Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock Universidad de Viena, Austria Nicht der Welteroberer, sondern der Weltüberwinder sei die größte Erscheinung der Weltgeschichte, sagte Schopenhauer. Demgemäß geht es nicht mehr um die Wahrnehmung der Ideengeschichte des lateinamerika nischen Kontinents, in diesem Falle Mexikos, im Sinne einer Anerkennung, sondern um den selbstverständlichen Umgang mit den lateinamerikanischen Entwicklungen und deren Einbezug in ein wissenschaftliches, gesellschaftliches und künstlerisches Denken als einen partikulären Bestandteil des gesamten Weltgeschehens. Und wie keine andere Kunstform kann die Musik dafür eine Form des Austauschs, der Kommunikation eröffnen. Doch dieser Allgemeinplatz mag eher Ausdruck einer Hoffnung als das Ergebnis konkreter Situationsanalysen sein, denn Musik kann auch gerade geschlossene Räume und vermeintlich unüberwindbare Abgrenzungen schaffen. Verbote von Musik und Instrumenten ziehen sich durch die Menschheitsgeschichte. Weder im Kleinen noch im Großen gibt es die „eine“ Musikkultur als vermeintlich homogene, in sich geschlossene Einheit. Die Konfliktlinien verlaufen vielmehr überall durch die einzelnen Familien, Generationen, Konzertstätten und Institutionen. Sie werden bestimmt von allgemeinen Wert-und Ordnungsvorstellungen, von unterschiedlich ausgeprägtem Toleranzvermögen und 81 ästhetischen Gewohnheiten. Deshalb ist es notwendig, den Kontext einer kulturellen Entwicklung zu kennen und in dem Fall den historischen Hintergrund zu skizzieren, der in Mexiko das Aufkommen der Kunstmusik, der sogenannten Ernsten Musik im abendländischen Verständnis bedingt, welches mit der Eroberung des unbekannten Kontinents durch die Europäer ihren Anfang nimmt. Denn ist die Übermittlung von (humanistischen) Werten mit der Sprache ausreichend möglich? Braucht es nicht Kunst, Literatur, Poesie und Musik als nonverbale Träger eines solchen Informationsflusses?1 Braucht es dafür nicht das „offene Wort“2 und gäbe es dieses bereits, wie klänge es in der gegenwärtigen Musik? In welchem Rahmen kann man solche Musik dann bewerten, wie kann man dessen Wesen wahrnehmen? Eine fruchtbare Untersuchung des Problemkreises von Entgrenzung, der Aufhebung und Bildung alter und neuer Grenzen für kulturelle Prozesse findet naturgemäß überall dort einen sinnvollen Ort, an dem sich die Austauschprozesse in besonderem Maße verdichten. Das Land Mexiko stellt einen solchen Grenzraum dar, befindet es sich doch an der einzigen Stelle auf der Welt, an dem der entwicklungspolitische Norden und Süden an einer gemeinsamen Grenze aufeinander treffen. Vielfältige Austauschprozesse zwischen den USA und Mexiko 1 Siehe J. Derrida: Über die Universität & M. Heidegger: Brief über den Humanismus. 2 Siehe O. Paz: Der Bogen und die Leier. 82 haben an dieser Grenze einen Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock kulturellen „Übergangsraum“ entstehen lassen. Neben dieser spezifischen Qualität der Nordgrenze Mexikos lässt sich eine Fraktionierung bestehender gesellschaftlicher Räume und das Wiederaufleben ethnischer Identitäten an der indianisch geprägten Südgrenze des Landes beschreiben. So bietet Mexiko einen Erfahrungsraum, der über die eigenen Grenzen hinaus Einblick in die Differenziertheit kultureller Globalisierung gestattet. In meiner Magisterarbeit zur Neuen Musik in Mexiko im Jahr 2009 endete ich mit dem Gedanken einer notwendigen Aufbrechung hegemonialer, Imperialistischer und kapitalistischer Denkweisen, um ein neues und vielfältiges Miteinander im Musikschaffen generell und insbesondere Mexikos zu ermöglichen. Dabei ging ich von einem Ausspruch des brasilianischen Musikwissenschaftlers Marlon Nobre aus, der die hervorragenden Ansätze der zeitgenössischen Musik in Lateinamerika und die Hauptgründe für deren Scheitern in den achtziger Jahren mit „Kommunikationslosigkeit, Unkenntnis und Frustration“ 3 benannte, welche aber durchaus auch symptommatisch für die zeitgenössische Musik per se stehen. Mir war es an der Suche nach Indizien für das 'Eigene', das 'Unnachahmliche' in der Entwicklung der mexikanischen Kunstmusik gelegen. In einer 300 Jahre 3 Woll, 1994. 83 währenden Kolonialherrschaft hat sich Europa, die „Alte Welt“, als Zentrum verstanden und Lateinamerika, die „Neue Welt“ (auch: "Neuspanien"), als Kolonie, als Peripherie deklariert. Die Kultur, insbesondere die Musik hat sich dadurch nicht so kontinuierlich, so organisch entwickeln können, sondern ist vielmehr das Resultat vielfältigster Begegnungen, Einflüsse, Vermischungen und Wechselbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Kulturen, die seit der Conquista in die Neue Welt gelangten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts hielten Lieder und Tänze aus dem Volk und lokale Ausdrucksweisen zwar verhalten, aber dennoch Einzug in die Kunstmusik Lateinamerikas. Alsbald begann der kulturelle Transfer nicht mehr nur in einer Richtung, von der Alten in die Neue Welt stattzufinden, das Interesse der Europäer an der Kultur des lateinamerikanischen Kontinents wuchs. Die musikalische Kultur Mexikos hat sich in drei sehr unterschiedlichen Arten ausgeprägt: in der Musik der Indios (música indigena), deren weitverzweigte Wurzeln bis in präkolumbische Zeiten hineinreichen, der mit der spanischen Kolonisation entstandenen Popular-oder Volksmusik der Mestizen (música popular y folklórica), und der sich aus mehreren Quellen speisenden, sogenannten "Kunstmusik" (música de arte, auch música culta oder música erudita genannt). Bei der Suche nach einer mexikanischen Identität kann es sich also um das Auffindbarmachen der 84 Quellen für mexikanisches Musikschaffen handeln. Doch das allein genügt nicht, um einerseits dem Begriff der Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock. Identität und andererseits der „Mexikanität“ mexikanischer Komponisten gerecht zu werden. In der Tat lässt sich kein Ergebnis in dogmatischer Art formulieren, auch keine letztgültige Definition von Identität liefern. Darum möchte ich nach einem Überblick zur Musikgeschichte Mexikos –denn Identität ist auch immer historisch begründet– die Problematik der Identität und darum gelagerter Kulturdebatten näher beleuchten. Betrachtet man heute den lateinamerikanischen Kontinent, lassen sich Begriffe wie Kolonisation, Hybridität und Globalisierung nicht umgehen. Sie alle sollen in diesem Kapitel hinsichtlich der Identitätsfrage untersucht werden. Im dritten Kapitel möchte ich dann eine Beschreibung des zeitgenössischen Musiklebens der Kunstmusik in Mexiko vorlegen, welches durch ausgewählte Komponisten und deren Werke im vierten Kapitel und dem Zeitgeschehen in Form von Festivals und durch Interpreten noch näher gebracht werden soll. So versuche ich mich, durch Einzelfalluntersuchungen und -beschreibungen, einer Antwort auf die Frage nach einer „Mexikanität“ in der mexikanischen Kunstmusik zu nähern. Die Andersartigkeit der mexikanischen bzw. Generell lateinamerikanischen Verhältnisse im Vergleich zu denen in 85 Europa, begründet die Einbettung und Berücksichtigung geschichtlicher, musikgeschichtlicher, soziokultureller und kulturpolitischer Aspekte in dieser Arbeit. Nachdem sich Mexiko mit der Revolution 1910 um eine eigene Identität zu sorgen begann, bestand die mexikanische Persönlichkeit in einer Mischung aus Trauma, Assimilation und Nostalgie4. So ist ein mexikanischer Komponist einerseits ein Kolonisierter, der in eine eigene nationale Identität aufgenommen wurde, andererseits ein globaler Komponist. Global meint jedoch mehr eine Nostalgie denn eine Freiheit, wenngleich die Globalität dem mexikanischen Komponisten eine freiheitliche Einverleibung fremder Visionen erlaubt, bei der der interkulturelle Kontakt nicht traumatisch, sondern freiwillig und selbstbewusst ist. Besagte Nostalgie aber nährt sich aus dem Dazwischen, der unüberwindbaren Ahnung des Mexikaners, „nicht wie vorher, wirklich indigen und nicht wie die anderen, wirklich westlich“ 5 sein zu können. Das Komponieren ist ein Prozess der Verschlüsselung kreativer Klangtriebe in einer Partitur für die spätere Wiedergabe, ein individualistischer mit der Idee es Urhebers verbundener Vorgang, der vor der Ankunft der Europäer in Amerika überhaupt nicht existierte. Komposition ist also in Mexiko und Lateinamerika eine Folge der Kolonisierung und 4 5 Vgl. Sandoval, 2009, S. 41 ff. Ebd. S. 42. 86 relativ neu, auch wenn es kolonisierte, europäische Akademien gab. Original mexikanische Musikalität war Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock eine kollektive Tätigkeit, die keine Notierung im europäischen Sinne erfuhr. Folglich erleben heute beide, der europäische und der mesoamerikanische Stil seine Ausformung im Werk des mexikanischen Komponisten. Die klangliche Heimat mag ein identitätsstiftendes Merkmal sein, doch ist sie ein schwer definierbares, komplexes System. Sie besteht aus den klanglichen Einflüssen, denen sich der Mensch in der Gesellschaft einerseits aussetzt, denen er jedoch andererseits ausgesetzt ist. Es liegt auf der Hand, dass letztere also historischer und kultureller Klangassimilation unterliegt. Die Beziehung zu einer klanglichen Heimat kann dann aus einer akustischen Perspektive -den natürlichen Klängen der individuellen Umgebung -, einer kulturellen und einer musikalischen Perspektive, also persönlichem Wissen um die Strukturierung und den Sinn für die Erschaffung von Musik, hergestellt werden. Die akustische Dimension ist in Mexiko eine von Lärm und Chaos, komplexe, gleichzeitige Klangschichten verschiedener Quellen können sich überlagern, verschiedene Musikgruppen in unmittelbarer Nachbarschaft zugleich agieren. Diesem Chaos liegt aber des Mexikaners Sinn für Vielfalt zugrunde, demgegenüber die systematisierte Vielfalt Europas liegt, die auf verschiedenen Kommu- 87 nikationswegen kontrolliert Impulse zu vermitteln sucht und einem auf Gleichgewicht ausgerichtetes Ökosystem ähnelt. In Mexiko dagegen häufen sich Fakten freiwillig oder unfreiwillig außer Kontrolle. Der Mexikaner kann sich deshalb auf beiderlei Wegen der Musik nähern: systematisch oder chaotisch. Begriffe der kulturellen Dimension sind in Mexiko die der Einsamkeit, des Stolzes und der Naivität. Mexikaner waren und sind aus kulturellen, rassischen bzw. wirtschaftlichen Gründen Fremde im eigenen Land und nähren daraus eine große Begabung für das Einsamsein. Diese Einsamkeit resultiert u.a. aus der Zerstörung des Eigenen und aus der Isolation als ein Ergebnis der Unterwerfung und des Hochmuts, wie Octavio Paz im „Labyrinth der Einsamkeit“ beschreibt. Die Zeitgenössische Musik Mexikos aber leidet aber nicht an der Einsamkeit als Isolation, sondern an der Unterwerfung und mit ihr die Naivität und der Stolz. Dies wird deutlich, wenn Mexikaner nicht anerkennen können, dass sich die neuen Generationen von Musikern und Komponisten in die letzten Strömungen europäischer Klangentwicklungen einfügen 6 In der musikalischen Dimension wäre hier ein lateinamerikanischer Symbolismus zu verorten, dem „Magischen Realismus“ der lateinamerikanischen Literatur verwandt. Dieser ist jedoch nicht mit dem europäischen 6 Vgl. Paz, 1974, S. 75ff. 88 Symbolismus von Musik und Literatur zwischen Impressionismus, Realismus und Naturalismus zu verwechseln. Die symbolische und musikalische Darstellung der Wirklichkeit geschieht bei lateinamerikanischen Komponisten durch einen persönlichen „buchstäblichen Symbolismus“, ausgehend von den Titeln ihrer Werke über deren Verwendung von Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock Klangkonstruktionen mit Symbolcharakter und schlussendlich die Musikinstrumente, die wie Kultur-symbole eingesetzt werden. Das heißt, die musikalische Rhetorik in lateinamerikanischen Kompositionen ist eine symbolische Rhetorik, Realitäten und Fantasien werden in Symbole verwandelt. So begann sich in Mexiko eine eigenständige zeitgenössische Musik herauszubilden, deren Exotik auch das Interesse der europäischen Impressionisten weckte. Parallel dazu entwickelte sich der mexikanische „malinchismo“ –vom Namen der Doña Marina Malinche abgeleitet, die 1519 dem Eroberer Hernán Cortes dolmetschte und damit ihr eigenes Volk verriet– und folglich für landesverräterische Haltung und Handlung steht. Mittlerweile ist dieser Begriff etwas abgeschwächt und steht wohlwollender für die Adaption oder Aufnahme ausländischer Kultur. Zudem hing die Entwicklung der Musik in Mexiko außergewöhnlich stark von den poli- 89 tischen Bedingungen ab und folgte freilich den nachrevolutionären Krisen und wirtschaftlichen Repressalien. Führende Kraft in der Entwicklung neuer Musik seit den 30er Jahren bis zu seinem Tod 1978 war Carlos Chavez. Auf Europareisen (1923-1924) und USA-Reisen (1923-1924/ 1926-1928) begegnete er der Musik von Komponisten wie Claude Debussy, Erik Satie, Arnold Schönberg (Stücken seiner tonalen und atonalen Phase, noch keine dodekaphonsichen Kompositionen), Igor Strawinsky, Bela Bartok, Darius Milhaud, Francis Poulenc und Edgar Varese, die er dann erstmals mexikanischem Publikum vorstellte. Er war der Überzeugung, „…dass die Zukunft der Musik der mexikanischen Komponisten und die der Komponisten des restlichen Kontinents, nicht nur in der sklavischen Nachahmung europäischer Modelle, sondern darin lag, das Wesen der Musik seines eigenen Landes von der präkolumbischen Epoche bis zur vibrierenden Gegenwart zu suchen, indem er seine Werke mit einer Nationalität ausstatte.“7 Und tatsächlich trieb er auch als Buchautor und Zeitungskritiker die musikalische Entwicklung im eigenen Lande voran. Er gründete mehrere Orchester (das wichtigste ist das OSN) und gab so den Komponisten von Avantgardemusik ein Instrument. Durch seine Reisen regte er im Ausland (vornehmlich in den USA) Interesse für mexikanische Volksmusik an. Seine „Sinfonia india“ ist zusammen mit 7 Woll, 1994, S. 48 f. 90 „Sensemayá“ von Silvestre Revueltas die international bedeutendste mexikanische Komposition mit dem Thema Mexiko, Aaron Copland thematisierte dieses Land mit „El salón México“ als bedeutender US-amerikanischer Komponist. Die mexikanischen Politiker sahen in Chavez ähnlich wie in den Malern ein Aushängeschild für Mexiko und übertrugen ihm bis 1950 mehrere kulturpolitische Ämter. Er gründete das CNM, eine der wichtigsten Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock Kompositionsschulen in Lateina-merika und das Taller, eine „Komponistenwerkstatt“ und schaffte noch viele weitere Stätten zur Ausbildung von Komponisten in Mexiko. Carlos Chavez lenkte so über ein halbes Jahrhundert lang das Werden der modernen Musik in Mexiko und stellte nicht nur als Komponist, sondern auch kulturpolitisch eine äußerst importante Person im Musikleben Mexikos dar. Wenngleich erUnersetzliches für die Entwicklung der höheren musikalischen Ausbildung leistete, sie zum Teil überhaupt erst ermöglichte, bekamen junge Komponisten doch erst nach Chavez‘ Rücktritt und dem damit verbundenen Rückzug aus der Öffentlichkeit, wirkliche Chancen einer eigenen Entfaltung. Chavez‘ großer Verdienst ist es auch auf seinen zahleichen Reisen grenzüberschreitend zu vermitteln und das Interesse für mexikanische Musik nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa zu wecken. 91 Die Einführung der Dodekaphonie als unpersönlicher und kulturneutraler Kunstform um 1950 verfolgte nicht zuletzt auch politische Ziele. Die USA versuchten damit, nationalistisches Gedankengut und die damit verbundene, neu gefundene Identität aus der lateinamerikanischen Kunst zu tilgen und mit seriellen und anderen experimentellen Techniken zu ersetzen, was freilich nur teilweise gelang. “I have often been asked what should be the position of a Latin American composer vis-à-vis dodecaphony. I do not think the position of a Latin America composer should be a different from that of any other composer of any other land” (Carlos Chavez)8. Diese Aktivitäten der USA begünstigten den Eintritt neuer europäischer und US-amerikanischer Musik und zementierten den Ausbil-dungsort junger Komponisten rund um die Botschaft der USA in Mexiko-Stadt. Attraktionen waren dann Gastdirigate von Strawinsky (aus dem USA-Exil) und Schostakowitsch. Futuristen jedoch fanden in Mexiko keine Erwähnung. Der malinchismo stand erneut im Vordergrund, der Blick war wieder auf die westlichen Nachbarn gerichtet. Obwohl mexikanische Radio-programme bereits seit den 30er Jahren zeitgenössische Musik sendeten, die vor allem bei jungen Zuhörern auf regen Zuspruch stießen. 8 Woll, 1994, S. 46. 92 Ab 1960 bildeten sich dann internationale Strömungen heraus, besonders polnische durch Krysztof Pendereckis Klangfarbenmusik. Aber auch Witold Lutoslawski, Luciano Berio und Györgi Ligeti gewannen an Aufmerksamkeit sowie die revolutionäre Ästhetik eines John Cage. So ist die Komponistenszene in Mexiko heute so pluralistisch wie in Europa und reicht von der mathematischstrukturellen, der experimentellen, aleatorischen und elektroakustischen Musik bis hin zum Minimalismus und weiter zu Tendenzen der Neoromantik. Der „nacionalismo“ hatte in seiner Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock Konsequenz zu einer erneuten Peripherisierung geführt und die lateinamerikanischen Komponisten verlangten nach einer Öffnung zu diesen internationalen Strömungen hin, was als Neokolonialismus interpretiert werden konnte, da ebenjene Ströme ja wieder von Europa und Nordamerika ausgingen. Zusammenfassend betrachtet, ist die Kunstmusik in Lateinamerika bis in das 20. Jahrhundert von einem starken Eklektizismus gezeichnet. Auch der technische Fortschritt, der im 19. Jahrhundert in Europa und den USA einsetzte, wurde mit musikalischen Werken quittiert. Bemerkenswerterweise sind aus der ersten Hälfte 19. Jahrhunderts weder Sinfonien, noch Konzerte, noch Streichquartette oder Sonaten mexikanischer Komponisten nachgewiesen, obwohl 1867 die sinfonisch-programmatisch-realistische Suite La locomotiva 93 von Melesio Morales (1838-1908) auftauchte. Dieses Werk war eine Auftragskomposition der mexikanischen Eisenbahngesellschaft anlässlich der Einweihung der ersten Eisenbahnstrecke von Apizaco nach Santa Ana Chiautempan im Bundesstaat Pueblo. Wie auch in Arthur Honneggers Pazific 231, das erst im Jahre 1926 veröffentlicht wird, sind deskriptiv in La locomotiva die genauen Geräusche der zischenden, abfahrenden, hupenden, klirrenden Lokomotive zu hören. Ebenfalls ein in Mexiko vielbeachtetes Beispiel für die Musik über Maschinen ist das sinfonische Ballett „HP“ (horsepower) von Carlos Chavez, als „…eine Sinfonie der Geräusche, die uns umgeben…“,9 das die (idealisierte) Symbiose und deren Verfall von Nord-und Südamerika darstellen soll. Folkloristischen Melodien und Tänze aus dem lebhaften, primitiven Lateinamerika stehen musikalische Schilderungen technischer Leistungen Nordamerikas gegenüber und beschreiben in vier Sätzen den Menschen im ersten Satz, dem „Danza del hombre“ (Tanz des Menschen), als Schöpfer der Dinge. Der zweite Satz „El barco“ (Das Schiff) bezeichnet den Handel zwischen dem Norden (Danza de marineros/ Tanz der Seemänner) und dem Süden (Tango und Jazzsaxophon), während im dritten Satz „El trópico“ der Zustand des Schiffes in einem südlichen Hafen durch Tänze des Volkes (Huapango, Sandunga) beschrieben 9 Slominsky in: Woll, 1994, S. 33. 94 wird und letztlich im vierten Satz im „Danza de los hombres y las máquinas“ (Tanz der Menschen und der Maschinen) endet. Dieser vierte Satz soll die industrielle nordamerikanische Stadt darstellen und gleichzeitig die Ausbeutung der Arbeiter unter den Maschinen und den despotischen Kapitalisten thematisieren. Ein turbulenter Aufstand der Arbeiter folgt und lässt sie über die Maschinen siegen bzw. stellt sie unter ihren eigenen Dienst. Diese Unabhängigkeitsbestrebungen, eine antieuropäische Musik zu schaffen, gingen vor allem von der erstgeborenen Generation europäischer Immigranten in Mexiko und ganz Lateinamerika aus und Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock stießen bei so manchen Europäern auf Anerkennung und Resonanz. Wege der Unabhängigkeit von der europäischen Musik und Lehre stellen für mexikanische und lateinamerikanische Komponisten alle die Grenzen der „música de arte“ sprengenden, oft multimedialen oder andere Musikarten einbeziehende Konzepte dar. Eine ideologische oder ästhetische Auseinan-dersetzung mit dem „Mutterland“ Europa scheint beendet, Pragmatismus, Pluralismus und Kosmopolitismus die Schlagworte der jüngeren Komponistengeneration geworden zu sein. Während Lateinamerika somit zunehmend Einfluss auf internationalem Terrain gewinnt, verliert das eurozentristische Denken der “Alten Welt“ an Vertretern und räumt einem globalen Musikkonzept den Weg. Als Errungens- 95 chaften diesbezüglich wären beispielsweise die regelmäßige Wahl eines Lateinamerikaners in die IGNM seit 1985 und das Stattfinden von deren „Weltmusiktagen“ 1993 auf mexikanischem Grund und Boden zu nennen. Im Zeitalter der Ökonomisierung und Kommerzialisierung treten auch Lateinamerika und Europa auf dem Musikmarkt in Beziehung, je mehr dieeuropäische Musik an Leitbildfunktion verliert. Die Emanzipation der lateinamerikanischen Komponisten befördert nurmehr einen wirklichen Austausch kultureller Güter, eine der Musik eher angemessene partnerschaftliche Kommunikation. Hinsichtlich einer umfassenden Ausbildung bleibt Europa freilich begehrtes Ziel in Form von aufbauenden Studien oder Stipendienaufenthalten. Bestrebungen, an den Darmstädter Ferienkursen oder den Donaueschinger Musiktagen teilzunehmen, dienen nicht nur der Weiterbildung, sondern auch der internationalen Anerkennung und Verbreitung der eigenen Werke. Eine Rückkehr nach Mexiko ist für junge mexikanische Komponisten jedoch lukrativ, ein beeindruckendes staatliches Fördersystem bietet Musikern und Komponisten Unterstützung. Für Instrumentalisten werden Gelder für Kompositionsaufträge, Studioaufnahmen und die Veröffentlichung von Tonträgern zur Verfügung gestellt. Zusammen mit der Eigeninitiative der Interpreten kann sich so ein reges zeitgenössisches Musikleben entwickeln. Die Ausbildung findet dabei weniger im 96 traditionsbeladenen Palacio de Bellas Artes als der UNAM statt, welche eine Musikhochschule, eine Musikabteilung und eine auf Neue Musik spezialisierte Compañia sowie ein eigenes Orchester unterhält. Dieses Orchester ist das zweitgrößte und –älteste von insgesamt vier in Mexiko-Stadt beheimateten großen Klangkörpern. Darüber hinaus verfügt die UNAM über ein eigenes Kulturzentrum mit dem Konzertsaal Sala Nezahualcóyotl, der der Berliner Philharmonie nachempfunden worden ist. Werden dort bevorzugt Werke des 20/21. Jahrhunderts aufgeführt, beherbergt die UNAM außerdem seit 1937 ebenfalls eine eigene Radiostation, deren substantieller Programmbestandteil Werke mexikanischer Komponisten darstellt. Umgekehrt ist jedoch auch Europa an neuen Einflüssen interessiert und schaut gern nach dem transatlantischen Musikschaffen. Vorteilhafte Einflüsse sind dabei welche, die wie die von dem Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock Spanier Rodolfo Halffter in Mexiko eingeführte Dodekaphonie und serielle Musik, der Erneuerung und Erweiterung der künstlerischen Quellen und Möglichkeiten dienen. Dass ebenso schädigende Wirkung entstehen kann, wenn der Gewinn für die Kulturindustrie von entscheidender Bedeutung wird, erklärte Adorno bereits in seiner Philosophie der neuen Musik. 97 Mexikos relativ stabile wirtschaftliche Lage durch Abkommen mit den benachbarten USA in den 60er Jahren, ermöglichten den Ausbau von Forschung, Lehre und Festivals der „música de arte“ (Kunstmusik), sodass sich vor allem in der Hauptstadt eine außerordentliche musikalische Infrastruktur mit einer großen Anzahl häufig im Ausland ausgebildeter Komponisten, Interpreten und Ensembles herausbilden konnte. Dies hatte auch zur Folge, dass Mexiko in der Lage war, 1993 die „Weltmusiktage“ der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik auszurichten. In dieser Zeit entwickelten junge mexikanische Komponisten eigene kompositorische Ansätze und versuchten sich von den universalen europäischen Konzepten zu emanzipieren. Julio Estrada beispielsweise (s. Kap. IV), der zu dieser ersten in Lateinamerika geborenen Generation europäischer Emigranten –seine Eltern waren Spanier– gehört, nahm nach seinem Kompositionsstudium in Mexiko Unterricht in Paris bei Nadia Boulanger, Olivier Messiaen, JeanEtienne Marie und Iannis Xenakis. Danach besuchte er Kurse bei Karlheinz Stockhausen und Györgi Ligeti in Deutschland und promovierte später an der Universität Straßburg. Seine Musik hat allerdings fast nichts mehr mit europäischen Kompo-sitionen gemein. Er verbindet die skalenfreie indianische Musikpraxis mit der Mikrotonalität und Glissando-Technik seines Pariser Lehrers Iannis Xenakis – das daraus resultierende Kontinuum 98 lässt keine europäische Verwandtschaft mehr erkennen. Der nacionalismo musste von der jungen Komponisten-Generation erst überwunden werden, ehe den atonalen Verfahren, Tonmaterial zu gliedern, Interesse entgegengebracht werden konnte. Das Interesse an zeitgenössischer Musik erfreute sich in Mexiko erstaunlich lebhafter Rezeption in der Bevölkerung, viel positiver als im vorausgehenden Europa, teils aus Neugierde und Offenheit Neuem gegenüber, teils aber auch weil die Komponisten das Publikum klug in das musikalische Geschehen zu integrieren wussten, Musik wollte „gelebt“ sein. Dieser betont aufgeschlossene Charakterzug zeigt sich auch unter den Komponisten selbst, wenn sie den Zugang zu den Musikstudios Laien wie Experten gleichermaßen zur Verfügung stellen. Konkurrenzdenken ist an dieser Stelle kaum zu finden und belegt einmal mehr den liberalen Geist des mexikanischen Volkes. Er wird aber auch deutlich, dass es die mexikanischen Komponisten ablehnen, sich in einem Verband zusammenschließen, um zu erstarken, sondern eher die Freiheit der eigenen Ideen bevorzugen. Waren die Anfänger der Kunstmusik Mexikos zweifelsfrei mit Carlos Chavez verbunden, so ist es Carlos Jiménez Marbarak, der für die Verwirklichung der Konkreten Musik in Mexiko steht. Pierre Schaeffer hatte 1948 in Frankreich die Musique Concrète ins Leben 99 gerufen und zwei Jahre später mit Pierre Henry die Groupe de Musique Concrète gegründet. Einer wirklichen Entfaltung der Konkreten Musik in Mexiko stand der Mangel an gut ausgestatteten Studios und Klangarchiven grundlegend im Weg und ließ –ebenso wie Hörspielen– kaum Produktionen zu. Auch die Verbreitung solcher Musik via Radio förderte wegen fehlender Klanggüte eher die Ablehnung der Bevölkerung. Das Interesse an dieser Neuen Musik ging lediglich von der Presse aus, die neben seinerzeit berühmten Unterhaltungskünstlern auch über diese Tendenzen der zeitgenössischen Musik berichteten. So initiierte Marbarak Konferenzen in Mexiko, in denen er über die Konkrete Musik und andere aktuelle Entwicklungen der europäischen Neuen Musik referierte. Doch erst, als Auszüge aus Hörbeispielen seiner Konferenzen ohne sein Einverständnis für Movimiento Perpetuo vom Ballett des Bellas Artes verwendet wurden, fand die Konkrete Musik paradoxerweise Anklang in der Öffentlichkeit. Marbarak betrachtete sich bei diesen eher dürftig besuchten Kongressen und Konferenzen lediglich als Informant über neue Entwicklungen und bildete auch den Begriff Música magnetofónica (magnetofonische Musik), um seine eigene von der elektronischen und Konkreten Musik zu unterscheiden. Sie entstand durch elektronische Montage auf einem Magnetband und gelangte im Oktober 1960 in dem Ballett „El paraíso de los ahogados“ (Das Paradies der Betrun- 100 kenen) mit dem Ballet Nacional de México unter der Choreographie von Guillermina Bravo zu Uraufführung. Dieses Ballett gilt als außerordentlicher Erfolg, der durch alle Beteiligten begünstigt wurde, Bravo gilt auch heute noch als zu den Spitzenchoreographinnen Lateinamerikas zugehörig. Mabarak empfing sich dadurch als herausragender Komponist für mexikanisches Ballett den Beinamen „Strawinsky Mexikos“. Währenddessen experimentierten auch andere mexikanische Komponisten mit den elektronischen Möglichkeiten für Musik. Allen voran Eduardo Mata, der 1963 in den Studios von New York und Boston das Ballett „Los Huesos Secos“ (Die trockenen Knochen) komponierte. Auch José Antonio Alcaraz experimentierte mit der Konkreten Musik und steht aus zwei Gründen beispielhaft: durch seine Neugier an neuen Formen künstlerischen Ausdrucks und durch die Schwierigkeiten ihrer technischen Realisation. Blas Galindo kam durch seine Freundschaft zu Edgar Varese mit der Konkreten Musik in Kontakt und entwickelte seine Kompositionstechniken durch Studien mit einem Stipendium der Rockefeller Foundation bei Aaron Copland im Berkshire Music Center weiter und arbeitete mit Tontechnikern neue Ideen aus. Das Ergebnis war der letzte Teil eines Orchesterstücks mit dem Titel „Letanía erótica para la paz“ im September 1969. Auch die Pianistin und Komponistin Alicia Urreta machte als wohl bedeutendste Frau im 101 Musikleben Mexikos dieser Zeit von sich reden. Ebenfalls in Frankreich in elektronischer und elektroakustischer Musik ausgebildet, war sie die erste, die mit ihrem Werk „Natura mortalis o la verdadera historia de caperucita“ (Natura mortalis oder die wahre Geschichte vom Rotkäppchen) Tonbandmusik, sogenannte Tapemusic in Mexiko schuf. Neue, zeitgenössische Musik ist außerordentlich verbunden mit elektroakustischen Instrumenten, für deren Handhabung es sowohl der Sachkenntnis als auch des Kapitals bedarf. Ähnlich den Entwicklungen in Europa werden auch in Mexiko mehr und mehr Privatstudios gegründet, die die Individualisierung Musikschaffender ermöglichen. Auf dem Gebiet der elektronischen Musik, e.g. der Computermusik verhält es sich ganz ähnlich: nur im Ausland oder in Eigeninitiative vermochten sich Komponisten ein Experimentierfeld im Sinne eines Studios zu verschaffen. Antonio Russek beispielsweise hatte nur im Ausland Komposition studiert und demzufolge keinen Zugang zu den Studios der mexikanischen Universität. Also stellte er sich in seinen privaten Räumen nach und nach selbst ein Studio aus Synthesizer, Moog, Mischpult, Effektgeräten und einem 4-Spur-Tonbandgerät zusammen. Anfang der achtziger Jahre schlossen sich ihm die Komponisten Vicente Rojo und Samir Menaceri an und gründeten daraus gemeinsam das CIIMM, das sich bis heute nicht 102 als offizielle Institution, sondern als offenes Forum versteht. 1984 veröffentlichte das CIIMM die erste Schallplatte mit den vier Werken „Para espacios abiertos“ (1981, Russek), „Fantasía cósmica" (1982, Raúl Pavon), „Agua derramada“ (1983, Roberto Morales) und „Vulcán“ (1983, Rojo). Einen namhaften Beitrag zur Weiterentwicklung der Computermusik leisteten Francisco Nunez und Roberto Morales, als sie bei den Herstellern Yamaha und IBM direkt anfragten und von ihnen Instrumente bezogen. Sie richteten damit Studios, ein Foro (Forum), wo regelmäßig Konferenzen abgehalten und Festivals organisiert wurden, und Kurse ein, die mexikanische Komponisten wie Manuel Enriquez und Héctor Quintanar dazu verführten, trotz ihres bereits erfolgreichen Komponistendaseins erneut zu studieren. Nunez schuf als erster Mexikaner ein Stück für Computer, Synthesizer und Sinfonieorchester: "Encuentros", das am 19.10.1989 in Guadalajara und am 9.3.1990 sogar am Palacio aufgeführt wurde. Als weitaus bekannterer Spezialist auf dem Gebiet der Musikinformatik ist allerdings wohl Julio Estrada zu nennen, der sich durch viele Reisen ins Ausland mit musikalischer Kybernetik und Mathematik befasste. Er war es auch, der mexikanischen Studenten und Komponisten in Seminaren der universitären Einrichtungen von Mexiko-Stadt die Arbeit an dem von Iannis Xenakis erarbeitetem Computerprogramm Upic ermöglichte. Auch in Guadalajara, der 103 nächstkleineren Stadt nach Mexiko-Stadt wurde von Antonio Navarro und Eduardo Garcia ein Computermusik-Studio, das SEDEMUN eingerichtet. Dieses konnte jedoch beizeiten keine Räumlichkeiten und auch keine. Modernisierungsleistungen mehr erwirtschaften. Nachdem das SEDEMUN schon zehn Jahre Wendrock aufgelöst war, richtete der Computerkomponist Guillermo Davalos aus und in Guadalajra ein Studio ein, welches er durch Geschäftsbeziehungen mit Elektronik-Musikintrumen-tenherstellern aufrecht erhalten konnte. Somit ist auch für die ständige Aktualisierung des Studios gesorgt. Natürlich existieren neben dieser überschaubaren Anzahl öffentlicher Studios eine Vielzahl von privaten Amateur-Studios, der den Einsatz der Geräte auch auf anderen Gebieten erlaubt. Beispielsweise die Musik von Jorge Reyes, der Computermusik und präkolonialer Musik verbindet. „Comala“ und „A la izquierda del colibri“ sind sogar auf Tonträgern veröffentlicht. Wurden in der Epoche des „nacionalismo“ eigene, nicht-europäische Merkmale wie rhythmische, melodische oder klangfarbliche Elemente der „música popular“ oder der „música indigena“ in das kompositorische Schaffen integriert, wird Musik im Denken zeitgenössischer lateinamerikanischer Komponisten nun als Reflex der erfahrenen Wirklichkeit verstanden. Solche Musik 104 zeichnet sich durch „kurze, konzentrierte Zeiteinheiten, Ökonomie der Mittel, nichtentwickelnde, in autonome expressive Blöcke oder Fragmente geteilte Strukturen, die Bevorzugung von Klangfarbe und Textur vor Tonhöhe und Harmonik, auch eine Betonung des sowohl für die „música indigena“ als auch für die schwarzafrikanische Musik charakteristischen repetitiven Elements sowie Merkmale von Gewalt einerseits und Zartheit und Sensibilität andererseits" aus. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts experimentierte Julian Carillo mit Mikrotönen und systematischeren Methoden. Im Gegensatz zu Carlos Chavez, der die Entwicklung der Physik als möglichen Auslöser für eine neu entstehende Kunstform sah und deshalb nicht müde wurde, gegenwärtige Strömungen zu beobachten und in Mexiko vorzustellen, entwickelte Carillo eine eigenständige Mikrotontheorie, die Theorie vom Sonido 13, in der die Aufteilung einer Oktave in 96 Mikrointervalle geschieht, und glich die Technik, den Bau der Instrumente, an diese Mikrotonalität an. Dabei ging er weit über die Viertel-und Sechsteltontechniken von Alois Haba (1893-1972) und Ferruccio Busconi (1866-1919) hinaus. Erste mikrotonale Kompositionen gelangten zu Beginn der 1920er Jahre zur Aufführung, so das vielbesprochene „Preludio a Colón“ von 1922 für Sopran und fünf Instrumente, darunter eine Carillo-Harfe in Sechzehntel-Ton-Stimmung. Er gründete 1930 die Sinfónica del Sonido 13, ein Orchester, 105 in dem alle Instrumente Mikrointervalle spielen konnten. Dem ging die die Grupo Sonido 13 unter Angel Reyes voraus. Carillo konstruierte fünfzehn Klaviere, mit denen er alle Tonintervalle von Ganz-bis zu Sechzehnteltönen erzeugen konnte und entwickelte 1949 ein Dritteltonklavier. Zum Problem der Identität im Bezug auf das Mexikanische Innerhalb der „cultural studies“ existiert die Unterscheidung in zwei verschiedene Modelle der Produktion von Identität. Das erste Modell nimmt einen wesentlichen und essentiellen Inhalt in jeder Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock Identität an, die sowohl durch eine gemeinsame Herkunft oder eine gemeinsame Struktur als auch beides definiert wird. Der Versuch, den „authentischen“, „ursprünglichen“ Inhalt dieser Identität zu entdecken, ist für dieses Modell bedeutend. Das zweite Modell widerspricht der Annahme einer festgelegten unabänderbaren authentischen Identität, die auf universell geteilter Abstammung oder Erfahrung basiert. Identitäten sind dabei unvollendet, immer im Prozess befindlich. Jede Identität wird durch Differenzen und Negationen bestimmt. Identität ist immer ein zeitliches und instabiles Produkt von zwischenmenschlichen Beziehungen, das durch Differenzen erzeugt wird. Der Schwerpunkt dieses Modells liegt demnach 106 auf der Vielzahl von Identitäten und Differenzen, die durch die Abgrenzung zum Anderen hervorgebracht werden und den Verbindungen oder Artikulationen zwischen diesen Fragmenten oder Differenzen, jedoch nicht auf einer singulären Identität. 10 Stuart Hall hat sich besonders um den Identitätsbegriff verdient gemacht und verweist auf Theoretiker der Postmoderne. Diese knüpfen an ihre Vorgänger an, die mit der Dezentrierung des Subjekts begannen. So bezieht sich laut Hall Althusser auf Marx, Lacan auf Freud, Derrida auf Saussure. Er beschreibt die hybride Identitätsbildung, deren Voraussetzung gerade die Entwurzelung, die Zerstreuung und Auflösung fester Zusammenhänge ist. Die Aufgabe, die sich damit stellt, ist die einer Konstruktion von Identität durch Differenz des Einzelnen durch das Verhältnis zu dem Anderen. Inwiefern die Globalisierung die Ursache für eine Hybridisierung von Kulturen und einer kulturellen „Diasporisierung“ ist, sei nachfolgend genauso näher erläutert wie eine außerordentlich mexikanische Sicht auf den Begriff „Identität“, die im Begriff Nostalgie mündet. Identität kann als das Selbstverständnis der Menschen, als ein Bewusstsein von den bestimmenden Merkmalen, durch die sie zu Menschen werden verstanden werden. Aus dem Zusammenbruch von hierarchischen Strukturen, in denen 10 Hall, 1994, S. 11 ff. 107 Ehre im Sinne von „Bevorzugung und Besserstellung”11 die Grundlage des Systems bildete. Diesem steht im modernen Denken der Begriff der Würde entgegen, die in der „Würde des Menschen“ universalistisch und egalitär gebraucht, der Demokratie als System zur Grundlage bedarf, welche dann in eine Politik der gleichberechtigten Anerkennung führt. So entstanden Gleichberechtigungsdebatten bezüglich der Geschlechter, der Kulturen, der Völker und des Individuums. Die Spitze dieser Entwicklung bildet die Auffassung einer individuellen Identität, einer individualisierten Identität mit dem Anspruch, den Fokus auf sich selbst und die eigene Existenz zu richten, nämlich dem, was unter Authentizität zuverstehen ist. Auch Johann Gottfried Herder beschäftigte sich mit der Idee der Authentizität und artikuliert die Einzigartigkeit des Individuums, Zeitgenössische Musik in Mexiko Sylvia Wendrock jeder Mensch ist unverwechselbar mit eigenen Sinnen, eigenen Maßen, eigenen Vorstellungen ausgestattet.12 So erhält der Begriff der Individualität Substanz. Humanität, Moralität und weitere ethische Werte setzen jetzt Selbsttreue, Selbstbewusstsein, Individualität voraus. Und für die Anerkennung fremder Kulturen bedarf es der: „Horizontverschmelzung“,13 wie Gadamer es nannte. Nötig ist eine ständige Erweiterung des Koordinatensystems des eigenen Horizontes, um Taylor, 1993, S. 16. Herder, 1990, S. 83. 13 Taylor, 1993, S. 63F. 11 12 108 dem Fremden anderer Kulturen Einlass in das eigene Denken zu gewähren und Maßstäbe für deren Einschätzungen entwickeln zu können. Doch zwischen der homogenisierenden Forderung nach Anerkennung und einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit und übermäßigen Betonung und Begrenzung auf die eigenen kulturellen Zentren ist der Weg zu einem verständnisbasierten Umgang mit dem Fremden zu suchen. Identitäten sind niemals einheitlich und abgeschlossen, sie sind eher zerspalten, nicht einmalig, sondern vielfältig, konstruiert über Differenzen, Diskurse, Praktiken und Positionen. Sie sind permanent der Veränderung und Transformation unterworfen und somit Subjekte der Historisierung. Identitäten entwickeln sich innerhalb von Geschichte, Kultur und Sprache und sollten laut Hall als etwas Zukünftiges und nicht als im Moment Beendetes, Bestehendes betrachtet werden. Daher ist „kulturelle Identität ebenso eine Frage des ´Werdens‘ wie des ´Seins‘. Sie gehört ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit. Sie ist nicht etwas, was schon existiert, was Ort, Zeit, Geschichte und Kultur transzendiert, sondern unterliegt wie alles Historische einer ständigen Veränderung. Kulturelle Identitäten haben somit Ausgangspunkte und Geschichten“ 14 und werden daher produziert, konsumiert und innerhalb einer Kultur reguliert. 14 Hall, 1994, S. 29. 109 Musik kann demnach auch als eine kulturelle Form betrachtet werden, die einen Raum ohne Grenzen definiert und somit jegliche Einschränkungen überwinden kann. Wenn dies zutrifft, würde Musik zu einem Schlüssel zur Identität erhoben, weil sie das Eigene (das Subjektive) und das Kollektive, (die Anderen) zusammenführt und gegeneinander widerspiegelt. Die Erfahrung der Identität würde dann einen sozialen (eine Form der Interaktion) und einen ästhetischen Prozess beschreiben. Es sollte jedoch akzeptiert werden, dass die Identität Differenzierungen, der Geschichte und Repräsentationen unterworfen ist und eine „Reinheit“ und Einheitlichkeit nicht reproduzierbar ist. Zu solchen Identitäten, die die Vorstellung einer verlorenen kulturellen Reinheit aufgeben mussten, gehören die Kulturen der Hybridität. Sie sind das Produkt mehrerer Geschichten und Kulturen und gehören mehreren, anstatt nur einer (geistigen) Heimat an. Diese wären in Mexiko einerseits die Geschichte der indigenen Völker und andererseits diejenige der Spanier. Auf keine von beiden kann der Mexikaner jedoch als das „Eigene“ zurückgreifen, er ist Hybrid beider, durch sie entstanden, also durch sie bedingt und doch keiner von beiden zugehörig. Dieser ermöglicht Identität, nämlich personale, welche auf Bewusstsein basiert, und kollektive, die auf Kommunikation beruht. Es ist die Pluralität der modernen Welt, die eine kontextbezogene Betrachtung und Bewertung von per- 110 sonaler wie kollektiver Identität erfordert. Es ist die Hinwendung des Blickes auf die Übergänge und Bruchstellen der Seinsformen, weg von erhofften einheitlichen Zuständen, die, bevor sie erfasst worden, auch schon wieder verändert sind. Bronfen und Marius definieren hybride Kulturen als „alles, was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustande gekommen ist“15 und stellen fest, dass „keine Kultur von der globalen Zirkulation von Menschen, Dingen, Zeichen und Informationen unberührt geblieben ist; heutige Kultur ist hybrid“.16 Untersuchungsgegenstand meines Dissertationsvorhabens soll nun die Entwicklung der elektroakustischen Musik der gegenwärtigen Komponistengeneration, geboren nach 1970 sein, mit der mexikanische Identität unter Anderem beschrieben werden kann. Begründet sich Identität gerade durch Differenz, gilt es diese in partikulären Indizien auszumachen und der Universalität der multikulturellen Umgebung entgegenzuhalten. Und gerade die Neue komponierte Musik scheint mir dafür Aussagen liefern zu können, da sie an den Brüchen von herkömmlichen Denkweisen entsteht. 15 16 15 Bronfen/ Marius, 1997, S.14. 16 Ebd. S.18. 111 Die Analyse und Beschreibung Neuer Musik erfordert ein Vorgehen jenseits tradierter Methoden, da sie sich durch die Negation klassischer, formaler und harmonischer Kompositionsprinzipien auszeichnet. Eine Deutung von Neuer Musik ist fast nur noch individuell am jeweiligen Stück möglich und bedarf einer ständigen Kritik an bestehenden Orientierungsmustern. So stellt sich die Frage, ob ästhetische Wertvorstellungen denkbar sind, die, ähnlich dem Wahrheitskriterium in der wissenschaftlichen Erkenntnis und grundlegende Gerechtigkeitsprinzipien in der Ethik, eine kulturüber-greifende Geltung beanspruchen können. Ein mögliches Argumentationsmodell ist dazu das der immanenten Kritik,17 welches aus der Wohlgeformtheit, der Authentizität und der inneren. Stimmigkeit abgeleitet wird. Dabei wird jedoch unterstellt, dass allein diese Form des ästhetischen. Werturteils Geltungsansprüche über die lokalen Schranken einer Kultur hinaus begründen kann. Neben dieser Begründbarkeit zielen die Untersuchungen auf inhaltliche Intentionen der Komponisten und den damit verbundenen gewollten oder ungewollten Auswirkungen auf die musikalischen und kulturellen Werte der Gesellschaft, insbesondere der letzten 20 Jahre. Die dabei festgestellten Veränderungen werden den Begriff des "Wertewandels" wahrscheinlich um einige Dimensionen über dessen inhaltliche Maßstäbe hinaus erweitern. Denn die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts 17 17 vgl. Feurich, 1999, S. 54. 112 ist, insbesondere nach der Abkehr vom musikgeschichtlichen Fortschrittsdenken, weniger durch einen Wechsel von Normen bestimmt, als vielmehr durch deren Auflösung. Die Ernste Musik verliert ihre normative Grundlage, an deren Stelle Gestaltungs-prinzipien treten, die häufig nur noch für ein einziges Werk gelten. „In der Neuen Musik zehrt das Besondere das Allgemeine auf“, wie der Musikwissenschaftler Rudolf Stephan es formulierte. Daraus ergeben sich grundlegende urteilslogische Konsequenzen, die der Kant schen Unterscheidung zwischen dem „bestimmenden“ und dem „reflektierten“ Urteil nahe kommen. Ist die Urteilskraft „das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (Kant), fällt der Mensch ein bestimmendes Urteil, wenn das Allgemeine (eine Regel, ein Prinzip oder ein Gesetz) bereits vorgegeben ist. Die Vielfalt von Einzelwahrnehmungen und –beobachtungen versucht der Mensch dagegen auf ein Allgemeines, nämlich umfassendere Funktions-und Sinneszusammenhänge zu beziehen, um so etwas Sinnund Zweckvolles zu verstehen. Die Urteilskraft wird erst durch Reflexion gefunden, die „reflektierende Urteilskraft“ folgt einem inneren, subjektiven Maßstab. So hat nach Kant „die ästhetische Kunst … die reflektie-rende Urteilskraft zum Richtmaß“. 18 Wider Kant kann das ästhetische Kunstverständnis jedoch nicht allein Angelegenheit der reflektierenden Urteilskraft sein, Sinnlichkeit, 18 Kant, 2001, S.32. 113 Anschauung, Intuition und Gefühl allein reichen nicht aus, um ein Musikstück in seinen ästhetisch relevanten Qualitäten angemessen zu rezipieren und zu bewerten. Kognitive Momente liefern bei der ästhe-tischen Rezeption auch begrifflich fassbare Muster, sodass im reflektierten Urteil auch bestimmende Urteile, wie gattungsspezifische und ästhetische Kriterien, enthalten sind. Die Relevanz bestimmender und reflektierter Urteile ist freilich geschichtlichen Veränderungen unterworfen. Galten in Epochen zuvor gewisse, wenn auch mannigfaltige Spielregeln für komponierte und zu komponierende Stücke, so sind es gegenwärtig eher Freiheiten, Spielregeln aufzuheben. Trotz alledem leben Normen fort in der Tradition, der Erinnerung, der Nostalgie und Abwesenheiten von Normen sind nicht als Mangel, sondern als eine zu Ende gedachte Bedingung künstlerischer Offenheit zu verstehen, als eine Möglichkeit, der Vielfalt des Lebens (künstlerischen) Ausdruck zu verleihen. In diesem Sinne möchte ich die Vielfalt gegenwärtigen Musikschaffens in Mexiko der jüngsten Vergangenheit bis Gegenwart von Komponisten wie zum Beispiel Rodrigo Sigal, Aleyda Moreno oder Alejandro Castaño zusammentragen und deren Rückkopplungen auf kulturpolitische, soziologische und globale Aspekte genauso wie musiktheoretische und musikästhetische Entwicklungen ergründen. 114 Bibliographie Thomas Woll: Nacionalismo ex machina. Saarbrücken 1994. Christoph von Blumröder: Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. 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