohlmann die Geschichte der Moralphilosophie seit
Kant überzeugend als konsequente
Fortentwicklung, die - wie könnte es
anders sein - in Adornos Moralphilosophie kulminiert. Kants Kritik an
der Gültigkeit des ontologischen
Gottesbeweises raubt sowohl der
rationalistischen Metaphysik als
auch der traditionellen Moral ihr
Fundament. Kants Ethik, die im
Bereich der Moralphilosophie einen
entscheidenden Wendepunkt darstellt, kann als Antwort auf seine
Kritik am ontologischen Gottesbeweis begriffen werden. Denn sie
unternimmt als autonome Reflexionsmoral bzw. als Selbstgesetzgebung der Vernunft den Versuch,
dem moralischen Gesetz in der
praktischen Vernunft ein neues
Fundament zu verschaffen. Gegen
die von Kant unterstellte Einheit
von Vernunft und Sittlichkeit führt
Kohlmann Adornos de Sade-Interpretation aus der Dialektik der Aufklärung ins Feld, die die Allgemeingültigkeit des kategorischen Imperativs bestreitet und mit dem
Aufweis der Einheit von Vernunft
und Herrschaft schließt. Adorno
Neuerscheinungen
weist also den Autonomieanspruch
der Kantschen Ethik zurück und
entwickelt vornehmlich an ihr seine
Kritik am repressiven Gehalt von
Ethik.
Auch Schopenhauer bemüht sich
für Kohlmann darum, der Ethik ein
neues tragfähiges Fundament zu
verschaffen. Dieses findet seine
Gefühlsmoral im Mitleid, das er als
Quietiv des Willens verherrlicht.
Adorno weist aber die Mitleidsethik
als Ausweg aus den Aporien der
Reflexionsmoral zurück, denn das
Mitleid läßt sich prinzipiell nur als
ethisches Ausnahmeprinzip begreifen. Die nachfolgenden Aufhebungsversuche der Moral durch
Hegel in der verwirklichten Sittlichkeit und durch Marx im zukünftigen
Gesellschaftszustand radikalisieren
zwar die Kritik an Moral, bleiben
für Kohlmann aber unzureichend.
Während Kohlmann seine Sichtweise
von
Hegels
wirklichkeitsverklärendem
Aufhebungsversuch anhand von einigen Zitaten
auch als die Adornos belegen kann,
wird der Leser in der Passage zu
Marx über Adornos Position im
unklaren gelassen. Ein Hinweis auf
Adornos Kritik an Marx’ Revolutionstheorie hätte jedoch ausgereicht,
um mit Adorno behaupten zu können, daß Marx’ „Moralkritik pragmatistisch verkürzt blieb“ (100).
Die bisherige Forschung hat bereits
vereinzelt Nietzsches Einfluß auf
111
Adorno nachgewiesen. Kohlmann
versucht nun zu zeigen, daß Adorno
auch im Bereich der Moralphilosophie an Nietzsches Reflexionen
anknüpft. Nietzsche zieht nicht nur
aus dem Scheitern des traditionellen
Begründungsdiskurses der Moral die
Konsequenzen. Bei ihm findet sich
auch bereits die entscheidende
Frage nach der Dialektik der Moral,
auf deren Entfaltung negative Moralphilosophie gerichtet ist: Ist Ethik
als System der Moral selbst moralisch, genügt sie ihren eigenen Prinzipien? Die Kritik an Moral, die sich
daraus ergibt und die das Unmoralische an Ethik aufzeigen will, ist bei
Nietzsche und Adorno als solche
wiederum moralisch motiviert. Das
Unmoralische an Moral ist „ihr
latentes Motiv, zu strafen und zu
verfolgen, wie ihre Absicht zu zwingen“ (102).
Dieser Ansatz, so Kohlmann, werde
bei Nietzsche nicht weiterentwickelt
und kritisiere „allein die christliche
Moral“ (102). Nietzsche bleibe
zudem in einer moralphilosophischen Aporie stecken, da der moralische Bezugspunkt und der Wahrheitsanspruch seiner Kritik an Moral von seiner radikalen Kritik an
Moral und Wahrheit selbst erfaßt
wird. Kohlmann bemüht sich auch
zu zeigen, daß sich Nietzsche aus
dieser Aporie nicht, wie Adorno
annimmt, in neue Werte und eine
positive Lehre flüchtet, sondern
112
Neuerscheinungen
seine eigenen Lehren (Wille zur
Macht, Übermensch, Ewige Wiederkunft, Amor fati) selbst destruiert (81ff.).
Kohlmanns Nietzsche-Deutung kann
nicht unwidersprochen stehenbleiben. Zum einen kritisiert Nietzsche
nicht allein die christliche Moral,
sondern beispielsweise auch die
jüdische, die buddhistische und die
Schopenhauers (vgl. Genealogie der
Moral, Vorrede 5, Erste Abhandlung). Zum anderen scheint sich
Kohlmann die Kritik von Habermas
zu eigen zu machen, der Nietzsches
Satz ‚Es gibt keine Wahrheit’ als
performativen
Selbstwiderspruch
begreift. Dagegen ließe sich einwenden, daß ‚Es gibt keine Wahrheit’ kein einfacher, deskriptiver
Satz ist, sondern das Ergebnis eines
langen Diskurses mit einer Vielzahl
deskriptiver Sätze. Des weiteren
macht es sich Kohlmann mit Nietzsches positiver Lehre, die dieser
angeblich selbst destruiere, etwas zu
einfach. So ist weder vom Willen
zur Macht als Hermeneutik noch
von dem Zusammenhang dieser
Hermeneutik mit dem Übermenschen die Rede. Und noch nebenbei
bemerkt: Napoleon ist für Nietzsche kein Beispiel für eine leibhafte
Personifizierung des Übermenschen
(84), sondern eine „Synthesis von
Unmensch und Übermensch“ (Genealogie
der Moral, Erste Abhandlung, 16).
Bei Adorno wird Nietzsches Ansatz
dann zu einer negativen Moralphilosophie ausgebaut, die selbst keine
ethischen
Handlungsimperative
aufrichtet und nichts weiter ist als
immanente Kritik an Ethik. Diese
entlarvt Ethik als Technik zur Herrschaft über die innere Natur des
Menschen und als genuinen Abkömmling instrumenteller selbsterhaltender Vernunft. Adornos Bezugspunkt, der seine Kritik an Moral ermöglicht, findet sich im
‚leibhaften Moment’, das Leiden als
das ‚Unmenschliche’ indiziert (147).
Kohlmanns Interesse an Adornos
negativer Moralphilosophie ist erfreulicherweise kein rein philosophiegeschichtliches. Denn es geht
ihm nicht zuletzt darum, Nietzsches
und vor allem Adornos moralisch
motivierte Kritik an Moral gegen
aktuelle Ethikmodelle in Stellung zu
bringen und die Zweifel an deren
sachlicher Relevanz zu stärken.
Diese Zweifel rechtfertigen sich für
ihn vor allem durch die Unbekümmertheit, mit der in der gegenwärtigen Ethikdebatte Nietzsches und
Adornos stichhaltige Kritik an der
Möglichkeit und Wünschbarkeit
von Moral überhaupt ignoriert wird.
Zu schade nur, daß Kohlmann bei
der erinnernden Rekonstruktion
dieser Kritik abbricht und ihre konkrete Anwendung an keinem einzigen Ethikmodell des gegenwärtigen
Booms vorführt.
Neuerscheinungen
Manuel Knoll
Rainer Rotermundt
Plädoyer für eine Erneuerung der
Geschichtsphilosophie
Münster 1997 (Westfälisches
Dampfboot), 130 S., 29.80 DM.
Einem ehrgeizigen, sympathischen,
notwendigen, in diesem Falle gescheiterten Projekt widmet sich R.
Rotermundt, Professor für Politikwissenschaft an der FH Düsseldorf,
der mit seiner neuesten Veröffentlichung den Weg zu einer Wiederherstellung der Geschichtsphilosophie die im Zuge der Postmoderne nicht
nur aus dem öffentlichen Denken
verschwunden scheint - ebnen will.
Der Absicht des Autors nach soll
dies - „bewußt knapp und sehr dicht
gehalten, weil sonst der polemische
Reiz dahin wäre“ - mit Rückbindung an die hegelsche Geschichtsphilosophie und in Anlehnung an
die Analyse der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen von Marx geleistet werden. Er postuliert eine Rückbesinnung „auf die angeblich
überwundene Metaphysik“ - im Sinne Aristoteles’ als „Denken des
Denkens“-, wie sie in der Hegelschen Philosophie, nach der die
Weltgeschichte als „Fortschritt im
113
Bewußtsein der Freiheit“ zu erfassen sei, anwesend ist.
Um für den Entwicklungszusammenhang der Geschichte ein Kriterium zu erhalten, ist es Rotermundt
zunächst um eine Analyse des Vernunftbegriffes Hegels zu tun. Dieser
ist „untrennbar“ mit „Wahrheitsanspruch ... und Seinsbegriff verknüpft... Wahr ist - in Philosophie
wie in der Geschichte - was als Sein
begriffen werden kann, und was als
Sein begriffen wird, ist vernünftig.“
(27) Die Vernunft wiederum ist in
konkreter Allianz mit den Begriffen
Geist und Freiheit, die in ihrer Gesamtheit den hegelschen Geschichtsbegriff konstituieren. Freiheit nach Hegel ist nicht die willkürliche Entscheidungsfreiheit, sondern
die Struktur des „Beisich-Seins im
andern seiner Selbst“. Diese Struktur der Freiheit ist aber in Reinform
nur im Akt des Denkens (im Gedachten ist der Denkende im andern seiner selbst präsent), im Geist,
im Bewußtsein vorhanden. Dies
wird abermals vom hegelschen
Begriff umfaßt. Der Begriff ist
gedachtes Sein und seiendes Denken in einem, wobei Rotermundt
zwar den Unterschied von Denken
und Sein („Kein Denken ohne
Sein“) herausstellt, aber die unmittelbare Einheit beider betont: „Wer
jenseits allen Seins denken wollte,
wäre ebenso verloren wie der, der
jenseits allen Denkens sein wollte!“
114
Neuerscheinungen
(44) Im Begriff, in dem „Allgemeinheit, Einzelheit und Besonderheit ineinander vermittelt sind“,
dergestalt daß der Begriff Subjekt
und Prädikat eines Urteilsatzes
umfaßt, in der Allgemeines und
Besonderes nicht nur in einer empirischen („Diese Rose ist rot“), sondern auch logischen Beziehung
(„Die Rose ist eine Pflanze“) zueinander stehen, bilden Vernunft,
Freiheit, Geist und Sein ein Ganzes.
Dementsprechend meint Rotermundt, die eigentliche Geschichtsphilosophie Hegels in dessen ‚Logik’ gefunden zu haben. Des weiteren
sind
Individuum
und
Allgemeinheit über den Staat vermittelt; und somit beginnt die Geschichte, deren Substanz die Freiheit ist, mit der Entstehung des
Staatswesens. Die Gesamtheit der
Vermitteltheit der Individuen eines
Volks oder einer Epoche bezeichnet
Hegel als „Volksgeist“ und deren
vermitteltes Ganzes nennt er
„Weltgeist“. Die Struktur des Begriffs, der allseitigen Vermittlung,
erscheint mithin als allgegenwärtig,
und sonach erfolgt die Geschichte
„durch die Bewegung des Begriffs
selbst“, während „eine jede Epoche
... in eine andere“ als in ihre „bestimmte Negation“ übergeht. Nebenbei erfährt man noch, daß es
sich bei Hegels Gottesbegriff um
eine „hochintellektuelle Angelegenheit“ handelt, der abermals die
Konstruktion der Vermitteltheit
von Allgemeinen, Einzelnen und
Besonderen und die Geschichte als
Ganzes umschließt.
Bis zum Ende der Hegel-Kapitel ist
die Darstellung wahnsinnig kompliziert, aber einigermaßen stringent;
ab der Hälfte des Buches wird sie
weniger stringent, mehr wahnsinnig,
aber nicht weniger kompliziert.
Kennzeichnend für das Denken
unserer Zeit ist, fährt Rotermundt
fort, der Nihilismus, in welchem die
Vermittlung von Besonderem und
Allgemeinen nicht mehr wahrgenommen wird, und der Mensch
seine gesellschaftlichen Gegenstände nicht mehr als selbst produzierte,
als das Andere seiner selbst, begreift: „Der Begriff der Totalität,
wie er sich dereinst in Gestalt des
„Staates“, der „Gesellschaft“, der
„invisible hands“, der „volonté
générale“ usw. äußerte, ist aus dem
Bewußtsein verdrängt. ... Der Begriff des „Politischen“ wird „in das
Verhältnis Freund und Feind transformiert.“ (68) Für beide Seiten des
nihilistischen Bewußtseins, die
Rotermundt scharfsinnig in Kommunismus und Nationalsozialismus
erblickt, „ist nicht nur Gott tot,
sondern auch der Staat.“ (70) Auch
bei „modernen“ Phänomenen wie
Stammtischen, ethnischen Säuberungen, Selbstmordsekten, Rechtsradikalismus („Die Angst vor dem
absolut Fremden ist nur die Kehr-
Neuerscheinungen
seite des heute geltenden Freiheitsbegriffs“; 75) und Drogenkonsum
findet keine Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem statt. Und
im Falle der NS- bzw. DDRVergangenheit oder der Nichtverantwortlichkeit des Einzelnen für
das Kapital, das als rein Fremderzeugtes wahrgenommen wird, stellt
Rotermundt erschreckt fest: „In
beiden Fällen sind alle einzelnen vom
Weltgeist abgekoppelt.“ (71) Doch
damit nicht genug. Nun wird auch
im „Geist“ oder „Begriff“ einer Zeit
die unmittelbare Einheit von Sein
und Bewußtsein postuliert: das
Denken stellt „eine besondere Weise des Handelns und dieses eine
besondere Weise des Denkens“ (78)
dar.
So wird denn Marx erst einmal eine
„(kantianische) Getrenntheit von
Denken und Sein“ (84) attestiert:
„Marx unterstellt ... eine Trennung
von Wirklichkeit und ordnendem
Geist, von Weltmaterial und Weltgeist „ (83). Gleichzeitig aber sei bei
Marx, dem alten Hegelianer, sozusagen hinter seinem Rücken, im
„Kapital“ die „Einheit von Denken
und Sein zugrundegelegt.“ (84) Als
Indiz hierfür fungiert der Tatbestand, daß Marx „den Hegelschen
Gedanken der List der Vernunft,
welcher schließlich die Einheit von
Denken und Sein voraussetzt (!), ...
vehement und an entscheidender
Stelle“ (84) vertritt. Beim Zusam-
115
menhang von abnehmender notwendiger Arbeitszeit und Überproduktion gelangt Rotermundt zu dem
findigen Schluß, daß „Arbeit“ „immer noch ... substantiell als Reichtum aufgefaßt“ wird und „freie
Zeit“ „nicht als das auftreten kann,
was sie ist.“ Doch immerhin bestehe „das besondere und neue Moment der gegenwärtigen Krise“
darin, daß sie „zum erstenmal nicht
als eine Überproduktion von Waren
erscheint, sondern als das, was sie
ist: Überproduktion von freier
Zeit.“ (109)
Zwar klingt in Rotermundts Plädoyer mancherorts der Bewegungscharakter der Hegelschen Begrifflichkeiten, wie Vernunft, Geist, Freiheit
oder Begriff, an; für den Rezensenten ergibt sich jedoch, besonders nach der Lektüre des zweiten Teils, daß diese in ihrer Prozeßhaftigkeit nicht verstanden worden
sind. Denn das gesellschaftlich
Allgemeine konstituiert zwar das
individuelle Bewußtsein, und die
widersprüchliche
Summe
der
menschlichen Tätigkeiten bildet dies
Allgemeine; aber dieses ist nicht
fähig, den Bestand des Besonderen
zu garantieren. Wäre die Einheit
von Denken und Sein bei Hegel
(geschweige denn in der Realität)
ein in sich ruhender Pol, müßte
weder die Vernunft „listig“ sein,
noch müßten die welthistorischen
Persönlichkeiten dauernd von der
116
Neuerscheinungen
Weltbühne abdanken. Im Prozeß
der Selbstexplikation der absoluten
Idee stellt sich die Einheit von
Wirklichkeit und Begriff her, - aber
zugleich so, daß sich in den allgemeinen Ablauf der Zufall, das Individuelle, das Subjektive, das Empirische, die Tatsache mischt. Es verwundert daher nicht, daß es Hegel
in Fragen der Geschichte nicht bei
der ‚Logik’ bewenden ließ, sondern
über sie eigens Vorlesungen hielt:
„Die Geschichte aber haben wir zu
nehmen, wie sie ist; wir haben historisch, empirisch zu verfahren“ (Philosophie der Weltgeschichte). Davon ist Rotermundt weit entfernt:
statt von der Empirie geht er von
konstruierten Prinzipien aus, die aus
nicht minder phantasiegesättigten
Denkaxiomen abgeleitet werden.
Andererseits bleibt Rotermundt ein
„Hegeling“: das Bewußtsein wird als
rein durchs Denken erzeugt verstanden, und da alles Handeln
durchs Denken vermittelt ist,
scheint auch dieses in letzter Instanz
im Denken begründet.
Es schadet wenig, Hegel durch eine
dialektisch-materialistischen Brille
zu lesen; sie verhindert, im Morast
idealistisch-konstruktivistischen
Unsinns verlorenzugehen, wo assoziatives Denken fröhliche Urständ’
feiert. Rotermundt will gegen den
Zeitgeist Front machen; er sitzt ihm
aber selber auf. Denn für unsere
Zeit wie für Rotermundt ist ein
naiver Begriffsrealismus bezeichnend, der beständig Begriff und
Gegenstand ineinssetzt. Der Begriff
steht für sich: Geist ist Geist; die
Metapher wird Realität: die List der
Vernunft ist die List der Vernunft; und Denken mutiert zur kalauernden Tautologie. Bei Hegel ist die
Reise des Begriffs die Selbstauswicklung der Idee mitsamt ihren
Entwicklungsmomenten in ihrer
Totalität; bei Rotermundt ist der
Begriff die reine, nicht widersprüchliche Einheit: der Staat vermittelt
das Individuum mit der Allgemeinheit, - ohne durch Klassengegensätze
gezeichnet zu sein; das Bewußtsein
verändert sich aus sich selbst; die
Weimarer Republik ist die Arbeiterbewegung, die wiederum identisch ist
mit dem Geist der II. Internationale;
usw. Rotermundt ersetzt die Gegenstände wie ihre Geschichte
durch platte Bewußtseinsakte und
vergißt somit, was er dauernd im
Mund führt: ihre Dialektik.
Rotermundts „Plädoyer für eine
Erneuerung der Geschichtsphilosophie“ macht auf schlagende Art
offenbar, wo man endet, wenn hegelsche und marxsche Kategorien
aus ihrem Gesamtzusammenhang
herausgebrochen werden und man
es unterläßt, ihre Entwicklung nachzuvollziehen: weder beim Weltgeist
noch beim Kapital, sondern im
Feuilleton der Tageszeitung. Bewunderswert bleibt letztlich der
Neuerscheinungen
todesverachtende Wagemut des
Verlages, dessen Programm mit
Publikationen wie dieser schneller
sinken dürfte wie die „Tirpitz“ nach
der Torpedierung.
Reinhard Jellen
Nietzsche
ausgewählt und vorgestellt von
Rüdiger Safranski.
München 1997 (Diederichs), Reihe
„Philosophie Jetzt!“, Ln., 480 S.,
48.- DM.
Einerseits soll in Nietzsches Denken eingeführt werden, andererseits
soll für Nietzsches Denken geworben,
d.h. seine Kategorien als tauglich
empfohlen werden, die Probleme
des „Jetzt“ neu zu klären. Dem
einen Anliegen ist die umfangreiche
Auswahl der Texte gewidmet, die, in
14 Kapitel gegliedert, der Chronologie der Werke folgt und sie in
ihren Kernaussagen vorführt. Von
den frühen, autobiographischen und
philologischen Arbeiten bis zu den
nachgelassenen Aphorismen (auch
Briefe, Selbstkritiken und Gedichte
sind berücksichtigt) erscheint die
Auswahl so als Abbreviatur des
gesamten Œuvres. Dem anderen
Anliegen wird in den beiden Vorworten von Peter Sloterdijk (für die
gesamte Reihe) und Rüdiger Safranski (für den Nietzsche-Band spe-
117
ziell) Rechnung getragen, wobei das
Anliegen der Aktualisierung dem
Anliegen der bloßen Vermittlung
natürlich den Stempel aufdrückt
und die Auswahl der Texte mitbestimmt.
Worin besteht also Nietzsches
Tauglichkeit fürs „Jetzt“? Der Aspekt, unter dem er dem heutigen,
„postmodernen“ Publikum interessant und schmackhaft gemacht
werden soll, ist der der Bildung.
Nietzsche wird als „Denker in der
ersten Person“ präsentiert, d.h. als
Denker, dem es vornehmlich um
Selbstwahrnehmung und Selbstprüfung, um das Experiment mit dem
eigenen Ich, um Selbstbehauptung und
vor allem um Selbstgestaltung zu tun
ist. Nur als ästhetisches Phänomen
läßt sich das Dasein rechtfertigen,
nur indem das Ich zum Kunstwerk
gebildet und das eigene Leben als
eine Art (unabgeschlossener) Bildungsroman begriffen wird, ist die
Individualität vor seiner sozialen
und ökonomischen Beschädigung
zu retten.
Modernität heißt Dynamisierung
aller Lebensbereiche. Eine stabile
Welt, an der sich die Individuen
reiben, ihre Hörner ablaufen, mit
der sie sich schließlich versöhnen
können, gibt es nicht mehr. Bildung
kann deshalb zu keinem Abschluß
mehr kommen. Sie wird zum livelong-learning, zur ständigen, chamäleonhaften Anpassung an veränder-
118
Neuerscheinungen
te Lebensbedingungen, verbunden
mit der fortgesetzten Anstrengung,
das patchwork und „Dividuierte“
aufs Neue zu vereinigen. Unter
diesen Bedingungen soll Nietzsche
nun die frohe Botschaft bringen: die
Rettung des Selbst (im Wechsel der
Masken) als ästhetischer Existenz.
Suggeriert wird, der Wille zur Macht
sei vor allem darauf gerichtet, Macht
über sich selbst zu gewinnen, so wie
ein Künstler im Schaffensprozeß
Macht über seinen Stoff gewinnt.
Suggeriert wird weiterhin, die Forderung, sich zum Übermenschen zu
erheben, sei mit der Forderung
identisch, seinen „Halbfabrikats“Zustand aus Elternhaus und Schule
zu überschreiten, sich als IchKunstwerk zu vollenden und damit,
sich zum „globalwelttauglichen
Individuum“ zu erheben.
Die Konzentration auf den Begriff
der (Selbst-)Bildung läßt die Frage
aufkommen, warum ausgerechnet
die fünf Basler Vorträge „über die
Zukunft unserer Bildungsanstalten“
nicht mit in die Auswahl aufgenommen sind, die sich doch explizit
dem Thema widmen. Erstaunlich
allerdings ist diese Auslassung nicht,
zumal sich die Vorstellungen, die
Nietzsche hier entwickelt, doch
wesentlich von denjenigen unterscheiden, die Sloterdijk und Safranski ihm unterstellen. In erster Linie
ist da nämlich (am Ende des fünften
Vortrags) von Gehorsam, Dienst-
barkeit und Unterordnung, von
Gefolgschaft und Führertum die
Rede. Kurz nach dem militärischen
Sieg Deutschlands im Frühjahr 1872
geäußert, ist Nietzsches Bildungsbegriff von der Furcht inspiriert, der
„Geist“ des besiegten Frankreichs,
d.h. die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die gerade
in der Pariser Commune wieder
aufgeflackert sind, könnten auf
Deutschland übergreifen. Dabei
sieht Nietzsche die Vorgänge von
1870/71 in geschichtlicher Parallele
zu den Perserkriegen des Altertums,
die ihm keineswegs (wie etwa dem
liberalen Hegel) als Geburtsstunde
Europas gelten, sondern als Beginn
des Niedergangs. Der militärisch
besiegte Orient (so Nietzsche) hat
geistig den Sieg davongetragen,
nämlich mit der Ausbreitung der
jüdisch-christlichen Religion, die die
Herrschaft des Sklaven und Herdenmenschen eingeläutet hat. Was
also im Kriege gewonnen, das wurde im Frieden wieder verspielt.
Gerade infolge des Sieges und der
sich daran anschließenden Erschlaffung also konnten die griechische
Kultur und Bildung ihr Letztes und
Höchstes nicht erreichen.
Dem gilt es nun vorzubeugen.
Nietzsches Bildungsprogramm ist
gegen die Wiederholung einer solchen „Fehlentwicklung“ gerichtet.
Und deshalb ist es ihm auch vorrangig nicht um Selbsterfahrung,
Neuerscheinungen
Auslotung des eigenen Ichs oder
um die Integration des Individuums
zu tun, sondern um die Fortsetzung
des Krieges (als Konkurrenz und
Daseinskampf), um die Herstellung
einer natürlichen Rangordnung und
die praktische Entscheidung darüber, wer Herr und wer Sklave ist.
Denn das Sklaventum ist unaufhebbar und die Voraussetzung jeder
höheren Bildung und Kultur - so
steht es in der (ebenfalls nicht in die
Auswahl mit aufgenommenen)
Schrift „Der griechische Staat“, in
der Nietzsche seinen Nazi-Adepten
auf halbem Wege entgegengekommen ist.
Safranski verschweigt die Abgründe
der Nietzscheschen Philosophie
nicht. Offenbar glaubt er aber, mit
der Benennung und Kritik der „bösen“ Seiten sei es getan, so daß die
„gute“ Seite dann, die ästhetische
Selbstinszenierung und Rettung der
Individualität, davon abgesondert
und als Anregung und Orientierung
empfohlen werden könne. Seine
Interpretation schielt auf ein Publikum, das die Philosophie als Spaß
entdeckt hat und nun, mit Nietzsche, zu der Überzeugung gelangen
möchte, es ehre die Menschheit vor
allem dadurch, daß es sich selbst zur
Persönlichkeit ausbilde. Es soll nun
auch philosophisch beglaubigt sein,
daß es sich wieder lohnt, man selbst
zu sein!
119
Safranski versäumt es nicht, Nietzsche als einen Denker zu kritisieren,
der außerhalb des „demokratischen
Grundkonsenses“ steht. Wenn er
(wie auch Sloterdijk) trotzdem das
Nietzschesche (Selbst-) Bildungsprogramm empfiehlt, dann wäre
wohl doch zu klären, wie eine Demokratie undemokratisch-gebildeter
Individuen aussehen könnte.
Konrad Lotter
John R. Searle
Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Zur Ontologie sozialer Tatsachen,
Reinbek bei Hamburg 1997 (rowohlts enzyklopädie), kart., 249 S.,
24.90 DM.
Hatte Searle in seinen früheren
Arbeiten zur Theorie der Sprechakte versucht, die Frage zu beantworten: „Wie kommen wir von der
Physik der Äußerungen zu sinnvollen Sprechakten, die von Sprechern
und Autoren geäußert werden?“, so
galt sein 1993 erschienenes Buch
„Die Wiederentdeckung des Geistes“ der Frage: „Wie paßt eine geistige Wirklichkeit, eine Welt des
Bewußtseins, der Intentionalität und
anderer geistiger Phänomene in eine
Welt, die vollkommen aus physischen Teilchen in Kraftfeldern
besteht?“ Im neuesten Buch unter-
120
Neuerscheinungen
sucht Searle wiederum das Verhältnis von physikalischer und geistiger
Welt und „dehnt diese Untersuchung auf die gesellschaftliche
Wirklichkeit aus“. Die Frage, die er
umkreist, lautet: „Wie kann es eine
objektive Welt“, eine Welt der sozialen Tatsachen, „des Geldes, des
Eigentums und der Ehe, von Regierungen, Wahlen, Footballspielen,
Cocktailparties und Gerichtshöfen
geben in einer Welt, die gänzlich aus
physischen Teilchen in Kraftfeldern
besteht und in der einige dieser
Teilchen zu Systemen organisiert
sind, die bewußte biologische Lebewesen sind wie wir selbst?“
Um diese Frage zu beantworten,
baut Searle das Buch wie folgt auf:
Von den insgesamt neun Kapiteln
bilden die ersten fünf den Schwerpunkt der Arbeit. Sie befassen sich
mit den genaueren Fragestellungen:
„Wie kann es eine objektive Wirklichkeit geben, die zum Teil kraft
menschlicher Übereinkunft existiert?“ und „welche Rolle spielt die
Sprache bei der Konstitution derartiger Tatsachen?“, und entwerfen
anschließend „eine allgemeine Theorie der Ontologie gesellschaftlicher
Tatsachen und gesellschaftlicher
Institutionen“. Das sechste Kapitel
befaßt sich mit den „konstitutiven
Regeln menschlicher Institutionen“
und der „verwirrenden Tatsache“,
„daß sich die fraglichen Akteure
normalerweise dieser Regeln nicht
bewußt sind“, und versucht für
dieses Problem ein theoretisches
Werkzeug zu entwickeln.
Die Kapitel 7-9 bilden zusammen
den zweiten Teil des Buches. In ihm
sichert Searle den erkenntnistheoretischen Unterbau seiner „allgemeiner Theorie der Ontologie
gesellschaftlicher Tatsachen“ ab.
Dabei knüpft er an das klassische
Konzept des Realismus an, die Annahme einer bewußtseinsunabhängigen, objektiven äußeren Realität
und die Möglichkeit wahrer Aussagen nach Maßgabe des aristotelischen Kriteriums der Übereinstimmung von Aussage und Sachverhalt.
Die Kapitel gelten der Verteidigung
„der Idee, daß es eine reale Welt
gibt, die von unserem Denken und
Sprechen unabhängig ist, sowie der
Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit, das heißt der
Idee, daß unsere wahren Aussagen
normalerweise durch die Art und
Weise wahr gemacht werden, wie
die Dinge in der wirklichen Welt
sind, die unabhängig von den Aussagen existiert“ (8).
Des weiteren ist Searle der Auffassung, „daß der Realismus und eine
Korrespondenztheorie der Wahrheit
wesentliche Voraussetzungen jeder
vernünftigen Philosophie sind, von
der Wissenschaft ganz zu schweigen“. Sie bildet auch die wesentliche
Voraussetzung für die Sprechakttheorie Searles und seine „allgemei-
Neuerscheinungen
ne Theorie der Ontologie gesellschaftlicher Tatsachen“, die sich auf
die Annahme einer bewußtseinsunabhängigen „objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit“ stützt.
Ursprünglich nur als knappes Anfangskapitel konzipiert, sah Searle
sich nach eigener Aussage zu einer
ausführlicheren Darstellung durch
die zwischenzeitlich einsetzende
Konjunktur des philosophischen
Konstruktivismus veranlaßt. Da
dieser die gesamte Wirklichkeit zu
einer Konstruktion des menschlichen Bewußtseins erklärt und also
keine
bewußtseinsunabhängige,
objektive Außenwelt anerkennt,
läuft er nicht nur der Alltagserfahrung zuwider, sondern bestreitet
auch den theoretischen Unterbau
der Theorien Searles. Damit dient
Searles Buch - auf einer grundlegenden Ebene - sowohl der Absicherung der Fundamente seiner
Sprachtheorien wie auch als Streitschrift gegen den Konstruktivismus
und dessen Behauptung eines ausschließlichen Monismus des Bewußtseins.
Für Searle bilden objektive Außenwelt und Bewußtsein ein einheitliches Kontinuum, allerdings eines,
das die Organisationsformen der
physikalischen Welt wie der geistigen Welt umfaßt. Gegenüber allen
dualistischen Konzeptionen, die
Bewußtsein und Materie als verschiedene Prinzipien voneinander
121
trennen, vertritt Searle die Position
eines wissenschaftlichen Monismus.
Bewußtsein wird demzufolge als
eine besondere, höhere, nämlich
komplexere Organisationsform der
Materie beschrieben, ohne jedoch
auf diese reduzierbar zu sein: „Genau wie geistige Zustände Eigenschaften höherer Stufen unseres
Nervensystems sind und es infolgedessen keinen Gegensatz zwischen
dem Geistigen und dem Physischen
gibt, das Geistige einfach eine Menge von physischen Eigenschaften
des Gehirns auf einer höheren Ebene der Beschreibung als der der
Neuronen ist, so gibt es keinen
Gegensatz zwischen Kultur und
Biologie; Kultur ist die Form, welche die Biologie annimmt“ (235).
Verbindungsglieder zwischen Kultur und Biologie sind „Bewußtsein
und Intentionalität“: „Das besondere an der Kultur ist die Manifestation kollektiver Intentionalität und
insbesondere die kollektive Zuweisung von Funktionen an Phänomene in Fällen, wo die Funktion nicht
einzig dank der bloßen physischen
Eigenschaften der Phänomene verrichtet werden kann“ (235).
Während sich die klassische Korrespondenztheorie mit ihrer Unterscheidung ‚wahr – falsch‚ auf die
Übereinstimmung von Aussage und
physikalisch beschreibbarem Sachverhalt bezieht, bezieht Searles
Sprechakttheorie die Intentionalität
122
Neuerscheinungen
in die Theorie der Aussagen mit ein.
Die Sprechakttheorie erklärt - womit sie über die klassische Korrespondenztheorie hinausgeht -, die
Relation von Sprechakt und, nicht
physikalisch beschreibbaren, sozialen Tatsachen und gesellschaftlichen
Institutionen, die sich über der
physischen Organisationsform einer
Gesellschaft erheben. Diesen Institutionen schreibt Searle sowohl den
Status eines Konstrukts als auch
einer objektiven Wirklichkeit zu.
Daher ist der Titel des Buches: „Die
Konstruktion der gesellschaftlichen
Wirklichkeit“
durchaus
mißverständlich; kennt man seinen
Inhalt nicht, läßt sich der Titel auch
im Sinne des Konstruktivismus
verstehen. Die „gesellschaftliche
Wirklichkeit“ wäre „Konstruktion“
im Sinne ihrer Unabhängigkeit von
einer ontologisch gesicherten Einsichtsmöglichkeit in den Aufbau der
physikalischen oder gesellschaftlichen Welt. Nach Searle jedoch ist
die „gesellschaftliche Wirklichkeit“
Konstruktion, weil sie auf Übereinkunft und Bewußtsein beruht. Sie stellt
eine Organisationsform höherer
Ordnung dar, die sich über der
physikalischen Welt erhebt und die,
weil in ihr menschliche Zwecke ins
Spiel kommen, relativ zu dieser
‚freier’ ist. Die Erkenntnis der objektiven physikalischen Welt wird
von Searle also nicht nur als prinzipiell möglich eingeräumt, sondern
sie ist für ihn auch die Bedingung der
- hinsichtlich der physikalischen
Gesetzmäßigkeiten - relativ freieren
Gestaltungen und Übereinkünfte in
der „gesellschaftlichen Wirklichkeit“. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist also objektiv, weil sie der
physikalischen Welt ‘aufliegt’, und
zugleich Konstruktion, weil sie nach
menschlichen Kriterien formiert ist.
Nach dem von Searle selbst formulierten Anspruch soll sein neuestes
Buch einen Beitrag zur „großen
Erzählung“ leisten, die kontinuierlich von der physikalischen Welt zur
Welt der gesellschaftlichen Tatsachen aufsteigt. Diese müssen wissenschaftlich und möglichst umfassend analysiert werden. Wenn Searle
jedoch als Beispiele gesellschaftlicher Institutionen immer wieder die
Institute des Geldes, der Ehe, der
Gerichte usw. anführt, dann gibt er
mit diesen konkreten Inhalten auch
die Grenze seiner Theorie an. Denn
eine Analyse der gesellschaftlichen
Wirklichkeit, die auch die besonderen
Inhalte der Institutionen umfaßte,
kann seine Sprachtheorie nicht
leisten. Um die von ihm geforderte
Kontinuität zu wahren, d.h. die
unterschiedlichen Formen und
Inhalte der gesellschaftlichen Institutionen in ihrem Vermittlungszusammenhang zu analysieren und
auch zu kritisieren, benötigt man ein
theoretisches Werkzeug, das nicht
nur auf die Praxis der Sprache, die
Neuerscheinungen
Sprechakte, beschränkt ist, sondern
das auch die außersprachliche Praxis
der Arbeit (die aufgrund ihrer Arbeitsteiligkeit und Gesellschaftlichkeit auf sprachliche Vermittlung
angewiesen ist) erfaßt.
Wolfgang Thorwart
Annegret Stopczyk
Sophias Leib.
Entfesselung der Weisheit
Heidelberg 1998 (Carl-Auer-Systeme) 388 S., 49.80 DM.
„Wenn es vor dreitausend Jahren
möglich war, eine Vernunft zu erfinden, die eine solche Gestaltungskraft
auf der Erde hatte, wie wir es erleben,
mit all der Technik und den angenehmen und bedrohlichen Folgen,
dann könnte doch jetzt ein neues
Jahrtausend beginnen, in dem es darum geht, das Bisherige weiterzuentwickeln in Richtung Ja zu Leben und
Leib.“ (219)
Die Philosophin und Autorin Annegret Stopczyk denkt über die
Möglichkeiten, die sich aus einer
lebensbejahenden Leibphilosophie
ergeben, nach und begibt sich „am
Leitfaden des Leibes“ auf die Spuren einer europäischen Weisheitstradition. Ihre Philosophie ist, wie
sie selbst schreibt, als ein „philosophischer Aufbruch“ zu verstehen.
123
Während so mancher ihrer Philosophen-Kollegen an deutschen und
europäischen Akademien auf gut
begehbaren Erkenntnispfaden oft
auch fernab jeglicher Lebensrealität
nach wahren Erkenntnissen sucht,
begibt sich Stopczyk auf Erkenntniswege, die für unser Leben, unseren Alltag nutzbar sind. Sie geht „als
pragmatische Agnostikerin davon
aus, daß wir Menschen die Wirklichkeit höchstwahrscheinlich sowieso nicht ganz verstehen können.
Wir sind wie Blinde, die an einem
großen Elefantenkörper herumtasten und zu definieren versuchen,
was ein Elefant ist. Der eine hat den
Schwanz in der Hand und beschreibt etwas ganz anderes als
diejenige, die ein Ohr begriffen hat.
Sie können sich streiten, wie sie
wollen, sie haben alle irgendwie
recht, aber niemand hat insgesamt
verstanden, was genau ein Elefant
ist. Trotzdem sind die Details unserer Weltwahrnehmung nicht ganz
falsch verstanden. Innerhalb eines
bestimmten Rahmens beschreiben
sie die Wirklichkeit, in der wir uns
bewegen können, nur ob sie insgesamt so ist wie das Detail, das weiß
ich nicht.“ (218).
Unser Denken ist von der abendländischen Vernunfttradition bestimmt: Körper-Geist-Dualismus,
Entweder-Oder-Logik, Denken in
Begriffen und Rationalität sind nur
einige Schlüsselbegriffe einer Phi-
124
Neuerscheinungen
losophie, die eigentlich eher PhiloLogie genannt werden sollte. Denn
wenn von Philosophie und noch
dazu von akademischer Philosophie
gesprochen wird, meinen wir eigentlich Freund (Philo) des Logos, der
menschlichen Vernunft, des logischen Urteils oder des Begriffes.
Für die Probleme des Lebens in
unserer heutigen Zeit am Ende des
2. Jahrtausends bietet eine derartige
Philo-Logie allein keine geeigneten
Lösungen an. Annegret Stopczyk ist
auf der Suche nach einem Ausgleich
dieses vom Logos dominierten
Denkens.
Philosophie
heißt
„Freund der Weisheit“. Mit einer
anderen Erkenntnis- und Wahrnehmungsart, nämlich über den
Leibsinn, gewinnen wir neue Perspektiven und öffnen wir uns einer
größeren Menge Informationen, die
uns zu anderen Erkenntnisweisen
über uns und unser Leben führen,
als dies bisher möglich war. „Wir
erkennen körperlich, leiblich, gedanklich in einer einzigen Sekunde
viel mehr, als unser Sprachbewußtsein realisiert.“ (219) Eine leibphilosophische Sichtweise zu entwickeln,
bedeute nicht, ein fertiges philosophisches System oder Konzept
herzustellen. Philosophieren „am
Leitfaden des Leibes“ gebe nur eine
Richtung an. Was der Leibsinn eigentlich ist, kann nicht definiert
werden. Es kann aber „eine ‚ungefähre’ Bedeutungsrichtung des
Wortes ‚Leib’ erkennbar werden,
ohne daß ich nach linearer naturwissenschaftlicher Methode genau
definieren müßte, was damit gemeint ist.“ (49). Mit den Wahrnehmungsmöglichkeiten über den Leibsinn wird unsere rechte Gehirnhälfte, die für die räumliche
Wahrnehmung und bildhafte Informationsverarbeitung verantwortlich ist, aktiver werden. Ein Ausgleich zur dominanten linken Gehirnhälfte,
die
für
unsere
Sprachleistungen und arithmetischen Leistungen relevant ist, könnte stattfinden. So schreibt Stopczyk
„Ein ‚Leibsinn’ wäre so etwas wie
ein ‚Transportunternehmen’ zwischen den verschiedenen Ebenen
des Wahrnehmens und bewußten
sprachlichen, bildlichen und verspürten Erkennens. Es wäre ein
bewußt gewollter und lernbarer
Sinn, der bikameral das Wissen aus
den verschiedenen Erkenntnisregionen leichter koordinieren kann als
unser kontrollierendes und ständig
aussortierendes Sprachbewußtsein.“
(220).
Mit diesem Buch wird der Grundstein für eine neue europäische
Philosophie gelegt. Sicher gab es
vor Annegret Stopczyk Philosophen, die sich von einer akademischen Begriffs-Philosophie abwandten, um eine lebensnähere Philosophie zu entwickeln. Die Autorin
selbst setzt sich in einem Kapitel
Neuerscheinungen
mit dem Titel „Am Leitfaden des
Leibes“ mit Philosophen auseinander, die ähnliche Absichten, wie sie
verfolgten. Dem Leser werden
interessante Einblicke in die Philosophie von Ludwig Feuerbach,
Paracelsus, Friedrich Nietzsche und
viele andere mehr gewährt. Annegret Stopczyk allerdings geht weiter
als all die Philosophen vor ihr: Sie
öffnet mit ihrem leibphilosophischen Ansatz ein großes und interessantes Gebiet für eine lebensnahe
philosophische Forschung von
125
gesellschaftlicher, wissenschaftlicher
und politischer Dimension. Vor
allem dürfte ihr Denken für alle
diejenigen richtungsweisend sein,
die weder in einer feministischen
Nische noch angepaßt an akademische Denknormen philosophieren
und forschen wollen. Dieses Buch
hat das Potential eines philosophischen Bestsellers - bleibt zu hoffen,
daß es zur rechten Zeit erschienen
ist.
Gesina Stärz
Bericht
Trüffel, Schweine und Brainscanning
„Die Wirklichkeit des Konstruktivismus II“
Vom 30.4. bis 3.5. fand in Heidelberg der internationale Kongress
„Weisen der Welterzeugung - Die
Wirklichkeit des Konstruktivismus
II“ statt. Während auf dem Kongress von 1992 - „Weisen der Welterzeugung I“ - neurobiologische
Überlegungen dominierten, sind
mittlerweile Konstruktivisten mit
Personen
anderer
Disziplinen
ernsthaft ins Gespräch gekommen:
Wissenschaftler und Praktiker aus
verschiedenen Fachbereichen wie
Philosophie,
Nationalökonomie,
Psychiatrie, Psychologie, Management,
Wirtschaftsorganisation,
Pädagogik, Neurobiologie, Geschichte, Theologie, Medien und
Kommunikation diskutierten die
Konsequenzen konstruktivistischer
Ansätze für die Praxis. Die Konsequenzen konstruktivistischer Ansätze für die Philosophie und andere,
eher vom Denken als vom Handeln
und empirischer Forschung dominierte Wissenschaftszweige wurden
eher zögerlich verhandelt. Dabei
würden Fragen wie: „Wann kommt
man nicht umhin, konstruktivistische Positionen einzunehmen?“
eher eine konstruktive Möglichkeit
eröffnen als ein gefährliches Para-
digma darstellen, so Siegfried J.
Schmidt (Professor in Münster) in
seinem Einleitungsworkshop zum
Thema „Konstruktivismus und
Philosophie“. Leider reiste der
92jährige amerikanische Philosoph
Nelson Goodman, nach dessen
Buch „Ways of Worldmaking“
(1978) der Kongress benannt wurde, nicht an.
Chancen und Risiken konstruktivistischer
Positionen
Wer unter konstruktivistischen Prämissen denkt und arbeitet, geht
davon aus, daß es viele verschiedene
Welten gibt, die von uns Menschen
erzeugt werden. Wir ben in mehreren Welten sowohl gleichzeitig als
auch im Laufe unseres Lebens. Wir
konstruieren uns Wirklichkeiten
nach unserer inneren Landkarte.
Wie Wolf Singer (Professor in
Frankfurt) in seinem Vortrag „Hirn
und Kognition“ ausführte, werden die
Gehirnzellen nur zu 10 % von unseren Sinnesorganen aktiviert, zu 90%
beschäftigt sich das System mit sich
selbst. In die Produktion oder Konstruktion von Wirklichkeit fließen
unsere Erfahrungen, unser Wissen,
Bericht
unsere kulturellen Lebensgewohnheiten und Vieles mehr ein. Derjenige, der eine realistische Position
einnimmt, geht davon aus, daß es
eine wohlstrukturierte Welt, die
unabhängig
von
unseren
Beschreibungen existiert, gibt. Wer
eine solche Position einnimmt,
begibt sich auf eine sichere Seite. Er
weiß, was wahr und falsch, richtig
und gut ist. Für manche
Lebenssituationen und Tätigkeiten
mag dies sehr hilfreich sein. So
erklärte ein Kongressreferent, daß
er es vorziehe, mit einem Piloten zu
fliegen, der ein realistisches Weltbild
habe. Ein solches Weltbild bietet
Sicherheit, solange man seine
Wahrheitssetzungen akzeptiert und
diese nützlich sind. Ein jedes Weltbild zu seiner Zeit. Aber auch diese
Aussage wäre bei Anhängern eines
einzigen realistischen Weltbildes
umstritten. Sicherheit bieten die
Bilder, die sich Konstruktivisten
von der Welt machen, nicht. Zumindest scheint dies so zu sein,
setzt man sich ausschließlich auf
einer theoretischen Ebene mit dem
Konstruktivismus auseinander, wie
viele Einwände und Diskussionsbeiträge zeigten. Besonders bei
ethischen Fragen ist es für uns
Menschen doch beruhigender und
vielleicht auch bequemer zu wissen,
was gut und böse, richtig und falsch
ist. Der Praktiker hingegen handelt
das, was wahr oder falsch, gut oder
böse sein soll, - insofern dies
127
- insofern dies notwendig ist - einfach immer wieder aufs Neue aus.
Risiko bedeute das Wagnis des
Handelns vor dem Hintergrund
freier Handlungsmöglichkeiten, so
Arnold Retzer (Privatdozent in
Heidelberg) in einer Sektion zum
Thema „Risiko-Therapie“; Gefahren
hingegen seien unabhängig vom
handelnden Subjekt. Ein Geisterfahrer fahre riskant, sei aber für
andere eine Gefahr. Ob etwas riskant oder gefährlich sei, hänge von
der Perspektive des Beobachters ab.
Der Bogen in diesem Seminar wurde weiter gespannt: Menschen leben
in Risikosystemen. Man könne keine
sicheren Prognosen, was die Zukunft anbetrifft, stellen. Allerdings
sei diese Unsicherheit ein wichtiger
Faktor der Entwicklung. Für unser
Erleben in einer Familie, einer Organisation oder in anderen Systemen erweise sich der Glaube, man
könne alle Dinge berechnen, als
unbrauchbar. In lebenden Systemen
gehe es pragmatisch zu.
Auf bekannt aktuelle, politische und
gesellschaftliche Risiken verwies
Helm Stierlin (Professor in Heidelberg) während eines Plenarvortrages
zum Thema „Pluralismus und Wirklichkeitskonstruktionen“. Im Zuge der
Vernetzung verschiedener kultureller Wirklichkeiten entstehe eine
zunehmende Verunsicherung unter
den Menschen, die wohl auch in
den aktuellen Ergebnissen der
128
Bericht
Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt
zum Ausdruck komme. Er verglich
die heutige Situation mit der Zeit
der Weimarer Republik. Allerdings
seien in unserer Zeit - nicht zuletzt
durch die Entwicklung der Telekommunikation, durch die Menschen die Möglichkeit haben, mit
verschiedenen Welten vertraut zu
werden - große Chancen für das
Verständnis von Demokratie gegeben, wenn man sie beispielsweise im
Bildungsbereich nutzt.
Mulitmediale Performances, „Zur normalen und verrückten Konstruktion der
Logik“ und zum Unterhaltungswert des
Kongresses
Mit Ergebnissen aus Bereichen wie
Gehirnforschung, Neurophysiologie
und Biologie (Humberto Maturana)
wurde einst das Fundament für
konstruktivistisches Denken gelegt.
Vorträge und Beiträge aus diesen
Fachrichtungen auf dem Kongress
wurden allerdings des Realismus
verdächtigt. Ob über Gehirnwelten
im üblichen Vortragsstil referiert
wurde oder eingescannte Gehirne in
multimedialen Performances beobachtet werden konnten, - fraglich
blieb dabei, ob die Forschungsergebnisse Konstrukte einer allgemeingültigen, von uns unabhängig
existierenden Realität oder nur
Möglichkeiten, Gehirnwelten zu
rekonstruieren, sind. Dieses nicht
näher bestimmbare Unbehagen
wurde aus der Perspektive der Logik auf den Punkt gebracht: Während Hans R. Fischer seinen Vortrag zum Thema „Logik und Wirklichkeit.
Zu
einem
konstruktivistischen Verständnis der
Logik“ mit den Worten „Menschen
denken nicht logisch, warum sollten
es Verrückte tun.“ beendete, begann
Matthias Varga von Kibed (Professor in München) anschließend seinen Vortrag mit dem Hinweis, daß
es doch recht paradox sei, mit der
aristotelischen Logik erklären zu
wollen, daß die aristotelische Logik
nicht funktioniere. Mit seinem Beitrag zum Thema „Paradoxien des
Systemischen und Systeme des
Paradoxen“ stiftete er reichlich
Verwirrung: Mit dem Anspruch an
Neutralität gegenüber konstruierten
Welten seien auch Paradoxien verbunden. Nehme man nur den Begriff der Allparteilichkeit, der ein
paradoxer Begriff sei, dann möge es
einem so ergehen wie dem Rabbi,
der erst der einen Partei recht gibt,
dann der anderen und zuletzt seiner
Frau, die ihn auf diese paradoxe
Situation aufmerksam macht. Es
gehe nicht darum eine allgemeine
Paradoxientheorie zu haben - denn
dann hätten wir den Konstruktivismus aufgegeben - so Matthias Varga
von Kibed weiter, sondern es gehe
darum, daß Paradoxien den Rahmen öffnen und eine Entwicklung
Bericht
von einer Theorienvielfalt zulassen.
Dieser Beitrag sorgte nicht nur für
allgemeine Erleichterung, da sich
inzwischen der Eindruck breit gemacht hatte, so mancher bekennende radikale Konstruktivist propagiere den Konstruktivismus als absolute Wahrheit, sondern hatte auch
einen enormen Unterhaltungswert,
der den sonstigen (nicht in allen),
eher philosophisch orientierten
Vorträgen,
Seminaren
und
Workshops fehlte. Philosophische
Beiträge waren schwer verständlich
und schnell verlor so mancher Hörer das Interesse: Wer anfangs eifrig
mitschrieb, legte nach spätestens
zehn Minuten seinen Stift beiseite;
immer mehr Leute verließen im
Laufe derartiger Beiträge den Saal,
andere schliefen ein und wieder
andere schauten sich um, um zu
sehen, was die anderen machen...
„Konstruktionen zum Tag“ hieß
das Podium, daß diejenigen, die
„auch noch was zu sagen gehabt
hätten“, für kurze Statements nut-
129
zen konnten. Teilnehmer mußten
resigniert feststellen, daß die Lust
auf Trüffel nicht befriedigt werden
konnte, da es zu wenig Schweine
unter den Veranstaltern gab und die
Wirklichkeitsannahmen der Mitarbeiter im Kongressbüro nicht mit
der Wirklichkeit der Kongressteilnehmer übereinstimmten: Eine
Sekretärin antwortete auf Anfrage
einer Teilnehmerin, warum es nicht
die Möglichkeit der Simultanübersetzung gebe, sie sei davon ausgegangen, daß hier auf dem Kongress
nur Abiturienten anwesend wären.
Eine Schlußbemerkung: Es gibt
viele Gefahren und Risiken im
Leben, nicht nur dann, wenn wir
über die Straße gehen, mit dem
Flugzeug fliegen, Kinder gebären,
auf dem freien Markt freiberuflich
arbeiten und unseren Lebensunterhalt verdienen; auch Denken in
Philosophierstuben kann für so
manchen gefährlich und für andere
wiederum eher riskant sein.
Gesina Stärz
130
Bericht
Bericht
To enlarge the audience
Richard Rorty in München
Auf Einladung seines Kontrahenten
Jürgen Habermas nutzte der Philosoph aus Amerika seinen Deutschland-Aufenthalt, um auch in der
Münchner Universität gegen die
alten Aufklärer vom Schlage seines
Gastgebers zu Felde zu ziehen. In
seinem Vortrag unter dem Titel
„Pragmatism as anti-authoritanism“
wiederholte Richard Rorty einmal
mehr seine Kritik an den Priestern
der Vernunft, seien sie Metaphysiker, Erkenntnistheoretiker oder
Dis-kursethiker. Es gelingt uns eben
nicht, die „Wahrheit“ einzufangen,
und sei der Diskurs auch noch so
ideal, weil wir nicht wissen können,
ob wir ihr denn nun näher oder
ferner sind. Da lobt Rorty sich denn
doch seinen Dewey, der eben nicht,
wie er ausführte, nach der Wahrheit
strebte, sondern wollte, daß die
Menschen glücklicher seien und ein
erfüllteres Leben haben. Und so
macht denn Rorty den Amerikaner
Dewey zum Gewährsmann und
Protagonisten der Aufklärung, die
das alte Europa so sträflich verraten
habe. Waren diese Philosophen es
doch, wie Descartes, Locke und
Kant, die den Kampf um die Mün-
digkeit und Selbständigkeit des
Menschen zwar begonnen haben,
die ihn aber zugleich in das neue,
autoritäre und inhumane Korsett
einer – wie auch immer ausgelegten
– Vernunft gesteckt haben. Und so
will denn der Pragmatist Rorty,
gestützt auf Dewey, uns nicht mehr
mit der Autorität vermeintlich ewiger Prinzipien aufklären, sondern
mit Argumenten und Meinungen,
von denen der Sprecher überzeugt
ist, daß sie uns praktisch weiterhelfen. Um überzeugt zu sein, daß
auch Frauen in der Kirche reden
sollen, daß Juden dieselben Rechte
zustehen, oder daß die Schwarzen in
Amerika wirtschaftlich und sozial
besser zu stellen sind, für solche
Überzeugungen, sagt Rorty, braucht
man nicht die Autorität philosophischer Prinzipien; es genügt, so
meint man herauszuhören, der
Geist der amerikanischen Verfassung. Für eine solche „moral and
democratic society“ die Zuhörerund Gefolgschaft zu gewinnen, sei
die Aufgabe der Philosophie; nicht
aber, ständig die Brille zu putzen,
um vielleicht doch „die Wahrheit“
noch zu erblicken.
Auf die bedenkliche Frage Habermas‚, warum man denn überhaupt
überzeugen wolle, und wie das
Überzeugen anderer funktionieren
solle, antwortet Rorty: „Look at our
culture, not our principles.“ Man
überzeuge nicht mit der Autorität
von Prinzipien, sondern durch das
praktische Vorbild und die Lösungskompetenz in gemeinsamen
Fragen. Und Ulrich Beck, der Organisator der Veranstaltung, stimmt
Rorty zwar zu, daß die Berufung auf
die „Ewigkeit“ perdu sei, daß aber
gerade deshalb das Problem sich
stellt, wie die Differenz zwischen
der demokratischen Ordnung und
anderen, etwa faschistischen, gerechtfertigt werden kann. So läßt
sich Rorty letztlich doch noch herbei, ein Kriterium, ein principle (?),
zu nennen: zwar lasse die moral and
democratic society sich nicht dadurch rechtfertigen, daß mein
„Gott“ der wahrere sei als der deine, aber doch mit dem Argument,
daß meine Gesellschaft „reifer“
(more mature) sei als deine, und wir
politisch fortgeschrittener seien als
ihr. Und so endete denn Rortys
Auftritt in München mit seinem
Zeugnis der Reife. Leider ließ er
offen, ob wir dies Kriterium der
„Reifung“ linear oder dialektisch
verstehen sollen. Werden „wir Demokraten“ immer reifer oder, wie
alles, was reift, allmählich überreif?
Alexander v. Pechmann
Bericht
Philosoph kämpft um seine
Wiederanstellung
Eine deutsche Geschichte.
Es war einmal eine Zeit in der Bundesrepublik Deutschland, als es der
Staat einem Philosophen verbot,
seinen Beruf auszuüben. Es war die
dunkle Zeit der „Berufsverbote“.
Damals, 1975, verwehrte das Land
Hessen dem Philosophen WolfDieter Gudopp-v. Behm, seine feste
Anstellung an der Universität Marburg anzutreten. Er war, so meinten
die, die unsere Verfassung „schützten“, zwar nicht des Teufels, aber
genauso schlimm: „Marxist!“.
Heute kämpft Gudopp-v. Behm vor
Gericht um seine Rehabilitierung,
nachdem. 1995 hatte eine Lehrerin
vor dem Europäischen Gerichtshof
ihre Wiedereinstellung erstritten hat.
Ihr Berufsverbot, so die Richter,
stehe im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention.
Während das Land Hessen, als die
beklagte Partei, in der Vorverhandlung des Prozesses argumentierte,
daß es für Gudopp-v. Behm keine
Stelle gebe, ist der wahre Grund der
Ablehnung des Landes vermutlich,
daß die Justizminister der Länder
sich nach jenem Urteil von 1995
darauf geeinigt haben, keinen Prä-
zedenzfall für die Opfer des Berufsverbotes zu schaffen. Sowohl die
Höhe der materiellen Entschädigungen als auch der moralische
Gesichtsverlust des Staates wäre
enorm. Hingegen zeigt der Richter
des hessischen Arbeitsgerichts nicht
nur „volles Verständnis“ für die
Klage, sondern bezeichnet die Berufsverbotspraxis der 70er Jahre als
ein „dunkles Kapitel unserer Geschichte“. Allerdings sei die „Gesetzeslage“ äußerst kompliziert: der
Konvention der Europäischen
Menschenrechtskommission stehen
noch immer Gesetze und Verordnungen entgegen, die eben dier
dunklen Zeit entstammen, über die
jetzt geurteilt werden soll.
Gudopp-v. Behm selbst ist nicht
sehr optimistisch Er vermutet, daß
im günstigen Fall das Land Hessen
den Instanzenweg bis zum obersten
Gericht gehen wird. Kein heute
Lebender würde das abschließende
Urteil erleben.
P.S.: Trotz mitfühlenden Richters
hat das Gericht die Klage auf Wiedereinstellung abgewiesen.
Berichtigung
Im letzten Heft, Nr.31: „Globalisierung“, ist uns auf Seite 184 ein
böser Fehler unterlaufen. Die
Autorin des Nachrufs auf den
nigerianischen Philosophen Peter
O. Bodunrin „Die Universalität
der Philosophie“ ist nicht, wie
angezeigt, Ronnie Peplow, sondern die Leipziger Philosophin
Anke Graneß. Wir bitten insbesondere die Autorin, unseren Irrtum
zu entschuldigen.
AutorInnen
JADWIGA ADAMIAK, Journalistin,
München
OLIVER VON CRIEGERN, Student
der Philosophie, München
MATTHIAS GROLL, Publizist (Themenschwerpunkt Neue Medien),
Berlin
REINHARD JELLEN, Student der
Philosophie, München
GEORGIOS
KARAGEORGOUDIS,
Jurist, wissenschaftliche Hilfskraft
am Institut für Philosophie in München (Lehrstuhl I)
ALEXANDER VON PECHMANN,
Dr.phil., Lehrbeauftragter der VHS
München
MARÍA ISABEL PEÑA AGUADO,
Dr.phil., Institut für Philosophie der
Uni Leipzig
URSULA REITEMEYER, Prof., Dr.
phil., Fachbereich Erziehungswissenschaft, Universität Münster
MARTIN SCHRAVEN, Dr.phil. habil.,
Privatdozent für Philosophie, Universität
Bremen,
SchellingForschungsstelle, Ebersberg
IGNAZ KNIPS, Lehrbeauftragter der
Uni Köln, Abt. Internationale Beziehungen, Köln
CLEMENS K. STEPINA, Dr.phil.,
Lehrbeauftragter am Institut für
Theaterwissenschaft der Universität
Wien
MANUEL KNOLL, M.A., Doktorand
der politischen Wissenschaften,
München
GESINA STÄRZ, M.A., Marketing
und Text-Agentur, Miesbach und
München
KONRAD LOTTER, Dr.phil., Lehrbauftragter am Institut für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft der Uni München
WOLFGANG THOWART, M.A., Doktorand der Germanistik, München
JONAS DÖRGE WEIDEMANN, M.A.,
Doktorand der Politologie, Kassel
Impressum
Widerspruch
Münchner Zeitschrift für Philosophie
18. Jahrgang (1998)
Herausgeber
Münchner Gesellschaft für
dialektische Philosophie,
Tengstr. 14, 80798 München
Redaktion
Jadwiga Adamiak, Oliver v. Criegern,
Wolfgang Habermeyer, Manuel Knoll,
Wolfgang Melchior (Internet), Konrad
Lotter (verantw.), Alexander v. Pechmann, Martin Schraven, Elmar Treptow, Sibylle Weicker
Verlag
Widerspruch Verlag, Tengstr. 14, 80798
München.
Tel & Fax: (089) 2 72 04 37
Erscheinungsweise
halbjährlich / 1000 Exemplare
Einband: Ute Ringwald, Frankfurt
Satz: Oliver v. Criegern
Druck: Drucken & Binden,
Schellingstr. 23, 80799 München
ISSN 0722-8104
Preis
Einzelheft: 12.- DM
Abonnement: 11.- DM (zzgl. Versand)
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geben nicht unbedingt die Meinung der
Redaktion wieder.- Für unaufgeforderte
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