Unser geheimnisvolles Ich • Band 1 Die Welt im

Werbung
Unser geheimnisvolles Ich • Band 1
Die Welt im Kopf
Unser geheimnisvolles Ich
Die Welt
im Kopf
Was unser Gehirn kann
Band 1
Herausgegeben von Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG und
Springer Verlag GmbH Berlin Heidelberg
Herausgeber Andreas Sentker, DIE ZEIT
VERLAG Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Pressehaus, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg
Springer Verlag GmbH Berlin Heidelberg
Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2015 Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG und Springer Verlag GmbH Berlin
Heidelberg. Springer Verlag GmbH Berlin Heidelberg ist Teil der Fachverlagsgruppe
Springer Science+Business Media
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf
der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und
Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw.
in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden
dürften.
Dieser Band ist ein Teil des dreibändigen Gesamtwerks »Unser geheimnisvolles Ich«
(ISBN 978-3-662-46973-6)
Projektleitung Sabine M. Müller
Lektorat Andreas Sentker, Sabine M. Müller
Lektorat Springer Spektrum Frank Wigger
Einbandgestaltung und Layout Ingrid Wernitz
Layout Simone Detlefsen
Herstellung Torsten Bastian (verantw.), Dirk Woschei
Druck und Bindung Mohn Media Mohndruck GmbH, Gütersloh
Printed in Germany
Die Texte der in diesem Werk verwendeten »Stichworte« sind den folgenden Bänden
der bei Springer Spektrum erscheinenden Reihe »50 Schlüsselideen« (englische
Originalausgabe bei Quercus, UK) entnommen:
Adrian Furnham, 50 Schlüsselideen Psychologie (ISBN 978-3-8274-2378-8), Moheb
Costandi, 50 Schlüsselideen Hirnforschung (978-3-662-44190-9), Richard Watson,
50 Schlüsselideen der Zukunft (978-3-642-40743-7), Ben Dupré, 50 Schlüsselideen
Philosophie (978-3-8274-2394-8), Peter Stanford, 50 Schlüsselideen Religion (9783-8274-2638-3), Mark Henderson, 50 Schlüsselideen Genetik (978-3-8274-2380-1),
Edmund Conway, 50 Schlüsselideen Wirtschaftswissenschaft (978-3-8274-2634-5).
Vorwort
Impressum
Sie sind in die tiefsten Ozeangräben hinabgetaucht
und haben die höchsten Berge bezwungen. Forscher
haben Urwälder erobert und Wüsten durchquert. Sie
haben Atome gespalten. Sie haben die Welt mit immer
größeren Maschinen in immer kleinere Bausteine
zerlegt. Sie haben das Erbgut des Menschen entziffert
und können heute mühelos in unseren Genomen lesen
– auch wenn sie noch nicht jeden Teil der Lektüre
verstehen.
Das vielleicht letzte große Rätsel der Wissenschaft ist
das Phänomen, das wir »Ich« nennen. Über Jahrhunderte war die Frage nach diesem Ich das exklusive
Terrain für philosophische Gedankengänge. Heute
streiten sich Hirnforscher mit Programmierern,
Psychologen mit Neuroanatomen, Physiker mit
Medizinern über die Frage, was unser Bewusstsein
ausmacht. Was meinen wir eigentlich, wenn wir von
»Bewusstsein« sprechen? Wie entsteht es? Und kann
man es überhaupt erforschen? Schließlich ist das
Ich naturgemäß höchst subjektiv. Aber auch höchst
bedeutsam.
Darum mischt bei der Ich-Suche längst die große
Politik mit. US-Präsident George W. Bush hatte schon
1990 eine »decade of the brain« ausgerufen und Milliarden Dollar in die Forschung gesteckt. Die amerikanisch zweckoptimistische Hoffnung, zur Jahrtausend-
Vorwort
5
wende seien alle Fragen zur Entstehung des Bewusstseins
beantwortet, hat sich nicht erfüllt. Für die Forscher ein
Glück: Sie haben noch genug Arbeit vor sich. Und sie
planen dabei in immer größeren Dimensionen: Die EU
will mit einer Milliarde Euro ein Gehirn im Computer
nachbauen lassen – ein höchst umstrittenes Simulationsprojekt mit offenem Ausgang.
heimer und andere Demenzerkrankungen. Doch
gerade sie zeigen: Bewusstseinsforschung ist nicht nur
ein intellektuelles Abenteuer, sie ist keine Spielwiese
der Wissenschaft. Ihre Ergebnisse prägen unser Bild
von unserem Ich und ihre Einsichten künftig vielleicht
auch unseren Alltag, mit neuen Ansätzen im Kampf
gegen Sucht und Depression zum Beispiel.
Bewusstseinsforschung ist ein großes Abenteuer – und
ein prestigeträchtiges dazu. Denn noch ist die Frage
völlig offen, ob sich das Rätsel des Geistes jemals lösen
lassen wird. Können wir mit der Arbeit unseres Gehirns
unser Gehirn erklären? Viele Forscher haben eine eigene
Theorie dazu – und manche glauben nicht, dass die
Wissenschaft je eine Lösung finden wird.
Neben wichtigen praktischen Antworten aber liefert
moderne Hirnforschung vor allem eines – eine neue
Herangehensweise an die ganz großen Fragen: Wer
sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
Bei ihrer Suche aber haben die Forscher Faszinierendes
über unser Gehirn herausgefunden. Seine Leistung übertrifft die eines jeden Computers. Seine Architektur ist in
Jahrmillionen der Evolution zu ungeheurer Komplexität
herangewachsen. Dabei ist es unfassbar anpassungsfähig
geblieben. Es verändert sich mit jedem Gedanken. Und
bleibt sich dabei doch erstaunlich treu.
Es ist aber auch ein verletzliches Organ – jedes Jahr
durchlebt ein Drittel der Menschen ein psychisch bedingtes Leiden. Auf der Suche nach geeigneten Therapien wie bei der Erforschung der Grenzzustände unseres
Geistes lernen die Wissenschaftler oft Überraschendes
über die Funktionsweise des Zentralorgans in unserem
Kopf.
Bei ihrer Suche aber haben die Forscher Faszinierendes
über unser Gehirn herausgefunden. Sie haben das
Feuern der Neuronen entschlüsselt. Sie haben die Botenstoffe analysiert, die Furcht oder Vertrauen, Stress
oder Hochgefühl auslösen. Sie haben Schaltpläne der
Sinnesverarbeitung gezeichnet. Und sie sind doch noch
immer voller Ehrfurcht angesichts dieses einzigartigen
Organs: Seine Leistung übertrifft jeden Computer.
Seine Architektur ist in Jahrmillionen der Evolution
zu ungeheurer Komplexität herangewachsen. Dabei ist
es unfassbar anpassungsfähig geblieben. Es verändert
sich mit jedem Gedanken. Und bleibt sich dabei doch
erstaunlich treu.
Hamburg und Heidelberg
März 2015
Andreas Sentker
und Frank Wigger
Sie haben die Traumdeutung der Herrschaft der Psychoanalyse entrissen und zum Feld der Hirnforschung
werden lassen. Die Mediziner liefern mit ihren immer
leistungsfähigeren Tomografen faszinierende Einblicke
in das denkende Gehirn – im Wortsinn tief gehende
Einsichten für die Grundlagenforschung.
Wie sehr das Ich vom Funktionieren unseres Gehirns
abhängt, merken wir, wenn dieses Ich zerfällt. Noch
immer hat die Forschung keine Therapie gegen Alz-
6
Vorwort 7
Kapitel
1. Wunderwerk Gehirn
16–74
2.Grenzzustände
76-113
3. Die Sinne
114–157
4.Das erkrankte Gehirn
158–209
5.Das alternde Gehirn
210–244
Kapitel-Übersicht
9
Inhalt
1.Wunderwerk Gehirn
Im Labyrinth des Denkens
17
In Lausanne suchen Forscher auf vielen Wegen nach Antworten.
Stichwort: Phrenologie
25
Ich bin zwei
30
Unser Gehirn führt ein Doppelleben.
Sind die Gedanken noch frei?
39
Hirnforscher erkennen unsere geheimen Absichten.
Alle für einen!
49
Der Drang zum Miteinander ist tief in unserem Gehirn verankert.
Bauteile für die Seele
54
Ist der Geist bloß Biologie?
Die Zellen des Anstoßes
61
Stichwort: Das Nervensystem
67
Die große Neuro-Show
71
Spiegelneuronen sollen Basis sein für Mitgefühl, Kultur und Sprache.
Was wurde aus den Verheißungen der Hirnforschung?
2.Grenzzustände
des Gehirns
Jenseits von Gut und Böse77
Sind wir für unser Verhalten im Schlaf verantwortlich?
Sehnsucht nach Schlaf
83
Unser hektischer Alltag erzeugt chronischen Schlafmangel.
Stichwort: Vielleicht auch träumen
88
Die Dramaturgie der Nacht
93
Im Schlaf räumt das Gehirn auf und festigt Erinnerungen.
Leerlauf im Kopf
100
Stichwort: Bewusstseinsstörungen
104
Das Ringen um Worte
108
Was tut unser Gehirn, wenn wir nichts Bestimmtes tun?
Ein Unfall verwandelte Erik Ramsey in eine lebende Statue.
Inhalt
11
3.Die Sinne
Auf den Geschmack gekommen115
Riechen und Schmecken gelten als niedere Sinne.
Stichwort: Sensorische Wahrnehmung
125
Tote Nase
129
Der Mensch verlernt das Riechen.
Trau den Augen nicht
132
Stichwort: Optische Täuschungen
137
Der sechste Sinn
142
Michael Bach erforscht seltene Augenleiden.
Alle haben ihn, kaum jemand kennt ihn: Den Körpersinn.
So klingt das Leben
147
Musik kann trösten und glücklich machen.
Volle Dröhnung
Mit allen möglichen Tricks wird um die Aufmerksamkeit der Hörer geworben.
154
4.Das erkrankte
Gehirn
Immer auf der Kippe159
Zwischen Neurose und Psychose, zwischen Angst und
Wahn spielt sich das Leben von Borderlinern ab.
Stichwort: Illusion und Realität: Wahn
164
Ohnmächtig im Strudel negativer Gedanken
169
Keine psychische Erkrankung ist so häufig wie die Depression.
Mitten ins Leben
172
Psychisch kranke Menschen haben es schwer, Arbeit zu finden.
Stichwort: Nicht neurotisch, nur anders
177
Auf der Suche nach der gesunden Mitte
182
Schau mir in die Augen
186
Menschen, die an einer Bipolaren Störung leiden, leben in den Extremen.
Autisten nehmen ihre Umwelt als eine Flut von Details wahr.
Wahnsinns-Typen192
Wie gestört muss man sein, um Besonderes zu leisten?
12
Inhalt 13
Coach oder Couch203
5.Das alternde
Gehirn
Über seelische Leiden wird so offen geredet wie nie.
Ist Alzheimer angeboren?211
Eine Hypothese zur Ursache des Hirnleidens.
Stichwort: Das alternde Gehirn
218
Damit die Würde bleibt222
Die Diagnose Alzheimer löst oft Horrorvorstellungen aus.
Im Dorf des Vergessens229
Im niederländischen De Hogeweyk genießen Menschen
mit Demenz maximale Freiheit.
Stichwort: Neurodegeneration
235
Drück mich!239
In Japan ist der Kuschel-Roboter »Paro« bei alten Menschen beliebt.
Anhang
Autorenverzeichnis247
Bildnachweis251
14
Inhalt 15
1.
Wunderwerk
Gehirn
Wird die Wissenschaft die Funktionsweise des menschlichen Gehirns
dereinst vollständig verstanden
haben, das komplexe Zusammenspiel von mehr als 100 Milliarden
Nervenzellen? Forscher bauen Hirnstrukturen im Computer nach, suchen nach
Aktivitätsmustern im Kopf. Sie fahnden
nach der Basis von Mitmenschlichkeit und
sammeln immer mehr Daten. Doch mit
jeder Antwort stoßen sie auf neue Fragen.
Bleibt am Ende ein großes Rätsel?
16
Die Welt im Kopf
Im Labyrinth des Denkens
Wie erschaffen 100 Milliarden Nervenzellen in unserem Kopf Geist
und Bewusstsein? In Lausanne suchen Forscher auf vielen Wegen nach
Antworten. Sie bauen das Gehirn künstlich nach und lassen die Seele
aus dem Körper fahren
Willkommen im Heimkino des Blue Brain Project in Lausanne! Was auf der Leinwand sichtbar wird, ist der faszinierende Versuch, das Innenleben des Gehirns
dreidimensional erlebbar zu machen. Denn die bunt gefärbten Nervenzellen und
-fasern entstammen allesamt dem Rechner. Einer der größten Supercomputer der
Welt simuliert die Neuronen und ihr Zusammenwirken mit nie da gewesener Detailtreue. Mit Hilfe einer 3-D-Brille kann man sich in das Zellgespinst hineinversetzen und staunend durch ein Gebilde schier unentwirrbarer Komplexität reisen,
in dem doch alles seinen Platz hat und auf geheimnisvolle Weise zusammenwirkt.
Derzeit besteht das künstliche Hirngewebe aus 10 000 Nervenzellen. Doch
das ist nur der Anfang. Irgendwann sollen in der Blue-Brain-Simulation 100 Milliarden Neuronen zusammengefügt werden – zu einer vollständigen Kopie eines
menschlichen Gehirns! Sind die Neurowissenschaftler am Genfer See vielleicht
größenwahnsinnig?
»Das hier ist kein Frankenstein-Projekt«, stellt Henry Markram als Erstes
klar. Der ruhig und zurückhaltend wirkende Südafrikaner sitzt in Jeans und
Pullover in seinem Universitätsbüro und ist auf Journalisten nicht allzu gut zu
sprechen. Seit er im Jahre 2005 das Blue Brain Project gestartet hat, musste er
immer wieder reißerische Artikel über sein Kunsthirn lesen, mit dem er angeblich
das Rätsel des Bewusstseins lösen oder die menschliche Seele in eine Maschine
verpflanzen wolle. Alles Quatsch, meint der Hirnforscher. »Es geht uns nicht
um Künstliche Intelligenz, sondern um ein besseres Verständnis«, erklärt Markram. »Wir wollen ein realistisches Modell des Gehirns erzeugen, in das wir alle
bekannten Forschungsergebnisse integrieren. Wenn das gelingt, haben wir ein
fantastisches Werkzeug. Wir können zum Beispiel die Wirkung von Medikamenten im Hirn punktgenau simulieren.«
In der Tat, wenn das gelänge, wäre dies eine Revolution und Markram
so etwas wie der Einstein der Hirnforschung. Denn trotz eines gigantischen
Wunderwerk Gehirn
17
Forschungsaufwandes – jedes Jahr werden etwa 35 000 neurowissenschaftliche
Arbeiten veröffentlicht – fehlt noch immer ein umfassendes Modell des Gehirns.
Zwar wurde das honigmelonengroße Organ in den vergangenen Jahrzehnten
immer genauer seziert; man hat bestimmte Denktätigkeiten einzelnen Hirnarealen zugeordnet, deren Morphologie studiert und die elektrische Aktivität der
grauweißen Schwabbelmasse analysiert, bis hinunter zur Reizleitung einzelner
Zellen. Doch all das, was unsere menschliche Einzigartigkeit ausmacht, schien
sich dabei unter dem Mikroskop gleichsam in Luft aufzulösen. Und die entscheidenden Fragen sind noch immer ungeklärt: Wie bringt das Nervengeflecht in
unserem Kopf Gedanken hervor, auf welche Weise führt das Neuronenfeuer zu
so etwas wie Bewusstsein, kurz: Wie entsteht aus Materie Geist?
Kann man das Hirn simulieren? Nicht wenige halten die Idee für spinnert
Wer Antworten auf solche Fragen sucht, findet derzeit kaum einen geeigneteren
Ort als die École Poly­tech­nique Fédérale de Lausanne (EPFL). Hier ist nicht nur
das Blue Brain beheimatet, sondern auch das Labor für kognitive Neurowissenschaft, das mit der Erforschung seltsamer Bewusstseinsphänomene Schlagzeilen
macht: Hier geht es um Spiegelhalluzinationen, Doppelgängerphänomene oder
out of body-Erlebnisse, bei denen sich die Seele regelrecht vom Körper zu lösen
scheint. Solche »außerkörperlichen« Erfahrungen treten manchmal in Todesnähe
auf und werden gerne mit religiösen oder esoterischen Vorstellungen in Zusammenhang gebracht. Im Labor für kognitive Neurowissenschaft dagegen werden
sie fast schon routinemäßig erzeugt.
Wer also die hundert Meter zurücklegt, die die beiden Labors in Lausanne
trennen, durchmisst das gesamte Spektrum der modernen Hirnforschung, von
der Anatomie einzelner Neuronen bis zur Frage, wie aus ihrem Zusammenwirken
am Ende Geist und (Selbst-)Bewusstsein entstehen. Und er lernt zwei sehr gegensätzliche Zugänge zum Gehirn kennen: zum einen die Analyse merkwürdiger
Bewusstseinszustände, aus denen man sozusagen top-down auf die Funk­tions­wei­
se des Gehirns rückschließt; zum anderen den kühnen Versuch, das Denkorgan
bottom-up aus seinen Einzelteilen wieder zusammenzusetzen.
Dass solche ungewöhnlichen Experimente an einer kleinen, idyllisch gelegenen
Schweizer Hochschule stattfinden, liegt daran, dass die EPFL nicht unter dem Ballast
der Traditionen leidet. Erst vor sechs Jahren hat die École Polytechnique, die sich als
»eine der innovativsten Universitäten in Europa« lobt, eine neue Fakultät für Lebenswissenschaften aus der Taufe gehoben. Und die Forscher, die hier in moderne Labors
einzogen, von deren Fenstern aus man den Schnee auf den Gipfeln der französischen
Alpen sieht, konnten von Anfang an visionäre Ideen in Angriff nehmen, ohne sich
groß um Traditionen oder die Bedenken alteingesessener Kollegen scheren zu müssen.
Henry Markram kam 2002 vom Weizmann-Institut in Israel, weil er die
Chance sah, endlich seinen Traum vom Kunsthirn zu verwirklichen, den er seit
18
Die Welt im Kopf
Jahren mit sich herumtrug. »Ich hatte damals auch Angebote von Eliteuniversitäten in den USA«, erzählt der 45-Jährige, »aber ich stellte fest, dass ich dort
meine Zeit mit dem Schreiben von Forschungsanträgen hätte zubringen müssen.«
In Lausanne dagegen war die Hochschulleitung mutig genug, das Blue Brain
Project von Anfang an finanziell zu unterstützen – ohne genau zu wissen, wohin
es am Ende führen würde.
Die Meinungen der Fachwelt über das Experiment sind bis heute geteilt.
Nicht wenige Wissenschaftler halten schon allein die Idee, das Hirn nachbauen zu wollen, für spinnert. Hat nicht die Geschichte der Hirnforschung genug
Bescheidenheit gelehrt? Ist nicht mit jeder neuen Untersuchungsmethode eine
Euphorie ausgebrochen, die ebenso schnell wieder verflog? Über die Phrenologen,
die Ende des 18. Jahrhunderts postulierten, man könne an der Form der
Schädelknochen den menschlichen Charakter ablesen, lachen wir heute nur
noch. Als hundert Jahre später Camillo Golgi und Ramón y Cajal mit einer speziellen Färbetechnik erstmals die Neuronen und ihre Verbindungen (Sy­nap­sen)
sichtbar machten, glaubte man, endlich den Schlüssel zum Gehirn gefunden zu
haben. Auch der junge Sigmund Freud hoffte damals, in dem grauweißen Nervengeflecht den Schlüssel zum menschlichen Seelenleben zu finden – vergebens.
Wiederum hundert Jahre später führte der Boom der bildgebenden Verfahren –
Computer-, Kernspin- und Positronenemissionstomografie – zu neuer Euphorie.
Der amerikanische Präsident rief die 1990er Jahre zur decade of the brain aus,
Forscher gaben ihren Büchern großspurige Titel wie Was die Seele wirklich ist,
und es schien, als sei das jahrhundertealte Leib-Seele-Problem schon so gut wie
gelöst. Doch inzwischen macht sich von Neuem Ernüchterung breit. Die bunten
Bilder aus dem Kernspintomografen zeigen eben doch nur den Blutfluss im Gehirn und nicht das Denken selbst. Und prominente Vertreter der Zunft wie Wolf
Singer stellen selbstkritisch fest, »dass wir heute weniger wissen, wie das Gehirn
funktioniert, als wir vor zwanzig, dreißig Jahren zu wissen glaubten«.
Ein dreidimensionales Puzzle mit 30 Millionen Verbindungsstellen
Und da will Henry Markram nun das Rätsel fast im Alleingang lösen? »Ich verstehe die Skepsis«, sagt der Neurobiologe. »Aber für mich lautet die Frage nicht:
Ist es möglich, das Gehirn nachzubauen? Sondern: Was braucht man, damit es
möglich wird?« Das Blue Brain Project soll genau diese Frage beantworten.
Der eingangs gezeigte Film, die Reise durch den bunten Nerven-Tropenwald, ist die Frucht von fünfzehn Jahren harter Arbeit. So lange hat Markram
Daten gesammelt, hat bei dem deutschen Nobelpreis­träger Bert Sakmann in Heidelberg gelernt, wie man in Rattenhirnen einzelne Nervenzellen untersucht und
wie man ihre Kommunikation abhört. »Heute haben wir eine riesige Datenbank
mit über 10 000 recordings von Zellen, mit Hunderttausenden Kommunikationsmustern, mit Studien zur Genexpression und so weiter«, erzählt Markram,
Wunderwerk Gehirn
19
und man hat den Eindruck, er kenne jede Nervenzelle persönlich. Stundenlang
kann er über ihre biologischen, elektrischen, chemischen oder magnetischen
Eigenschaften reden, und es wird klar, dass Neuronen keine amorphe Masse sind,
sondern höchst individuelle Gebilde, so einzigartig wie Fingerabdrücke oder
Gesichter. »Und genau aus dieser Diversität und Komplexität entsteht die Macht
des Gehirns«, sagt Markram.
Dessen Leistungsfähigkeit illustriert der Neu­ro­bio­lo­ge anhand eines einfachen Vergleichs: »Wollte man versuchen, einen Computer mit der Rechenkapazität des Gehirns zu bauen, würde der Tausende von Gigawatt brauchen und
Milliarden Dollar kosten – in unserem Kopf schafft das eine drei Pfund schwere
Masse, die auf 60 Watt läuft.« Der Unterschied zwischen ­Supercomputern und
Gehirn besteht in der biologi­schen Struktur. Über Trillionen von Synapsen tauschen die Neuronen permanent elektrische und chemische Informationen aus,
arbeiten also zugleich analog und digital. »Wenn wir verstehen, wie das genau
funk­tio­niert, wird das unsere gesamte Informationstechnik revolutionieren«, prophezeit Markram.
Noch ist es nicht so weit. Aber das Blue Brain Project läuft ja auch erst seit
zweieinhalb Jahren. Und immerhin hat Markram nun bewiesen, dass sein Ansatz zumindest im Prinzip funktionieren kann: Indem er alle bekannten Daten
über die Funktionsweise der Neuronen seinem BlueGene/L-Computer fütterte,
errechnete dieser daraus den Aufbau der kleinsten Grundeinheit eines Gehirns,
einer »kortikalen Säule«. »Wir mussten dazu quasi ein dreidimensionales ­Puz­zle
mit 30 Millionen Verbindungsstellen zusammensetzen«, erzählt Markram nicht
ohne Stolz.
Seit Ende vergangenen Jahres pulsieren die 10 000 zusammengeschalteten
(Ratten-)Neuronen im Rechner. Das blinkende Nervengeflecht lässt sich nicht nur
in beeindruckenden Filmen sichtbar machen; auf Knopfdruck können die Hirnforscher auch jede einzelne Zelle ansteuern, ihren Signalaustausch mit anderen
Neuronen beobachten oder simulieren, was bei einer Störung des Systems geschieht.
Nun müsste man nur eine Vielzahl solcher Bausteine zusammenfügen,
dieselben Schritte beim Menschen nachvollziehen – voilà, fertig wäre das Gehirn. Es gibt lediglich ein Problem: Die Lausanner Forscher brauchten dazu einen
Supercomputer völlig neuen Typs, der einige Hundert Millionen Dollar kosten
würde. »Leider ist es extrem schwer, visionäre Investoren zu finden«, berichtet
Markram. Ständig halte er Vorträge vor Milliardären, immer seien sie interessiert
– »aber am Ende investieren sie dann doch lieber in Aktien oder Hedgefonds«.
Mit ganz anderen Herausforderungen zu kämpfen hat hundert Meter weiter Olaf Blanke. Der Leiter des Labors für kognitive Neurowissenschaft braucht
für seine Forschungen keine Supercomputer, sondern geeignete Pa­tien­ten und
Probanden. Denn er untersucht, was die 100 Milliarden Neuronen am Ende hervorbringen: (Selbst-)Bewusstsein. Täglich erlebt Blanke, der auch als Oberarzt
20
Die Welt im Kopf
Den Vorwurf, er wolle eine Maschine mit Bewusstsein bauen, weist der Südafrikaner
Henry Markram weit von sich. Ihm geht es um das grundlegende Verständnis des Gehirns.
am Universitätsklinikum Genf tätig ist, »wie selbst kleine Störungen im Hirn
einen Menschen tiefgreifend verändern«.
Wenn der schlaksige Deutsche beim Mittagessen anfängt, begeistert von
seinen Fallgeschichten zu erzählen, fühlt man sich an die fantastischen Storys des
Neurologen Oliver Sacks erinnert. Da wäre etwa jener Patient, der durch einen
Hirn­infarkt das »Gourmand-Syndrom« entwickelte: Eine Läsion im präfrontalen
Kortex weckte in dem Manne eine unwiderstehliche Lust auf edles Essen und
erlesene Kochkünste; am Ende kündigte der Jurist seinen Job und arbeitete als
Genussexperte für Zeitschriften.
Ein anderer Fall machte Blanke 2002 weltberühmt. Damals untersuchte
der Neurologe eine Epilepsie-Patientin, der er zur Vorbereitung auf eine Operation winzige Elektroden ins Gehirn gepflanzt hatte. Als Blanke damit eine spezielle
Hirnregion namens Angular Gyrus reizte, geschah Unerwartetes: Plötzlich, so berichtete die 43-jährige Frau, hatte sie das Gefühl, ihren Körper zu verlassen. »Ich
Wunderwerk Gehirn
21
fühle mich leicht und schwebe in
etwa zwei Meter Höhe. Unten
sehe ich meinen Körper auf dem
Bett liegen«, sagte die Pa­tien­tin.
Als der Arzt die Elektrode de­
aktivierte, hörte das Phänomen
schlagartig auf, als er den Stromfluss wieder einschaltete, meinte
die Patien­tin prompt wieder abzuheben. Banke hatte, ohne es
zu wollen, eine out of body-Erfahrung ausgelöst.
Jahrhundertelang
galten
solche Erlebnisse als Hinweis
auf die Existenz einer Seele. Zugleich schienen sie ein schlagender Beweis für den sogenannten
Dualismus, demzufolge Körper
und Geist getrennte Phänomene
sind. Res extensa und res cogitans
hieß das bei René Descartes
– niemand hat die Trennung
zwischen der »ausgedehnten
Für den Neurowissenschaftler Olaf Blanke
Körpersubstanz« und der »ausist das Selbst untrennbar mit dem Gehirn verdehnungslosen denkenden Subbunden. Er prüft diese These mit erstaunlichen
stanz« deutlicher formuliert als
Experimenten.
der französische Philosoph. Und
als er 1637 sein berühmtes »Cogito ergo sum« (»Ich denke, also
bin ich«) niederschrieb, ging es
ihm auch darum, »dass ich eine Sub­stanz sei, deren ganze Wesenheit oder Natur
bloß im Denken bestehe und die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe
noch von einem materiellen Dinge abhänge, sodass dieses Ich, das heißt die Seele
(...), auch ohne Körper nicht aufhören werde, alles zu sein, was sie ist«.
Olaf Blanke sieht das heute völlig anders. Für ihn – wie für die meisten
Neurowissenschaftler – ist das »Selbst« ebenso wie das Körpergefühl untrennbar
mit dem Gehirn verbunden. Wer will, kann das in seinem Labor selbst erleben.
»Bitte hier herein«, sagt Bigna Lenggenhager, und führt mich in einen abgedunkelten Raum, in dem ein merkwürdiger Glaskasten steht. Beim Nähertreten sieht
man da­rin eine hautfarbene Gummihand liegen, deren Arm­ansatz unter einem
schwarzen Vorhang verschwindet. »Und nun Ihre Hand da hinein«, kommandiert die 27-jährige Doktorandin freundlich-resolut, und mein Arm verschwindet
22
Die Welt im Kopf
in dem Kasten. Lenggenhager schiebt meine Hand zur Seite unter eine Sichtblende – sodass von außen plötzlich der Eindruck entsteht, mein Arm sei nun mit
der Gummihand verbunden. Dann greift die junge Forscherin zu zwei kleinen
Pinseln und beginnt, gleichzeitig meine unsichtbare Hand und die sichtbaren
Gummifinger zu streicheln. Ein merkwürdiger Eindruck entsteht: Während ich
die Berührung an den eigenen Fingern spüre, sehe ich sie an der Attrappe. Allmählich scheint das hautfarbene Gummiding ein Teil meines Körpers zu werden.
Man meint geradezu, ein Gefühl in den Gummifingern zu entwickeln – und
spürt ein schmerzhaftes Erschrecken, wenn plötzlich ein Hammer darauf niedersaust.
»Überrascht?«, fragt Blanke lächelnd. »Diese Sinnestäuschung ist ganz normal.« Sie belegt nichts anderes, als dass unser Körpergefühl eine Repräsentation
des Gehirns ist. »Das Gehirn konstruiert aus allen Inputs, die es bekommt, ein
möglichst konsistentes Bild des Körpers und des Selbst – und optische Reize
haben dabei offenbar ein sehr großes Gewicht.« Wird das Gehirn also mit widersprüchlichen Informationen konfrontiert – Berührungsreizen an der Hand und
konkurrierende visuelle Rückmeldungen von der Gummihand –, bemüht es sich
um einen diplomatischen Ausgleich und kann kurzerhand einen fremden Gegenstand in den Körper integrieren und als Selbst attribuieren.
Descartes’ »Cogito ergo sum« ist passé. In Lausanne heißt es
»Video ergo sum«
Klingt unglaublich? Blanke hat noch mehr zu bieten. Seit Neuestem versucht
er, die Gummihand-Illusion dank virtueller Realität auf den ganzen Körper
auszudehnen. Wir gehen in einen Laborraum, in dem ein Stativ mit einer Vi­
deo­kame­ra steht. Blanke positioniert mich vor der Kamera und reicht mir eine
spezielle Videobrille, in der ich – mich selbst von hinten sehe. Denn die Kamera
filmt meinen Rücken und überträgt genau dieses Bild auf die Brille. Wieder greift
Lenggenhager zu ihren Pinseln und streicht damit über meinen Rücken. Ähnlich
wie im Gummihand-Experiment spüre ich die Berührung am eigenen Rücken,
während ich sie im Abstand von zwei Metern vor mir sehe. Und alsbald stellt sich
wiederum die Wahrnehmungsverschiebung ein: Mehr und mehr meine ich ein
Gefühl in dem virtuellen Körper vor mir zu entwickeln. Bei anderen Probanden
war dieser Effekt offenbar so stark, dass sie geradewegs aus ihrer Haut zu fahren
meinten.
Video ergo sum – so war der Bericht über dieses Experiment im Fachblatt
Science betitelt. Blanke arbeitete dabei mit dem Philosophen Thomas Metzinger
zusammen, der schon länger die These vertritt, das »Selbst« sei nichts anderes
als eine Repräsentation des Gehirns. Es entsteht Metzinger zufolge aus all den
inneren und äußeren Ein­drücken, die das Gehirn zu einem Modell der Innenund der Außenwelt zusammenfügt. Blankes Ex­pe­ri­mente zeigen beispielhaft, wie
Wunderwerk Gehirn
23
fragil diese Modellbildung ist, wie sehr sich sogar unser (scheinbar so selbstverständliches) Körperempfinden manipulieren lässt – und welche Rolle dabei die
Arbeitsweise des Gehirns spielt. Als Nächstes will Blanke nun mithilfe einer Kombination von virtueller Realität und bildgebenden Verfahren jene Hirnareale und
-prozesse detailliert beschreiben, die solche Selbst-Repräsentationen erzeugen.
Anders als die Dualisten meinten, gibt es im Gehirn eben keine übergeordnete In­stanz, die ein »Ich« oder »Selbst« hervorbringt. Stattdessen beschreiben
Neurowissenschaftler das Gehirn heute gerne als »Orchester ohne Dirigent«:
Niemand führt hier das Kommando, aber jede Einheit weiß, wie sie auf einen
bestimmten Stimulus reagieren muss. Wird zum Beispiel die Amygdala aktiviert,
eine Region, die für Furcht und Aggression zuständig ist, dann wird dieser Stimulus an den Hypothalamus weitergegeben, an den Hirnstamm und weiter bis
zum Rest des Körpers. Man wird bleich, das Herz rast, die ganze Physiologie
ändert sich. All diese Änderungen wiederum werden sehr genau vom Gehirn registriert – es entsteht ein »Gefühl«. Und am Ende konstruieren Tausende solcher
Kreisläufe das, was wir Realität nennen.
Das ist übrigens auch der Grund, weshalb Henry Markram auf einen Erfolg
seines Blue Brain Project hoffen kann. Gerade weil Gehirn, Körper und Bewusstsein sich nicht voneinander trennen lassen, kann man versuchen, dieses Wechselspiel künstlich nachzuformen. Ähnlich wie Olaf Blanke wurde dabei auch dem
Blue-Brain-Chef im Laufe seiner Forschungsarbeit immer mehr klar, wie verletzlich und manipulierbar das menschliche Denkorgan ist: »Jeder äußere Reiz,
jede Wahrnehmung, jeder Gedanke beeinflusst das Gehirn.« Je mehr ihm das
bewusst geworden sei, umso größer sei sein Respekt davor geworden, meint Markram: »Das Gehirn verändert sich ständig – und es hängt von unserem Verhalten
ab, in welcher Weise es das tut.«
von Ulrich Schnabel aus der ZEIT Nr. 15/2008
24
Die Welt im Kopf
Stichwort
Phrenologie
Die Phrenologie basiert auf einer einfachen Idee, die heute wieder aktuell ist:
Das Gehirn sei das »Organ des Geistes«
und so strukturiert, dass seine verschiedenen Teile für unterschiedliche Funktionen verantwortlich seien.
Darum würden verschiedene Teile des
Gehirns, die durch die Form des Kopfes
reflektiert würden, unterschiedliche Fähigkeiten steuern. Doch die Phrenologen
glaubten, dass erstens die Größe der
einer bestimmten Funktion »zugeordneten« Hirnregion der »Wichtigkeit«
dieser geistigen Fähigkeit entspreche;
dass zweitens die Kraniometrie (Schädelvermessung) die Form des Gehirns und
daher alle Fähigkeiten des Menschen
erfassen könne; und dass drittens sowohl
moralische als auch intellektuelle Fähigkeiten angeboren seien.
»Kein Physiologe, der
besonnen diese Frage
[die Richtigkeit der
Phrenologie] erwägt,
… kann lange der
Überzeugung
widerstehen, dass
verschiedene
Teile des Gehirns
unterschiedlichen
Arten geistiger Aktivität
dienen.«
Herbert Spencer, 1896
Geschichte Die Ursprünge der Phrenologie reichen mindestens bis zu den
alten Griechen, wahrscheinlich aber noch
länger zurück. Viele Praktiker waren von
jeher in erster Linie Physiognomiker –
Deuter der Natur anhand der Gestalt der
Dinge. Viele Bücher über Kunst und Wissenschaft, zumal im 17. und 18. Jahrhundert, enthielten Abbildungen, Silhouetten
und Zeichnungen, die physiognomische
Prinzipien veranschaulichten. Das System der Moderne wurde von Franz Gall
entwickelt, der 1819 eine entsprechende
Abhandlung veröffentlichte. Er glaubte,
Stichwort
25
die von ihm entworfene Gehirnkarte würde Bereiche des Gehirns, die er
Organe nannte, jeweils mit einer spezifischen Funktion, einer sogenannten Fakultas (aus dem Lateinischen, »Fähigkeit«, englisch faculty), verknüpfen.
Im Jahre 1896 veröffentlichten Sizer und Drayton ein Handbuch der
Phrenologie mit dem Titel Heads and Faces, and How to Study Them (»Köpfe
und Gesichter und wie man sie untersucht«). Es zeigte anhand von Illustrationen, wie man Idioten und Dichter, aber auch Menschen mit einem verbrecherischen oder moralischen Charakter erkennt. Für den modernen Leser ist
es eine irgendwo zwischen amüsant und grotesk angesiedelte Abhandlung.
Die Viktorianer nahmen die Phrenologie sehr ernst. Ihre Büsten,
Abgüsse, Journale, Greifzirkel und Apparaturen sind erhalten geblieben
– insbesondere die feinen Büsten aus weißem Porzellan, die auch heute noch von der London Phrenology Company hergestellt werden. Bei
Empfindungen und Neigungen
Ferner sind die Bereiche der Kopfoberfläche in acht Empfindungen und
Neigungen eingeteilt und folgendermaßen beschrieben worden:
•Die »häuslichen« (domestic) Neigungen und Eigenschaften haben
Mensch und Tier gemein; sie sind grundsätzlich verantwortlich für
Gefühle und instinktive Reaktionen auf Objekte und Ereignisse.
•Die »Selbstachtungs«- (self-regarding) Empfindungen sind zuständig für
Selbstinteresse und Ausdruck der Persönlichkeit.
•Die »wahrnehmenden« (perceptive) Fähigkeiten sind verantwortlich für
die Wahrnehmung der Umgebung.
• Aus den »künstlerischen« (artistic) Neigungen erwachsen Sensibilität
und Fertigkeit in Kunst und künstlerischem Schaffen.
•Die »semi-wahrnehmenden« (semi-perceptive) Fähigkeiten auf Gebieten
wie Literatur, Musik und Sprache sind verantwortlich für die Wür­digung
kultureller Errungenschaften.
•Die »reflektiven« (reflective), »schlussfolgernden« (reasoning) und
»intuitiven« (intuitive) Fähigkeiten sind zuständig für die entsprechenden
Denkweisen.
•Die »moralischen« (moral) Empfindungen, einschließlich religiöser
Gefühle, erheben den Charakter und geben ihm ein menschliches Antlitz.
•Die »eigennützigen« (selfish) Neigungen sorgen für die Bedürfnisse des
Menschen und helfen ihm, sich selbst zu schützen und
zu erhalten.
26
Die Welt im Kopf
den Viktorianern gab es phrenologische Operationen, Schulen, Speisen
und Ärzte. Voller Begeisterung vermaßen sie Köpfe: Die Kopfgröße war
gleichbedeutend mit Hirngröße, was wiederum Geisteskraft und Temperament bedeutet – so glaubte man zumindest. Der durchschnittliche
Mann hatte anscheinend einen Kopfumfang von 56 Zentimetern, eine
Frau etwa einen bis zwei Zentimeter weniger. Die Größe des Kopfes stand
in linearer Beziehung zur Größe des Gehirns und des Intellekts – es sei
denn, man hatte einen Wasserkopf. Doch die Form war noch wichtiger
als die Größe. Eine gute Kranioskopie konnte, so glaubte man, besondere
Begabungen aufdecken. Phrenologen stellten Diagnosen und trafen Vorhersagen über Motive, Fähigkeiten und Naturell. Kurzum, der Kopf war
die Manifestation des Geistes und die Seele eines Menschen.
Viktorianische Phrenologen betätigten sich als Talentsucher. Einige
führten länderübergreifende Vergleichsstudien durch und untersuchten
die Unterschiede zwischen Engländern und Franzosen. Phrenologen examinierten Skelette, etwa den Schädel und die Knochen des Erzbischofs
Thomas Beckett. Königin Victoria ließ ihre Kinder »lesen«, da Phrenologen sowohl Selbsterkenntnis als auch die Schlüssel zu geistigem, moralischem und beruflichem Erfolg versprachen.
Diverse Gruppen und Einzelpersonen waren die Fackelträger der
Phrenologie, darunter Nationalsozialisten und Kolonialisten, die anhand
phrenologischer Erkenntnisse die Überlegenheit bestimmter Gruppen
nachweisen wollten. Von dem so entstandenen Makel hat sich die Phrenologie nie wieder erholt.
Lesen des Kopfes Der Phrenologe beginnt das traditionelle »Lesen des
Kopfes«, indem er zunächst die allgemeine Form des Kopfes begutachtet.
Ein runder Kopf zeigt ihm ein starkes, selbstsicheres, mutiges, manchmal
ruheloses Wesen an. Ein eher kantiger Kopf offenbart dagegen eine
solide, zuverlässige Persönlichkeit, gedankentief und zielstrebig. Ein
breiterer Kopf deutet ihm einen energischen, extrovertierten Charakter
an, während ein schmalerer Kopf ein eher zurückgezogenes, introvertiertes Wesen vermuten lässt. Eine ovale Form ist das Kennzeichen des
Intellektuellen. Dann tastet der Phrenologe mit sanftem Druck den Schädel ab, um dessen Konturen zu erfassen. Er muss die individuelle Größe
einer jeden Fakultas messen sowie deren Ausgeprägtheit im Vergleich
zu anderen Partien des Kopfes. Da das Gehirn aus zwei Hemisphären
besteht, kann jede Fakultas dupliziert werden, und darum untersucht der
Phrenologe beide Seiten des Kopfes.
Eine Fakultas, die im Vergleich zu den anderen unterentwickelt ist,
zeigt eine schwache Ausprägung der jeweiligen Eigenschaft in der Persönlichkeit des Untersuchten an, während eine wohlentwickelte Fakultas
Stichwort
27
Unter Neurobiologen hat mittlerweile die Phrenologie
einen besseren Ruf als die Psychiatrie nach Freud,
da die Phrenologie in einer gewissen, primitiven Weise
ein Vorläufer der Elektroenzephalografie war.
Tom Wolfe, 1997
kundtut, dass diese Eigenschaft in erheblichem Maße vorhanden sei. Folglich zeigt ein kleines Organ für »Essneigung« (alimentiveness) einen eher
bescheidenen und pingeligen Esser an, eventuell einen Abstinenzler; ist
diese Fakultas dagegen wohlentwickelt, deutet sie auf einen Menschen
hin, der Essen und ein Glas Wein genießt; und falls sie überentwickelt ist,
hat man es mit einem Vielfraß zu tun, der womöglich auch exzessiv trinkt.
Der phrenologische Kopf hat über 40 Regionen, wobei es freilich
darauf ankommt, welche Liste oder welches System man heranzieht. Einige davon basieren auf ziemlich altmodischen Konzepten, etwa »Veneration« (Ehrerbietung), womit Respekt für die Gesellschaft, ihre Regeln
und Institutionen gemeint ist, »Mirthfulness« (Heiterkeit), also ein sonniges Gemüt und Sinn für Humor, und »Sublimity« (Erhabenheit), der Hang
zu grandiosen Ideen. Außerdem gibt es Kopfbereiche für »Amativeness«
(Sex-Appeal); »Philoprogenitiveness« (elterliche und kindliche Liebe);
»Alimentiveness« (Appetit, Liebe zum Essen); »Eventuality« (Gedächtnis); und »Inhabitiveness« (Häuslichkeit).
Kritik Trotz ihrer Popularität hat die etablierte Wissenschaft die Phrenologie stets als Mumpitz und Pseudowissenschaft abgetan. Die Idee, dass
ein Zusammenhang zwischen »Höckern« auf dem Kopf eines Menschen
und seiner Persönlichkeitsstruktur und moralischen Entwicklung bestehen könnte, wurde als unsinnig verworfen. Die Belege für diese Behauptung sind untersucht worden und haben sich als unzulänglich erwiesen.
Der Aufstieg der Neurowissenschaft hat gezeigt, wie viele der Behauptungen der Phrenologie betrügerisch sind. Andere populäre Mythen
über das Gehirn halten sich dagegen hartnäckig, etwa die Vorstellung,
dass wir im Alltag nur zehn Prozent unseres Gehirns tatsächlich nutzen
würden. Daneben gibt es Mythen über Gehirnenergie, Gehirn-Tuning und
28
Die Welt im Kopf
Gehirn-Stärkungswässerchen, die auch nicht glaubwürdiger sind als die
Phrenologie.
Gleichwohl bleiben einige Aspekte der Phrenologie, die auch heute
noch als relevant erscheinen. So weiß man zum Beispiel, dass die Größe
des Gehirns positiv korreliert mit Ergebnissen von Tests zur geistigen
Leistungsfähigkeit sowie innerhalb einer Art und über verschiedene
Arten hinweg. Man weiß auch, dass die Größe des Kopfes mit derjenigen des Gehirns korreliert. Tatsächlich zeigen Psychologen seit fast
100 Jahren, dass ein schwacher Zusammenhang zwischen Kopfgröße
(Länge und Breite) und IQ besteht. Gewichtet man allerdings diesen Zusammenhang entsprechend der Körpergröße, wird er noch schwächer
und verschwindet womöglich ganz. Mithilfe hochentwickelter Gehirn­
scan-Verfahren haben Wissenschaftler nach Belegen für eine Beziehung
zwischen Gehirngröße und IQ gesucht, aber auch hier waren die Ergebnisse nicht gerade eindeutig.
Mit Sicherheit haben neue Technologien den Wissensstand über
kognitive Neuropsychologie und Psychiatrie erweitert und das Interesse an diesen Disziplinen verstärkt. Man ist heute in der Lage, das Gehirn elektronisch und metabolisch zu vermessen. Aufgrund von Studien
sowohl mit Unfallopfern als auch mit »normalen« Menschen wird eine
detaillierte neue Karte des Gehirns aufgebaut, die zeigt, welche »Teile«
für welche Funktionen hauptsächlich verantwortlich sind. Freilich beruht
diese »Elektrophrenologie« auf wissenschaftlichen Experimenten und
steht in keinerlei Beziehung zu den alten, vorwissenschaftlichen, moralistischen Vorstellungen der Begründer der Phrenologie.
Adrian Furnham
Die Vorstellung, dass Höcker auf dem Schädel
mit über­ent­wickelten Bereichen des Gehirns
korrespondieren, ist natürlich Unsinn, und Galls Ruf
als Wissenschaftler hat durch seine Phrenologie
schweren Schaden genommen.
Robert Hogan und Robert Smither, 2001
Stichwort
29
Ich bin zwei
Unser Gehirn führt ein Doppelleben. Seine beiden Hälften verfolgen
unterschiedliche Interessen, glaubt der britische Psychiater
Iain McGilchrist. Das prägt unser Denken ebenso wie unsere Kultur
Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? – Der britische Psychiater Iain McGilchrist hat
auf die populärphilosophische Frage eine klare Antwort: Ich bin zwei. Zwei Persönlichkeiten leben in uns, hervorgebracht von den zwei Hälften unseres Gehirns.
Diese ergänzen sich ähnlich wie Sherlock Holmes und Dr. Watson, bringen mal
geniale Einsichten hervor, pflegen mal den Blick fürs unscheinbare Detail. Und
wenn McGilchrist recht hat, prägt diese Doppelnatur nicht nur unser Denken,
Fühlen und Wahrnehmen, sondern letztlich die ganze menschliche Kultur.
Was wie abstrakte Theorie klingt, wurde für Vicki P. auf drastische Weise
Wirklichkeit. Bei der Epilepsiepatientin wurde 1979 eine radikale Operation
durchgeführt: Um ihre schweren Anfälle einzudämmen, durchtrennten Chirurgen die Verbindung zwischen ihren beiden Gehirnhälften, das sogenannte
Corpus callosum. Die Anfälle nahmen ab. Dafür veränderte sich Vickis Alltag
dramatisch. Jeder Einkauf im Supermarkt wurde für sie zu einem Kampf – gegen
sich selbst. Wollte sie mit der rechten Hand etwas aus dem Regal nehmen, so
schilderte sie es in einem Interview, »griff die linke Hand ein, und dann rangen
sie miteinander«. Es dauerte Stunden, bis Vicki ihre Einkäufe beisammenhatte.
Ähnlich war es morgens beim Anziehen: Linke und rechte Hand konnten sich
partout nicht auf einen Kleidungsstil einigen.
Solche Patientengeschichten sind für Iain McGilchrist der schlagende
Beweis für seine ungewöhnliche These. »Man kann jeder Hirnhälfte eigene
Ansichten, Absichten, Ziele, Werte und Neigungen zuschreiben«, sagt der britische Psychiater. Deshalb könne es mitunter zum Konflikt kommen – sowohl
zwischen den beiden Hirnhemisphären als auch zwischen den beiden Händen,
die über Kreuz mit der jeweils gegenüberliegenden Hirnhälfte verbunden sind.
Am Maudsley Hospital in London, wo McGilchrist jahrelang praktizierte,
hat er viele Schicksale wie das von Vicki P. kennengelernt. Zum Beispiel
Menschen, denen ein Tumor oder ein Schlaganfall die rechte Hirnhemisphäre lahmlegte – und die daraufhin plötzlich ihre linke Körperhälfte nicht mehr
wahrnahmen und nur noch die rechte Seite kämmten, rasierten oder bekleideten.
Seither treibt Iain McGilchrist die Frage nach der Doppelnatur unseres
Gehirns um. Warum besteht es aus zwei Hälften? Und warum haben diese
Hemisphären so unterschiedliche Aufgaben, dass sie sich im Extremfall geradezu
30
Die Welt im Kopf
bekämpfen? Der britische Psychiater betritt mit solchen Fragen heikles Terrain.
Denn die Zweiteilung unseres Denkorgans war einmal ein Modethema der Hirnforschung – und wie so viele Moden wirkt diese heute etwas peinlich.
So postulierten einst Forscher, unser Denkorgan lasse sich in eine »analytische« linke und eine »gefühlvolle« rechte Hälfte trennen. Prompt pries der schwedische Autokonzern Volvo in einer Anzeige ein »Auto für die rechte Hirnhälfte«
an. Andere verstiegen sich zu der These, in den Hirnhemisphären spiegele sich die
Dualität der Welt, Verstand und Gefühl, männlich und weiblich, Yin und Yang.
Heute weiß man: Das meiste davon ist Quatsch. Es ist nicht so, dass unsere
rechte Hirnhälfte ausschließlich für Impulse und Gefühle zuständig wäre und
die linke für rationales Denken. Tatsächlich sind beide Hemisphären am Denken
und Fühlen beteiligt; sie tauschen sich aus, und fällt eine Hirnhälfte aus, kann
die andere zum Teil deren Aufgaben übernehmen. Von einer strikten Zweiteilung
des Gehirns spricht deshalb heute kaum noch jemand.
Doch eine schlüssige Theorie, warum das Gehirn aus zwei Hälften besteht,
fehlt noch immer. Zwar ist das Gehirn nicht das einzige Doppelorgan. Auch
Herz, Nieren, Lunge und Schilddrüse sind zweifach vorhanden. Beim Gehirn
allerdings ist die Zweiteilung besonders rätselhaft. Denn eigentlich ist das grundlegende Bauprinzip unseres Denkorgans die Konnektivität: die Maximierung der
Verbindungen zwischen rund 100 Milliarden Neuronen.
Ausgerechnet die beiden Hirnhälften aber sind vergleichsweise schlecht
miteinander verbunden. Die Brücke zwischen ihnen ist im Zuge der menschlichen Entwicklung sogar immer dünner geworden; das Corpus callosum ist –
relativ zum Hirnvolumen – im Laufe der Evo­lu­tion nicht gewachsen, sondern
geschrumpft. Und das Kurioseste: Mitunter dient der »Balken« zwischen den
Hirnhälften gar nicht der Verbundenheit, sondern der Hemmung. Eine Hirnhälfte kann über das Corpus callosum die Aktivität der anderen unterdrücken.
Es scheint, als hätten sich die beiden Hemisphären im Laufe der Evolution auseinandergelebt.
Weil das Gehirn in vielem so rätselhaft erscheint, beschreibt man es gern
in Metaphern. Die bis heute gängigste ist die Maschinenmetapher: Demnach
»verarbeitet« das Gehirn die von den Sinnen einströmenden »Daten« und generiert aus ihnen mentale und physische Handlungen. In diese Metapher passt die
Verdopplung wichtiger Hirnstrukturen wie etwa Hippocampus, Temporal- und
Frontallappen schlecht. Sie wäre vielleicht noch als Leistungssteigerung oder
Ausfallsicherung zu erklären – wenn sie denn eine einfache Verdopplung wäre.
Aber das Gehirn ist bei genauer Betrachtung asymmetrisch. Von oben gesehen,
erscheint es gegen den Uhrzeigersinn gedreht, wobei die vorderen Strukturen der
rechten Gehirnhälfte vergrößert sind und die hinteren der linken Hälfte. Zudem
unterscheiden sich die Hirnhälften in ihrer zellulären Architektur und in der
Konzentration der chemischen Botenstoffe, die sie steuern. Auch rein physiologisch haben sich die Hirnhälften auseinandergelebt.
Wunderwerk Gehirn
31
Corpus callosum
Das Corpus callosum, der Hirnbalken, verbindet die beiden Hemisphären des Großhirns.
Beim Menschen besteht diese Signalbrücke aus mehr als 200 Millionen Nervenfasern.
Deshalb schlägt Iain McGilchrist eine andere Metapher vor: Statt als Maschine beschreibt er unser Denkorgan als ein Team zweier individueller Charaktere, die im besten Falle zusammenarbeiten, mitunter aber auch unterschiedliche
Absichten verfolgen. Für gewöhnlich merke man davon nichts, sagt McGilchrist,
aber es zeige sich, wenn man eine Hirnhälfte experimentell isoliere. Dann werde
klar: »Sie kann selbstständig Bewusstsein hervorbringen.«
Das zeigte sich als Erstes bei »Split-Brain-Patienten«, bei denen – wie bei
Vicki P. – in den 1960er und 1970er Jahren die Verbindung zwischen den Hirnhälften gekappt wurde. Diese Patienten, so stellte sich heraus, konnten Worte
oft nicht erkennen, wenn sie ihnen nur in ihrem linken Gesichtsfeld präsentiert
wurden. In der zugehörigen rechten Hirnhälfte (die über Kreuz mit der linken
Körperseite verbunden ist) ist offenbar das Lese- und Sprachvermögen extrem
schwach ausgebildet. Dafür hat sie andere Fähigkeiten.
32
Die Welt im Kopf
In Experimenten legte man Split-Brain-Patienten zum Beispiel das Wort
»Schlüsselring« so vor, dass sie die eine Worthälfte nur mit dem linken, die andere
nur mit dem rechten Auge erkennen konnten. Wurden sie gebeten, es vorzulesen,
sagten sie einfach »Ring« – denn dieses Wort auf der rechten Seite konnte die
sprachbegabtere linke Hirnhälfte gut erkennen. Wurden sie dann allerdings gebeten, mit der linken Hand auf den entsprechenden Gegenstand zu zeigen, dann
deuteten sie auf einen Schlüssel – die rechte Hirnhälfte konnte das Objekt zwar
nicht benennen, aber erkennen.
Der amerikanische Hirnforscher Michael Gazzaniga, der viele solcher Versuche durchführte, hat die Ergebnisse dieser Forschung ausführlich in seinem Buch
Die Ich-Illusion beschrieben. Dabei kommt Gazzaniga zu ganz ähnlichen Schlüssen
wie McGilchrist. Auch er sieht im Gehirn zwei separate Module am Werk, die
einen unterschiedlichen Blick auf die Welt haben.
Das Gehirn ist sehr geschickt darin, seine Zweiteilung zu verbergen. Im
Normalfall arbeiten die beiden Hälften so gut zusammen, dass sie ein einheitliches Bewusstsein erzeugen. Nur in ausgeklügelten Versuchen treten die Brüche
zutage. In einem Experiment etwa gaben Forscher Versuchspersonen den Befehl,
ans Fenster zu gehen, präsentierten diesen Befehl aber so, dass ihn nur deren
jeweils rechte Hirnhälfte wahrnehmen konnte. Prompt folgten die meisten Probanden der Aufforderung. Nach dem Grund ihres Handelns gefragt, gaben sie
völlig aus der Luft gegriffene Erklärungen. Etwa: »Ich wollte aus dem Fenster
schauen, weil ich Lärm gehört habe.« Offenbar versucht in solchen Situationen
die sprachlich dominante linke Hirnhälfte (die den wahren Grund der Handlung
nicht kennt) eine schlüssig klingende Interpretation zu liefern – auch wenn diese
frei erfunden ist.
In seinem Buch The Master and His Emissary vergleicht Iain McGilchrist die
Beziehung zwischen den beiden Hirnhälften mit jener zwischen einem »Herrn«
und seinem »Gesandten«. Demnach gibt die rechte Hemisphäre als Herr die
Richtung vor, die sprachbegabtere linke Hälfte dagegen übernimmt es, dieses
Tun in Worte zu fassen. Die rechte Hemisphäre sieht eher das große Ganze, die
linke liefert Begründungen dafür und beherrscht die Konzentration aufs Detail.
Warum diese Art der Arbeitsteilung sinnvoll ist, beschreibt McGilchrist am
Beispiel eines Vogels, der ein Nest baut. Einerseits muss er sich darauf konzentrieren, akribisch Zweige ineinanderzuflechten. Gleichzeitig muss er offen bleiben
für Unerwartetes – etwa einen plötzlich auftauchenden Feind. Er muss Ingenieur
und Kundschafter zugleich sein. Um diese Herausforderung zu meistern, habe
die Natur die Zweiteilung des Gehirns erfunden, sagt McGilchrist: »Vögel und
andere Tiere benutzen ihre linke Hirnhälfte für eng fokussierte Aufmerksamkeit
auf bereits bekannte Dinge, während sie ihre rechte Hirnhälfte wachsam halten
für alles, was da kommen mag.«
Bei Menschen sei es ganz ähnlich. Allerdings sei die Arbeitsteilung zwischen
den Hirnhemisphären nicht so scharf, wie man früher vermutet habe, betont
Wunderwerk Gehirn
33
McGilchrist. Es handele sich eher um Unterschiede im Herangehen an Dinge,
so als ob die beiden Hirnhälften unterschiedliche Charaktere hätten. Auch die
rechte Seite könne sich konzentrieren, auch die linke könne ihren Fokus weiten –
nur eben jeweils weniger gut als die andere.
Auch zu Vernunft und Imagination trügen beide Gehirnhälften bei. Aber
ihre Beiträge unterschieden sich grundlegend: Die linke Hälfte sei der kühle
Kalkulierer, die rechte gleiche einem neugierigen Kind. Der Kalkulierer denkt
logisch, schematisch, prozedural. Das Kind sieht sich ständig nach Neuem um,
das nicht ins Schema passt. Der Kalkulierer ist sich sicher. Das Kind staunt, fragt
und zweifelt. Ihre volle Stärke gewinnen beide Weltsichten, wenn man sie kombiniert. Gemeinsam sorgen die Hirnhälften dafür, dass Menschen gegenüber der
Welt die richtige Distanz behalten. Nicht zu weit weg (rechte Hälfte), nicht zu
nah dran (linke Hälfte).
Seine Patienten am Maudsley Hospital testete McGilchrist oft mit einer einfachen Aufgabe: Er ließ sie einen Baum zeichnen. Während Gesunde die Bäume
in ihrem ganzen Formenreichtum darstellten, vom groben Umriss bis hin zum
kleinsten Ast, zeigten hirngeschädigte Patienten – je nach Art des neuronalen
Ausfalls – spezifische Verzerrungen. Jene, bei denen nach einem Schlaganfall nur
noch die rechte Hirnhälfte richtig funktioniert, brachten zwar den Gesamteindruck eines Baumes gut zu Papier, schlampten aber bei den Details. Schlaganfallpatienten mit gesunder linker Hirnhälfte dagegen zeichneten meist eine sehr
detaillierte Struktur, die allerdings einem Baum nur entfernt ähnelte.
Ende der siebziger Jahre hatte McGilchrist zunächst begonnen, an der
Universität Oxford Literaturwissenschaft zu studieren. Doch die Art der Literaturkritik missfiel ihm. »Ein Kunstwerk ist etwas, bei dem sein Schöpfer sich
bemüht hat, es einzigartig in der Welt zu machen«, sagt er, »es kann weder verwässert noch paraphrasiert werden. Seine Bedeutung ist implizit. Dann kommt
der Kritiker daher, abstrahiert und generalisiert die Bedeutung.« Das war nicht
McGilchrists Sache. Er wollte wissen, wie Menschen das Konkrete, Körperliche,
Unverwechselbare in Kunstwerken wahrnehmen – und beschloss mit 28 Jahren,
Medizin zu studieren.
In einem Vortrag des Schizophrenie-Experten John Cutting hörte er erstmals von den Fähigkeiten der rechten Hirnhälfte: »Cutting sagte, die rechte
Hirnhälfte sei viel besser darin, all die Dinge zu verstehen, die ich im analytischen Denken vermisst hatte: Metaphern, Körpersprache, Humor, Tonfall, das
Implizite, Einzigartige.« Für zwei Jahrzehnte vertiefte McGilchrist sich in die
Erkundung der Hirnhälften, dann präsentierte er seine Überlegungen 2009 in
seinem (bislang nur auf Englisch erschienenen) Buch.
Dessen Titel The Master and His Emissary spielt auf eine alte Geschichte von
einem Fürsten an, der seinem Gesandten die Verwaltung seines Reichs überlässt.
Der Gesandte schaltet und waltet – und vergisst dabei, dass er nur im Auftrag
seines Herrn regiert. Er hält sich selbst für den Herrn. Ähnlich sei es auch in
34
Die Welt im Kopf
unserem Kopf, meint McGilchrist. Die linke Hemisphäre sei nur der Gesandte
der rechten, habe das aber offenbar vergessen und die Herrschaft übernommen.
Für diese – zugegebenermaßen gewagte – Theorie hat McGilchrist viele Belege aus der Kultur- und Sozialgeschichte zusammengetragen. »In der klassischen
Antike und in der europäischen Renaissance und Aufklärung waren die Hemisphären im Gleichgewicht«, glaubt der Hirntheoretiker. Nach diesen Blütezeiten
unserer Zivilisation jedoch habe jedes Mal die linke Gehirnhälfte die Oberhand
gewonnen. Sogar in der Entwicklung der Porträtmalerei findet er Hinweise. »In
den großen humanistischen Epochen kam plötzlich Leben in die Gemälde«, sagt
er, »die Gesichter starren nicht mehr ins Leere, sie blicken direkt auf den Betrachter oder auf dessen linke Seite, also die Seite der rechten Hirnhälfte.« Sowohl
in der Antike als auch in der Renaissance haben Kunsthistoriker diese Belebung
verzeichnet – doch jedes Mal erstarren die Gesichter nach einer Weile wieder.
Im 16. Jahrhundert habe die Dominanz der linken Gehirnhälfte die
Menschheit in die Dekadenz und schließlich ins Dunkel des Mittelalters geführt.
Heute, sagt McGilchrist polemisch, führe das zur Finanzkrise. »Der Kollaps der
Märkte war ein perfektes Beispiel für das blinde Befolgen von Algorithmen, die im
Abstrakten als tauglich ›bewiesen‹ waren, die aber völlig entkoppelt waren von der
wirklichen Welt.« Dass er sich mit solchen Interpretationen auf dünnem Eis bewegt, stört McGilchrist nicht. Er denkt lieber, so darf man sagen, rechtshemisphärisch-ganzheitlich. Die linke Gehirnhälfte dagegen ist ihm weniger sympathisch.
Natürlich bleibt McGilchrists Theorie nicht unangefochten. Die Erkenntnisse der Hirnforschung seien »viel zu grob, um die psychologischen und kulturellen Folgerungen zu stützen, die McGilchrist zieht«, kommentierte der englische Philosoph A. C. Grayling. Und der deutsche »Neurophilosoph« Georg
Northoff hält McGilchrists Theorie zwar im Grunde für stimmig, kritisiert aber
dessen Begrifflichkeit. »Das eine ist die Rede über das Gehirn, das andere ist die
Rede über die Person«, sagt Northoff, »ich würde ungern beides vermischen.«
Bei Hirnforschern hat es McGilchrist als Fachfremder besonders schwer.
Doch er stößt durchaus auf Resonanz. »Ich glaube, dass McGilchrist auf einer
tiefen Ebene recht hat«, sagt Onur Güntürkün, der an der Universität Bochum
das Zusammenspiel der Hirnhälften erforscht. »In den Hemisphären mit ihren
unterschiedlichen Komponenten und Fähigkeiten stecken unterschiedliche Persönlichkeitsschwerpunkte.« Die Teilung in zwei selbstständige Einheiten sei auch
funktional sinnvoll, weil sie Zeit spare. »Wir können beispielsweise Gesichter
innerhalb von sechs Millisekunden erkennen«, erklärt Güntürkün. »Die Verbindung zwischen den Gehirnhälften braucht aber etwa 38 Millisekunden. Die
Entscheidung, ob Willi oder Walter vor mir steht, ist von einer Hirnhälfte unendlich viel schneller erledigt, als es dau­ern würde, die Gegenseite zu fragen, ob
sie auch dieser Meinung ist.«
»Absolut faszinierend« findet der Psychologe Peter Brugger McGilchrists Sichtweise des geteilten Gehirns. Brugger erforscht am Zentrum für
Wunderwerk Gehirn
35
Den beiden Hemisphären des Großhirns werden unterschiedliche Eigenschaften
zugeschrieben. Im Laufe der Evolution hat sich eine Art Arbeitsteilung entwickelt,
die das Organ sehr effizient macht.
iv
iat
z
so
as
ak
rib
isc
h
log
isc
h
sie
ht
D
erfas
s
s
t da
sieh
ze
Gan
e
ß
gro
eta
ils
t Stru
kture
n
rig
neugie
gen
erfasst Stimmun
atisch
schem
offen
ran
d
h
na
Die linke Hirnhälfte steuert die rechte Hand und ist oft dominant
36
Die Welt im Kopf
we
it w
eg
Die rechte Hemisphäre steuert die linke Hand und ist eher leise
Wunderwerk Gehirn
37
Neurowissenschaft in Zürich seit Jahrzehnten das Rätsel der Hemisphären. »Es
gibt gute Daten dafür, dass die Hälften mit unterschied­lichen Persönlichkeitseigenschaften korreliert sind«, sagt er, »und McGilchrist hat auch recht darin,
seine Theorie auf unsere Gesellschaft anzuwenden.« In seinen eigenen Versuchen
hat Brugger festgestellt, dass Menschen, bei denen die rechte Hemisphäre ein
Übergewicht hat, eher zu magischem oder esoterischem Denken neigen.
Dabei hat die Frage nach der Arbeitsteilung im Gehirn auch praktische Bedeutung – etwa beim Lesenlernen. Seit Jahrzehnten konkurrieren zwei Lernstile:
die »ganzheitliche« Methode, bei der die Schüler die Wörter im Ganzen erfassen
sollen, und die synthetische Methode, bei der sie sich Buchstabe für Buchstabe
vorarbeiten. Mal war die eine, mal die andere Methode angesagt – ein Streit,
den Brugger für verfehlt hält. Die ganzheitliche Methode liege eher Schülern,
in deren Denken die rechte Hemisphäre dominiert, während die synthetische
Methode eher der linken Hemisphäre entspreche. »Man sollte im Leseunterricht
beide Methoden vorstellen«, sagt Brugger, »und sie jedem Schüler individuell anpassen.«
Bleibt nur die Frage: Wenn McGilchrist recht hat und jeder Mensch aus
zwei selbstständig bewusstseinsbegabten Einheiten besteht – warum bemerken
wir davon im Alltag nichts? Eine plausible Antwort ist, dass die Evolution ein
einheitliches Bewusstsein begünstigt hat. Mehrere autonome Seelen, die in einem
Körper mit­einander ringen, sind sicherlich kein Vorteil im Überlebenskampf.
Wie die neuronalen Mechanismen das schaffen und wie in gesunden Gehirnen
aus den Zulieferungen beider Hälften ein einheitliches Bewusstsein entsteht, ist
eine Frage, an der die Gehirnforscher wohl noch lange knabbern werden. Denn
die Arithmetik der Gehirne widerspricht der üblichen Logik: 1 + 1 = 1.
von Tobias Hürter aus der ZEIT Nr. 25/2013
38
Die Welt im Kopf
Sind die Gedanken
noch frei?
Hirnforscher erkennen unsere geheimen Absichten, Lügen und
Vorlieben – und stellen die Privatsphäre im Kopf infrage Die Hirnforschung ist John Blumes letzte Hoffnung. Mit ihrer Hilfe will der amerikanische Anwalt »ein für alle Mal« beweisen, dass sein Mandant Ben Gower
(Name geändert) irrtümlich im Gefängnis sitzt. Ein Geschworenengericht in South
Carolina hatte Gower 2002 schuldig befunden, 41 Jahre zuvor einen Taxifahrer
in den Kopf geschossen zu haben. Das Urteil: lebenslänglich. »Lächerlich«, erregt
sich Blume noch heute. »Ein einziger Ballistiker hat behauptet, die tödliche Kugel
stamme aus der Waffe meines Mandanten. Dass zuvor ein halbes Dutzend anderer
Gutachter Zweifel daran hegten, interessierte die Geschworenen überhaupt nicht.«
Jetzt will Blume »mit einem Beweis, den man nicht ignorieren kann«, in
Berufung gehen: mit dem Protokoll eines neuartigen Lügendetektortests. Hirnforscher der Firma Cephos aus Boston (Slogan: »Unser Geschäft ist die Wahrheit«) haben Gower in einem Kernspintomografen zu dem Mord befragt und
aus den Hirn­scans geschlossen, dass seine Unschuldsbeteuerungen stimmen. »Als
ich las, dass die Forscher anhand der Aufnahmen mit mehr als 90-prozentiger
Sicherheit zwischen wahr und falsch unterscheiden können, dachte ich: Das ist
unsere Chance!«, sagt Blume. Schließlich akzeptierten Richter auch wesentlich
ungenauere Methoden wie Handschriftenvergleiche oder ballistische Gutachten.
»Warum sollte sie nicht auch ein Blick ins Gehirn des Angeklagten ü
­ berzeugen?«
Der Fall Gower gegen den US-Bundesstaat South Carolina könnte Rechtsgeschichte schreiben. Sollte das Gericht das Testprotokoll tatsächlich als Beweis
zulassen, ginge es nicht nur um Schuld und Schicksal eines Einzelnen. Dann
stellten sich ganz grundsätzliche Fragen: Können Neurowissenschaftler unsere
Gedanken wirklich entschlüsseln? Dürfen wir mutmaßlichen Straftätern in den
Kopf schauen, müssen wir es vielleicht sogar, um andere zu schützen? Sind unsere
Gedanken überhaupt noch frei? Können sie einst gar gezielt manipuliert werden?
Wenige Disziplinen wecken zugleich so utopische Hoffnungen und so tief
sitzende Ängste wie die Neurowissenschaft. Die einen träumen von »Gedankenlesemaschinen« oder neuen, hirnbasierten Marketingmethoden, andere fürchten
eine Gedankenpolizei, wie sie die Romanautoren Philip Dick (Minority Report)
oder George Orwell (1984) vor Jahrzehnten vorhergesagt haben. Tatsächlich wird
Wunderwerk Gehirn
39
in den USA inzwischen laut darüber nachgedacht, ob man Terrorverdächtige nicht
einfach anhand ihrer Hirnaktivität überführen könne – noch bevor sie straffällig
werden. In Deutschland dagegen bestimmte in den vergangenen Jahren der Streit
zwischen Philosophen und Hirnforschern die Debatte. Auf abstraktem Niveau diskutierten sie vor allem, ob der Mensch einen freien Willen habe, konkrete Anwendungen waren kaum ein Thema. Nun zeigen Beispiele wie jenes aus South Carolina, wie schnell die Erkenntnisse der Neurowissenschaft in den Alltag vordringen.
Zumal Cephos (von griech. képhalon: Kopf, Schädel) nicht das einzige Unternehmen ist, das mit diesen E
­ rkenntnissen Geld verdienen will. Die Konkurrenzfirma No Lie MRI (MRI steht für Magnetresonanz- oder Kernspintomografie) aus San Diego will ihren Neuro-Lügendetektor demnächst sogar in Europa
­vermarkten. Auch die Werbeindustrie hofft auf die Hirnforschung. Statt schlichten Marketings propagiert sie nun das raffiniert klingende »Neuromarketing«.
Das Schlagwort verheißt, man könne Konsumenten direkt ins Hirn blicken und
ihre geheimsten Wünsche e­ rahnen.
Gewaltige Hoffnungen weckt die Neuro-Technik ebenfalls in der Medizin.
Rund um die Welt arbeiten Labore an Hirn-Computer-Schnittstellen, die es gelähmten Patienten ermöglichen sollen, mit der Kraft ihrer Gedanken Rollstühle,
Armprothesen oder Schreibprogramme zu steuern. Beflügelt wird die Begeisterung für all diese Visionen durch immer neue Erfolgsmeldungen:
Dem Hirnforscher John-Dylan Haynes in Berlin gelang es, die Absichten
von Probanden zu erkennen. Sie mussten in einem Kernspintomografen entscheiden, ob sie zwei Zahlen addieren oder subtrahieren wollten. Aus ihrer Hirnaktivität konnte H
­ aynes dann die Entscheidung für plus oder minus vorhersagen
– sogar noch bevor diese den Versuchspersonen selbst bewusst wurde. Er erreichte
dabei eine Trefferquote von bis zu 75 Prozent.
Ähnlich viel Aufsehen erregte ein Experiment von Yoichi Miyawaki von
den ATR Computational Neuro­science Laboratories in Kyoto. Er zeigte seinen
Testpersonen zunächst 400 Bilder, um die damit verbundenen Muster im Hirn
zu kalibrieren. Als die Probanden danach verschiedene Buchstaben betrachteten,
war Miyawaki in der Lage, allein aus dem neuronalen Muster zu rekonstruieren,
welche Buchstaben sie gesehen hatten. Zwar standen nur die sechs Buchstaben
des Wortes »Neuron« zur Auswahl. Doch eines Tages, spekulierte der Japaner,
könne es auf diese Weise vielleicht gelingen, komplexere Wahrnehmungsprozesse, ja sogar Träume wie auf einer Filmleinwand sichtbar zu machen.
Forscher der TU Berlin führten kürzlich vor, wie man allein mit Gedankenkraft Flipper spielen kann: Zunächst setzten sie dem Spieler eine Elektrodenhaube
Nur Willenskraft steuert diesen Flipper.
40
Die Welt im Kopf
Wunderwerk Gehirn
41
auf den Kopf; dann analysierten sie das EEG auf jene Hirnsignale, die der Gedanke an eine Bewegung der rechten oder linken Hand im motorischen Kortex
auslöst; nun mussten sie diese Signale nur noch via Computer in einen entsprechenden Steuerimpuls umwandeln – und voilà, schon bewegten sich die beiden
Flipperhebel wie von Geisterhand.
Und an der Universität Tübingen zeigte der Psychologe Ahmed Karim, wie
man Probanden neuronal manipuliert. Dazu bat er sie, zu zweit in einen Raum
zu gehen, in dem 20 Euro versteckt waren. Jeweils einer der Teilnehmer sollte das Geld stehlen. Dann wurden sie einem »Verhör« unterzogen, bei dem die
Forscher zugleich mithilfe winziger Stromimpulse die Aktivität in einem Hirnareal im präfrontalen Kortex unterdrückten. Überraschendes Ergebnis: Wurden
die Stromimpulse eingeschaltet, fiel es den Dieben leichter, ihre Tat zu bestreiten.
Nicht nur reagierten sie schneller auf die Fragen, sie schwitzten auch weniger und
hatten geringere Schuldgefühle.
Wie verändern solche Experimente unser Selbstverständnis? Sind wir bald
nirgendwo mehr sicher vor dem Zugriff der »Schädelbohrer und zudringlichen
Neurologen«, wie sie der Dichter Durs Grünbein einst nannte? Und muss das
schöne Lied von der Gedankenfreiheit, das die Studenten des 19. Jahrhunderts zu
ihrer Freiheitshymne erkoren – »Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen« –, umgeschrieben werden? Zwar nicht »mit Pulver und Blei«, aber mit EEG
und MRI lassen sich die Gedanken offenbar durchaus fassen.
Bevor allerdings der Ruf nach einem »Hirndatenschutzbeauftragten« laut
wird, empfiehlt sich ein Blick ins Kleingedruckte der Studien. Denn beeindruckende Ergebnisse im Labor zu erzielen ist das eine, sie in die raue Praxis
zu übertragen etwas ganz anderes. In dem Berliner Flipperversuch reagiert etwa
die Gedankensteuerung alles andere als zuverlässig, mal kommt sie zu spät, mal
bewegt sie den falschen Hebel; einem Piloten, der auf diese Weise ein Flugzeug
steuerte, würde man sich jedenfalls nicht anvertrauen. Auch das Tübinger Beeinflussungsexperiment glückt nur unter ganz speziellen Laborbedingungen. Zur
Beeinflussung von Menschenmassen eignet es sich nicht. Um die Kluft zwischen
Hype und Realität zu erfassen, muss man sich näher mit der Technik des neurobiologischen »Gedankenlesens« befassen. Und man muss verstehen, was das
eigentlich ist: ein Gedanke.
Einer derjenigen, die darüber am besten Auskunft geben können, ist JohnDylan Haynes. Der deutschbritische Hirnforscher sitzt in Berlin in einer frisch
renovierten Baracke, die sich etwas hochtrabend Bernstein Center for Computational Neuroscience nennt, und ist derzeit einer der erfolgreichsten »Gedankenleser«. Wenn er von seiner Arbeit erzählt, klingt es, als berichte er aus der kriminologischen Fahndung. »Unseren Erfolg verdanken wir vor allem der neuronalen
Mustererkennung«, sagt der 38-Jährige und erklärt, dass er – ähnlich wie beim
Vergleich von Fingerabdrücken – mithilfe mathematischer Algorithmen nach
charakteristischen Merkmalen im Kopf suche.
42
Die Welt im Kopf
Die verbreitete Vorstellung, es gebe für jeden Gedanken, für jede Emotion
ein spezifisches Hirnareal – etwa eines für Angst, eines für Lust und eines für
die Vorfreude aufs Wochenende –, ist viel zu schlicht. Denken ist Arbeitsteilung:
Beim Zeitunglesen etwa verarbeiten manche Hirnareale nur Schwarz-Weiß-Kontraste, andere setzen daraus Buchstaben zusammen, wieder andere bilden daraus
Wörter, entschlüsseln deren Sinn und vergleichen sie mit abgespeicherten Erfahrungen. So erzeugt jede Denktätigkeit ein neuronales Feuerwerk, das sich über das
ganze Gehirn verteilt und im Kernspintomografen sichtbar gemacht werden kann.
»Entscheidend ist, dass einzelne Gedanken ein Muster erzeugen, das so charakteristisch ist wie ein Fingerabdruck; das nennen wir ein neuronales Korrelat«,
erklärt Haynes. Ähnlich wie eine Silvesterrakete typische Leuchtspuren an den
Himmel zeichnet, hinterlässt ein Gedanke eine charakteristische Spur im neuronalen Feuerwerk. Und das kann man also entschlüsseln? »Im Prinzip ja«, sagt
Haynes. »Allerdings gelingt es bislang nur in sehr einfachen Fällen – etwa bei
einer Entscheidung zwischen plus und minus.«
Der Arzt und Anatom
Franz Joseph Gall versuchte, aus der Anatomie
des Schädels Persönlichkeitsmerkmale abzuleiten.
Die von ihm begründete
Phrenologie erlebte Anfang des 19. Jahrhunderts
in Europa einen Höhepunkt.
Wunderwerk Gehirn
43
Das »neuronale Korrelat«, das die Hirnforscher beobachten, ist eben etwas
anderes als das, was wir landläufig »Gedanken« nennen. Diese sind komplexe
Gebilde, die viel Vorwissen und Bewertungen ent­hal­ten (»Liebt sie mich?«), das
neuronale Korrelat dagegen ist das geronnene biologische Abbild einer Wahl zwischen zwei (meist sehr schlichten) Alternativen. Dass sich die Neurowissenschaftler mit so simplen Gedankenfetzen zufriedengeben müssen, liegt zum einen an
der Begrenzung der Technik, zum anderen an der hyperkomplexen Struktur
des Gehirns. Jede einzelne Nervenzelle ist dort mit etwa zehntausend anderen
Neuronen vernetzt, jeder Impuls führt zu komplexen Kettenreaktionen und
Wechselwirkungen im Hirn, die auf den Bildern aus dem Kernspintomografen
vielleicht schön anzusehen sind, welche die Neurowissenschaft aber längst nicht
verstanden hat.
Auch deshalb dämpft Haynes allzu große Euphorie.
»Die heutigen Ansätze beruhen darauf, dass man
zunächst das Muster der Hirnaktivität kennen
muss, das zu einem bestimmten Gedanken gehört.« Und dieses Muster unterscheide sich
nun einmal von Mensch zu Mensch. Zwar
Lügen entdecken,
seien grundlegende Hirnaktivitäten bei
geheime Sehnsüchte
allen Menschen ähnlich (etwa wenn sie
sichtbar machen – die Hirnscans
Gesichter oder Buchstaben wahrnehmen);
versprechen viel.
doch sobald es um komplexere DenkproBisher offenbaren sie jedoch
zesse
gehe, bekomme man es mit einer
wenig Verlässliches.
ungeheuren individuellen Variabilität zu
tun. »Wie man beliebige Gedanken einer
beliebigen Person auslesen könnte, ist heute
nicht geklärt«, stellt Haynes fest. Auch sei es
noch niemandem gelungen, mehrere gleichzeitige
Gedanken zu entschlüsseln. Das wäre, als hörte jemand
aus dem großen Finale eines Silvesterfeuerwerks die einzelnen Knallkörper heraus.
Einzelne Affekte, Emotionen oder Neigungen hingegen glauben manche
Forscher durchaus im Hirn­scan­ner zu erkennen. Sexualmediziner der Universität
Kiel zeigten zum Beispiel h
­ etero- und homosexuellen Versuchspersonen Fotos
von erregten weiblichen und männlichen Genitalien. Bilder des jeweils bevorzugten Geschlechts aktivierten zwei Hirnareale besonders, eines davon lag mitten
im prämotorischen Kortex, der Hand- und Mundbewegungen steuert. Für die
Forscher ein klarer Hinweis auf die sexuelle Neigung.
Auf zwei ganz ähnliche Studien berufen sich Firmen wie No Lie MRI oder
Cephos. Daniel Langleben von der University of Pennsylvania und Andrew Kozel von der Medical University of South Carolina baten Probanden im Kernspintomografen zu lügen – in einem Fall sollten sie den Diebstahl eines Rings
oder einer Uhr leugnen, im anderen bestreiten, dass sie eine bestimmte Spielkarte
44
Die Welt im Kopf
besitzen. Beim Lügen fanden die Forscher charakteristische Muster auf den Hirn­
scans der Probanden, die Flunkereien im Labor konnten sie mit 90-prozentiger
Sicherheit und mehr voraussagen. Dass es nicht 100 Prozent waren, wird auf
der Website von No Lie MRI geflissentlich verschwiegen. Dort ist ein Gehirn
mit blauen und roten Aktivitätsflecken zu sehen. Daneben steht schlicht: »Blau =
Wahrheit, Rot = Lüge«.
»Warum die Gehirne so reagieren, weiß niemand«, sagt Cephos-Gründer
Steven Laken, »im Prinzip ist das auch egal, Hauptsache, es funktioniert.« Damit
meint er wohl auch sein Geschäftsmodell. Zu seinem schillernden Kundenkreis
gehören: ein Trinker, der seinen Führerschein verloren hat; ein Vater, der sich
gegen den Vorwurf wehrt, er habe sich an seiner Tochter vergangen; und eben der
wegen Mordes verurteilte Ben Gower. Sie alle wollen mithilfe der Hirn­scans ihre
Unschuld beweisen.
Wer Steven Lakens Dienste in Anspruch nimmt, muss zunächst einige
Tausend Dollar überweisen und sich dann in einem flachen Betonbau an einer
Landstraße bei Boston einer mehrstündigen Untersuchung unterziehen. Erst
testet Laken den Urin seiner Klienten auf Drogen, dann legt er sie in den Hirn­
scan­ner und spult Hunderte Fragen ab. Der Mühe Lohn: ein dicker Report voller
Abbildungen, mit dem sie nun versuchen können, Richter, Chefs oder Ehefrauen
zu überzeugen. »Der Markt ist riesig«, schwärmt Laken. »In unserem Rechtssystem werden so viele unschuldig verurteilt, wir geben ihnen die Chance, sich
zu ­rehabilitieren.«
Die meisten von Lakens Kollegen zweifeln allerdings an der Seriosität seines
Angebots. Unbehagen kommt bereits auf, wenn man nur die beiden Studien von
Kozel und Langleben vergleicht: Denn sie haben ganz unterschiedliche Lügenmuster im Gehirn identifiziert. Liegt das daran, dass es einmal um Ringe, das
andere Mal um Spielkarten ging? Jedenfalls zeigt sich schon hier, dass es »die
Lüge« pauschal nicht gibt; erst recht kein Lügenzentrum im Hirn.
Noch schwieriger ist es, die Laborergebnisse auf die Praxis zu übertragen.
Was, wenn ein Verdächtiger als Kind durch einen Hundeangriff traumatisiert
wurde und später im Verhör auf eine Situation angesprochen wird, in der ein
Hund eine Rolle spielt? »Gut möglich, dass dann die Erregung in seinem Gehirn
vom Muster einer Lüge nur schwer zu unterscheiden ist«, sagt Andreas Bauer,
Neurowissenschaftler am Forschungszentrum Jülich. Und was, wenn ein Schuldiger von seiner Unschuld selbst überzeugt ist? Dann kann es gut sein, dass sein
Hirn auch falsche Aussagen als wahr verarbeitet. »Das menschliche Gedächtnis
verformt sich innerhalb weniger Tage«, erläutert Bauer, »wie will man da eventuell Jahre später vor Gericht feststellen, was wirklich wahr oder falsch ist?« Die
Versprechungen der Lügendetektorfirmen seien daher weit überzogen. »Sie jagen
einem Phantom nach.«
Dennoch entfalten die bunten Bilder aus dem Kernspintomografen bereits eine Wirkung, die kaum zu unterschätzen ist. Vor allem amerikanische
Wunderwerk Gehirn
45
Geschworene lassen sich leicht davon beeindrucken, wie clevere Anwälte seit den
neunziger Jahren wissen. Damals wurde der Fall eines 65-Jährigen aus Manhattan verhandelt, der seine Frau erdrosselt und ihre Leiche aus dem zwölften Stock
eines Wohnhauses geworfen hatte. Der Verteidiger argumentierte mithilfe eines
Hirn­scans, sein Mandant sei nicht schuldfähig, da eine Zyste in seinem Hirn
wuchere. Und obwohl ein Gutachter bestätigte, dass noch nicht erforscht sei, wie
zuverlässig bildgebende Verfahren sind, ging die Taktik auf: Weil die Ankläger
fürchteten, die Jury könne sich von den Bildern beeinflussen lassen, boten sie dem
Angeklagten einen Deal an – sie verzichteten darauf, die Todesstrafe zu fordern,
wenn er sich schuldig bekenne.
In Deutschland hat der Bundesgerichtshof 1998 die bis dahin geltende
Rechtslage zu Lügendetektortests revidiert und geurteilt: Diese verstoßen nicht
gegen die Grundrechte eines Beschuldigten, sofern dieser selbst einwilligt. Zugleich stellten die Richter fest, dass herkömmliche »Polygrafen« zur Messung
von Hautleitfähigkeit, Puls und Atemfrequenz als Beweismittel zu unzuverlässig
seien. Damit wäre aber prinzipiell der Einsatz neuer, besserer Lügendetektoren
erlaubt.
Ohnehin betrifft das Urteil nur Strafprozesse, nicht aber das Sozial- oder
Arbeitsrecht. Schneller, als es uns lieb ist, könnte der erste Konzern auf die Idee
kommen, seine Bewerber im Hirn­scan­ner zu untersuchen, um festzustellen, wie
loyal sie sind, welche Einstellungen oder auch welche sexuelle Neigung sie haben.
Kann man von Arbeitgebern erwarten, dass sie darüber nachdenken, wie
valide solche Ergebnisse sind? Wohl kaum. Es zählt der Glaube an die Aussagekraft
der bunten Bilder. Wie groß die psychologische Wirkung von Hirn­scans ist, hat die
Psychologin Deena Skolnick Weisberg eindrucksvoll belegt. An der Yale University präsentierte sie drei Gruppen von Probanden – Hirnforschern, Neurologiestudenten und Laien – wissenschaftliche Erklärungen für psychologische Phänomene,
von denen manche richtig, andere falsch waren. Dabei zeigte sich: Wenn Weisberg
den jeweiligen Erklärungen den Halbsatz »Hirn­scans zeigen, dass ...« voranstellte,
akzeptierten die Studenten und die Laien selbst offenkundigen Unsinn.
Auch das »Neuromarketing« lebt mehr vom Glauben an die Hirnforschung
denn von ihrer Leistungsfähigkeit. Zu besichtigen war dies kürzlich bei einem Kongress über »Erfolgsstrategien aus Sicht des Gehirns« in München. Mehrere Hundert Werbefachleute lauschten in der BMW-Welt im Olympiapark zwischen edlen
Autos, bei Häppchen und gedämpfter Musik pseudowissenschaftlichen Vorträgen
über »Brain Brands« und »Emotional Boosting«. »Die Werte«, so dozierte etwa der
Tagungsorganisator Hans-Georg Häusel, »sitzen im orbitopräfrontalen Kortex.«
Daran lasse sich ablesen, zu welchem »Brain Type« ein Kunde gehöre und wie man
ihn zum Kauf verführe. Auch Manipulationsversuche wie jener der Tübinger Forscher stoßen im Publikum auf offene Ohren. Hauptsache, das Geschäft brummt.
Am Ende liefen die Ratschläge der Neuromarketing-Experten allerdings
auf altbekannte verkaufspsychologische Weisheiten hinaus – garniert mit Respekt
46
Die Welt im Kopf
Womit man das Denken belauscht
Ein Elektroenzephalograf (EEG) misst mit
Elektroden Hirnströme
durch die Kopfhaut hindurch.
Der Beobachter bekommt von der Neuronen-Kommunikation
etwa so viel mit wie von
einem Fußballspiel, das
er von oben belauscht –
er erfährt etwas über die
Stimmung im Stadion.
Der Kernspintomograf
macht Veränderungen
des Sauerstoffgehaltes
im Blut sichtbar.
Die Theorie: Wo
sauerstoffreiches Blut
fließt, ist das Gehirn
besonders aktiv. Die
Denkprozesse verfolgt
man so nur indirekt
– als würde man eine
Anzeigetafel mit dem
Spielstand betrachten.
Hirnimplantate zapfen
einige Dutzend oder
Hundert Nervenzellen
an. Sie liefern Informationen aus einem winzigen
Teil des Gehirns.
Das ist etwa so, als
beobachte man einige
Sitzreihen in der Nordkurve genauer – über all
die anderen Zuschauer
erfährt man hingegen
nichts.
heischenden Bildern aus dem Kernspintomografen: etwa dass man bei der Präsentation eines Produktes starke Emotionen erzeugen müsse (denn Emotionen
prägen das Hirn stärker als rationale Argumente); oder dass man möglichst viele
Sinne gleichzeitig ansprechen müsse (damit werde das Gehirn besonders aktiviert).
Als wissenschaftliches Feigenblatt hatte man Christian Elger geladen, immerhin
Wunderwerk Gehirn
47
Direktor der Klinik für Epileptologie am Uni-Klinikum Bonn. Doch statt, wie
angekündigt, über »Einblicke ins Kundenhirn« zu referieren, las er den Neuro-Werbern die Leviten. Die Forschung liefere bislang »keinen Beleg für die Gültigkeit der
Marketingkonzepte«. Elger zählte lauter Gründe auf, warum die Kernspinbilder
heillos überschätzt würden, und wetterte: »Auf diesem Niveau würde keine einzige
Medikamentenstudie akzeptiert werden.«
So ganz wollte er allerdings die Tür doch nicht zuschlagen. Schließlich ist
Elger auch Geschäftsführer einer Life & Brain GmbH und bringt selbst Bücher
über Neuroleadership und Neurofinance unters Volk. So vollführte er am Ende
eine irritierende Kehrtwende und prophezeite der Disziplin doch noch eine
»große Zukunft« – auch wenn sie jetzt noch »ganz am Anfang« stehe.
Es stimmt ja auch, die Untersuchungsmethoden werden feiner, die Geräte
leistungsfähiger. Im Frühjahr wurde am Forschungszentrum Jülich einer der stärksten Kernspintomografen der Welt in Betrieb genommen, der 9komma4, der das
Gehirn noch genauer abbildet. Mit solchen Apparaten wird auch die Mustererkennung Fortschritte machen – und damit die Entschlüsselung von Denkprozessen.
Fürchten muss man sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings weniger vor dem Gedankenlesen oder einer gezielten Beeinflussung; gefährlich
sind eher die falschen Erwartungen, welche die Hirnforschung weckt. Wenn
Geschworenen­gerichte oder Arbeitgeber sich von bunten Bildern beeindrucken
lassen, entstehen handfeste Gefahren für die Untersuchten – ganz ungeachtet
der wissenschaftlichen Belastbarkeit. Zugleich wächst der normative Druck auf
Angeklagte oder Bewerber, sich einem Hirn­scan nicht zu widersetzen.
Deshalb forderte der Bonner Jurist Tade Matthias Spranger Ende Mai bei
einer Sitzung des Deutschen Ethikrats dringend eine interdisziplinäre Debatte. So
muss man fragen: Wie kann man Arbeitnehmer und Angeklagte vor einer missbräuchlichen Verwendung ihrer Hirn­scans schützen, etwa für Eignungs- oder Gesinnungstests? Wer erklärt Patienten und Probanden, was die bunten Bilder für ihr
Leben bedeuten? Wie steht es mit dem Zugriff etwa von Versicherungen auf Untersuchungsdaten aus den Neurolaboren? Vor wenigen Wochen hat der Deutsche
Bundestag das sogenannte Gendiagnostikgesetz beschlossen, das im Falle von
genetischen Daten solchem Missbrauch einen Riegel vorschieben soll. Es wird Zeit,
sich auch über ein entsprechendes »Hirndiagnostikgesetz« Gedanken zu machen.
von Ulrich Schnabel und Jens Uehlecke aus der ZEIT Nr. 28/2009
Alle für einen!
Ohne die anderen wäre der Mensch nicht, was er ist. Der Drang zum Miteinander ist tief in seinem Gehirn verankert. Ein neuronales Netz ermöglicht
es ihm, sich in andere einzufühlen – es kann ihn aber auch zum willenlosen
Mitläufer machen
Er und sie und es sind ich. Kein Handgriff, kein Gedanke, kein Wort funktioniert
ohne die anderen, ohne die Welt da draußen. Menschen lernen zu lächeln, wenn sie
andere lächeln sehen. Sie lernen zu sprechen, wenn sie andere sprechen hören. Und sie
lernen, was richtig und was falsch ist, wenn andere auf ihr Verhalten reagieren. Selbst
der überzeugte Einzelgänger wäre ohne Eltern und Kollegen nicht derselbe Mensch.
Wie sehr der Einzelne mit seinem so­zia­len Umfeld verbunden ist, überrascht
immer wieder auch die, die das menschliche Miteinander untersuchen: Primatenforscher, Psychologen und Neu­ro­wis­sen­schaft­ler. Immer deutlicher wird, wie eng
Körper und Geist im sozialen Netz verwoben sind. Ist es sicher gespannt, hält es
Herz, Kreislauf und Immunsystem fit. Der Mensch lebt länger, sein Gedächtnis
funktioniert besser, und er ist zufriedener.
Das Bedürfnis nach Kontakt zu anderen sei in uns angelegt, schreibt der Psychologe Daniel Goleman in seinem Buch Soziale Intelligenz. Das haben vor allem
die Studien der sozialen Neurowissenschaft gezeigt. Sie sucht nach den Grundlagen
des menschlichen Gemeinsinns und fördert immer mehr über jenes System zutage,
das unserer Fähigkeit zu Kooperation und Einfühlung zugrunde liegt.
»Es ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der vergangenen zehn Jahre, dass
ein gro­ßer Teil unseres Gehirns auf die Verarbeitung sozialer Reize ausgerichtet
ist«, sagt Christian Keysers, Hirnforscher am Neuro­imaging Center im niederländischen Groningen. Wie er sind viele Forscher inzwischen überzeugt: Diese
neuronalen Schaltkreise bilden ein »soziales Gehirn«, das viel mächtiger ist, als
man es lange für möglich hielt. An jedem Blick, den wir austauschen, an jedem
Schritt, den wir machen, ist es beteiligt. Es registriert feinste Nuancen in Mimik
und Tonfall des Gegenübers, sagt in­tui­tiv dessen nächste Handlung voraus und
braucht nur selten die Hilfe des bewussten Denkens, um klug zu reagieren.
Rücksicht und Mitgefühl sind im Hirn verdrahtet
Wie wichtig diese Fähigkeit für das Leben in der Gruppe ist, zeigen Untersuchungen an Rhesusaffen, denen ein Teil dieses so­zia­len Gehirns fehlt. Die
Forscher waren nicht zimperlich: Sie entfernten den Äffchen wichtige Teile des
48
Die Welt im Kopf
Wunderwerk Gehirn
49
Frontalhirns, darunter die Mandelkerne, die auch bei Menschen zur emotionalen
Frühwarnzentrale gehören. Die Tiere mutierten zu asozialen Rüpeln. Sie ignorierten die Regeln der Grup­pe, stopften mit gefundenem Fressen nur ihr eigenes
Maul und waren sexuell enthemmt. Die Strafe blieb nicht lange aus: Die Un­
ruhe­stif­ter wurden von ihrer Gruppe verstoßen oder sogar getötet.
Die verheerende Wirkung solcher Hirnverletzungen ist auch am Menschen
erforscht. Patienten mit Schäden an bestimmten Arealen des Frontalhirns werden
aus der Mimik ihrer Mitmenschen nicht mehr schlau. Menschen mit Verletzungen der sogenannten Insula, eines Bereichs in der Großhirnrinde, verlieren nicht
nur jedes Ekelgefühl, sie verstehen auch den angewiderten Gesichtsausdruck
anderer nicht mehr als Warnsignal – und greifen beherzt nach allem, was dem
Gegenüber heftigen Würgereiz beschert. Und Patienten mit dem Williams-Beuren-Syndrom, einer seltenen Erbkrankheit, sind offenbar deshalb besonders vertrauensselig, weil ihre Mandelkerne nur wenig funken.
Schon als Klein­k inder fremdeln sie kaum.
Woher jedoch das Gespür kommt, das
uns im Dickicht möglicher Reaktionen und
Motive der Mitmenschen den Weg weist,
Wortloses
blieb lange ein Rätsel. Der Psychologe
Verstehen, Empathie,
Edward Lee Thorndike definierte 1920
Hilfsbereitschaft –
soziale Intelligenz als die Fähigkeit, »in
für viele Segnungen der
Beziehungen klug zu handeln«. Viele
menschlichen Kultur sollen
Kollegen glaubten, diese Gabe sei im
die Spiegelneuronen
bewussten
Denken begründet, das mitverantwortlich sein.
hilfe früherer Erfahrungen die richtigen
Schlüsse ziehe: Wer oft gesehen habe, dass
sich unsichere Menschen am Kopf kratzen,
gehe davon aus, dass ein Mensch, der sich am
Kopf kratzt, unsicher ist.
Anfang der neunziger Jahre kam diese Interpretation sozialer Intelligenz ins Wanken. Die italienischen Hirnforscher Giacomo
Rizzolatti und Vittorio Gallese machten eine Entdeckung, die eine viel direktere
Brücke zwischen dem Ich und den anderen schlägt: die Spiegelneuronen. Ganz
gleich, ob die Affen in den italienischen Versuchslabors nach ihrem Futter griffen
oder ob sie nur einen Artgenossen dabei beobachteten – immer waren dieselben
Nervenfasern der vorderen Großhirnrinde aktiv.
In den folgenden Jahren fanden die Italiener und ihre internationalen
Kollegen Hinweise darauf, dass es die Spiegelneuronen auch im menschlichen
Gehirn gibt. Und zwar nicht nur in den Arealen für das Erkennen von Bewegungsabläufen, sondern auch in jenen für die Verarbeitung von Seh-, Hör- und
Tastreizen und in jenen für Ekel. »Das alles verändert unsere Vorstellung davon, wie unser Gehirn die so­zia­le Welt verarbeitet, natürlich grundlegend«, sagt
50
Die Welt im Kopf
Christian Keysers. »Das da draußen ist eben nicht getrennt von mir, sondern
etwas, das mir ähnelt, das ich direkt auf mich übertrage und nachempfinde.«
Das heißt: Wer sieht, dass sich ein anderer am Kopf kratzt, weiß bereits, dass er
unsicher ist – ohne überhaupt darüber nachzudenken.
Auf den Schultern von Giganten
Die Spiegelneuronen könnten eine Erklärung für die kleinen Wunder bieten, die
sich im täglichen Miteinander ereignen: für wort­loses Verstehen, für Empathie und
selbstlose Hilfsbereitschaft. Ohne derlei bio­lo­gi­sche Zusammenhänge zu kennen,
beschrieb der Psychologe Theodor Lipps bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Einfühlungsvermögen als innere Nachahmung der Gefühle anderer.
Mehr als 100 Jahre später zeigt die moderne Wissenschaft, wie recht er hatte.
Die Spiegelneuronen könnten so auch einen entscheidenden Beitrag zur
Evo­lu­tion der menschlichen Kultur geleistet haben. Denn sie haben es den Menschen schon früh leicht gemacht, sich als einander ähnliche Wesen zu verstehen.
Diese Vorstellung von dem, was im Kopf der anderen geschieht, die »Theory
of Mind«, entwickeln Kinder etwa im vierten Lebensjahr. Untersucht wird sie mit
der sogenannten Maxi-Aufgabe. Dazu spielen Forscher den Kindern ein Puppentheater vor. Die Figur Maxi legt ein Stück Schokolade in einen Schrank und verschwindet dann »auf den Spielplatz«. Währenddessen versteckt ihre Mutter die
Schokolade in einer Schublade. Anschließend kommt Maxi zurück. Die Kinder,
die all das beobachtet haben, sollen nun beantworten: Wird Maxi die Schokolade
im Schrank oder in der Schublade suchen? Fast alle Kinder unter drei Jahren
rufen noch falsch: »In der Schublade!« Sie können noch nicht zwischen Maxis
Wissen und ihrem eigenen unterscheiden.
Mit jedem weiteren Lebensmonat sinkt die Quote jedoch rapide: Schon die
Hälfte der Vier- bis Fünfjährigen weiß, dass Maxi im Schrank suchen wird, sie
können Maxis Denken nachvollziehen. Sechs- bis Siebenjährige sind kaum noch
verwirrt. »Dieses Verständnis ermöglicht es ihnen, sich in die geistige Welt einer
anderen Person hineinzuversetzen, sodass sie nicht nur vom anderen, sondern
auch durch den anderen lernen können«, schreibt Michael Tomasello vom MaxPlanck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Wer durch bloßes Beobachten bereits die Hirnareale aktivieren kann, die zum
Hausbau oder Fischfang nötig sind, lernt viel nebenbei. Er braucht in der Praxis nur
noch ein bisschen Übung – und hat mehr Zeit für eigene Ideen und Innovationen.
Erst diese Fähigkeit, kulturelles Wissen zu erschließen und aus der Erfahrung vieler
Generationen zu lernen, ermöglicht dem Einzelnen Weitblick und Orientierung, als
stände er, wie Isaac Newton gesagt haben soll, »auf den Schultern von Giganten«.
Doch das tief verankerte Bedürfnis, Teil einer Gemeinschaft zu sein, hat
auch eine dunkle Seite. Es ermöglicht nicht nur Ko­ope­ra­tion, sondern auch falsche Folgsamkeit, blinden Gehorsam und Machtmissbrauch. Die Forschung zur
Wunderwerk Gehirn
51
Gruppendynamik lehrt, dem sozialen Instinkt zu misstrauen. Einige Vertreter
dieser Disziplin hatten als Opfer des nationalsozialistischen Regimes erlebt, was
erst durch die wechselseitigen Einflüsse zwischen Machthabern, Machern und Mitläufern möglich wurde – und aus normalen Menschen die braune Masse machte.
Wie sehr sich der Einzelne durch das Er und Sie und Es beeinflussen lässt,
zeigt ein Experiment des amerikanischen Sozialpsychologen Solomon Asch. Er
legte einer vierköpfigen Gruppe Karten vor, auf denen unterschiedlich lange Geraden zu sehen waren. Die Teilnehmer sollten sich nun auf die längste Gerade
einigen. Allerdings gab es nur einen wirklichen Probanden in der Runde – die
drei übrigen Mitglieder waren Mitarbeiter von Asch. Wenn diese nun eine eindeutig falsche Lösung wählten, beobachtete Asch Erstaunliches: Der vierte, echte
Proband schloss sich der Mehrheit in jedem dritten Fall an.
Eine ganz ähnliche Nebenwirkung des sozialen Gehirns beobachtete Muzafer
Sherif. Er forderte Versuchsteilnehmer auf, sich auf die Bewegungsrichtung eines
Lichtpunkts im Versuchsraum zu einigen. Nach einem kurzen Prozess der Meinungsbildung kamen sie zu einer Entscheidung. Nur hatte Sherif sie auf die falsche Fährte
gesetzt, der Punkt bewegte sich in Wirklichkeit keinen Millimeter vom Fleck – das
vermeintliche Wandern war nur eine Sinnestäuschung. Die Probanden aber hatten
sich in kürzester Zeit von einer »eindeutigen« Bewegungsrichtung überzeugt.
Allerdings gibt es auch For­schungs­ergeb­nis­se, die zeigen, dass der Einzelne
nicht nur der Gruppe ausgeliefert ist. Ihnen zufolge lohnt es sich eben doch, die
eigene Meinung auf vermeintlich verlorenem Posten kundzutun. Der Sozialpsychologe Serge Moscovici, der die Schrecken des N­a zi­regimes in einem rumänischen Arbeitslager miterlebt hatte, schleuste zwei Mitarbeiter in eine Versuchsgruppe ein, deren Teilnehmer die Farbe von Karten benennen sollten. Diese
beiden behaupteten von jeder grünen Karte, sie sei blau. Auf die Überzeugung
der Gruppe, eine grüne Karte gesehen zu haben, hatte das zwar keinen Einfluss.
Aber als Moscovici anschließend die einzelnen Probanden noch einmal befragte,
stellte er fest, dass sich deren Farbwahrnehmung ein klein wenig verändert hatte:
Sie ordneten Grüntöne mit Blaustich nun eher als Blau ein als zuvor.
Das soziale Gehirn nutzt seine Sinne also auch, um die Stimmen derjenigen
einzufangen, die außerhalb der Gruppe stehen. Sie provozieren ein Umdenken
bei der Mehrheit. Und das führt, auch das haben die Forscher oft bestätigt, zu
kreativeren und besser durchdachten Gruppenentscheidungen – und ist damit
eine wichtige Voraussetzung für Weiterentwicklung und Innovation.
Das soziale Gehirn macht Menschen zu Folterknechten
Allerdings scheint der Gedanke des Einzelnen seine Wirkung zu verlieren, sobald
ausgeprägte Hierarchien ins Spiel kommen. Die meisten Menschen verlieren spätestens unter der Aufsicht einer dominanten Führungsperson den Mut zum eigenen Standpunkt. Am eindrucksvollsten haben das in den sechziger und siebziger
52
Die Welt im Kopf
Jahren des vorigen Jahrhunderts die Stromstoß-Studien des amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram bewiesen. Mehr als 3000 Menschen haben an
dem nach ihm benannten Experiment teilgenommen, die Ergebnisse erschrecken.
Milgram hatte den Probanden erklärt, er wolle untersuchen, wie sehr körperliche Bestrafung das Lernen beeinflusse. Dazu solle ein »Schüler« im Nebenraum
Wortpaare richtig ergänzen, und sie selbst hätten den Part des strafenden Lehrers zu
übernehmen, der jeden Fehler mit immer stärkeren Stromstößen quittiert.
Und das taten sie. Zumindest, solange sie unter der Aufsicht des strengen
Versuchsleiters standen. Ein mahnendes »Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen« oder »Bitte fahren Sie fort« genügte, um zwei Drittel aller Teilnehmer
bis zur tödlichen Schockstufe aufdrehen zu lassen. Selbst als die »Lehrer« ihren
»Schüler« (der in Wirklichkeit ein Schauspieler war) im Nebenraum schreien und
schließlich verstummen hörten, blieben 62 Prozent der Probanden bis zur höchsten Stufe von 405 Volt folgsam.
Verließ der Studienleiter jedoch den Raum, gehorchte augenblicklich nur
noch jeder fünfte »Lehrer«. Gab es beisitzende »Lehrer«, die gegen das Prozedere
protestierten, war sogar nur noch jeder Zehnte bereit, die grausamen Befehle des
Versuchsleiters auszuführen.
Wie sich der Führungsstil darauf auswirkt, wie gut unser sozialer Geist funktioniert, hat der Sozialpsychologe Kurt Lewin untersucht. Was er herausfand, passt
zu den Milgram-Ergebnissen: Wer unter autokratischer Anleitung arbeitet, zeigt
unbedingten Einsatz und Gehorsam – allerdings nur, solange sein Chef anwesend
ist. Sobald dieser den Raum verlässt, verfallen die Untergebenen dem unselbstständigen Nichtstun, der Feindseligkeit und der Suche nach Sündenböcken.
Weniger aggressiv, aber für einen produktiven Arbeitsablauf ähnlich unbrauchbar verhalten sich Menschen, die nach dem Motto »Laissez faire« geführt
werden: Sie entwickeln sich zu unmotivierten Faulpelzen. Nur wenn Leitungspersonen ihre Leute demokratisch, das heißt unter Einbeziehung aller Interessen
anleiten, laufen Gruppenmitglieder zur Höchstform auf: Sie leisten am meisten,
sind einfallsreich, offen, loyal, freundlich und unterstützen sich gegenseitig.
Das soziale Gehirn entfaltet seine Fähigkeiten also erst in der richtigen
Umgebung. »Zwar ist die Neigung zu Zorn, Eifersucht, Egoismus und Neid im
biologischen Erbe der Menschen ebenso angelegt wie ihre Bereitschaft, grob, aggressiv, gewalttätig zu sein«, sagt der amerikanische Psychologe Jerome Kagan.
Doch trügen sie ein noch stärkeres Erbe für Freundlichkeit, Mitgefühl, Kooperation, Liebe und Hilfsbereitschaft in sich. »Dieser ethische Imperativ«, so Kagan,
»gehört zur biologischen Ausstattung unserer Art.«
von Katharina Kluin aus ZEIT Wissen Nr. 6/2007
Wunderwerk Gehirn
53
Bauteile für die Seele
Mit Chips und Sonden reparieren Mediziner Psycholeiden direkt
im Hirn. Ist der Geist bloß Biologie? Ein Mann in einem Klinikbett, frisch operiert. »Wie fühlen Sie sich?«, fragt eine
Stimme. »Ach, erleichtert«, sagt der Mann. Dann, nach einigen Sekunden, lacht er.
»Warum lachen Sie?«, fragt die Stimme. Der Patient schüttelt den Kopf. Er weiß es
nicht. Er lacht, ist fröhlich. Und lacht lauter. Diesmal klingt es schrill. »Da war er
schon überstimuliert«, murmelt Volker Sturm und klickt den Film vom Bildschirm.
Der Patient ist unheilbar depressiv. Seit der Neurochirurg Sturm ihn operiert hat, stecken zwei Elektroden tief in seinem Hirn. Der Film zeigt den ersten
Moment der Freude in seinem Leben seit vielen Jahren, die Minuten, in denen die
Ärzte Strom auf die Elektroden leiteten.
Fünf, höchstens zehn Volt, 130 Hertz. Das reicht, um die Seele umzukrempeln. Ein winziger Strom, und aus Tristesse wird Freude, Apathie verwandelt
sich in Zuversicht. Der Elektronenfluss kann Ängste beseitigen oder Panik auslösen, Lust spenden, Ekel, Euphorie oder Zorn er­zeugen. Erprobt und entwickelt
wurde die Elektrodentechnik der Tiefenhirnstimu­lation (DBS, Deep Brain Stimulation) in den neunziger Jahren, als Behandlungsverfahren für schwer kranke
Parkin­son-­Patienten. Millimetergenau werden hauch­dünne Elektroden in bestimmte neuronale Kerngebiete tief unter der Großhirnrinde vorgeschoben. Das
Implantat heilt die Erkrankung nicht, doch der Stromfluss kann die schweren
Bewegungsstörungen der Kranken unter­drücken.
Längst ist offenkundig, dass das Hirn dem Impulsmuster der Elektroden nicht nur bei der Steuerung motorischer Funktionen gehorcht. Die Neuro­
elektronik kann auch die Triebkräfte der Menschenseele gängeln: Stimmungen,
Gefühle, auch übermächtige Emotionen entspringen einem speziellen Hirnareal,
dem limbischen System. Je nach Platzierung lassen sich ganze Nervennetze steuern.
Aber ist es erlaubt, die Psyche, selbst wenn sie krank ist, elektronisch zu lenken?
Volker Sturm stellt sich diese Frage seit Jahren. Nur als Ultima Ratio seien solche Eingriffe in das Innerste des Menschen zu rechtfertigen, sagt der Direktor der
Klinik für Stereotaxie und funktionelle Neurochirurgie am Kölner Uniklinikum.
Doch in vielen Fällen sei der Eingriff sogar ethisch geboten. »Es gibt Patienten,
die so leiden, dass es menschenfeindlich wäre, ihnen die Elektrode zu verweigern.«
Mehr als zwei Dutzend Menschen hat Sturm Elektroden ins Hirn gepflanzt.
Die Heilmacht der Psychosonde erprobt der Neurochirurg, zusammen
mit Kollegen in Köln, Bonn und Magdeburg, bei Menschen mit schwe­
ren
54
Die Welt im Kopf
Depressionen, Zwangsstörungen und bei Patienten mit Tourette-Syndrom. Seit
Neuestem zählen auch schwe­re Alkoholiker zu seinen Patienten. Die Ergebnisse, beteuert Sturm, seien bei Angststörungen und Zwangsneurosen »erstaunlich
gut«. Allerdings unterdrückt die Tiefenhirnstimulation die Symptome nur, DBS
ist daher eine Dauerbehandlung. Immerhin, so zeigen die Erfahrungen, hat die
Stimulation im jahrelangen Einsatz kaum Nebenwirkungen.
Nur wenige Kliniken wagen sich an das heikle Verfahren. Die Neuropsychiaterin Helen Mayberg von der Emory University in Atlanta präsentierte erst
vor zwei Jahren ihren Bericht über die Behandlung von sechs schwer Depressiven
im Fachblatt Neuron. Bei vier der Patienten habe man »eine erstaunliche und anhaltende Remission« der Symptome erreicht. Der Neurochirurg Bart Nuttin von
der Katholischen Universität Leuwen gilt als Pionier der Behandlung schwerer
Zwangsneurosen. Operiert werden indessen nur Patienten, die seit Jahren krank
sind und bei denen alle herkömmlichen Therapien versagten.
Bedenklicher erscheint ein Experiment mit der Tiefenhirnstimulation, das
New Yorker Mediziner Anfang August in Nature präsentierten. Einem 38‑Jährigen, der seit sechs Jahren im Wachkoma lag, wurden die DBS-Elektroden in den
Thalamus vorgeschoben. Nach der Behandlung erlangte der Patient partiell das
Bewusstsein zurück. Der Mann, berichten die Ärzte, könne mit wenigen Worten
auf Fragen antworten, nach einer Tasse greifen und selbsttätig schlucken. Sturm
kritisiert den Versuch heftig – auch aus eigener Erfahrung. Er selbst hatte 1979
ein ähnliches Experiment gewagt und bereut es bis heute. Man verwandle dabei
einen bewusstlosen Schwerstbehinderten nur in einen Schwerstbehinderten, der
sich über seine Situation klar sei: »Das ist unethisch.«
Der Versuch – in Nature unter der Schlagzeile An Awakening gefeiert – demonstriert, mit welcher Macht Erkenntnisse der Neurowissenschaft bereits jetzt
eingesetzt werden können. Denn der Thalamus im Mittelhirn reguliert nicht nur
Schlaf und Erwachen, er dient als Eintrittspforte ins
Großhirn. Er filtert alle äußeren Informationen
und vermittelt sie höheren Hirnzentren, wodurch sie zu bewusstem Erleben werden.
Mit Elektrodenimplantaten im Thalamus
rüttelt die Neurotechnik am Tor zum Ich.
Die Neurochirurgen
Im neuen Gewand steht die einst
schieben ihre Drähte tief ins
wegen ihrer schrecklichen Folgen in
Gehirn vor. Mit ihnen
Misskredit geratene Psychochirurgie
können sie Komapatienten
vor einer Renaissance. Ein neues Zeiterwecken und
alter sehen manche Beobachter heraufDepressionen lindern.
dämmern: Neuro-Enhancement, das Tunen von Psyche, Gedächtnis und Intellekt,
werde bald alltäglich sein. Sobald ihre Ungefährlichkeit erwiesen sei, so lautet die Vision
Wunderwerk Gehirn
55
Elektrode
Mittelhirn
Impulsgenerator
Elektronischer
Impuls
Batterie
Bei der Tiefenstimulation wird eine Elektrode im Gehirn verankert. Die Steuerung
wird unter die Haut der Brust geschoben.
56
Die Welt im Kopf
der Neuro-Propheten, würden pharmakologische Lernturbos, Gedächtnispillen
und mikroelektronische Neuroimplantate nicht nur für die Behandlung Kranker
genutzt, sondern um Gesunden ein besseres Lebensgefühl zu verschaffen, ihnen
Trauer und Liebeskummer zu ersparen oder ihre kognitiven Leistungen zu verbessern.
Im Mai präsentierte die Europäische Akademie einen Bericht zum NeuroEnhancement. Längst sei »der Sitz der Seele Gegenstand therapeutischer Intervention«, sagt der Akademie-Präsident und Philosoph Carl Friedrich Gethmann.
Der Report listet detailliert auf, wie sich aus gegenwärtigen Therapien künftig
Techniken der Menschenverbesserung formen ließen: von Cochleaimplantaten
zu Hirnchips, von neurogenetischer Forschung zum gentherapeutisch optimierten Intellekt, von der medizinischen Tiefenhirnstimulation bei Depressiven zur
Bewusstseinserweiterung durch mikroelektronische Reizmuster. »Stellen Sie
sich vor, ich könnte mit der Elektrode die Gedächtnisleistung steigern«, sagt der
Neurochirurg Bart Nuttin, einer der Autoren. »Bei Alzheimer-Kranken wäre
das medizinische Therapie.« Bei Politikern sei mehr Erinnerungsvermögen wünschenswert – »vor allem nach der Wahl«, juxt der DBS-Experte, »aber das wäre
Enhancement.«
Schon 2005 verfertigte die Europäische Gruppe für Ethik in den Naturwissenschaften und neuen Technologien (EGE) eine Stellungnahme, die bei ScienceFiction-Aficionados wohlige Schauer erzeugen dürfte. Wie Menschenwürde,
Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit und der Schutz von Daten und der Privatsphäre zu garantieren seien, müsse nun geklärt werden, verlangten die EUEthiker, damit künftig auf futuristische Entwicklungen reagiert werden könne:
• Implantierte Sinnesorgane erlauben Menschen UV- und Infrarotsehen.
• Brain-Computer-Interfaces, gleichsam USB-Stecker im Hirn, ermöglichen
elektronische Kommunikation zwischen Gehirn, Rechner und Datenbank.
• Cerebellum-Chips dienen als zusätzliche Gedächtnisspeicher.
• Kortex-Implantate sorgen für Gedankenkommunikation (Cyber-Think), für
eine Gesellschaft vernetzter Individuen.
All das sind Technologien, die Jahrzehnte entfernt sind, wenn sie denn verwirklicht werden. Doch sie sind längst mehr als irrlichternde Fantasie. Das Unternehmen Cyberkinetics Neurotechnology Systems in Massachusetts hat einen
winzigen Chip entwickelt, bestückt mit 100 hauchdünnen Elektroden, die Nervensignale im Hirn empfangen. 2006 implantierten Mediziner dieses BrainGate
Neural Interface bei einem vom Hals abwärts gelähmten Patienten in den für
Bewegungen zuständigen Motorkortex. Der Mann kann nun – durch Gedankenkraft – den Cursor seines Computers bewegen, E-Mails öffnen, PC-Spiele bedienen und sogar einen Roboterarm steuern. Noch wird BrainGate nur an paralysierten Patienten getestet, doch könnten Systeme wie diese die Kommunikation
Wunderwerk Gehirn
57
mit Computern, Telefonen oder anderen Menschen per Nervensignal möglich
machen.
An der ETH Lausanne hat das Team des Kognitionsforschers Henry Markram 2005 das Blue Brain Project gestartet. Am Ende wollen die Forscher die
Funktionsweise eines Großhirns simulieren. Derzeit tüftelt das Team am mikroelektronischen Nachbau einer kortikalen Säule, eines Neuronenverbunds im
Großhirn, der aus 10 000 Nervenzellen mit 100 Millionen verbindenden Synapsen besteht.
Brain-Imaging-Verfahren, mit denen das arbeitende Gehirn in Echtzeit beobachtet wird, liefern bereits Skizzen von der Arbeitsteilung des Denkorgans. In
den Genomzentren startet derweil die Durchleuchtung des Erbguts nach Genvarianten, die psychischen Leiden wie Schizophrenie oder Depression zugrunde
liegen. Die Erkenntnisse der Genetiker sollen nicht nur die biologische Basis der
Geisteskrankheiten freilegen, sie könnten auch das Fundament der gesunden
Psyche erkennen lassen.
Gleichwohl könnte das Menschenhirn bei dem Versuch, sich selbst zu verstehen, erneut scheitern – wie seit 2500 Jahren. Die Herausforderung ist jedenfalls
formidabel. Rund 100 Milliarden Neuronen ticken im Hirn, jedes einzelne steht,
direkt oder indirekt, mit 10 000 weiteren in funktioneller Verbindung. Hinzu
kommt, dass die Nervennetze keineswegs fest verdrahtet sind. Wird das Gehirn
mit neuen Aufgaben konfrontiert, bauen die Neuronen frische Verbindungen
oder kappen andere. »Alles, was ich tue, sogar die Formulierung dieses Satzes,
verändert mein Gehirn«, sagt der Münchner Psychiater Florian Holsboer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. Das Denkorgan des Menschen,
resümierte der US-Forscher Stuart Kauffman, sei das komplexeste Gebilde im
bekannten Universum.
Bislang hat die Wissenschaft bestenfalls Breschen in das Enigma des Geistes
geschlagen. Wie dem Feuerwerk der Nervenzellen Bewusstsein, Planung, Glaube
Prof. Dr. med. Volker Sturm
ist ein Pionier der modernen Neurochirurgie. Der
1943 in Heidelberg geborene Arzt hat in Stockholm
und Paris geforscht. Seit 1988 lehrt und arbeitet
er an der Universität Köln. Bis heute hat er mehr als
1300 Hirnschrittmacher implantiert.
58
Die Welt im Kopf
und Liebe entspringen, bleibt rätselhaft.
Doch längst zeigen Debatten wie die über
Manche Experten
Willensfreiheit: Die Neuroforschung
fürchten schon jetzt, dass
steht davor, das Hochheilige des AbendTherapien für Kranke
landes zu stürzen, die Idee der menschzum Lifestyle-Accessoire der
lichen Seele.
Gesunden werden könnten
In Gefahr gerät der geistige Besitzstand einer 2500 Jahre währenden
Denktradition. Schon Homer sprach von
der Seele, doch durchdacht haben erst griechische Philosophen diesen »feinen immateriellen Stoff«. Dem Aufrührer Sokrates galt die
Seele als Quelle der Erkenntnis und der Wahrheit. Sie
konnte dem Einzelnen auferlegen, mit allen gesellschaftlichen Konventionen zu
brechen. Ausgesprochen metaphysisch erscheint die Lehre seines Schülers Platon.
Die Seele gehöre »zu den ersten Schöpfungen, noch vor allen Körpern«. Der Leib
war für ihn das Fahrzeug der Seele, während diese – Ursprung aller Bewegung
– das Gefährt in Gang setzt. Warum stellte Platon die Seele vor den Körper? Die
Antwort des Philosophen: Jede Seele ist Teil der ewigen Weltseele. Daher sei auch
die Seele des Einzelnen unsterblich.
Aristoteles hat an Platons Seelenlehre höchst modern klingende Zweifel geäußert. Fremd war ihm die Vorstellung, neues Leben entstehe, weil Seelen aus
himmlischen Höhen ins Irdische hinabstürzten. Und vor allem: Wie kann etwas
Unstoffliches eine Bewegung auslösen? Auch Platons Idee der seelischen Selbstbewegung schien ihm rätselhaft. Deshalb hat Aristoteles die Psyche dem Körper
zurückgegeben. Sie sei die erste Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, und beide seien verschmolzen wie das Wachs und die ihm eingedrückte Form.
Erst christliche Denker spürten in der Seele wieder den göttlichen Atem;
der Schöpfer habe Adam seinen Odem eingehaucht, um ihn so zum Menschen
zu machen. In der Neuzeit ist es damit vorbei. Die empirische Philosophie, etwa
eines David Hume, entzaubert den Glauben an ihre überirdische Substanz. Der
strenge Denker Kant sah im metaphysischen Verständnis der Seele nichts anderes
als eine Ausrede der denkfaulen Vernunft. Aber es blieb von der unsterblichen
Seele immerhin ein »innerer Sinn«.
Heute befürchten viele Philosophen, dass die Hirnforschung auch deren
letzten »Hauch« auf den Illusionshaufen der Geschichte wirft. Die Seele wäre nur
eine Funktion des Körpers. Mit ihrem Tod ginge eine der kostbarsten Vorstellungen des Abendlandes verloren – die Idee, dass jeder Mensch ein ureigenes Selbstgefühl hat, das er niemandem mitteilen kann und das nur ihm allein gehört. Wie
der Philosoph Gottlob Frege sagt: »Jeder ist sich selbst in einer besonderen und
ursprünglichen Weise gegeben, wie er keinem anderen gegeben ist.« Könnte man
dieses Selbstgefühl wirklich einer technischen Intervention unterziehen, würde
Wunderwerk Gehirn
59
die immer als unverfügbar erschienene Seele zu einem manipulierbaren Objekt –
nur die Dichter, diese armen Seelen, könnten noch ein Lied von ihr singen.
Die nächste Generation der Philosophen wird darüber nachdenken müssen, was vom einzigartigen Selbst jedes Menschen bleibt, wenn es Elektroden
gehorcht. Denn ob materiell oder immateriell – die Seele läuft oft aus dem Ruder.
Zu den häufigsten psychiatrischen Leiden gehören Zwangshandlungen, und vielen Kranken helfen weder Psychotherapie noch Medikamente. Der Neurochirurg
Volker Sturm aber hat knapp die Hälfte seiner 16 von Zwangsstörungen schwer
betroffenen Patienten durch die Dauerstimulation mit dem Hirnschrittmacher
»praktisch geheilt«, bei einigen weiteren hat sich der Zustand zumindest gebessert. Ob die DBS auch bei schweren Depressionen Erfolge zeigt, ist offen; noch
ist die Beobachtungszeit bei diesen Patienten zu kurz. Offenbar schwinden die
Symptome mit der Elektrodenimplantation zunächst rapide, kehren nach einiger
Zeit zurück, um dann wieder abzunehmen.
Schon jetzt fürchten allerdings Fachleute, dass die Hirnkrücke für Kranke
zum Accessoire der Gesunden werden könnte. Manche Psychopharmaka gelten
vor allem in den USA schon heute als Modedroge. Prüfungsgeplagte Studenten,
gehetzte Geschäftsleute oder Kreative steigern ihre Leistungen mit Ritalin-Pillen.
Der amphetaminähnliche Stoff ist nur zur Behandlung hyperaktiver und aufmerksamkeitsgestörter Kinder zugelassen. Auch Provigil, gedacht zur Behandlung plötzlicher Schlafattacken bei Narkolepsie-Patienten, erfreut sich größter
Beliebtheit bei partyfreudigen Professionals. Und längst forschen Neuro-Companys an einer neuen Klasse von Psychopillen, Gedächntisboostern und Lernturbos
– die in erster Linie natürlich Demenzerkrankungen abwehren sollen.
Der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer hat in einer Studie mit einem Alzheimer-Präparat das Gedächtnis von Gesunden verbessert. Er macht sich keine
Illusionen: »Kognitives En­hance­ment«, sagt er, »das kommt. So oder so.«
von Ulrich Bahnsen aus der ZEIT Nr. 34/2007
60
Die Welt im Kopf
Die Zellen des Anstoßes
Hirnforscher waren sich schon ganz sicher: Spiegelneuronen sollen die Basis
sein für Mitgefühl, Kultur, Religion und Sprache. Doch die Theorie weckt
Zweifel
Spiegelneuronen sind Pop. Wenn der Fußballfan auf dem Sofa beim Schuss des
Stürmers ebenfalls mit dem Bein ausschlägt, ruft er: »Meine Spiegelneuronen!«
Steckt in einer Sitzung jemand die anderen mit seinem Gähnen oder Lachen an,
können sie entschuldigend auf ihr Gehirn verweisen. Richtig, die Spiegelneuronen!
Die Nervenzellen erklären angeblich, Warum ich fühle, was du fühlst und
Woher wir wissen, was andere denken und fühlen, wie einschlägige Buchtitel suggerieren. Kultur, Kunst und Sprache, unsere Fähigkeit, zu helfen und Gesellschaften zu bilden – all dies beruht offenbar auf den raffinierten Schaltern im
Oberstübchen.
Der Hype begann bereits vor etwa fünfzehn Jahren: Damals entdeckten italienische Neurologen erstmals bei Affen, dass spezielle Zellen im Gehirn sowohl
beim eigenen Handeln feuern als auch, wenn man die entsprechende Handlung
bei anderen nur beobachtet. Damit schien plötzlich ein ganz einfaches neuronales
Korrelat für unsere Fähigkeit zum Verstehen und Begreifen gefunden zu sein:
Dank der Spiegelneuronen, jubelten die Forscher, übersetze unser Gehirn mühelos eine beobachtete Szene in etwas selbst Erlebtes (siehe Kasten unten).
Heute scheinen die allmächtigen Neuronen selbst den Fortbestand der Zivilisation zu sichern: Laut dem US-Soziologen und Autor Jeremy Rifkin kommt
es ganz auf die Spiegelzellen an, wenn es gelingen soll, »das empathische, das biosphärische Bewusstsein« zu entwickeln und im globalen Miteinander die haltlose
Plünderung der letzten Energie- und Rohstoffreserven zu stoppen. Auch kognitive Störungen, die mit dem Sozialverhalten zusammenhängen, etwa Autis­mus,
gelten als Krankheiten des »Spiegelsystems« – das behaupten jedenfalls manche
Mediziner und befördern damit den Fluss von Forschungsgeldern.
Der erste Platz im Wettbewerb der vollmundigsten Sprüche gebührt allerdings Vilayanur Ramachandran. Der Neurologe vom Center for Brain and
Cognition an der University of California in San Diego setzte dem Hype um die
Spiegelneuronen die Krone auf, indem er sie kurzerhand zur physischen Basis
religiösen Empfindens erklärte. Es handele sich dabei, formulierte er, um »DalaiLama-Neuronen, welche die Grenze zwischen dir und deinem Gegenüber auflösen«. Ramachandran verglich die Wunderzellen bereits mit der Erbsubstanz.
»Ich pro­gnos­ti­zie­re, dass die Spiegelneuronen für die Psychologie das sein werden,
Wunderwerk Gehirn
61
Vittorio Gallese und
Giacomo Rizzolatti sind die
Spiegelneuronen-Erfinder.
was die DNA für die Biologie war«, posaunte der PR-begabte Neurologe. Nervenzellen als das vereinigende Prinzip, ihre Entdeckung als Weltformel der Hirnforschung? Das war den Fachkollegen zu viel.
Zwischen fantasie und experimentellen Beweisen klafft ein
gewaltiger Abgrund
»Dafür bekommt er eins auf die Mütze, wann immer ich ihn treffe«, sagt David Pöppel. Der Neurowissenschaftler und Linguist an der New York University reibt sich nicht primär an der ausufernden Erfindungsgabe mancher Kollegen. Wissenschaftler müssen kreativ sein. Doch im Fall der Spiegelneuronen
klaff t ein wahrer Abgrund zwischen den öffentlichen Fantasien und dem, was
62
Die Welt im Kopf
experimentell wirklich belegbar ist. Und das liegt nicht nur daran, dass die Neuronen inzwischen für alles Mögliche gut sein sollen. »Von Haarausfall bis Impotenz – es ist abenteuerlich, was ihnen alles zugewiesen wird«, erklärt der in
München aufgewachsene Pöppel seine Unruhe. »Gleichzeitig ist die Befundbasis
äußerst schmal.«
Mehr oder weniger leise Vorbehalte gegen das Konzept der Spiegelneuronen gab es seit ihrer Entdeckung immer wieder. Doch neuerdings formiert sich
vor allem in der Generation jüngerer Neurowissenschaftler eine breite Front an
Kritikern. Sie haben sich nicht nur die Mühe gemacht, die Fachliteratur der vergangenen 20 Jahre auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. Sie stützen sich zudem auf
aktuelle Befunde, die das, was so blumig als »Spiegelneuronen« durch die Welt
geistert und was den Nervenzellen allenthalben angeheftet wird, als reichlich
überzogen erscheinen lassen. »Die Zellen sind da«, präzisiert David Pöppel, »aber
wozu sie gut sind und was sie machen, das wissen wir überhaupt nicht.«
Wer das Rätsel erkunden will, muss bis zum Anfang der 1990er Jahre zurückgehen. Damals untersuchten zwei Arbeitsgruppen um den Biologen Giacomo Rizzolatti und den Mediziner Vittorio Gallese an der Universität Parma den
prämotorischen Kortex des Südlichen Schweinsaffen, eines Makaken. Dabei konzentrierten sich die Wissenschaftler auf das sogenannte Areal F5 im Hirn, das für
Bewegungsmuster der Hand zuständig ist. Mittels dünner Elektroden im Hirn
der Affen konnten die Forscher zeigen: Immer wenn die Tiere mit der Hand
eine Nuss ergriffen und zum Mund führten, wurden die in Areal F5 liegenden
Neuronen aktiv. So weit entsprach das noch der Erwartung.
Spannend wurde die Sache, als Rizzolatti und Gallese feststellten, dass etwa
17 Prozent der dort gelegenen Nervenzellen auch dann feuerten, wenn die Affen
nur dabei zusahen, wie ein menschlicher Experimentator eine Nuss ergriff. Der
prämotorische Kortex war offenbar nicht einfach nur ein Schaltkreis, um eigene
Bewegungsprogramme auszuspucken – er reagierte auch auf visuellen Input,
wenn andere die entsprechende Bewegung ausführten. Das war eine gewaltige
Überraschung. Denn visuell aktive Zellen sollte es im motorischen Kortex eigentlich nicht geben. Wozu sollte das gut sein?
Rizzolatti und Gallese tauften die merkwürdigen Zellen Spiegelneuronen
und postulierten, diese würden die zentrale Schaltstelle für das Verstehen von
Handlungen darstellen. »Jedes Mal, wenn ein Individuum die Handlung eines
anderen wahrnimmt, werden die Zellen im prämotorischen Kortex des Beobachters erregt, welche diese Handlung repräsentieren«, meinte Rizzolatti. Beobachten hieße also im wahrsten Sinne des Wortes Be-Greifen.
Auf diese Weise, so Rizzolattis Idee, wäre die Grenze zwischen Vorbild
und eigenem Tun aufgehoben und gleichsam physisch die Brücke zum Verstehen geschlagen. »Dieses automatisch ausgelöste motorische Muster der beobachteten Handlung entspricht dem, was durch eine aktive Handlung erzeugt
wird und dessen Ergebnis dem handelnden Individuum bekannt ist«, schrieb der
Wunderwerk Gehirn
63
italienische Forscher und triumphierte: »Das Spiegelsystem transformiert also
visuelle Information in Erkenntnis.«
um eine Handlung zu verstehen, reicht es nicht aus, sie zu beobachten
In der Fachliteratur war bald immer häufiger von einem »Spiegelsystem« die Rede, als
die fraglichen Zellen auch im menschlichen Gehirn gefunden wurden. Marco Iacoboni von der University of California in Los Angeles behauptete, mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie bei Versuchspersonen die neuronale Spiegelaktivität
nachweisen zu können; und das nicht nur in Hirnregionen, die mit der unmittelbaren
Bewegungssteuerung zusammenhingen, sondern auch in Zentren für das Sprachverständnis. Dieses Ergebnis ließ die Spekulationen so richtig ins Kraut schießen: Sprache, Kultur, Globalisierung – alles schien nun an den Spiegelneuronen zu hängen.
Im Gegensatz zur öffentlichen Begeisterung, die solche Ergebnisse entfachten, sorgten sie indes unter Neurowissenschaftlern auch für einiges Unbehagen.
Denn die Fachleute wissen: Kernspintomografen, wie Iacoboni sie benutzt, arbeiten zeitlich viel zu langsam und räumlich viel zu grobkörnig, um schnelle
Wahrnehmungsprozesse zu erfassen.
Einen Dämpfer bekam die Spiegelneuronen-Theorie dann durch die Studien von Raffaella Rumiati vom neurowissenschaftlichen Forschungszentrum in
Triest. Sie untersuchte Patienten, deren Gehirn – etwa aufgrund eines Schlaganfalls – geschädigt war. Dabei stellte sich heraus: Manche Patienten können zwar
bestimmte Objekte nicht mehr benutzen, sehr wohl aber die damit verbundenen
Handlungen erkennen. Bei anderen ist es genau umgekehrt: Sie sind unfähig,
die Objekte wahrzunehmen, können aber die Akte noch ausführen. Rumiatis
Folgerung: Das Verstehen der Handlungen und ihre Wahrnehmung sind im Gehirn räumlich getrennt. Sie beruhen auf unterschiedlichen Prozessen – und sind
nicht etwa in den sogenannten Spiegelneuronen vereint.
Als Nächstes präsentierte eine Gruppe um Angelika Lingnau und Alfonso
Caramazza vom Center for Mind/Brain Sciences der Universität Trient eine Studie,
die weiter massive Zweifel schürte. Darin untersuchten sie, wie das Gehirn auf die
häufige Wiederholung ein und desselben Reizes reagiert. Normalerweise kommt es
dabei zu einer Anpassung (Adaptation): Sieht eine Person mehrmals hintereinander
die Farbe Rot, reagieren die Rot-Zellen im Gehirn allmählich immer schwächer.
Die These der Forscher war, dass auch im »Spiegelsystem« eine solche Adaptation
zu beobachten sein sollte; egal, ob eine bestimmte Handlung zunächst beobachtet und
dann ausgeübt wird oder umgekehrt – in jedem Fall sollten die Spiegelzellen schwächer reagieren. Doch die Vorhersage traf nur teilweise ein: Die Zellen adaptierten zwar,
wenn eine Person einen Akt erst beobachtete und dann ausführte; sie reagierten jedoch
anders, wenn die Reihenfolge von Handlung und Beobachtung umgekehrt wurde.
Was ist der Grund für diese Asymmetrie? Nach Ansicht von Lingnau und
Caramazza zeigt ihr Befund, dass die Aktivität der Spiegelzellen eben nicht
64
Die Welt im Kopf
automatisch zum »Verstehen« führt. Zumindest bei der Reihenfolge »zuerst handeln/dann sehen« könne von einer automatischen Reaktion der Spiegelneuronen
keine Rede sein. Stattdessen komme es in diesem Fall zu einer Neubewertung der
Situation, die nicht in den Zellen selbst, sondern in anderen Gehirnregionen erfolgt. »Spiegelneuronen stellen demnach nicht die biologische Basis des Verstehens
dar«, stellt Lingnau klar. Dieser Satz ist ein Frontalangriff auf die zentrale Aussage
der Spiegel-Theorie von Rizzolatti.
Vergegenwärtigt man sich die Komplexität eines Verstehensvorgangs, kann
ein solcher Befund kaum überraschen. Nehmen wir zum Beispiel an, wir sehen,
wie jemand mit der Hand eine volle Flasche ergreift und deren Öffnung dem
Rand eines Glases nähert. Dieser einfache motorische Vorgang kann eine Fülle
von Bedeutungen haben: Es kann ums Ausgießen gehen, ums Füllen, Anstoßen,
Verschütten, Teilen oder im Extremfall ums Vergiften. Um die Handlung wirklich zu verstehen, reicht es nicht, sie nur zu beobachten oder selbst auszuführen.
Wir müssen zum Beispiel auch wissen: Welche verbalen Äußerungen gab es? Was
war vorher passiert? Waren Beobachter anwesend?
Haben die Zellen schlicht etwas mit der fähigkeit zur Imitation zu tun?
Das heißt: Visuelle und motorische Aspekte sind für das Verständnis einer Handlung zwar wichtig, aber nicht hinreichend. Wir müssen diese Aspekte auch in ein
größeres Beziehungsgeflecht einbetten können. Wäre dies anders, könnte man
prinzipiell aus zwei Gegenständen die Zukunft vorhersagen, wie sich der amerikanische Linguist Noam Chomsky einmal belustigte.
Für die sogenannten Spiegelneuronen bedeutet dies: Was reduktionistisch
einzelnen Zellen zugewiesen wurde, scheint eine Leistung des gesamten Gehirns
zu sein. Damit sind die vermeintlichen Spiegelneuronen als erklärendes Modell
hinfällig; zumindest erscheint ihre Rolle deutlich kleiner als bisher behauptet.
V. S. Ramachandran
Der Neurologe Vilayanur S. Ramachandran ist
bekennender Anhänger der Spiegelneuronen-These.
Er wurde als Sohn einer einflussreichen Familie in
Indien geboren und studierte dort Medizin. Heute
lehrt und forscht Ramachandran an der University
of California, San Diego.
Wunderwerk Gehirn
65
Bestätigt wird dies durch eine aktuelle Arbeit, die das ohnehin vage definierte »Spiegelsystem« sehr weiträumig im Gehirn verortet, zum Beispiel auch
in der Gedächtnispforte Hippocampus. »Damit sind wir bei dem alten Wie-arbeitet-das-Gehirn-Problem«, erklärte die Neurophilosophin Patricia Churchland
dazu. Die komplexen und weiträumigen Verteilungsmuster der Si­gna­le erschweren den Forschern die Interpretation.
Also zurück zu den Experimenten mit Schweinsaffen!, fordert Greg Hickok
von der University of California in Irvine, einer der Wortführer der Skeptiker. Weg
von den überzogenen Interpretationen der Spiegelzellen als Schlüssel für Ich-Entgrenzung, Globalisierung, Empathie und Kulturfähigkeit. Schließlich haben die
braven Äffchen von alldem höchstens einen blassen Schimmer; dennoch besitzen
sie die angeblichen Wunderzellen. Was also erklärt deren Existenz tatsächlich?
Nach Hickoks Ansicht verlegte sich Rizzolatti seinerzeit voreilig auf die Erklärung des Verstehens. Er ließ dabei die naheliegende Möglichkeit außer Betracht,
die Spiegelneuronen könnten lediglich etwas mit Imitation zu tun haben. Vermutlich war er der Meinung, Imitationen gehörten nicht zum Verhaltensrepertoire seiner Makaken. Tatsächlich aber imitieren diese einander durchaus, etwa bei Gesten
der sozialen Kommunikation oder beim Gähnen. Umgekehrt, meint Hickok, verstünden die Affen die Bedeutung einer Handlung auch dann, wenn sie selbst dazu
gar nicht in der Lage seien – etwa das Werfen von Gegenständen.
Die wachsenden Einwände lassen die blühenden Fantasien mancher Neurowissenschaftler genauso dürftig dastehen wie viele andere große Theorieentwürfe. Die Entdeckung der Spiegelneuronen ist zwar ein höchst interessanter
Befund. Als Basis einer neuropsychologischen Weltformel taugt sie jedoch nicht.
Greg Hickok vermutet inzwischen, dass die bimodalen Neuronen lediglich daran
beteiligt sind, auf den Anblick eines Aktes hin eine Reaktion aus dem eigenen
Verhaltensrepertoire auszuwählen. »Auf das Verstehen können wir als Erklärung
komplett verzichten«, versichert er.
von Werner Siefer aus der ZEIT Nr. 51/2010
66
Die Welt im Kopf
Stichwort
Das Nervensystem
Das menschliche Gehirn enthält viele
Hundert Milliarden Zellen, die in hochgradig organisierter Weise angeordnet
sind, und es heißt oft, unser Gehirn
sei das komplexeste Organ im ganzen
bekannten Universum – obwohl es nur
rund 1,5 Kilogramm wiegt. Es besteht aus
zwei Hälften oder Hemisphären, die ihre
Informationen jeweils von der gegenüberliegenden Seite des Körpers erhalten. Die Großhirnrinde (Cortex cerebri),
die beide Hemisphären überzieht, ist auf
beiden Seiten in je vier Lappen untergliedert, die alle unterschiedliche Aufgaben erfüllen und durch tiefe Furchen,
sogenannte Fissuren, voneinander getrennt sind.
Der Stirn- oder Frontallappen übernimmt komplexe geistige Funktionen wie
logisches Denken und Entscheidungsfindung und enthält zudem die motorischen
Areale, die Willkürbewegungen planen
und durchführen.
Das Nervensystem besteht aus zwei Hauptkomponenten. Ein Teil, das
Zentralnervensystem
(ZNS), setzt sich aus
Gehirn und Rückenmark zusammen;
es erhält Informationen vom
übrigen Körper und
koordiniert dessen Aktivitäten. Der andere Teil, das
periphere Nervensystem,
umfasst die Nerven, die
den Informationsaustausch
zwischen Körper und ZNS
gewährleisten.
Der Scheitel- oder Parietallappen enthält die somatosensorischen Areale,
die Berührungsinformationen aus dem
Körper verarbeiten. Zudem verknüpft
er verschiedene Typen sensorischer Informationen, um uns ein »Raumgefühl«
zu vermitteln – im Grunde das Wissen
darüber, wie unser Körper im Raum ausgerichtet ist.
Stichwort
67
Der Schläfen- oder Temporallappen empfängt Informationen von den
Ohren, und seine Außenfläche enthält Areale, die auf das Verstehen von
Sprache spezialisiert sind. Die Innenfläche enthält den Hippocampus, der
entscheidend für die Speicherung von Erinnerungen ist und zusammen
mit den umliegenden Bereichen eine wichtige Rolle bei der räumlichen
Orientierung spielt.
Der Hinterhaupts- oder Okzipitallappen liegt am hinteren Hirnpol und
enthält Dutzende verschiedene Bereiche, die auf die Verarbeitung und
Interpretation visueller Signale spezialisiert sind.
Im Inneren des Gehirns Unter dem Kortex befinden sich mehrere große Ansammlungen (Cluster) von Neuronen. Der Thalamus (gr. thalamos,
»Schlafgemach, kleines Zimmer«) liegt genau im Zentrum des Gehirns
und leitet wie eine Relaisstation Informationen von den Sinnesorganen
an die entsprechenden Regionen im Gehirn weiter. Rund um den Thalamus liegen die Basalganglien, mehrere Ansammlungen von Nervenzellkörpern (Kerne), die hauptsächlich für die Kontrolle von Willkürbewegungen zuständig sind. Das limbische System umfasst ebenfalls eine Reihe
subcorticaler Strukturen und liegt zwischen Basalganglien und Kortex.
Dieses System, das manchmal als »Reptiliengehirn« bezeichnet wird, ist,
evolutionär gesehen, primitiv und spielt für Emotionen, Belohnung und
Motivation eine Rolle. Dazu zählen auch Hippocampus und Amygdala,
die beide an der Bildung von Langzeiterinnerungen beteiligt sind.
Das Mittelhirn ist ein kleiner Bereich oberhalb des Stammhirns. Es
enthält mehrere Kerne, die die Augenbewegung kontrollieren, und ist die
Hauptquelle für den Neurotransmitter Dopamin. Neurone, die Dopamin
produzieren, erzeugen auch das Pigment Melatonin, das einem Teil des
Mittelhirns ein dunkles Aussehen verleiht. Dieser Teil wird daher als Substantia nigra (»schwarze Substanz«) bezeichnet.
Das Rautenhirn umfasst drei Strukturen oberhalb des Rückenmarks,
die gemeinsam den Hirnstamm bilden. Der untere Teil des Hirnstamms,
die Medulla oblongata, kontrolliert wichtige Vitalfunktionen wie Atmung
Das menschliche Gehirn ... ist die komplexeste
Anordnung von Materie, die wir kennen.
und Herzschlag und ist eng mit dem Wachbewusstsein verknüpft. Über
der Medulla liegt der Pons (lat. pons, »Brücke«); er verbindet den Kortex
mit dem Rückenmark und ist ebenfalls für das Wachbewusstsein von
Bedeutung. Die dritte Komponente des Rautenhirns, das Kleinhirn oder
Cerebellum, spielt für die Gleichgewichtskontrolle und die Bewegungskoordination eine wichtige Rolle. Das Kleinhirn ist für das Erlernen motorischer Fertigkeiten wie das Fahrradfahren wesentlich, aber auch mit
Emotionen und Denkprozessen v
­ erknüpft.
Hochbetrieb Das Rückenmark im Zentrum des körpereigenen Transportnetzes ist ein riesiges Bündel von Millionen Nervenfasern, das den
Informationsaustausch zwischen Gehirn und Körper sichert. Diese sehr
empfindliche Struktur, die von der Wirbelsäule geschützt wird, kann gewisse Funktionen, wie den Patellarsehnenreflex, ohne »Befehl von oben«
in Eigenregie durchführen. Dieses zentrale Nervenbündel ist zudem
segmentiert; in regelmäßigen Abständen treten Nerven ins Rückenmark
ein und aus ihm heraus, und zwar in hochgradig geordneter Weise. Der
Querschnitt des Rückenmarks ähnelt einer Schmetterlingsfigur.
Die Fasern der Motoneurone entspringen vorn im Rückenmark,
ziehen zur Körpermuskulatur und übermitteln ihr die Anweisungen des
Gehirns im Hinblick auf Willkürbewegungen. Die Axone der sensorischen
Neurone hingegen transportieren Informationen vom Körper zum Rückenmark und nehmen Kontakt mit nachgeordneten Neuronen auf, die
die Informationen hinauf zum Gehirn schicken. Die Axone der motorischen
und der sensorischen Neurone sind in den peripheren Nerven gebündelt.
Verschiedene Schichten der Komplexität
Der Kortex (lat. cortex, »Rinde«) ist
eine stark gefaltete, dünne Gewebeschicht, die die Oberfläche des
Gehirns überzieht. Er weist beim
Menschen eine viel größere Oberfläche auf als bei anderen Tieren
– flach ausgebreitet sind es 0,2
Quadratmeter. Die starke Faltung
des Kortex mit all seinen Gyri und
Sulci (Windungen und Rinnen)
verleiht dem Gehirn sein vertrautes
Aussehen. Der Kortex ist nur wenige
Millimeter dick, umfasst aber sechs
Schichten, in denen die Zellen
jeweils in einheitlicher Weise angeordnet sind. Trotz dieser einheitlichen Struktur enthält der Kortex
eine Vielzahl eigenständiger Areale,
von denen jedes auf eine bestimmte
Funktion spezialisiert ist.
Isaac Asimov, 1986
68
Die Welt im Kopf
Stichwort
69
Der Geist, eine
­geheimnisvolle
Form der Materie,
abgesondert vom
Gehirn.
Botenstoffe Das periphere Nervensystem setzt sich aus all den Nerven zusammen, die aus dem Gehirn
und dem Rückenmark austreten, und
wird in zwei Komponenten unterteilt.
Ein Teil, das somatische Nervensystem, besteht aus den motorischen
und sensorischen Nervenfasern, die
Informationen zwischen Körper und
Ambrose Bierce, 1911
Rückenmark austauschen. Diese
Nerven beschäftigen sich mit der
bewussten Aufnahme sensorischer
Empfindungen und mit Willkürbewegungen.
Die zweite Komponente, das
autonome oder vegetative Nervensystem, lässt sich weiter in das sympathische und das parasympathische Nervensystem unterteilen, die
komplementäre Funktionen aufweisen. Das sympathische Nervensystem
verwendet den Neurotransmitter Noradrenalin, um die Herz­frequenz zu
erhöhen, Pupillen und Bronchien zu erweitern und die Durchblutung des
Verdauungssystems zu reduzieren. All dies bereitet den Körper auf Aktivität vor; man spricht daher auch von der Kampf-oder-Flucht-Reaktion.
Das parasympathische Nervensystem dagegen benutzt den Neurotransmitter Acetylcholin, der die Pupillen und die Bronchien verengt, die Herzfrequenz senkt und die ­Verdauungstätigkeit steigert.
Die Hirnnerven sind ebenfalls Teil des peripheren Nervensystems.
Diese Nerven treten aus dem Hirnstamm aus und übermitteln Informationen zwischen dem Gehirn und den Sinnesorganen. Der Vagusnerv, der
10. Hirnnerv, ist der längste von allen und entsendet Äste bis in Herz,
Brust und Bauch.
Moheb Costandi
70
Die Welt im Kopf
Die große Neuro-Show
Was wurde aus den Verheißungen der Hirnforschung?
Wissenschaftler ziehen Bilanz.
Frage: Wie verschafft man sich als Forscher heute besondere Autorität? Antwort:
indem man als Hirnexperte auftritt oder zumindest neurologische Studien zitiert.
Egal, ob es um richtiges Lernen oder Marketing geht, um Mitgefühl, Liebe oder
politische Entscheidungsfindung – kaum etwas verleiht einem Standpunkt mehr
Glaubwürdigkeit als der Verweis auf bunte Hirnbilder aus dem Kernspintomografen. Diese scheinen schließlich glasklar zu belegen, was im Kopf von Lernenden, Liebenden oder Kaufenden wirklich vor sich geht.
Die besondere Aura der Hirnforschung verschafft ihren Vertretern nicht
nur Gehör, sie zahlt sich auch finanziell aus. Neurowissenschaftler rekrutieren
derzeit enorme Forschungsmittel – wie etwa jene Milliarde Euro, mit der die EU
das ­Human Brain Project fördert; und sie verstehen es, ihr Wissen auch privat zu
Geld zu machen – wie der Bonner Hirnforscher Christian Elger, der Bücher über
Neuroleadership schreibt und auf Werbekongressen auftritt; oder wie sein Bremer Kollege Gerhard Roth, der sich in seiner Firma Roth GmbH als Experte für
»Verkaufs­training«, »Neuromarketing« und »Unternehmensführung« anbietet.
Von der prognostizierten Revolution ist in der klinischen Praxis
nichts zu sehen
Doch wie ist es um die Aussagekraft der bunten Hirnbilder tatsächlich bestellt?
Und wo steht die Neurowissenschaft heute, zehn Jahre nach jenem berühmten
»Manifest« der Hirnforscher, das 2004 für Aufsehen sorgte? Damals skizzierten
elf führende Vertreter – darunter Gerhard Roth, Wolf Singer und Christian Elger
– den Stand und die Aussichten ihrer Disziplin; der Ton oszillierte dabei zwischen
Demut und Großspurigkeit.
Einerseits bekannten die deutschen Hirn­forscher bescheiden: »Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet (...), wie das innere Tun als ›seine‹ Tätigkeit erlebt wird und wie es künftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor
nicht einmal in Ansätzen.«
Ungeachtet dessen, prognostizierten sie andererseits »enorme Fortschritte«
für die nächsten zehn Jahre: Man werde die Grundlagen von Alzheimer und
Parkinson verstehen und diese Leiden »vielleicht von vornherein verhindern
oder zumindest wesentlich besser behandeln können«. Für Schizophrenie und
Wunderwerk Gehirn
71
Depressionen wurde gar gleich »eine neue Generation von Psychopharmaka« in
Aussicht gestellt, die »hocheffektiv sowie nebenwirkungsarm« sei und die »Therapie psychischer Störungen revolutionieren« könnte.
Zehn Jahre später ist klar: Von alldem ist nichts eingetreten. Von einem
echten Verständnis der ­Ursachen der Alzheimer-Demenz sind wir so weit entfernt wie 2004, Therapien zur Verhinderung oder Heilung der Krankheit sind
bis heute nicht verfügbar; auch die behauptete Revolution in der Therapie psychischer Störungen blieb bislang aus, neue »hocheffektive und nebenwirkungsarme« Medikamente waren pures Wunschdenken.
Zum zehnten Jahrestag des Manifests hat daher eine Gruppe von Neurobiologen, Psychiatern, Psychologen und Philosophen eine Art Gegenmanifest
verfasst, ein Memorandum »Reflexive Neurowissenschaft«, das scharf mit dem
damaligen Papier ins Gericht geht. Die Bilanz falle enttäuschend aus, »eine Annäherung an gesetzte Ziele ist nicht in Sicht«, schreiben die Forscher um den
Psychiater und Neurologen Felix Tretter, Chefarzt am Isar-Amper-Klinikum
München-Ost.
Das Aktivitätsmuster verrät, wo die Nervenzellen im Gehirn besonders viel
Sauerstoff verbrauchen.
72
Die Welt im Kopf
Zwar würde von »klinisch tätigen Ärzten sowie von Patienten und deren Angehörigen« nichts sehnlicher erwartet als Fortschritte der Neuro­wissenschaften.
Doch von solchen sei in der Praxis kaum etwas erkennbar – und das liege nicht
etwa an der zu kurzen Zeit oder fehlenden Forschungsgeldern, sondern an grundlegenden »Unzulänglichkeiten im Bereich der Theorie und Methodologie der
Neurowissenschaften« – anders gesagt: am fehlenden Verständnis der grundsätzlichen Regeln, nach denen das Gehirn funktioniert.
Sex, Schmerz und Zeitgefühl – all das steckt
angeblich im selben Hirnareal
So gilt heutzutage eine Geistesfunktion häufig schon als »erklärt«, wenn man im
Kernspintomografen zeigen kann, welches Hirnareal dabei aktiv wird. Dummerweise sind solche Zuordnungen alles andere als eindeutig. Darauf hat kürzlich
auch der Neuropsychologe Ernst Pöppel hingewiesen. Ihm ist aufgefallen, dass
die Inselrinde (Insula) im Kortex offenbar ein artistischer Multitasker ist. Je nach
Studie scheint sie mal verantwortlich für negative Emotionen, mal für Körpergefühl, wahlweise auch für Aufmerksamkeit, Schmerz, Sex, Begierde oder Zeit­
gefühl. »Das ist Unsinn«, kommentiert Pöppel, »das ist schlimmer als die Phrenologie vor 200 Jahren«.
Das Gehirn arbeitet eben nicht nach dem Schubladenprinzip, wie manche
Studien suggerieren, es zieht seine Leistung aus der hochdynamischen Vernetzung von rund 100 Milliarden Nervenzellen, die permanent miteinander interagieren. Wie das genau vor sich geht, weiß derzeit niemand. Klar ist aber: »Eine
psychische Funktion wird an mehreren Gehirnorten realisiert, und ein Gehirnort ist an mehreren Funktionen beteiligt«, wie es im neuen Memorandum heißt.
Daher reiche es nicht, per Kernspin und anderen Methoden immer neue Daten
zu sammeln, um die große Frage zu beantworten, wie das Gehirn arbeite und wie
am Ende etwas wie Geist und Bewusstsein entstehe.
Genau das aber hatten die Hirnforscher 2004 in Aussicht gestellt. In den
nächsten 20 bis 30 Jahren werde man »widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein,
Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen,
denn sie beruhen auf biologischen Prozessen«. Dieser Satz klang so, als wüssten
die Neurowissenschaftler bereits, wie man Geist, Bewusstsein et cetera alleine
aus biologischen Vorgängen heraus erklären kann. Davon kann jedoch bis heute
keine Rede sein.
Inzwischen muss man diesen Satz wohl so lesen, dass Gedanken und Gefühle auch auf biologischen Prozessen beruhen – was allerdings eine ziemlich banale Erkenntnis ist. Denn »in einem sehr trivialen Sinne«, schreiben die Kritiker
um Tretter, würden ja »alle menschlichen Leistungen ›auf biologischen Prozessen beruhen‹, denn man muss zum Beispiel atmen, um etwas zu leisten, woraus
jedoch nicht folgt, dass alle menschlichen Leistungen als Atmung ›angesehen‹
Wunderwerk Gehirn
73
werden können«. Die Autoren des Manifests
hätten hier notwendige und hinreichende
Bedingungen vermischt.
Kann man
Die Gegenposition formuliert am
Geist, Bewusstsein,
provokativsten
der Psychiater Thomas
Gefühle, Willensakte und
Fuchs aus Heidelberg: »Das Gehirn
Handlungsfreiheit
allein denkt gar nicht«, sagt Fuchs. Es
widerspruchsfrei als natürliche
sei »immer die ganze Person, die etwas
Vorgänge ansehen?
wahrnimmt, überlegt, entscheidet, sich
erinnert und so weiter, und nicht ein
Neuron oder ein Cluster von Molekülen«.
Deshalb lasse sich menschliches Denken und
Verhalten nur erklären, wenn man den ganzen
Organismus und dessen Umwelt betrachte – womit
auch kulturelle, soziale und moralische Dimensionen mit ins Spiel kommen.
Fuchs, Tretter und die anderen Unterzeichner des neuen Memorandums
fordern daher eine neue Perspektive, eine »systemwissenschaftliche« Gesamtschau. Dazu seien einerseits neue, »konzeptionelle Theorieentwicklungen« nötig,
zum anderen brauche es eine intensivere Zusammenarbeit der Hirnforscher mit
Disziplinen wie der klinischen Psychologie, Systemforschung und Philosophie.
Eine ähnliche Forderung findet sich schon im alten Manifest – allerdings
wird sie wirkungslos bleiben, solange an den Universitäten immer noch jede
Disziplin bei der Vergabe von Forschungs­geldern eifersüchtig über ihre Pfründe
wacht. So ist das neue Memorandum nicht weniger als ein Aufruf zur wissenschaftlichen Revolution.
Und das völlig zu Recht: Ohne diese Re­vo­lu­tion wird ein besseres Verständnis des Menschen und seines Bewusstseins nicht zu haben sein.
von Ulrich Schnabel aus der ZEIT Nr. 9/2014
74
Die Welt im Kopf
2.
Grenzzustände
des Gehirns
Was geschieht in unserem Kopf,
während wir schlafen? Wo verläuft
die Grenze zwischen Tiefschlaf
und Bewusstlosigkeit? Wozu sind
Träume da? Haben sie überhaupt
einen Sinn und wenn ja, welchen? Was
tut unser Gehirn, wenn wir gar nichts tun?
Schlaf, Traum, Leerlauf, Koma: Die Grenzzustände unseres Gehirns verraten den
Wissenschaftlern Überraschendes über
seine normale Funktion – und über unser
Bewusstsein.
76
Die Welt im Kopf
Jenseits von Gut und Böse
Schlafwandler, Wachträumer und ein tragischer Todesfall: Sind wir für
unser Verhalten im Schlaf und für unsere Träume verantwortlich? Brian Thomas erwürgte seine friedlich neben ihm schlafende Frau kurz vor dem
40. Hochzeitstag. Vor Gericht gab er die Tat zu. Ein klarer Fall, so schien es:
entweder verrückt oder ein Verbrecher. Doch der Staatsanwalt ließ die Anklage
fallen, der Richter pries Thomas als »anständigen Mann und hingebungsvollen
Ehegatten«. Thomas verließ den Swansea Crown Court als freier Mann.
Wenn einer, der seine Gattin getötet hat, einfach so gehen darf, muss er eine
gute Entschuldigung haben. In diesem Fall lautete sie: Schlafwandeln. Thomas
war mitten in der Nacht über seine Frau hergefallen – geistig abwesend, wie er
beteuerte. Seit der Kindheit sei er Schlafwandler gewesen. Mehrere Psychiater
hatten ihn begutachtet und befunden, er sei zur Zeit der Tat nicht Herr seiner
Handlungen gewesen: »nicht geistesgestörter Automatismus« lautete der Befund.
Richter und Anwälte folgerten, zur Tatzeit habe ­Brian Thomas keine Mens rea
gehabt, keinen schuldfähigen Geist.
Geständig, geistig gesund, aber unschuldig: Kann ein Täter darauf plädieren, nicht er, sondern sein Unbewusstes habe eine Tat begangen? Der Fall Thomas wirft eine grundsätzliche Frage neu auf: Was eigentlich geschieht mit uns,
wenn wir schlafen? Seit Langem grübeln Psychologen, Philosophen und Hirnforscher darüber. In den vergangenen Jahren haben bildgebende Verfahren den
Blick ins schlafende Gehirn ermöglicht und gezeigt, dass es anders als im Wachzustand funktioniert. Ganz anders, denn jenseits des Wachzustands vollzieht sich
ein radikaler Bewusstseinswandel. Nicht nur bei Schlafwandlern.
Lange galt Schlaf schlicht als eine Art Wartemodus des Gehirns, in dem
das Bewusstsein vorübergehend abgeschaltet wird. Bis zum Jahr 1951. Damals
verkabelte Eugene Aserinsky, Bummelstudent der Medizin, in einem Kellerlabor
in Chicago den Kopf seines achtjährigen Sohnes und zeichnete nächtelang dessen
Gehirnströme auf. Was Aserinsky sah, warf die Lehrmeinung um: Mehrmals
pro Nacht schlugen die Zeiger wild aus. Es herrschte alles andere als Sendepause im Hirn. Er beobachtete auch, dass die Augen des Kindes in diesen Phasen
munter zuckten. Dieses »Rapid Eye Movement« gab den Phasen wiederkehrenden
Grenzzustände des Gehirns
77
Schlaf- und Traumrhythmus
1
2
3
4
5
6
22 Uhr
23 Uhr
24 Uhr
1 Uhr
2 Uhr
3 Uhr
4 Uhr
5 Uhr
6 Uhr
7 Uhr
Durchschnittlicher Schlafverlauf in einer Nacht: Kurze Phasen des Tiefschlafs wechseln mit Leicht- und Traumschlafzeiten
1
4
Wachzustand 2 REM- bzw. Traumschlaf 3 Leichtschlaf (Phase 1)
Leichtschlaf (Phase 2) 5 Tiefschlaf (Phase 3) 6 Tiefschlaf (Phase 4)
Neuronenfeuerwerks ihren Namen, kurz REM. Und Versuchspersonen, die aus
dem REM-Schlaf geweckt wurden, fühlten sich fast immer aus Träumen gerissen. REM-Schlaf gleich Traumschlaf, folgerten viele Schlafforscher daraus.
Dennoch blieb das Dogma, dass Schlaf eine Form von Bewusstlosigkeit
ist. »Wenn jemand irgendeinen Zustand von Bewusstsein hat, dann folgt logischerweise, dass er nicht fest schläft«, erklärte 1956 der amerikanische Philosoph
Norman Malcolm. Träume galten den Forschern als Selbsttäuschung des Gehirns beim Aufwachen: entstanden aus dem Restgeflimmer neuronaler Aufräumarbeiten, das das anspringende Bewusstsein schnell zu einer Geschichte formt.
Wenige Forscher glaubten daran, dass wir unsere Träume tatsächlich im Kopf
durchleben.
An einem Freitag, dem 13. aber unternahm Stephen LaBerge, Doktorand
der Psychophysiologie, einen Selbstversuch, nachdem die Schlafforscher die Träume nicht mehr wegreden konnten. Das war im Januar 1978. Zehn Jahre zuvor
hatte LaBerge, damals Hippie und Physikstudent an der Stanford University, ein
fremdartiges Erlebnis gehabt. Er wähnte sich beim Bergsteigen im Himalaya. Um
sich herum nahm er dichtes Schneetreiben wahr, aber er fror nicht. Erst als er an
sich hinunterblickte und seine kurzen Ärmel sah, wurde ihm klar, dass die Situation nicht real sein konnte – dass er träumte. Berichte über solche »Klarträume«,
in denen der Träumer sich seines Zustands bewusst ist, waren seit Jahrzehnten
durch die Literatur gegeistert. Das Establishment der Schlafforscher hatte sie als
Absurdität oder Okkultismus abgetan. Aber LaBerge war entschlossen, Klarträume experimentell dingfest zu machen. An jenem Freitag gelang es ihm: Mit
vorher eingeübten Augenbewegungen gab er einem Kollegen, der im Labor über
seinen Schlaf wachte, ein Signal aus einem Klartraum heraus. Links, rechts, links,
rechts – die erste Verbindung zwischen Traumwelt und Wirklichkeit.
78
Die Welt im Kopf
LaBerge hatte damit zwei Dinge auf einen Streich gezeigt: Träume passieren
tatsächlich im Kopf, und wir können sie bewusst erleben. Die beiden führenden
Wissenschaftsmagazine Nature und Science lehnten LaBerges ersten Aufsatz zur
Veröffentlichung ab. Zwei kleinere Journale zur Schlaf- und Wahrnehmungsforschung griffen zu. Seither hat sich die Fachdiskussion komplett gewendet: Der
Zusammenhang von Schlaf, Traum und Bewusstsein ist kein Tabu mehr, sondern
eine Selbstverständlichkeit. »Träume sind bewusst, weil sie das Erscheinen einer
Welt erzeugen«, sagt Thomas Metzinger, Bewusstseinsphilosoph an der Universität Mainz. Dass der Schein der Traumwelt trügt, zählt dabei nicht. »Selbst wenn
alle Inhalte Halluzinationen sind«, sagt Metzinger, »Bewusstheit kann man sich
nicht einbilden.«
Auch für Hirnforscher schließen sich Schlaf und Bewusstsein nicht mehr
aus. »Träumen ist offenbar eine sehr hoch entwickelte Funktion des Gehirns«, sagt
Christof Koch, Neurowissenschaftler am Caltech in Los Angeles, »eine besonders
lebendige Form von Bewusstsein.« Genau genommen zeigt es sich gleich in mehreren Formen. Die Funktionen des Gehirns spielen dabei in unterschiedlichen
Kombinationen zusammen – ein wunderbares Experimentierfeld für Forscher
und Philosophen, die nach den Minimalbedingungen für Bewusstsein suchen.
In REM-Phasen ist das Gehirn zwar von Außenreizen abgekoppelt, es ist
aber sogar aktiver als im Wachen. Der Philosoph und Neurowissenschaftler Antti
Revonsuo hält REM-Träume daher für »Bewusstsein in Reinform«. Das Gehirn
nutze die Nacht, um ungestört von Sinnesreizen für den Tag zu trainieren – ein
Schattenboxen der Neuronen. Im REM-Schlaf unterscheiden sich Hirnchemie
und neuronale Aktivität dabei vom Wachzustand. Hirnscans zeigen, dass es beim
Träumen in einigen emotionalen Zentren äußerst lebhaft zugeht. Dagegen ruht
der präfrontale Kortex, ein Areal der Großhirnrinde hinter der Stirn, in dem, so
vermuten Hirnforscher, Gefühle und Erinnerungen zusammenlaufen und eine
schlüssige Handlungsabsicht entsteht.
Dieser Unterschied lässt sich spüren. Fehlt die Kontrollinstanz, übernehmen Emotionen wie Angst, Aggression und sexuelle Erregung das Kommando.
Aus braven Menschen können im Traum Schläger und Lüstlinge werden. Entscheidend für Forscher wie Thomas Metzinger ist, dass sich das »Traumselbst«
anders wahrnimmt als das »Wachselbst«. In manchen Traumberichten scheint
Sinnesreize – Druck, Wärme und Licht
gehören dazu, ebenso wie verschiedene
Geschmacksnoten und Duftmoleküle.
Sie stimulieren unsere Sinnesorgane,
die daraufhin elektrische Impulse an
die nachgeschalteten Nervenzellen
schicken. Nur einen kleinen Teil der
weitergeleiteten Reize nehmen wir überhaupt bewusst wahr – die Interpretation
der Impulse findet nämlich im zentralen
Nervensystem statt, losgelöst von den
Rezeptoren in Haut, Augen und Ohren.
Grenzzustände des Gehirns
79
es, als vergesse der Träumende sich selbst. Er kommt in der Traumgeschichte
überhaupt nicht vor. »Das autobiografische Selbstmodell ist im Traum stark reduziert«, sagt Metzinger, »im Traum haben wir nur schlechte Erinnerungen an
unser vergangenes Wach- und Traumleben. Das bewusste Selbst ist in diesem
Zustand äußerst instabil.«
Klarträumer hingegen wissen, wer sie sind und dass sie gerade träumen.
Oft können sie sogar den Traum selbst steuern – sozusagen ihren Wunschtraum
träumen. Die Psychologin Ursula Voss von der Universität Frankfurt am Main
hat die Köpfe von Klarträumern mit Elektroden verkabelt und erstmals gemessen, was darin geschieht. Und siehe da: »In Klarträumen erwacht der präfrontale
Kortex«, sagt Voss, »sonst sind die Aktivitätsmuster ziemlich die gleichen wie in
normalen REM-Träumen.« Damit bestätigt sie: Der präfrontale Kortex ist wirklich verantwortlich für höhere Bewusstseinsstufen, für die Reflexion von Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken – kurz gesagt, für den Realitätssinn.
Nun plant Ursula Voss die Gegenprobe: Sie will in normalen REM-Phasen
den präfrontalen Kortex mit elektrischer Sti­mu­la­tion »wecken«, um so Klarträume zu erzeugen. Wenn ihr das gelingt, könnte es große therapeutische Bedeutung
haben. Denn bei Menschen, die an einer Psychose leiden, funktioniert der präfrontale Kortex auch im Wachen nicht richtig. Schon lange kennen Psychologen
die Parallelen zwischen Psychosen und Träumen: Psychotiker können nicht zwischen der Außenwelt und ihrer Einbildung unterscheiden, der Bezug zur Realität
geht ihnen verloren. Das Vosssche Verfahren könnte den präfrontalen Kortex von
Psychotikern stimulieren und ihnen den Realitätssinn wiedergeben.
Realitätssinn war, was Brian Thomas fehlte, als er seine Frau erwürgte. In
jener Nacht war nämlich nichts wie sonst. Normalerweise schliefen er und seine
80
Das bewusste Selbst – In der Philosophie bezeichnet das bewusste Selbst
die Fähigkeit, über wahrgenommene
Reize und Gedanken zu reflektieren und
zu begreifen, dass man diese Fähigkeiten besitzt. Das bewusste Selbst er-
möglicht so, sich selbst als Individuum
wahrzunehmen. Nur so ist es möglich,
sich selbst als eigenständiges Wesen
zu verstehen und zu begreifen, dass
andere Lebewesen nicht dieselben
Reize und Gedanken wahrnehmen.
Psychose – Diese Erkrankung lässt die
Grenzen der Realität verschwimmen.
Halluzinationen, Wahnvorstellungen,
aber auch Antriebslosigkeit und Denkstörungen sind mögliche Symptome.
Psychosen können organische Gründe
wie eine Demenzerkrankung haben, die
nicht organischen Ursachen sind noch
nicht vollständig erforscht. Fest steht
aber, dass manche Medikamente wie
zum Beispiel hoch dosiertes Cortison
Psychosen auslösen können.
Die Welt im Kopf
Frau in getrennten Zimmern. Sie war so geplagt von der Nachtaktivität ihres
Gatten, dass sie in ein separates Schlafzimmer zog – mit dem Hausschlüssel unter dem Kissen, um ihren Mann daran zu hindern, im Freien herumzustolpern.
Doch in der Tatnacht war das Paar im Campingurlaub, schlief ausnahmsweise
nebeneinander. Da schreckte sie eine Gruppe Halbwüchsiger mit Motorenlärm
auf. Die Eheleute suchten sich einen neuen Standort für ihr Wohnmobil. Diesen
Zwischenfall nahm Brian offenbar mit in den Schlaf. Anders als zuvor reagierte
er diesmal aggressiv. Im Traum griff er die vermeintlichen Störer an – in Wirklichkeit seine Frau. Wieder wach, wählte er den Notruf: »Ich glaube, ich habe
meine Frau umgebracht. O mein Gott! Ich muss geträumt haben. Was habe ich
nur getan?«
Was genau in jener Nacht in Brian Thomas vorging, weiß niemand. Denn
Schlafwandeln ist bis heute ein rätselhaftes Phänomen und erscheint wie das
Gegenteil des Klarträumens: Schlafwandler sind zwar körperlich aktiv, aber eben
nicht bei Bewusstsein – sozusagen Teilzeitzombies. Sie agieren offenbar ähnlich
wie wache Menschen, die sich zum Beispiel geistesabwesend duschen oder die
Zähne putzen und sich hinterher darüber wundern, es getan zu haben. Nur ist bei
Schlafwandlern der Geist nicht abwesend, sondern er schläft.
Erstaunlich ist, zu welch komplexem Verhalten sie fähig sind. Im Juli
1833 erhob sich in Massachusetts die Hausangestellte J­ane ­R ider schlafwandelnd aus dem Bett, deckte säuberlich den Frühstückstisch, schöpfte sogar
den Rahm von der Milch, ohne einen Tropfen zu verschütten – alles mit geschlossenen Augen. Im Mai 1987 stand der kanadische Student Kenneth Parks
von seiner Couch auf, fuhr 23 Kilometer zu seinen Schwiegereltern und griff
sie mit einem Küchenmesser an. Seine Schwiegermutter starb. Er wurde, wie
Brian Thomas, freigesprochen.
Dem Schweizer Neurologen Claudio Bassetti ist das Kunststück gelungen,
einen schlafwandelnden Probanden in einen Gehirnscanner zu bugsieren. Die
Aktivität im präfrontalen Kortex und in anderen Regionen, die für absichtsvolles Handeln zuständig sind, war deutlich reduziert, während die emotionalen
Zentren stark durchblutet waren. Wenn sich das verallgemeinern lässt, handeln
Schlafwandler zwar sehr emotional, aber nicht willentlich. Und damit auch ohne
die Mens rea der Juristen.
Ob Brian Thomas allerdings ein klassischer Schlafwandler ist, weiß man
nicht. Er könnte auch an einer anderen Schlafstörung namens REM sleep behavior disorder (REM-Schlaf-Verhaltensstörung, abgekürzt RBD) leiden, die erst
in den achtziger Jahren entdeckt wurde. Auffällig häufig tritt RBD zusammen
mit Parkinson auf – woran auch Thomas leidet. Zwar geistern RBD-Patienten
ebenfalls nachts herum, aber im Unterschied zu Schlafwandlern träumen sie
dabei. Ihr Gehirn versäumt es, sich vom Körper abzukoppeln. Daher leben sie
ihre Träume in der wirklichen Welt aus. Und weil sie häufig Albträume haben,
beginnen sie zu randalieren. Geübte Beobachter erkennen den Unterschied im
Grenzzustände des Gehirns
81
REM sleep behavior disorder (RBD) –
Normalerweise erschlafft die Skelett­–
muskulatur im REM-Schlaf. Bei RBD-Betroffenen ist das nicht der Fall, sodass sie
zu komplexen, zielgerichteten Bewegungen fähig sind. Insbesondere Träume,
in denen sie meinen, angegriffen zu
werden, führen zu einer hohen Fremdund Eigengefährdung, zu blauen Flecken
und sogar Knochenbrüchen. Mehr als 80
Prozent der Betroffenen sind älter als
60 Jahre, die meisten männlich.
Parkinson – Bei Betroffenen sterben im
Mittelhirn die Dopamin produzierenden
Nervenzellen ab, sodass das Großhirn
nicht mehr ausreichend aktiviert wird.
Die Folge: verlangsamte Bewegungen,
Muskelsteifheit, Zittern und wachsende
Unsicherheit beim Gehen und Stehen.
Parkinson tritt meist zwischen dem 50.
und 80. Lebensjahr auf. Heilbar ist es
derzeit nicht, die Symptome können
aber gut behandelt werden.
Bewusstsein zwischen Schlafwandlern und RBD-Erkrankten am Verhalten:
»Schlafwandler agieren nur«, sagt Ursula Voss, »Menschen mit RBD reagieren
auch.« Doch sind sie für das, was sie dabei tun, ebenso wenig verantwortlich wie
gesunde Träumer für ihre im Kopf begangenen Untaten, zu denen sie sich im
Wachen niemals hinreißen lassen würden.
Bereits der heilige Augustinus, der sich vor 1600 Jahren vom Partylöwen
in einen bedeutenden Theologen wandelte, wunderte sich über den Unterschied
zwischen dem wachen und dem schlafenden Selbst: »Bin ich dann nicht ich, Herr,
mein Gott?«, fragte er in seinen Confessiones. »Wahrhaftig, solch ein Unterschied
ist zwischen mir und mir, schon innerhalb des Augenblicks, wo ich von hinnen
in den Schlaf hinübergehe oder vom Schlafe zurück herüberkomme.« Für so groß
erkannte er den Unterschied, dass er sich die Verantwortung für Traumtaten absprach: »Nicht wir haben es getan, was da irgendwie an uns geschieht.« Auch
Augustinus hätte Brian Thomas wohl freigesprochen.
von Tobias Hürter aus dem ZEIT Wissen Ratgeber Nr. 2/2013
82
Die Welt im Kopf
Sehnsucht nach Schlaf
Unser hektischer Alltag erzeugt chronischen Schlafmangel. Erwachsene
kann er in den Burn-out treiben und Schulkinder zu Zappelphilippen machen.
Wir brauchen eine neue Schlafkultur! Einmal im Jahr, wenn an einem Sonntag im Herbst die Uhren eine Stunde zurückgestellt werden, wird uns allen eine Stunde Schlaf geschenkt. Diese Stunde
haben wir bitter nötig. Denn viele von uns sind chronisch übermüdet – und die
meisten merken es nicht einmal.
So wie die Tänzerinnen des Berliner Staatsballetts, die der Mediziner Ingo
Fietze untersuchte. Fast zehn Wochen lang führten sie ein Tagebuch, in dem sie ihre
Schlafzeiten vermerkten. Zugleich trugen sie sogenannte Aktometer am Handgelenk, die jede Bewegung aufzeichnen. Damit konnte Fietze, Schlaflaborleiter an
der Berliner Charité, für jede Ballerina ein Tätigkeitsprofil erstellen. Der Vergleich
zwischen den Tagebuchnotizen und seinen Daten zeigte: Viele der Untersuchten
überschätzten ihre Ruhezeiten und häuften ein beachtliches Schlafdefizit an.
Die Berliner Ballerinen sind typische Vertreter unserer Leistungsgesellschaft – junge, gut trainierte Menschen, die einen fordernden Job bewältigen.
Ebenso typisch ist, dass sie zu wenig Schlaf bekommen und dafür das Gespür
verloren haben. Im hektischen Alltag bekommen heute viele Menschen zu wenig Schlaf. Und darunter leidet das körperliche wie das seelische Gleichgewicht.
Stu­dien belegen: Wer zu wenig schläft, wird leichter Opfer eines Burn-outs, er
erhöht sein Risiko für Übergewicht und Diabetes ebenso wie für Depressionen
und Angsterkrankungen. Und bei Kindern gilt Schlafmangel inzwischen sogar
als Auslöser für Hyperaktivität.
Aktometer – Ein Messgerät zum
Erfassen der Bewegungsaktivität. Es
sieht aus wie eine klobige Uhr und
wird am Handgelenk oder Knöchel des
nicht dominanten Fußes (bei Rechtshändern meist der linke Fuß) getragen.
Das Gerät zeichnet dreidimensional
Beschleunigungen auf. So kann ein
Profil der Bewegungs­intensität erstellt
werden. Mit diesen Werten lassen
sich Rückschlüsse auf Schlaf­pro­ble­me
und Erkrankungen ziehen. Depressive
Menschen etwa weisen in den Nachtstunden eine höhere motorische Ak­ti­vi­
tät auf als gesunde.
Grenzzustände des Gehirns
83
Wissenschaftler haben in zahlreichen Untersuchungen dokumentiert, wie
der Schlaf an Raum verliert. »Die Menschen in westlichen Ländern schlafen im
Durchschnitt etwa eine Stunde weniger als vor 20 Jahren«, fasst der Schlafmediziner Thomas Pollmächer vom Klinikum Ingolstadt die Datenlage zusammen.
Als ideale Schlafdauer für die Mehrheit der Erwachsenen gelten sieben bis
neun Stunden. Allerdings gibt es enorme Unterschiede. Für einige sind schon
fünf Stunden genug, andere brauchen mindestens zehn Stunden Schlaf. Umfragen zufolge schläft der Deutsche im Schnitt sieben Stunden und acht Minuten.
Das heißt aber auch: Viele schlafen deutlich länger, andere sehr viel kürzer. Zu
den Unausgeschlafenen gehören vor allem Leistungsträger – und Schüler.
Oft wird einfach zu viel gearbeitet. 1,7 Millionen Erwerbstätige in
Deutschland arbeiten laut Statistischem Bundesamt pro Woche 60 oder
mehr Stunden. »Und je mehr die Men­
schen arbeiten, desto weniger schlafen sie«, sagt Mathias Basner von der University of Pennsylvania in Philadelphia. Er hat das Schlafverhalten empirisch ausgewertet und festgestellt: Viele
Menschen stehen morgens extra früh auf, um abends keine Freizeit zu opfern.
Zu Bett gehen dann alle fast zur selben Zeit, meist nach der Lieblingssendung im
Fernsehen. »Es ist absurd«, sagt Basner, »alle wissen, wie gut Schlaf tut, doch den
meisten ist fast alles andere wichtiger.«
Die Wissenschaft hat längst gezeigt, wie wichtig der Nachtschlaf ist.
Währenddessen werden Organe und Gewebe regeneriert, Infekte bekämpft, Ein
drücke verarbeitet, wichtige Erinnerungen verfestigt und unwichtige verworfen.
»Wir müssen schlafen, um geistig und immunologisch fit zu bleiben«, bilanziert
der Lübecker Endokrinologe Jan Born. Wer ausreichend schlafe, betreibe »aktives
Anti-Aging«. Warum wir uns diese Wellness vorenthalten? Vielleicht weil das
Gefühl fürs rechte Maß so leicht abhandenkommt.
Das zeigt ein berühmt gewordenes Experiment des US-Psychiaters David
Dinges. Tagsüber quälte er seine Probanden mit Leistungstests, nachts gönnte er
ihnen unterschiedlich lange Ruhe. Manche durften in seinem Schlaflabor in Philadelphia acht Stunden schlafen, andere nur sechs oder vier. Im Laufe der zweiwöchigen Experimentierphase zeigte sich: Nur die Ausgeschlafenen blieben auf der
Höhe ihrer Leistung. Die anderen zeigten von Tag zu Tag größere Schwächen; je
weniger Schlaf sie bekamen, umso schlechter wurden ihre Testergebnisse. Erstaunlich war allerdings, dass die Wenigschläfer nach etwa vier Tagen nicht mehr müder
wurden, sondern sich regelrecht ans Übernächtigtsein gewöhnten. Offenbar macht
uns anhaltender Schlafmangel also dümmer, ohne dass wir es merken.
Und wie holt man die versäumte Nachtruhe am besten auf? Reicht dazu
ein Wochenende? In einer zweiten Studie gönnte Dinges seinen Testschläfern
fünf Nächte lang jeweils nur vier Stunden Schlaf und ließ sie danach ausschlafen.
Ergebnis: Nach dem Leistungsabfall unter der Woche wurden die Testergebnisse
zwar durch längere Bettruhe besser; doch selbst zwei Nächte mit zehn oder mehr
Stunden im Bett brachten keine vollständige Erholung, berichtet Mathias Basner,
84
Die Welt im Kopf
der zum Team von Dinges gehört: »Vieles deutet darauf hin, dass es ein Gedächtnis für Schlafmangel gibt.«
Dabei könnte man das »Schlafkonto« eigentlich leicht auffüllen – mit dem
altbewährten Mittagsschlaf. Denn Forscher haben gezeigt, dass wir unsere Schlafration gar nicht am Stück brauchen; auch eine Siesta zwischendurch hilft. In Japan
etwa wird deshalb der »Anwesenheitsschlaf« Inemuri praktiziert: Die Samurai erfanden ihn, um gleichzeitig wachen und schlummern zu können. Heute gilt in
Japan ein Nickerchen am Arbeitsplatz – oder gar im Parlament – als Ausweis besonderen Eifers. Denn dabei erholt sich, wer besonders fleißig war.
In Deutschland dagegen mangelt es dem Kurzschlaf an kultureller Akzeptanz, wie die Bezirksverwaltung Charlottenburg-Wilmersdorf erleben muss­te. Als
sie vor drei Jahren spezielle Räume für Nickerchen einrichten lassen wollte, scheiterte sie kläglich – und zwar an den eigenen Mitarbeitern. Die Beamten fürchteten die Häme der Bürger. Dabei könnten solche Ruheräume für viele Berufstätige
ein Segen sein, zum Beispiel für Piloten, Lkw-Fahrer oder Schichtarbeiter. Denn
wer zu oft zu wenig Schlaf bekommt, läuft Gefahr, an Insomnie zu erkranken.
Jeder zwanzigste Deutsche sollte sich deshalb in ärztliche Behandlung begeben.
Doch statt ihren Lebensstil zu ändern, nehmen viele Betroffene ständig Schlafmittel – bis diese eines Tages nicht mehr wirken.
Schichtarbeit – Sie führt häufig zu einer
Diskrepanz zwi­schen der inneren Uhr des
Menschen und seinen äußeren Lebensumständen. Manchen Studien zufolge klagen
bis zu 90 Prozent der Nacht­schicht­arbei­
ter über regelmäßige Schlafstörungen. In
der Forschung wird derzeit diskutiert, ob
eine Lichttherapie – blaues Licht ­etwa hält
wacher als rotes – dabei helfen kann, den
Biorhythmus besser umzustellen.
Insomnie – Dazu zählen Ein- und
Durchschlafprobleme, die durch unregelmäßigen Schlaf, erlernte falsche
Schlafmuster oder organische, neu­ro­lo­
gi­sche sowie psychologische Faktoren
verursacht werden. Ein Therapieansatz
ist das Biofeedback-Training. Dabei
wird die Muskelspannung gemessen
und in ein akustisches oder visuelles
Signal übertragen, das dem Patienten
als Rückmeldung dient. Dies hat sich bei
Menschen, die ihre eigene Anspannung
nicht spüren oder sich schlecht entspannen können, als wirksam erwiesen.
Schlafmittel – haben Nebenwirkungen
und können abhängig machen. Besser
ist es, auf einen festen Rhythmus
und gute Schlafbedingungen wie die
richtige Raumtemperatur zu achten,
um chronische Schlafprobleme zu
bekämpfen. Eine weitere Alternative
zu Tabletten sind einer neuen Studie
zufolge: Hängematten. Dank der
Schaukelbewegungen schliefen die Probanden schneller ein – und womöglich
auch tiefer.
Grenzzustände des Gehirns
85
Zu einer modernen Schlafkur gehört daher zunächst der Entzug von Schlafmitteln. Anschließend üben die Patienten, etwa mit kognitiver Verhaltenstherapie,
Probleme zu erkennen, Gewohnheiten zu ändern, Schlafzeiten bewusst zu begrenzen. Wer lange falsch geschlafen hat, muss es oft erst mühsam wieder lernen.
Orangefarbene Isomatten und Beruhigungsmusik gehören seit Kurzem
auch für einige Fünft- und Siebtklässler in Steinfurt im Münsterland zum Unterricht. »Viele Kinder können nicht mehr abschalten, schlafen zu wenig und stehen
pausenlos unter Strom«, erklärt die Stressberaterin Gerlinde Lamberty. Deshalb
übt sie mit den Kleinen nun Entspannungstechniken.
Zehn bis elf Stunden Nachtruhe empfehlen Experten für Grundschüler;
Zwölfjährige brauchen im Mittel neuneinhalb Stunden Schlaf. Erst zum Ende des
Teenageralters nähert sich das Schlafbedürfnis dem der Erwachsenen an. Doch »nur
acht Prozent der Jugendlichen schlafen unter der Woche so viel, wie es gängigen
Empfehlungen entspricht«, fand der Schlafmediziner Thomas Voderholzer durch
Umfragen heraus. Der längere Schulunterricht fordert seinen Tribut ebenso wie
Sportverein, Fernsehen, Computerspiele und Internet.
Zudem werden Pubertierende schon von Natur aus später müde und deshalb
morgens nicht rechtzeitig wach. Die St. George’s School in Middletown, USA, verschob im vergangenen Schuljahr für neun Wochen den Unterrichtsbeginn von acht
Uhr auf halb neun. Das zeigte Wirkung: Hatte vorher nur ein Sechstel der 201
untersuchten Teenager mindestens acht Stunden pro Nacht geschlafen, war es nun
über die Hälfte. Außerdem erwiesen sich die Schüler als aufmerksamer, sie gingen
seltener zum Schularzt und waren weniger trübsinnig. Eine Mehrheit der Schüler
und Lehrer forderte daraufhin mit Erfolg den permanenten späteren Schulbeginn.
In Deutschland hat vor fünf Jahren eine Statistik gezeigt, dass »Eulen«, die
von Natur aus später einschlafen, signifikant schlechtere Abiturnoten haben als
früh aufstehende »Lerchen«. Doch wie bemerken Eltern den Schlafmangel ihres
Kindes? »Konzentrationsschwäche, gesteigerte Impulsivität und Tagesmüdigkeit«, zählt Oskar Jenni vom Universitäts-Kinderspital Zürich die Symptome
auf. Zwar gebe es auch bei Kindern große Differenzen: Manchen genügten acht,
anderen erst elf Stunden Schlaf. Ein Alarmsignal sei aber, wenn der Nachwuchs
am helllichten Tag bei einer halbstündigen Autofahrt wegnicke: »Schulkinder
können tagsüber eigentlich nicht schlafen.«
Schülern hilft der Schlaf vor allem bei der Gedächtnisbildung: Befreit von
äußerem Input, wiederholt und festigt das Gehirn jene Lerninhalte, die es sich
zuvor angeeignet hat. Gerade der lange Schlaf der Kinder ermögliche ihnen ihre
»extremen Fähigkeiten beim Lernen«, sagt der Schlafforscher Jan Born. Dass die
Leistungen im Alter abnähmen, liege auch daran, dass die Menschen dann immer weniger tief schliefen.
Regelmäßig genug zu schlafen würde allen nützen: Alten und Jungen,
Kranken und Gesunden. Schon vergleichsweise simple Maßnahmen versprechen
große Vorsorgewirkung. Sieben zentrale Forderungen für eine ausgeschlafene
Gesellschaft lauten deshalb:
1. Schlaf und Entspannung verdienen in der Gesundheitsvorsorge denselben
Stellenwert wie Bewegung und ausgewogene Ernährung.
2. Die Sommerzeit verschiebt die Rhythmen vieler Menschen nach hinten – und
erschwert so das Einschlafen. Sie gehört abgeschafft!
3. Arbeitszeiten müssen flexibler werden – nur so vertragen sie sich mit dem
individuellen Schlafrhythmus und -bedarf vieler Menschen.
4. Die Schule sollte später beginnen. G-8-Gymnasien sollten Lehrpläne entschlacken oder zu neun Schuljahren zurückkehren.
5. Fördern wir Nickerchen am Arbeitsplatz.
6. Mehr Rhythmus! Arbeit und Unterricht brauchen Unterbrechungen, damit
wir uns bewegen und entspannen können. Und abends sollten wir früher ins
Bett gehen.
7. Erkennen wir den großen Einfluss an, den das Tageslicht auf unseren inneren
Rhythmus hat. Richten wir uns danach.
Beim Berliner Staatsballett hat man bereits umgedacht: Wenn sich schon
an der körperlichen Belastung, dem Lampenfieber oder dem Druck auf die Tanzprofis nichts ändern ließ, so sollten diese wenigstens ihrem Schlafbedürfnis gehorchen können! Ingo Fietze richtete einen Ruheraum ein und plante eine Folgestudie. Ein Ergebnis steht schon fest: »Der Ruheraum ist dauernd besetzt.«
von Peter Spork aus dem ZEIT Wissen Ratgeber Nr. 3/2011
Eulen – nennt man Nachtmenschen und
Langschläfer; als Lerchen bezeichnet
man dagegen Frühaufsteher. Zu
welchem Typ man zählt, ist genetisch
bedingt und hängt von der inneren Uhr
86
Die Welt im Kopf
ab. Sie ist unser biologischer Taktgeber.
Ein wenig ändert sich der Takt jedoch
im Laufe des Lebens: Kinder sind eher
Lerchen, in der Pubertät wird man zur
Eule.
Grenzzustände des Gehirns
87
Stichwort
Vielleicht auch
träumen
Warum reisen wir im
Schlaf mehrmals pro
Nacht in eine Fantasiewelt? Wa­rum erleben wir
dort imaginäre Begebenheiten, vollbringen
imaginäre Taten – was
hat es zu bedeuten? Sind
unsere Träume ein Tor
zum Unbewussten – und
können wir sie deuten?
88
Die Welt im Kopf
Träume können furchterregend sein oder
beruhigend. Träume sind fantastisch, da
in ihnen unmögliche und unlogische
Dinge geschehen können und
geschehen. Im Traum kann man
fliegen, Tote erwachen zum
Leben, unbelebte Gegenstände
können sprechen.
REM-Schlaf
Die meisten Menschen
träumen im Durchschnitt jede Nacht ein
bis zwei Stunden und haben vielerlei
Träume. Die meisten Träume werden
komplett wieder vergessen, und daher behaupten manche Menschen, sie
würden nicht träumen. Forscher haben
festgestellt, dass viele Menschen sich
ziemlich genau an ihre Träume erinnern
können, wenn man sie unmittelbar nach
einer REM-Schlafphase weckt (REM steht
für rapid eye move­ment). Eine Person,
die während des REM-Schlafs geweckt
wird, kann fast immer von einem Traum
berichten, häufig sehr detailliert. Solche
Berichte lassen vermuten, dass man bei
Bewusstsein ist, wenngleich man sich
nach dem Erwachen nicht immer daran
erinnern kann. Hirnstrom-Studien haben
gezeigt, dass wir in dieser Schlafphase
sehr aktiv sind; bei Männern können
Erektionen auftreten, bei Frauen eine
verstärkte Durchblutung der Vagina.
Traumarten Man sagt, das Wort »Traum« sei von den Wörtern für »Freude« und »Musik« abgeleitet. Viele Menschen sprechen von allerlei verschiedenen Arten von Träumen: von sehr klaren, aber auch von vagen
Träumen; von Albträumen und wunderbaren Träumen. Kinder zwischen
drei und acht berichten häufig von Albträumen; sind sie jünger als drei
oder vier Jahre, scheinen sie selbst kaum eine Rolle in den eigenen Träumen zu spielen. Viele von ihnen berichten von wiederkehrenden Träumen, die sie zum Teil fürchten, zum Teil herbeisehnen. Manche glauben,
ihre Träume seien prophetisch. Fast zwei Drittel der Menschen geben an,
Déjà-vu-Träume erlebt zu haben.
Gewiss gibt es Träume, die über alle Kulturen hinweg zu allen Zeiten
von allen Menschen geträumt werden. Der Traum vom Fliegen tritt häufig
auf: Menschen berichten, sie könnten fliegen wie ein Vogel, vielleicht mithilfe von Armbewegungen wie beim Brustschwimmen. Andere berichten
über Träume vom Fallen, dass sie zum Beispiel von einem hohen Gebäude
hinunterfallen oder endlos lange in einen dunklen Abgrund stürzen – oder
dass sie einfach ständig hinfallen. Viele träumen davon, plötzlich nackt zu
sein und sich vor anderen sehr zu schämen. Der Verfolgungstraum tritt
häufig auf: Meist wird man von anderen erbarmungslos gejagt, doch mitunter verfolgt man sie auch selbst. Schüler und Studenten kennen den
Traum von der Klassen- oder Prüfungsarbeit: Man sitzt in einer Prüfung und
kann sich – trotz ausgiebiger Vorbereitung – partout an nichts erinnern,
oder, schlimmer noch, man ist wie gelähmt und kann nichts schreiben. Der
Traum, seine Zähne zu verlieren, ist ebenfalls erstaunlich verbreitet.
Deutungen Natürlich sind diverse Deutungen solcher Träume vorgeschlagen worden. Zeigt der Traum vom Zahnausfall an, dass man übermäßig um
seine körperliche Attraktivität besorgt ist? Symbolisiert er vielleicht Machtverlust und Altern oder die Sorge, man würde übersehen oder nicht ernst
genommen? Vielleicht stehen die Zähne für orale Waffen, die ausfallen,
weil man Unwahrheiten über andere gesagt hat. Es ist sogar vorgeschlagen
worden, dass es dabei um Geld geht: Die Hoffnung, eine fabelhafte Zahnfee
würde erscheinen und den Träumenden mit viel Geld beglücken.
Doch wie lässt sich der Nackttraum deuten? Geht es dabei nur um
Verletzlichkeit und Scham? Man verheimlicht gewisse Informationen, vielleicht eine Affäre, tut etwas Verbotenes und hat ein schlechtes Gewissen.
Träume haben nur in Verbindung mit dem Leben des
Träumenden eine Bedeutung.
Donald Broadribb, 1987
Stichwort
89
Der Traum ist die
Spiegelung der
Wellen des
unbewussten
Lebens am Boden
der Fantasie.
Henri-Frédéric Amiel, 1882
Schlimmer noch, man hat Angst, ertappt und beschämt zu werden, sich
lächerlich zu machen. Oder könnte er
bedeuten, dass man sich unvorbereitet fühlt für eine wichtige Prüfung
oder Aufgabe? Ein seltsamer Umstand ist, dass man sich seiner Nacktheit selbst bewusst ist, doch niemand
anders darauf zu achten scheint. Das
könnte darauf hindeuten, dass man
Sorgen hat, die man aber eigentlich
für unbegründet hält.
Freudsche Ideen Sigmund Freud
vertrat die These, dass Träume aus
unseren inneren Konflikten zwischen
unbewussten Wünschen und gesellschaftlich auferlegten Verboten, diese
Wünsche auszuleben, entstehen. Demnach repräsentieren alle Träume unerfüllte Wünsche, deren Inhalt symbolisch verkleidet ist. Der latente Inhalt
wandelt sich zum manifesten Inhalt (der Handlung), der erklärt werden
muss, um – der Theorie zufolge – die unbewussten Wünsche der jeweiligen Person zu enthüllen. Träume sind symbolisch; sie sind Metaphern für
unsere wahren, zugrunde liegenden Gefühle.
Die Traumdeutung war Freuds bevorzugte Methode, um zu einem
Verständnis dieses Konflikts zu kommen, und so ermutigte er seine
Patienten, rückhaltlos über ihre Träume zu sprechen. Aus seiner Sicht
geht es in Träumen um Vergangenheit und Gegenwart eines Menschen,
und sie erwachsen aus unbekannten inneren Gefilden. Jeder Traum ist
im Kern ein Versuch der Wunscherfüllung. Träume sind der »Königsweg
zur Kenntnis des Unbewußten«. Im Traum finden verschiedene Prozesse
statt, zum Beispiel die Verdichtung, bei der Themen auf einzelne Bilder
reduziert werden, etwa eine offene Tür oder einen tief fließenden Fluss.
Psychoanalytiker interessieren sich besonders für die Verschiebung, bei
der Menschen, Gegenstände und bestimmte Handlungen einander ersetzen. Außerdem gibt es die Entstellung, bei der Menschen größer oder
kleiner, älter oder jünger, mehr oder weniger mächtig werden.
Die Freudsche Theorie führt zu diversen Vorhersagen über das
Träumen, die inzwischen geprüft wurden. So sollten Männer häufiger
Träume über Kastrationsängste haben als Frauen, die dagegen häufiger
von Penisneid geprägte Träume haben müssten. In den Träumen von
Männern sollten häufiger männliche Unbekannte auftreten, gegen die sie
kämpfen (der Vater in der ödipalen Entwicklungsphase).
90
Die Welt im Kopf
Evolutionspsychologie
Evolutionspsychologen haben darauf
hingewiesen, dass es in vielen Träumen um Bedrohung und Gefahr geht,
und sie argumentieren, die Funktion
von Träumen sei die Darstellung
realer, alltäglicher Gefahren, anhand
derer wir uns verschiedene Reaktionen vorstellen und sie so durchspielen können. Wäre diese These richtig,
müssten die meisten Menschen von
realistischen Träumen über aktuelle
oder vergangene Bedrohungen in
ihrem Umfeld berichten. Freilich
scheint diese Erklärung drei Proble-
me aufzuwerfen: Erstens geht es in
vielen Träumen um positive Gefühle
und Ereignisse, insbesondere sexuelle
Erfüllung. Zweitens scheinen in vielen
Träumen Situationen »verarbeitet«
zu werden, die sich am gleichen Tag
oder kurz zuvor abgespielt haben,
aber nicht unbedingt belastend oder
bedrohlich waren. Drittens scheint
nicht klar zu sein, wie Träumen
tatsächlich eine bessere Anpassung –
ein zentrales Konzept der Evolutionspsychologie – lehrt oder fördert.
Kritiker fragen, wenn Träume lediglich Wunscherfüllung seien, warum dann so viele davon negativ sind? Zudem gründete Freud seine
Theorie auf die wenigen Träume (unter zehn Prozent), die von Patienten
erinnert und geäußert werden. Drittens gibt es ein gravierendes Problem
mit der Zuverlässigkeit von Traumdeutungen, da verschiedene Therapeuten sehr unterschiedliche Deutungen anbieten. Viertens scheinen
Träume, worauf auch C. G. Jung hingewiesen hat, durchweg ähnliche
Themen zu haben, und zwar über Zeitalter und Kulturen hinweg, seien
sie nun zutiefst repressiv oder erstaunlich liberal.
Physische Studien Wissenschaftler haben eine Erklärung für das Träumen vorgeschlagen, die ohne unbewusste Konflikte oder Wünsche auskommt. In der REM-Schlafphase wird ein Schaltkreis von Acetylcholinsekretierenden Neuronen im Pons Varoli (der Gehirnbrücke) aktiv und
stimuliert rapide Augenbewegungen, Aktivierung der Hirnrinde und
Dieser Tagesrest wird durch die Traumarbeit
in einen Traum verwandelt und durch den Schlaf
unschädlich gemacht.
Sigmund Freud, 1905
Stichwort
91
Ich habe Freud nie recht geben können,
daß der Traum eine ›Fassade‹ sei, hinter der sich sein
Sinn verstecke; ein Sinn, der schon gewußt ist,
aber sozusagen boshafterweise dem Bewußtsein
vorenthalten werde.
C. G. Jung, 1963
Muskellähmung, wodurch man Bilder sieht. Die Augenbewegungen,
die ein Träumender macht, korrespondieren relativ gut mit dem Inhalt
seines Traums; die Augenbewegungen entsprechen denen, die auch zu
erwarten wären, wenn das geträumte Geschehen tatsächlich stattfinden
würde. Die entstandenen Bilder reflektieren häufig Erinnerungen an kurz
zuvor erlebte Episoden oder Gedanken. Vermutlich werden die zuständigen Schaltkreise durch ihren erst kurz zuvor erfolgten Gebrauch stärker
angeregt. Patienten, die auf eine größere Operation warten, offenbaren
ihre Ängste in den Träumen, die sie in den zwei oder drei Nächten vor der
Operation haben. Solche Ängste, bei denen es um Skalpelle und OP-Säle
geht, werden selten direkt artikuliert; der Bezug ist indirekt, in verdichteter, symbolisierter Form. Häufig drücken Träume das aus, was momentan
im Leben einer Person am wichtigsten ist, und nicht etwa irgendein tief
liegendes Konzept der Wunscherfüllung.
Adrian Furnham
Die Dramaturgie
der Nacht
Im Schlaf räumt das Gehirn auf und festigt Erinnerungen.
Schlafforscher erkunden, warum wir dabei so wirres Zeug träumen.
21.00 Uhr (Müdigkeit)
Die Nacht beginnt mit dem Lichtwechsel. Lichtempfindliche Zellen in der Netzhaut des Auges melden ans Gehirn: Schlafenszeit! Die Zellen stammen aus den
Urzeiten der Evolution und dienen nicht dem Sehen, auch bei Blinden können sie
intakt sein. Sie registrieren das Rot des Sonnenuntergangs. Blaues Bildschirmlicht
verwirrt sie und behindert das Einschlafen.
Auf das Signal der Augen hin schüttet die Zirbeldrüse tief im Gehirn Melatonin aus, das Hormon der Nacht. Es macht schläfrig und sexuell träge und
bereitet den Körper auf den Schlaf vor. Eine komplizierte Kaskade von Proteinen
und chemischen Botenstoffen kommt in Gang. Manche dieser Stoffe vertiefen
den Schlaf. Manche machen wach. Andere blockieren die Wachmacher. Koffein
blockiert die Blockierer.
23.00 Uhr (Einschlafen)
Die Wirkung des Melatonins wird stärker, die Gedanken fließen langsamer,
die Reaktionszeiten werden länger, die Muskelspannung sinkt. Man neigt zum
Frösteln, die Körpertemperatur liegt ein halbes Grad Celsius unter ihrem Durchschnittswert. Mit der Temperatur sinkt auch die Stimmung. Melatonin macht
melancholisch, daher kommt die Nacht uns manchmal düster vor.
Licht aus, der Kopf sinkt ins Kissen. Das Gehirn ist nun mit sich selbst
beschäftigt. Sobald die Augen geschlossen sind, ebben die schnellen Hirnstromwellen ab, die im Wachen vorherrschen. Stattdessen branden die gemächlicheren
Alpha-Wellen auf, die allen Hirnarealen signalisieren, dass es Zeit zum Entspannen ist. Allerdings hören nicht alle Areale gleich schnell auf sie. Der Thalamus,
eine evolutionär uralte Struktur mitten im Gehirn, dämmert etwa neun Minuten
früher weg als die Großhirnrinde.
Diese neun Minuten versetzen das Bewusstsein in einen anderen Zustand,
genannt »Hypnagogie«. Der Thalamus ist der Torwächter des Bewusstseins. Er
92
Die Welt im Kopf
Grenzzustände des Gehirns
93
Motorisches Zentrum
Präfrontaler Kortex
Limbische Bahn
Limbisches System
Thalamus
Hypothalamus
Visueller
Assoziationskortex
Amygdala
Zirbeldrüse
Hippocampus
Basalganglien
Hirnstamm
Cerebellum
entscheidet, welche Signale aus anderen Arealen zur Großhirnrinde dürfen. Was
er für unwichtig befindet, hält er zurück. Beim Einschlafen bleibt die Großhirnrinde unbeaufsichtigt. Sie kann nach Belieben mit Bildern und Ideen spielen.
Die Gedanken werden immer eigenartiger, ketten sich assoziativ statt logisch aneinander. Manche Menschen beginnen zu halluzinieren. Das kann ergiebig sein.
Der Chemiker August Kekulé kam im Jahr 1865 beim Dösen am Kaminfeuer
auf die lange gesuchte Struktur des Benzolmoleküls. Robert Louis Stevenson ließ
sich von hypnagogen Fantasien zu seiner Geschichte Dr. Jekyll and Mr. Hyde inspirieren, Mary Shelley zu ihrer Gruselromanze Frankenstein, Paul Klee zu vielen
Gemälden.
Nach einigen Minuten schließt sich das Hypnagogie-Fenster. An langsam
rollenden Augenbewegungen erkennt der Mediziner vor dem Monitor im Schlaflabor, dass sein Proband gleich einschlafen wird.
23.30 uhr (Tiefschlaf)
Jetzt ist das Bewusstsein ganz abgezogen von den Sinnen. In den folgenden Minuten sinkt der Schläfer stracks in den tiefsten Schlafzustand, den er in dieser Nacht
erreicht. Kurz nach dem Einschlafen steigt der Pegel des Wachstumshormons
Somatotropin auf sein 24-Stunden-Maximum. Es leitet Erholungsprozesse ein,
94
Die Welt im Kopf
repariert müde Muskeln, lässt Haut, Haare und Knochen nachwachsen, reguliert
den Fettstoffwechsel und das Immunsystem, entsorgt den Abfall des Stoffwechsels, fördert die Wundheilung. Wer verletzt ist, sollte viel schlafen.
Im Gehirn geht es jetzt gemächlich zu. Es verbraucht um die Hälfte weniger Energie als im Wachen. Die Neuronen synchronisieren sich, sodass Wellen
elektrischer Aktivität das Gehirn durchlaufen. Je müder der Schläfer vorher war,
desto tiefer sinkt er jetzt: desto intensiver und länger wird sein Gehirn von diesen
Delta-Wellen geflutet.
In den Delta-Wellen vermuten Forscher den Schlüssel zum Verständnis
des Tiefschlafs, vielleicht sogar die Antwort auf die Frage, warum wir überhaupt
schlafen. Giulio Tononi von der University of Wisconsin hat die heute vorherrschende Theorie dazu entwickelt, der zufolge die Delta-Wellen unser Gehirn entrümpeln: Während des Tages bilden sich durch jede Erfahrung neue Synapsen
zwischen den Gehirnzellen. Viele davon sind überflüssig und stören die wirklich
bedeutenden Erinnerungen. Die Delta-Wellen spülen sie weg und schaffen Platz
für Neues. Die zugrunde liegenden elektrochemischen Prozesse beobachtete Tononi zuerst an Fruchtfliegen, auch deren Gehirne reorganisieren sich im Schlaf.
Gleiches wurde an Ratten nachgewiesen. Und in den Gehirnen von Ratten und
Menschen, das schließen Wissenschaftler aus den Aufnahmen mit Kernspintomografen, gehen während des Schlafs ähnliche Dinge vor.
Nach dem Ausmisten kommt das Aufräumen. Auch das geschieht im Tiefschlaf: Die Erinnerungen werden neu geordnet. Unser Gedächtnis muss im Alltag
schwer zu vereinbarende Ansprüche erfüllen: Schnell aufnahmefähig soll es sein,
schnell abrufbar, gleichzeitig von Dauer und zuverlässig. Wir wollen uns eine Telefonnummer nicht hundertmal durchlesen, bis sie im Gedächtnis bleibt, wir wollen
uns schnell daran erinnern – und die Nummer vergessen, wenn wir sie nicht mehr
brauchen. Zu viel für ein einzelnes System. Deshalb hat die Natur unser Gedächtnis aufgeteilt, in Zwischenspeicher und Langzeitspeicher. All die Informationen,
die wir während des Wachlebens aufnehmen, landen vorläufig im Hippocampus,
mitten im Gehirn. Dieser saugt Daten auf wie ein Schwamm. In den Synapsen der
Großhirnrinde, unseres Langzeitspeichers, liegt unser Weltwissen. Sensible Daten
also, die gut behütet werden müssen. Deshalb herrscht Wachstumskontrolle in der
Großhirnrinde. Neue Neuronen und Synapsen wachsen dort eher selten und langsam. Unser Weltbild soll nicht bei jeder Kleinigkeit durcheinandergeraten.
Irgendwann müssen Großhirnrinde und Hippocampus sich abgleichen,
und das geschieht im Schlaf. Wichtige Erinnerungen wandern vom Hippocampus in die Großhirnrinde, unwichtige werden verworfen. Jan Born und sein Forschungsteam an der Universität Lübeck haben mit dem EEG verfolgt, wie die
Großhirnrinde dem Hippocampus Aufnahmebereitschaft signalisiert und wie im
Hippocampus die frischen Erinnerungen reaktiviert und zur Großhirnrinde abgeschickt werden. Victor Spoormaker und seine Kollegen vom Max-Planck-Institut
für Psychiatrie in München sahen im Hirnscanner, wie sich das Synapsennetzwerk
Grenzzustände des Gehirns
95
dabei umorganisiert. Die Fernverbindungen zwischen den Hirnarealen sind stillgelegt, stattdessen bilden sich lokale Cluster. Diese Areale koppeln sich ab aus dem
gehirnweiten Netz, um in Ruhe die neue Information verarbeiten zu können. Auch
Hippocampus und Großhirnrinde liegen in so einem Cluster.
Das große Reinemachen im Gehirn muss in der Abgeschiedenheit der Nacht
stattfinden. Im Wachen würden sich die immer neu einlaufenden Wahrnehmungen und die reaktivierten Erinnerungen in die Quere kommen. Niemand würde
wollen, dass sein Gehirn sich neu organisiert, während er Auto fährt.
0.30 uhr (Träumen)
Nach einer guten Stunde Tiefschlaf kommt Unruhe in die Hirnstromkurven. Die
ruhige Dünung der Delta-Wellen weicht einem tosenden Durcheinander von Theta-, Alpha- und Beta-Wellen. Auf dem Monitor im Labor sieht es aus, als würde
der Schläfer erwachen. Tatsächlich ist im Gehirn jetzt nicht weniger los als am Tag.
Für das Personal eines Schlaflabors sind diese Phasen eine spektakuläre Abwechslung in der nächtlichen Monotonie. Zuerst kündigen sie sich mit einem
sanften Rollen der Augäpfel an. Dann beginnen die Augen, wild herumzuzucken.
Dies sind die REM-Phasen (Rapid Eye Movement), in denen geweckte Schläfer
fast immer von Träumen berichten.
Das Startsignal zu jeder REM-Phase kommt aus dem Hirnstamm durch
rhythmische elektrische Reize. Gleichzeitig strömt der anregende Botenstoff Acetylcholin durchs Gehirn. Teile der Großhirnrinde erwachen aus dem Tiefschlaf.
Das Gehirn beginnt zu träumen.
Von außen betrachtet, herrscht jetzt Ruhe: Die tragenden Muskeln sind
schlaff, die Weckschwelle ist hoch. Aber im Innern des Körpers geht es rund:
Blutdruck und Herzfrequenz steigen, die Atmung geht schneller, Penis und Klitoris neigen zu Erektionen. Das Gehirn ist abgeschottet von der Welt, aber es bleibt
wachsam. Im Hirnscanner kann man beobachten, wie es auf ein Geräusch hin
kurz aufhorcht, den REM-Zustand unterbricht, das Geräusch bewertet und nur
weiterschläft, wenn es keine Gefahr erkennt.
Träumen ist ein bewusster Zustand, aber ein anderer als Wachsein. Die
logisch-analytischen Zentren gleich hinter der Stirn, die sonst unsere Triebe im
Zaum halten, sind im REM-Schlaf außer Betrieb. Dafür laufen die visuellen und
emotionalen Zentren auf Hochtouren. Daher sind Träume meist stark bildlich,
sehr gefühlsbetont und oft unlogisch.
Wozu dieser seltsame Zustand? Manche Forscher halten REM-Phasen für
nichts weiter als Aufwachversuche des Gehirns und Träume für sinnloses Geflimmer. Andere betrachten Träume als überlebenswichtig, sie glauben, dass wir
im Traum unser genetisch programmiertes Trieb- und Instinktverhalten in einer
Szenen einer Nacht – aus der Sicht der Schlafwissenschaft
Träume sind bizarr, weil ein
Areal des präfrontalen Kortex
stillgelegt ist, das sonst
kognitive Prozesse steuert.
96
Die Welt im Kopf
Basalganglien und Cerebellum,
zwei für die Motorik wichtige
Areale, sind aktiv und sorgen
für bewegte Szenen.
Der im REM-Schlaf aktive
visuelle Assoziationskortex
sorgt für bildhafte Träume.
Die Verbindung zwischen
dem Arbeitsgedächtnis und
dem Koordinationszentrum
Hippocampus ist blockiert.
Zeit und Raum verschwimmen.
Traumszenen sind oft emotional, weil das limbische
System aktiv ist. Es ist beteiligt, wenn wir Angst, Scham,
Freude empfinden.
Der Hypothalamus
steuert unser Triebverhalten.
Er ist im Traum aktiv.
Grenzzustände des Gehirns
97
selbst erzeugten virtuellen Welt erproben. Dafür spricht, dass Menschen im Embryonalstadium am meisten träumen, später immer weniger.
Womöglich geht die Bedeutung der Träume noch darüber hinaus. Sie
könnten für unseren Gefühlshaushalt eine ähnliche Funktion haben wie der Tiefschlaf für unser sachliches Gedächtnis: Entrümpeln und Aufräumen. Das Erlebte
wird emotional neu bewertet. Ein bisschen so, wie Sigmund Freud es sich einst
vorstellte. Vermutlich reorganisiert sich im Schlaf auch das moralische Urteilsvermögen. Erste Studien, die dieser These nachgehen, laufen. Bereits erwiesen
ist, dass Schlafmangel die moralische Urteilskraft und das Risikobewusstsein
schwächt – zwei Fähigkeiten, die für Politiker und für Soldaten in Kriegsgebieten
besonders wichtig sind. Dummerweise ist Schlafmangel unter beiden Berufsgruppen verbreitet.
Im REM-Schlaf ist das Gehirn ganz anders vernetzt als im Tiefschlaf, die
Vernetzung ähnelt der im Wachen. Das Gehirn arbeitet nun »wie ein Webbrowser«,
sagt Randy Stickgold von der Harvard University, »es gliedert neue Erfahrungen
ein, indem es durch verschiedene Gedächtnissysteme surft, um Assoziationen und
Verknüpfungen herzustellen, die uns helfen, die Welt zu verstehen.« Der REMSchlaf ist die Spielphase des Gehirns nach dem großen Aufräumen.
Die folgenden Stunden vergehen im Wechsel zwischen Tiefschlaf und
REM-Schlaf. Im Lauf der Nacht wandelt sich allerdings das hormonelle Milieu
Schlafbedürfnis
REM-Phasen
24
20
16
12
8
4
0
Säugling
16
8
Kleinkind
10,5
2,5
Teenager
8,5
2
Säugetiere und Vögel haben REMPhasen (rot), in denen sie vermutlich
träumen. Je schneller der Stoff wechsel,
desto mehr Schlaf braucht eine Tierart
meistens.
Erwachsener
7
1,6
Senior
6
1
Je jünger ein Mensch ist, desto mehr
schläft er. Forscher vermuten, dass sich
das Babygehirn im REM-Schlaf regelrecht programmiert, indem es, genetisch
gesteuert, Synapsen verknüpft.
des Gehirns. Das wach machende Stresshormon Cortisol übernimmt das Regime. Gegen Morgen verbringen wir immer mehr Zeit im REM-Schlaf.
4.00 uhr (tiefste Nacht)
Physiologisch gesehen, ist jetzt allertiefste Nacht: maximaler Melatonin-Spiegel,
minimale Körpertemperatur. 98 Prozent der Menschen schlafen, die höchste
Quote im Tagesverlauf. Die restlichen zwei Prozent kämpfen mit der Schläfrigkeit. Schichtarbeitern unterlaufen jetzt die meisten Fehler, Autofahrern passieren
die meisten Unfälle. In Labortests zeigen Probanden schon nach drei Stunden
simulierter Nachtfahrt so schlechte Werte in Aufmerksamkeits- und Reaktionstests wie mit 0,8 Promille Blutalkohol. Deshalb empfehlen Mediziner, nachts
maximal zwei Stunden am Stück zu fahren.
7.00 uhr (Aufwachen)
Es lohnt sich, nach dem Weckerklingeln noch etwas liegen zu bleiben und das
allmähliche Erwachen des Gehirns zu verfolgen. »Hypnopompie« heißt dieser
Zwischenzustand: »am Ausgang des Schlafs«. Lange Zeit unterschieden Fachleute nicht zwischen Hypnagogie und Hypnopompie. Doch Aufwachen ist nicht
umgekehrtes Einschlafen: Thalamus und Großhirnrinde wachen gleich schnell
auf – oder besser gesagt: gleich langsam. PET-Scans zeigen, dass das Stirnhirn
bei manchen Menschen mehr als 20 Minuten braucht, um aus dem Schlaf zu
kommen. Die Folge: lange Reaktionszeit, schwache Konzentration. Unmittelbar
nach dem Aufwachen aus acht Stunden gutem Schlaf arbeiten Gedächtnis und
Kognition schlechter als nach 24 Stunden Schlafentzug.
Dagegen springt das vordere Cingulum, ein Areal gleich hinter dem Stirnhirn, sofort an. Es ist verantwortlich für die Willensfindung und die Selbstwahrnehmung. Als Mittler zwischen Verstand und Gefühl nimmt es die Signale aus
den analytischen Arealen der Großhirnrinde und den emotionalen Zentren des
Gehirns auf und wägt sie gegeneinander ab. Hellwaches vorderes Cingulum,
schlaftrunkenes Stirnhirn – so kommt es, dass man sich morgens selbst ganz klar
als benebelt wahrnehmen kann.
Jetzt ist das Gehirn in einem ähnlichen Zustand wie im REM-Schlaf: rege
Gefühle, schlummernder Verstand. Nur dringt jetzt die harte Wachwelt ins verträumte Bewusstsein. Es ist der beste Moment, bewusst seine Gefühle wahrzunehmen. Wer sich ein paar Minuten Zeit lässt, hat die wichtigste Erkenntnis des
Tages vielleicht schon vor dem Aufstehen.
von Tobias Hürter aus ZEIT WISSEN Nr. 3/2011
98
Die Welt im Kopf
Grenzzustände des Gehirns
99
Leerlauf im Kopf
Was tut unser Gehirn, wenn wir nichts Bestimmtes tun? Neurologen
erforschen einen geheimnisvollen Zustand, der lebensnotwendig ist
Als Forschungsgebiet ist das Nichtstun ein Albtraum. Der Proband liegt verkabelt
in einer Röhre, sein Gehirn steht unter scharfer Beobachtung durch modernste
Bildgebungstechnik – und dann kommt der Befehl, der das Rätsel startet: »Jetzt
entspannen Sie sich mal.«
Kai Vogeley sieht in diesem Moment etwas, was niemand richtig versteht.
Der Kölner Psychiater und Neurowissenschaftler ist dem Müßiggang auf der
Spur. Er will herausfinden, was unser Gehirn tut, wenn es nichts Besonderes tut.
Bei seinen Probanden springt dann regelmäßig ein typisches Muster der Mußeaktivität in bestimmten Nervennetzen an.
Genau da liegt sein Problem. »Normalerweise misst man die Gehirnaktivität im
Zusammenhang mit einer definierten Aufgabe«, erklärt Vogeley. »Man bittet die Versuchsperson zum Beispiel, sich eine Folge von Bildern anzusehen. Am Sauerstoff- und
Energieverbrauch kann man erkennen, in welchen Regionen des Gehirns dabei die
Aktivität steigt.« Daraus leitet der Forscher dann ab, welche Funktion die einzelnen
Bereiche erfüllen – dass zum Beispiel Bilder von der Sehrinde im hinteren Teil des
Hirns verarbeitet werden. Liegt die Versuchsperson allerdings müßig herum, versagt
dieses Prinzip. »Wir wissen nicht, was ein Proband erlebt, den wir zum Nichtstun
auffordern«, sagt Vogeley. »Er kann Schafe zählen oder an sein letztes Rendezvous zurückdenken – für den Forscher gibt es keine Möglichkeit, das zu überprüfen.«
Dabei hat der Befehl zum Tagträumen in der Hirnforschung Tradition. Er
dient in Experimenten als Kontrollzustand. Erst im Vergleich mit dem Nichtstun, dem »Gehirn im Leerlauf«, können Wissenschaftler jene Hirnregionen ausmachen, deren Aktivität beim Lösen einer Testaufgabe ansteigt.
Ein solcher Datenabgleich war es, der den US-amerikanischen Hirnforscher
Marcus Raichle vor einigen Jahren stutzen ließ. Als er seine Probanden bat, vom
Nichtstun zu einer zielgerichteten Aktivität überzugehen, stellte er fest, dass sich
in bestimmten Hirnregionen genau das umgekehrte Muster zeigte: Dort nahm
die neuronale Aktivität nicht zu, wie zu erwarten, sondern ab. Noch kurioser war
der Effekt, wenn die Probanden aufhörten, sich zu konzentrieren: Dann stieg
die Betriebsamkeit dieser Hirnregionen sprunghaft an – ein Verhalten, das auch
Vogeley bei seinen Untersuchungen immer wieder beobachtet.
Den Verbund der rebellischen Hirnregionen taufte Marcus Raichle »Default
Network« – ein Begriff, der sich als »Leerlauf-Netzwerk« übersetzen lässt. Nach
100
Die Welt im Kopf
An­sicht von Raichle erfüllt dieses Netzwerk eine Basis­funk­tion im Hirn, die anspringt, wenn es nicht bewusst nachdenkt, sondern die Gedanken schweifen lässt.
Dass dieses Default Network existiert, ist in der Fachwelt weitgehend anerkannt. Ob es allerdings wirklich einer Art Leerlaufmodus entspricht, wie
Raichle im Jahr 2001 skizzierte, ist dagegen hoch umstritten. Die Interpretation
der Daten lässt eine Menge Spielraum für Theorien, die ebenso schwer zu wider­
legen wie zu beweisen sind.
Um den Leerlaufmodus dingfest zu machen, sagt Vogeley, müsse man erst
einmal Informationen darüber haben, was der Proband beim Nichtstun genau
erlebe. Fragen ist da keine Option, denn »in dem Moment, wo er sich auf diese
Frage konzentriert, ist der Leerlaufzustand ja beendet«. Ein schier unlösbares
Dilemma. »Wir zerbrechen uns den Kopf darüber, wie wir diesen Modus beschreiben sollen, ohne ihn zu stören«, klagt der Forscher.
Außer Frage steht, dass das Leerlauf-Netzwerk eine große Bedeutung
hat. »Es findet sich bei schlafenden Probanden und bei komatösen Patienten«, erzählt Vogeley. »Sogar Affen haben ein Default Network. Wenn es den
Leerlaufmodus wirklich gibt, handelt es sich dabei um ein universelles Funktionsprinzip.« Ein Kollege von Vogeley lie­fert dafür ein weiteres Argument.
»Die Gehirnregionen des Default Network sind trotz ihres hohen Energieverbrauchs ungewöhnlich selten von Schlaganfällen betroffen«, sagt der Neurologe Andreas Kleinschmidt, der in der Pariser Neuroimaging-Einheit des französischen Atomenergiezentrums forscht. »Das hängt damit zusammen, dass
diese Hirnareale sehr gut durchblutet sind. Es ist d
­ enkbar, dass es sich dabei
um einen Schutzmechanismus handelt, der im Laufe der Evolution entstanden
ist.« Kurz gesagt: Die Funktion des Leerlaufmodus könnte so wichtig sein,
dass er vor einem Ausfall unbedingt bewahrt werden muss.
Doch worin besteht seine Funktion? Forscher aus den unterschiedlichsten
Disziplinen haben inzwischen Erklärungsansätze geliefert. Die Grundlage der
meisten Modelle ist eine simple Überlegung: Was haben Schlaf, Koma und ziellose Tagträumerei gemeinsam? Immerhin sind es diese drei Zustände, in denen das
Leerlauf-Netzwerk seine Aktivität zuverlässig hochfährt. Aus der Sicht des Gehirns zeichnen sie sich alle durch das Fehlen von »Input« aus, von Informationen,
die von außen auf das Denkorgan einstürzen und es zwingen, zu reagieren. Pierre
Magistretti vom Brain-Mind-Institut in Lausanne zieht daraus den Schluss, dass
der Leerlaufmodus eine nach innen gerichtete Aktivität des Gehirns widerspiegelt, einen Zustand, in dem sich das Zentrum des Bewusstseins mit sich selbst beschäftigt. »Das Gehirn ist nicht bloß ein reflexives Organ«, sagt Magistretti. »Da
laufen eine Menge Vorgänge ab, die nichts mit äußeren Reizen zu tun haben.«
Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch im Energieverbrauch des Gehirns wider: Die Aktivitätssteigerungen, die Hirnforscher bei zielgerichteten Aufga­ben
messen, sind verschwindend gering. »Das Gehirn beansprucht zwanzig Prozent
unseres Energieverbrauchs, obwohl es nur zwei Prozent der Körpermasse stellt«,
Grenzzustände des Gehirns
101
sagt Magistretti. »Wenn wir gerade eine Aufgabe lösen, verbraucht es zwar noch
ein bisschen mehr – im Vergleich zum riesigen Grundbedarf sind diese Differenzen aber sehr klein.«
Wer den Leerlaufmodus allerdings einfach mit dem Grundbedarf des Gehirns gleichsetzt, macht es sich zu einfach. Anders als die normale Grundaktivität läuft das Default Network ja gerade nicht durchgehend, sondern reagiert auf
Konzentration mit sinkender Aktivität. Trotzdem zeigte Raichles Entdeckung
in der Szene der Hirnforscher Wirkung: Seine Veröffentlichung 2001 hat die
Aufmerksamkeit ein wenig von dem Energieverbrauch bei den zielgerichteten
Gehirnaktivitäten weggelenkt hin zu den Vorgängen, die sich unterhalb dieses
Aktivitätsbereichs abspielen.
Mehrere Untersuchungen deuten darauf hin, dass es einen Zusammenhang
zwischen Leerlauf-Netzwerk und Ich-Bewusstsein geben könnte. »Bei Kindern
bis zu zehn, zwölf Jahren ist der Default-Modus noch nicht besonders aktiv«,
erklärt Magistretti. »Auch bei Alzheimer-Patienten finden wir wenig Leerlaufaktivität. Das ist hochinteressant, weil bei beiden Gruppen das, was wir als IchBewusstsein bezeichnen, nicht im gleichen Maße ausgeprägt ist wie bei gesunden
Erwachsenen.«
Auf der Alltagsebene ergibt der Ansatz durchaus Sinn: Solange das Gehirn
mit Informationsverarbeitung beschäftigt ist – etwa in einer brenzligen Situation
im Straßenverkehr oder während einer wichtigen Klausur –, wäre es gefährlich,
die begrenzte Arbeitskapazität auf die Pflege des Bewusstseins zu verwenden.
Schweifen die Gedanken ab, könnte das Gehirn mit dem Leerlaufmodus eine
Selbstinspektion in Gang setzen. Diese Vorstellung findet auch Vogeley reizvoll.
»Wir wissen, welche Regionen des Gehirns aktiv werden, wenn Menschen über
sich selbst nachdenken«, sagt er. »Wenn man sich das Default Network anschaut,
stellt man fest: Die Bereiche überschneiden sich.«
Vom Leerlaufmodus mag Jan Born dagegen nicht sprechen. Der Neuroendokrinologe beschäftigt sich an der Universität Lübeck (heute Universität Tübingen) mit den Prozessen, die während des Schlafs im menschlichen Gehirn
ablaufen. »Es ist ziemlich naiv, zu glauben, dass Menschen, die schlafen oder
tagträumen, nichts tun«, sagt er. Für den abgeschotteten Zustand des Gehirns,
den Marcus Raichle mit »Default-Modus« beschrieben hat, verwendet der Schlafforscher lieber das Wort »Offline-Modus« – vergleichbar mit einem Computer,
der keinen Zugang zum Internet hat und nur auf die Informationen auf seiner
Festplatte zugreifen kann.
Doch auch Born hat sich Gedanken zu Raichles Theorie gemacht. »Der
Input, den Hör- und Sehsinn uns normalerweise liefern, fehlt im Schlaf vollkommen«, sagt er. »Das bedeutet aber nicht, dass wir deshalb in einen Leerlauf
fallen, wenn wir schlafen. Tatsächlich erledigt unser Gehirn in diesen Phasen
eine lebensnotwendige Aufgabe: Es käut das wieder, was wir vor dem Einschlafen erlebt haben.« Das tägliche Bombardement an Informationen, erklärt Born,
würde das Hirn eigentlich in ein gefährliches Ungleichgewicht stürzen – wenn
es nicht Ruhepausen gäbe, in denen es sich selbst überlassen sei. Diese Chance
nutze es, um seine Netzwerke aus Nervenzellen neu zu organisieren, das Gelernte
zu ordnen und zu verarbeiten.
Dass ein ähnlicher Prozess während des Tagträumens abläuft, hält der Forscher durchaus für möglich. »Eigentlich ist es völlig banal«, sagt er. »Wenn Sie
gerade ein spannendes Experiment mit Bildern gemacht haben und eine Pause
bekommen, langweilen Sie sich. Und was passiert als Erstes, wenn Sie sich langweilen? Richtig – die Bilder gehen Ihnen noch einmal durch den Kopf.«
Auch wenn bislang nicht geklärt ist, was es genau mit dem Default-Modus
des Gehirns auf sich hat – die Beschäftigung mit dem rätselhaften Zustand liefert
den Forschern immerhin eine wissenschaftliche Entschuldigung für manchen
Brauch des Büro-Alltags. Kai Vogeley zum Beispiel hält es für erwägenswert, »ob
man nicht während der Arbeitszeit öfters einen forcierten Zustand des Müßiggangs herbeiführen sollte«.
von Josephina Maier aus der ZEIT Nr. 1/2013
Jan Born
Jan Born lehrt und arbeitet als Schlafund Gedächtnisforscher in Tübingen. Er
konnte beweisen, dass sich das Gedächtnis
im Tiefschlaf bildet, nicht – wie lange angenommen – im traumreichen REM-Schlaf.
2010 wurde er mit dem Gottfried Wilhelm
Leibniz-Preis ausgezeichnet.
102
Die Welt im Kopf
Grenzzustände des Gehirns
103
Stichwort
Bewusstseinsstörungen
Wachbewusstsein ist die
Fähigkeit, uns selbst und
die Welt um uns herum
bewusst wahrzunehmen.
Bei Patienten in einem
minimalen Bewusstseinszustand (minimal conscious
state) ist sie stark reduziert,
bei Patienten im Wachkoma
fehlt sie vermutlich vollständig. Neue Methoden haben
jedoch gezeigt, dass einige
Wachkomapatienten ein
gewisses Maß an Bewusstsein zurückbehalten haben,
und ermöglichen Forschern,
mit ihnen zu kommunizieren.
104
Die Welt im Kopf
Das Wachbewusstsein ist eine wesentliche Komponente des Bewusstseins.
Es wird von der koordinierten Aktivität vieler Teile des Gehirns erzeugt, vor allem vom zerebralen Kortex, der Dutzende von
spezialisierten Bereichen für die
Verarbeitung von sensorischen Informationen aus dem Körper und der Umwelt beherbergt. Das Wachbewusstsein
hängt zudem von intakten Verbindungen
zwischen dem Kortex und subkortikalen
Strukturen wie dem Thalamus ab und ist
eng mit dem »Wecksystem« v
­erknüpft,
das von Teilen des Hirnstamms, dem aufsteigenden retikulären Aktivierungssystem (ARAS), kontrolliert wird.
Bessere Diagnosemöglichkeiten Wir
wissen, dass Aufmerksamkeit und Wachbewusstsein bei Bewusstseinsstörungen
wie beim minimalen Bewusstseinszustand und beim vegetativen Zustand
stark beeinträchtigt sind, doch wir haben
noch immer keine Möglichkeit, die Stufe
des Bewusstseins bei solchen Patienten
zu bestimmen oder zwischen diesen Zuständen zu unterscheiden, um sie korrekt
zu dia­gnos­ti­zie­ren. Diese Situation begann sich vor zehn Jahren zu ändern,
denn dank technischer Fortschritte besserten sich die Dia­gno­se­mög­lich­kei­ten
der Ärzte. Mithilfe dieser neuen Methoden ließ sich zeigen, dass ein signifikanter Teil der Wachkomapatienten, von denen man annahm, sie seien
völlig ohne Bewusstsein, tatsächlich über ein gewisses Maß an Bewusstsein verfügen und auch in der Lage sind, ihre Gedanken mitzuteilen, obgleich sie bei Verhaltenstests keine Reaktionen ­zeigen.
Bewusstseinsstörungen werden meistens von schweren Hirnschäden nach einer traumatischen Hirnverletzung ausgelöst. Schätzungsweise
100 000 bis 200 000 Menschen weltweit leiden an solchen Störungen, auch
wenn man gegenwärtig davon ausgeht, dass bis zu 40 Prozent falsch dia­
gnos­ti­ziert worden sein könnten. Jeder dieser Zustände geht mit anderen
Folgen einher, doch eine korrekte Dia­gno­se ist eine große Herausforderung.
Beispielsweise ist die Erholungswahrscheinlichkeit bei Patienten in einem
minimal bewussten Zustand allgemein größer als bei Wachkomapatienten,
doch wir können immer noch nicht vorhersagen, wessen Zustand sich bessern könnte oder in welchem Maße. Die klinische Forschung konzentriert
sich inzwischen auf die Entwicklung von Methoden, die eine Unterscheidung zwischen diesen Typen von Bewusstseinsstörungen ermöglichen. Die
Möglichkeit, korrekte Dia­gno­sen zu stellen, könnte Ärzten helfen, bessere
Voraussagen über die Erholungschancen von Patienten zu machen.
Zu den wichtigsten Bewusstseinsstörungen gehören:
Koma: Ein Koma ist ein Zustand tiefer Bewusstlosigkeit. Komapatienten
können sich weder bewegen noch ihre Augen öffnen oder in irgendeiner
Form auf äußere Reize reagieren. Sie zeigen keinen normalen Schlafwach-Rhythmus, und man nimmt an, dass ihnen jedes Wachbewusstsein
fehlt. Sie können nicht alleine atmen und müssen daher beatmet werden,
um zu überleben. Nur selten verbringen Menschen längere Zeit im Koma
– entweder bessert sich ihr Zustand ein wenig, oder sie sterben innerhalb
weniger Wochen.
Vegetativer Zustand: Einige Patienten treten nach einer kurzen Zeit
des Komas in einen vegetativen Zustand ein, der auch als Wachkoma
bezeichnet wird. Bei denjenigen, die mehr als einen Monat in diesem Zustand verharren, ohne dass es Zeichen der Verbesserung gibt, spricht
man von einem andauernden vegetativen Zustand (persistent vegetative
­state). Der Schlaf-wach-Zyklus bleibt im vegetativen Zustand erhalten,
und die Patienten wirken, als seien sie wach, doch sie zeigen keinerlei
Anzeichen von Wachbewusstsein. Neue Methoden zur Evaluierung der
Hirnfunktion haben jedoch demonstriert, dass mindestens einer von fünf
Patienten mit der Dia­gno­se »Wachkoma« tatsächlich noch über ein gewisses Maß an Wachbewusstsein verfügt.
Stichwort
105
Minimaler Bewusstseinszustand: Der minimale Bewusstseinszustand
(minimal conscious ­state) wurde erst kürzlich als eigenständige Bewusstseinsstörung erkannt. Minimal bewusste Patienten geben von Zeit zu Zeit
Hinweise, dass sie sich ihrer selbst und ihrer Umwelt bewusst sind. Sie
sind nicht kommunikativ, doch sie können einfache Kommandos ausführen, die Hand nach einem Objekt ausstrecken und greifen oder in Reaktion auf emotionale Reize lächeln oder weinen. Zwar ist bei ihnen die
Wahrscheinlichkeit, dass sich ihr Zustand bessert, höher als bei Wach­
komapatienten, doch einige verharren auf Dauer in diesem minimalen
Bewusstseinszustand.
In Kontakt treten Vor mehreren Jahren entwickelten Forscher eine
Methode, um mit Wachkomapatienten zu kommunizieren. Sie legten
die Patienten in einen Scanner und stellten ihnen eine Reihe einfacher
Fragen wie »Haben Sie einen Bruder?«. Sie wiesen die Patienten an, sich
vorzustellen, Tennis zu spielen, wenn sie »Ja« antworten wollten, und
sich vorzustellen, in ihrem Haus herumzulaufen, wenn sie »Nein« antworten wollten. Die beiden Aufgaben zur bildlichen Vorstellung führten
Terri Schiavo
Der tragische Fall von Terri Schiavo
beleuchtet die ethischen Probleme
bei der Pflege von Patienten mit
minimalem Bewusstseinszustand.
Schiavo erlitt einen massiven Zusammenbruch, der zu schweren
Hirnschäden führte. Mehrere Monate
später wurde bei ihr ein andauernder
vegetativer Zustand (Wachkoma)
dia­gnos­ti­ziert. Anschließend kam es
zu bitteren juristischen Auseinandersetzungen zwischen Schiavos
Ehemann, der argumentierte, sie
hätte unter diesen Umständen nicht
weiterleben wollen, und verlangte,
ihre künstliche Ernährung zu be-
106
Die Welt im Kopf
enden, und ihren Eltern, die meinten,
ihre Tochter zeige noch Hinweise auf
Bewusstsein und solle deshalb am
Leben erhalten werden. Der juristische Streit dauerte sieben Jahre;
in dieser Zeit wurde ihr Lebenserhaltungssystem zweimal gestoppt
und wieder angestellt, und Präsident
George W. Bush unterzeichnete ein
Gesetz, das darauf abzielte, sie am
Leben zu erhalten. Die Auseinandersetzung endete 2005, als ein Bezirksgericht in Florida die ursprüngliche
Entscheidung bestätigte, die künstliche Ernährung abzubrechen.
Bewusstsein ist
das Erscheinen
einer Welt.
zu einem jeweils anderen Muster der
Hirnaktivität – die erste aktivierte den
prämotorischen Kortex, der für die
Planungen von Bewegungen wichtig
ist, die zweite hingegen den Hippocampus und umliegende Regionen,
Thomas Metzinger,
die für das räumliche Gedächtnis eine
deutscher Philosoph, 2009
große Rolle spielen.
Anfangs hatten die Forscher
keine Ahnung, ob irgendeiner der
Patienten die Anweisungen und Fragen verstehen würde, die ihnen gestellt wurden. Zu ihrer Überraschung
reagierten jedoch einige Patienten auf die Fragen und beantworteten sie
richtig, wie sich später anhand der medizinischen Berichte und durch die
Aus­sagen von Familienmitgliedern verifizieren ließ. Die Forscher bauen
nun auf diesen ersten Studien auf und sind dabei, für solche Patienten
eine ganze Batterie neuropsychologischer Tests zu entwickeln. Sie hoffen, dass diese Tests Klinikern helfen werden, Patienten und das Ausmaß
ihrer geistigen Fähigkeiten besser einzuschätzen.
Die Möglichkeit, mit solchen Patienten zu kommunizieren, wirft
schwierige e
­ thische Fragen auf. Sollte man sie beispielsweise fragen, ob
sie gern weiterleben möchten oder lieber sterben würden? Die beteiligten Forscher halten dies für unangemessen, nicht zuletzt deswegen, weil
es in den meisten Ländern keine Euthanasiegesetze gibt, die es erlauben
würden, die Lebenserhaltungssysteme abzuschalten, wenn ein Patient
sagt, dass er sterben möchte. Vielmehr schlagen sie vor, man solle den
Patienten Fragen stellen, die dem Pflegepersonal helfen können, den Alltag der Patienten so komfortabel wie möglich zu gestalten, wie »Haben
Sie Schmerzen?« oder Fragen, welche Nahrung oder welche Unterhaltung sie bevorzugen.
Moheb Costandi
Stichwort
107
Das Ringen um Worte
Ein Unfall verwandelte Erik Ramsey in eine lebende Statue – unfähig, sich zu
bewegen und zu sprechen. Jetzt versuchen Neurologen, mithilfe eines Hirnimplantats seine Gedanken zu lesen und ihm eine neue Stimme zu geben Er will nicht mehr still sitzen. Unruhig tänzelt der Neurologe Philip Kennedy
durch sein enges Labor an der McClure Bridge Road nördlich von Atlanta. Aus
einem Lautsprecher dudeln die Greatest Hits des Country-Sängers John Denver.
Sie sollen den 24-jährigen Erik Ramsey auf dem Be­hand­lungs­stuhl beruhigen,
damit das lang erwartete Experiment endlich beginnen kann.
Zwei Kabel führen von einem Turm aus blinkenden Messgeräten und Computern zu Eriks Hinterkopf. Sie sind an ein Implantat in dem Teil seines Hirns
angeschlossen, der Mund und Zunge beim Sprechen steuert. Erik ist der erste
Mensch, dem eine Elektrode in dieses Areal eingepflanzt wurde. Mit ihrer Hilfe
will Kennedy heute die Gedanken seines Patienten lesen und das erste Mal live
von einer Computerstimme wiedergeben lassen. Der Versuch könnte Medizingeschichte schreiben.
Für den blassen Erik geht es allerdings um mehr als den Fortschritt. Es geht
um alles oder nichts. Er hofft, bald wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen
zu können. Seit einem Autounfall vor acht Jahren ist er in einem reglosen Körper
gefangen. Gegen Mitternacht war er mit einem Freund vom Kino nach Hause gefahren, als ein entgegenkommender Transporter plötzlich auf der Straße wendete.
Nach dem Aufprall überschlug sich ihr Auto dreimal, die Airbags öffneten sich,
und Eriks Kopf knallte mit voller Wucht gegen die Kopfstütze.
Als er nach der 15-stündigen Not­ope­ra­tion wieder aufwachte, gehorchte
sein Körper nicht mehr. Seine Hand wollte die Nase nicht mehr kratzen, wenn
sie juckte. Seine Beine wollten sich nicht mehr regen, selbst als er furchtbare
Krämpfe hatte. Und auch Zunge, Kiefer und Lippen ließen sich nicht mehr bewegen – Erik konnte nicht mehr sprechen. Sein ganzer Körper war wie in Zement
gegossen, der Unfall hatte ihn in eine lebendige Statue verwandelt.
Erst nach fünf Tagen stellten die Ärzte fest, dass hinter den leblosen Zügen
ein hellwacher Geist steckte. Dass Erik sehen und hören konnte, was um ihn herum
geschah, dass er unter Schmerzen litt von den Druckstellen des Bettlakens am Rücken. Die Diagnose: Locked-in-Syndrom, unheilbar. Eine Blutung im Hirnstamm
hatte nach dem Unfall jene Nervenbahnen zerstört, über die das Großhirn die Steuersignale an den ganzen Körper übermittelt. Lediglich Augenlider und Pupillen
ließen sich noch kon­trol­lie­ren – wenn auch nur unter größter Anstrengung.
108
Die Welt im Kopf
Seitdem läuft das Leben vor Eriks Augen ab wie ein Film, dessen Drehbuch
andere schreiben. Nach ein paar Wochen in einer Rehaklinik holten die Ramseys
ihren Sohn nach Hause und begannen, ihn in seinem neuen Alltag einzurichten.
Sie räumten das Wohnzimmer in ihrem Einfamilienhaus aus und stellten ein
stählernes Krankenhausbett hinein. Sie ließen einen Kran an die Decke montieren, der Erik morgens in den Rollstuhl hievt und abends wieder zurück ins Bett.
Sie kauften für 8000 Dollar einen gigantischen Plasmafernseher, damit Erik trotz
verschwommener Sicht fernsehen kann. Sie ersetzten den flauschigen braunen
Teppich durch einen Linoleumboden, weil sich sein Katheter regelmäßig löst und
der Urin aus dem Bett läuft. Und sie lernten, sich mit Erik zu verständigen.
Erst lasen sie ihm langsam das Alphabet vor. Er sollte blinzeln, sobald der Buchstabe kam, den er sagen wollte. Mit dieser Methode hatte der ehemalige Elle-Chefredakteur Jean-Dominique Bauby im Locked-in-Zustand seinen Erfahrungsbericht
Schmetterling und Taucherglocke diktiert. Doch Eriks Reaktionen waren zu verzögert.
Also stellten die Eltern nur noch Ja-NeinFragen und hofften, dass er genug Kraft
habe, die Lider aufzureißen und seine Eddie Ramsey versucht seinen Sohn so
Pupillen nach oben zu schieben (»Ja«) oft wie möglich unter Leute zu bringen.
oder nach unten (»Nein«). Erik, willst du
was anderes sehen? Die Nachrichten? Den
Trickfilm? Die Jurassic Park-DVD, die du
so magst?
Bis heute will sich Eriks Vater
nicht damit abfinden, dass das Leben
seines Sohnes da­rauf beschränkt sein
soll, gewaschen, durch die Gegend geschoben oder von Filmen berieselt zu
werden. Nur wenige Monate nach dem
Unfall setzte Eddie Ramsey durch,
dass Erik wieder zur Highschool gehen
durfte. Viermal ließ er ihn die gleiche
Klasse wiederholen. Dann bestellte er
eine Sozialarbeiterin vom Arbeitsamt
nach Hause. Sie sollte herausfinden, ob
es nicht doch eine sinnvolle Beschäftigung für den Sohn gebe. Sie kam,
stellte die vorgeschriebenen Fragen
und verabschiedete sich – ohne Antworten. Sogar zur alten Pfadfindertruppe brachte ihn Eddie Ramsey,
damit er dort stumm und steif ein
Team von Jüngeren beim Bauen von
Grenzzustände des Gehirns
109
Picknickbänken »beaufsichtigen« konnte – Erik wurde zum Eagle Scout ernannt,
das ist der höchste Rang bei den Pfadfindern.
Schließlich gab es doch noch einen Hoffnungsschimmer: Die Schulbetreuerin empfahl, Philip Kennedy anzurufen. Kennedy hatte Ende der Achtziger die
kleine Forschungsfirma Neural Signals gegründet und experimentierte seitdem
mit Hirnimplantaten. Zunächst hatte er sie Ratten und Affen eingesetzt, schließlich drei unheilbar kranken Menschen, die wie Erik nicht mehr Herr ihrer Körper waren. Einem war es dank der Elektrode gelungen, mit schierer Willenskraft
eine Bildschirmtastatur zu bedienen. Doch wenig später starb er – und Kennedy
brauchte einen neuen Freiwilligen.
Seit den neunziger Jahren feiern Neuroforscher mit Hirnprothesen einen
Erfolg nach dem anderen, ihre Veröffentlichungen lesen sich wie Science-FictionRomane. Sie erfinden Elektroden, mit denen Gelähmte künstliche Gliedmaßen
und Computercursors steuern können. Sie bauen Cochlea-Implantate, die Gehörlosen das Gehör wiedergeben. Und sie implantieren Chips, die Kamera­bilder in
den Sehnerv einspeisen und Blinde wieder schemenhaft sehen lassen. Was Phil­ip
Kennedy nun aber plante, hatte noch niemand versucht: Er wollte einem Lockedin-Patienten eine neue Stimme geben. Also beantragte er Fördermillionen bei den
Na­tional Institutes of Health und stellte ein Team aus Forschern von den Universitäten aus Atlanta, Boston, Chicago und Pittsburgh zusammen.
Vor vier Jahren bohrte schließlich ein Neurochirurg ein Loch in Eriks Schädel und versenkte einen Glaskolben mit drei Golddrähten fünf Millimeter tief im
Gehirn. Um die exakte Position zu bestimmen, waren Erik zuvor während eines
Hirnscans Bilder von Tieren gezeigt worden, er sollte die Namen laut vorlesen.
Natürlich brachte er keinen Ton hervor, aber einige Nervenzellen seines Sprachzentrums feuerten wie die eines Gesunden – die richtige Stelle war gefunden. An
die Elektrode schloss der Chi­rurg einen Verstärker und einen Minisender an, die
er direkt unter der Kopfhaut auf den Schädel schraubte.
Kennedys Implantate haben eine Besonderheit: Ein paar Tropfen Nährlösung in den winzigen Kolben regen die Nervenzellen in der näheren Umgebung dazu an, hineinzuwachsen und sich an die Drähte zu schmiegen. So werden
die Implantate mit den Nervenzellen im Gehirn verbunden und gleichzeitig so
fixiert, dass sie nicht verrutschen. »Leider müssen wir einige Monate warten, bis
wir wirklich wissen, wie viele Nervenzellen die Elektrode erreichen«, sagt Kennedy. In Eriks Fall waren es 53, genug für den großen Versuch.
Dieser Februarnachmittag vier Jahre später soll nun entscheiden, ob sich die
riskante Operation gelohnt hat. Aus einer Ecke des Labors beobachtet der Neurowissenschaftler Frank Guenther von der Boston University das Experiment. Er
hat den Stimmsynthesizer für Erik programmiert und ist heute extra angereist.
Erik wird von Krämpfen geschüttelt, er stöhnt. Er ist aufgeregt, die angestaute Energie entlädt sich unkontrolliert. Der Vater streichelt die Hand des
Sohns, versucht ihn mit tiefer Stimme zu beruhigen.
110
Die Welt im Kopf
Die beiden Kabel, die mit einer glasigen Paste auf die Beule an Eriks Hinterkopf geklebt sind, dienen zur Stromversorgung und zum Datentransfer. Die
Elektronik im Kopf wird angetrieben, wie der Akku einer elektrischen Zahnbürste aufgeladen wird: Es gibt keine Steckerverbindung, die Energie wird durch
die Kopfhaut induziert. Das andere Kabel fungiert als Antenne, es empfängt die
Gehirnströme, die der Sender aus Eriks Schädel überträgt.
Und dann stehen Eriks Füße endlich entspannt auf dem Boden, der erste
Durchgang kann beginnen. »Hör zu!«, befiehlt eine Computerstimme – und
dann dröhnt ein lang gezogenes »Uuuuuuuuh!« aus dem Lautsprecher. »Sprich!«,
sagt die Stimme. Für ein paar Sekunden dröhnt ein dumpfes »Aaaaaaaah« durch
den Raum, Erik soll versuchen, den Ton mit der Kraft seiner Gedanken in das
»Uuuuuuuuh« zu verwandeln. Das wäre der erste Laut, den er seit dem Unfall aus
freien Stücken von sich gibt.
Doch es funktioniert nicht. Der CD-Player spielt wieder John Denver: »Und
alle, die mich sehen und die an mich glauben, teilen mein Gefühl der Freiheit,
wenn ich fliege.«
Es ist nicht das erste Mal, dass Kennedy Erik verkabelt hat. Seit Monaten
bringt ihn sein Vater zweimal pro Woche ins Labor. Doch bislang zeichneten die
Forscher die Gehirnströme lediglich auf, noch nie ließen sie sie von dem Synthesizer vorlesen. Die direkte Rückkopplung soll es Erik ermöglichen, den Umgang
mit seinem Implantat zu trainieren – ebenso wie ein Fahrschüler ein Gefühl fürs
Autofahren entwickelt, indem er spürt, wie sein Wagen reagiert.
Sechster Durchgang: »Hör zu!«, »Uuuuh«, »Sprich!« Und tatsächlich verändert sich diesmal die Farbe der Computerstimme: »Aaaaaaaauuuuuuuuuh«.
Aufregung im Labor, Philip Kennedy streckt beide Daumen in die Luft und
lacht: »Wir haben es, wir haben es wirklich geschafft. Das ist es!«
Erik hat seine neue Stimme entdeckt. Bis zur ersten Unterhaltung wird es
allerdings noch dauern. »Bis Jahresende könnte er alle Vokale lernen, bis Ende
nächsten Jahres die meisten Konsonanten – und in etwa fünf Jahren kann er
vielleicht ganze Sätze sprechen«, schätzt Guen­ther.
Bis dahin sind allerdings noch Hindernisse zu überwinden: Der Synthesizer, den Guenther entwickelt hat, arbeitet derzeit mit sogenannten Formantfrequenzen. Jeder Laut, den Erik gedanklich ausspricht, kann durch ein einzigartiges Fre­quenz­mus­ter dargestellt werden – diesen Mustern haben die Forscher
in den vergangenen Monaten verschiedene Signale aus Eriks Hirn zugeordnet
und so dem Computer beigebracht, Eriks Gedanken in Sekundenbruchteilen zu
übersetzen. Dazu musste sich Erik stundenlang wieder und wieder die gleichen
Laute anhören und versuchen, sie nachzusprechen. »Die Methode funktioniert
prima, allerdings nur mit Vokalen, nicht mit Konsonanten«, sagt Guenther.
Daher will er bald einen Synthesizer ausprobieren, der Sprache erzeugt, indem
er die Bewegungen von Zunge, Kiefer und Lippen simuliert. Um ihn zu trainieren,
müsste Erik keine Laute mehr im Geiste abspielen, sondern die entsprechenden
Grenzzustände des Gehirns
111
Mundbewegungen. »Allerdings fürchten wir, dass Eriks Elektrode nicht genug Daten über die Zunge liefert, vielleicht brauchen wir eine zweite – oder einen zweiten
Patienten.«
Eine neue OP würde für Erik aber enor­me Risiken bergen, zumal Kennedys
Elektroden nicht unumstritten sind. »Beim Einsetzen wird das Hirn verletzt, und
das kann zu lebensbedrohlichen Infektionen führen«, sagt der Tübinger Neuromediziner Niels Birbaumer. »Ich halte den Ansatz für verfehlt und gefährlich. Gibt es
Komplikationen, ist eine eingewachsene Elektrode zudem nur schwer zu entfernen.«
Birbaumer experimentiert seit Jahren mit Elektroden, die von außen auf
den Kopf geklebt werden. Auch mit dieser Methode, der Elektroenzephalografie
(EEG), lassen sich Hirnströme messen und auswerten. Gelähmte konnten damit
bereits eine Bildschirmtastatur bedienen.
Allerdings müssen sie dazu Monate trainieren – und sich sehr anstrengen,
weil die Signale auf dem Weg durch Schädel und Kopfhaut abgeschwächt werden. Und sie verlieren die Kontrolle, sobald sie abgelenkt werden – wenn etwa
jemand im Labor das Licht ausschaltet oder sich räuspert.
Daher ließ auch Birbaumer schon zwei Patienten Implantate einsetzen. »Diese wurden aber nur auf der Hirnhaut angebracht, nicht ins Hirn gepflanzt«, sagt
er. »Dabei war die Infektionsgefahr nicht größer, als wenn man sich in den Finger
schneidet.« Bei dieser Methode, der Elektrocorticografie (Ecog), seien die Gehirnströme zehnmal deutlicher zu empfangen. »Ich glaube, dass wir damit ähnlich gute
Daten erhalten wie von einem Implantat tief im Hirn. Daher wundere ich mich,
dass die amerikanische Gesundheitsbehörde Kennedys Methode überhaupt erlaubt.«
John Donoghue, Neurologie-Professor an der Brown University in Providence, widerspricht: »Von außen lassen sich einfach nicht genug Informationen
sammeln.« Er vergleicht die Signale von EEG und Ecog mit der Geräuschkulisse
in einem Fußballstadion. »Man kann sich zwar ungefähr vorstellen, wie das Spiel
verläuft. Will man aber Genaues über den Spielstand und die Strategien erfahren,
muss man Trainer, Spieler und Fans einzeln befragen.« Das heiße auf das Gehirn
übertragen: »Wir müssen rein und die elektrischen Signale einzelner Neuronen
ableiten.« Ein Glaubensstreit, den die Praxis entscheiden wird.
Als Chef der Firma Cyberkinetics leitet Donoghue die zweite Forschergruppe, die Implantate direkt ins Gehirn einsetzt. Sie verwendet einen vier mal vier
Millimeter gro­ßen Neurochip mit 100 feinen Silikonhärchen als Elektroden, der
mit Luftdruck in die Hirnmasse getackert wird. Anders als Kennedy versucht
Donoghue allerdings nicht, seinen Patienten die Stimme wiederzugeben, sondern
ihre Mobilität – daher implantiert er den Chip in den Motorkortex. »Wir wissen
aus Affenversuchen sehr viel darüber, wie dieses Areal die Hand steuert«, sagt er.
»Über das Entstehen von Sprache wissen wir fast nichts. Affen reden ja nicht.«
Vier Probanden wurde Donoghues Implantat eingesetzt, darunter einem
Querschnittsgelähmten und einem Patienten, der wie der Astrophysiker Stephen
Hawking an der tödlichen Amyo­
tro­
phen Lateralsklerose (ALS) leidet. Sein
112
Die Welt im Kopf
motorisches Nervensystem starb schleichend ab, bis auch er irgendwann in den
Locked-in-Zustand fiel. Der erste Proband, der vom Hals abwärts gelähmte Matthew Nagle, kontrollierte nach etwas Training routiniert einen Cursor und einen
Greifarm. »Das ist doch das, was sich die Patienten sehnlich wünschen: sich ein
Glas nehmen zu können oder eine E-Mail zu schreiben.« In seinem Büro zeigt
Donoghue ein Video, auf dem Nagle auf Anhieb einen Rollstuhl steuert. »Holy
shit!«, ruft Nagle – und fährt dem Professor über den Fuß.
Mittlerweile ist Nagle an einer Hautkrankheit gestorben; eine Patientin, die
neun Jahre lang »locked in« war, erzielt derzeit aber ähnliche Erfolge. Mit zwei Nachteilen von Donoghues Chip muss sie allerdings leben: Erstens bewegt er sich im Kopf
minimal hin und her – dabei entsteht Narbengewebe, das die Härchen unbrauchbar
macht. Nach ein paar Jahren muss er ausgetauscht werden. Zweitens funktioniert der
Chip nicht drahtlos, das heißt, aus dem Kopf der Probandin ragt eine Steckdose für
die Kabel. »Kollegen an der Brown University testen an Affen bereits eine Version, die
die Signale mit Infrarotlasern durch die Kopfhaut überträgt«, sagt Donoghue.
Und die Forscher haben einen noch größeren Traum: Irgendwann wollen sie
ganz auf externe Computer verzichten – und kaputte Nervenbahnen durch Glasfaserleitungen ersetzen, an deren Ende eine Elektronik die Muskulatur von Armen und
Beinen stimuliert. »Das wäre dann ein bisschen so wie beim hochgerüsteten 6-Millionen-Dollar-Mann aus der alten Fernsehserie«, sagt Donoghue. »Nur dass wir ein paar
Jahrzehnte und viel mehr Geld brauchten: Allein das drahtlose System zur Marktreife
zu bringen wird 200 Millionen Dollar kosten, bis jetzt haben wir 20 Millionen.«
Solche Visionen schüren Hoffnungen bei Patienten wie Erik und ihren Familien: Vielleicht kann er ja eines Morgens selbst entscheiden, welches seiner vielen
Heavy-­Metal-T-Shirts ihm angezogen wird. Vielleicht kann er sich den Cowboyhut
aufsetzen, den sein Vater ihm auf einer Reise geschenkt hat und der nun verwaist
neben dem Plasmafernseher hängt. Vielleicht kann er sogar die kleine Karibikinsel
betreten, die er auf einer Kreuzfahrt mit seinen Eltern ge­sehen hat. Da Eriks Rollstuhl nicht auf die kleine Fähre passte, konnte er damals nicht mit an Land gehen.
Wie hoch sind deine Erwartungen an das Implantat wirklich, Erik? Eddie Ramsey übersetzt die Frage in Ja-nein-Sprache: »Erik, hoffst du nur, wieder sprechen zu können?« Die Pupillen gehen nach unten – nein. »Erik, hoffst du nur, wieder sprechen und
arbeiten zu können?« Nein. »Erik, hoffst du nur, wieder sprechen und als Zeichner für
Disney arbeiten zu können?« Erik schiebt die Pupillen nach oben. »Yeah!«
Später sagt Eddie Ramsey: »Träume wie diese sind nötig, sonst kann man
nicht weitermachen.«
von Jens Uehlecke aus der ZEIT Nr. 3/2008
Grenzzustände des Gehirns
113
3.
Die Sinne
Wir Menschen können nicht besonders gut riechen. Wir sehen
im Dunkeln ziemlich schlecht. Wir
dröhnen uns die Ohren voll.
Unsere Sinne lassen sich leicht
überlisten. Können wir uns
auf sie verlassen? Haben wir
sie zu sehr vernachlässigt?
Können wir sie schulen? Fünf Sinne
zählen wir: Sehen, Hören, Riechen,
Tasten, Schmecken. Hirnforscher
haben einen sechsten Sinn entdeckt,
den Körpersinn. Er könnte die Basis
unseres Bewusstseins sein.
114
Die Welt im Kopf
Auf den Geschmack
gekommen
Riechen und Schmecken gelten als niedere Sinne. Dabei liegt in ihnen der
Schlüssel zum Genuss. Wissenschaftler enträtseln, warum wir manche Dinge
gern essen und andere nicht
Ein Mahl, lieblich wie die dänische Südsee und rau wie die tosende Nordsee. Vorweg etwas süßliche Knollen-Sonnenblume, garniert mit zitronigem Sauerampfer
und frischem Koriander. Danach atlantischer Taschenkrebs, schwedischer Kaviar
und Austern aus dem Limfjord. Mit unverwechselbaren Aromen aus der Region
will das dänische Restaurant Noma »die Welt erhellen« – und das gelingt. Im vergangenen Jahr war das Haus im Hafen Kopenhagens zum zweiten Mal Nummer
eins unter den »San Pellegrino World’s 50 Best Restaurants« und damit Nachfolger von Ferran Adriàs El Bulli.
Ähnlich wie der berühmte katalanische Koch nähern sich die Macher des
Noma dem Erlebnis Geschmack mit fast wissenschaftlicher Akribie. Damit
stehen sie in der Tradition der sogenannten Molekularküche, die seit 20 Jahren
mithilfe physikalischer und chemischer Kniffe vorher undenkbare gustatorische
Knalleffekte wie Apfelkaviar in der Gelkugel ermöglicht. Doch eine zentrale
Frage haben die Köche bisher nicht beantworten können: Warum mögen wir bestimmte Nahrungs­mittel und andere nicht? In einer Art zweiter gastronomischer
Revolution suchen jetzt Forscher ­a ller Disziplinen nach Antworten. Ausgerechnet
Dänemark, das Land der Remoulade und der fett gebratenen Schollen, ist einer
der wichtigsten Schauplätze dieses Aufbruchs.
Zwei Orte in Kopenhagen sind es vor allem, in denen dieser Aufbruch stattfindet: zum einen das Nordic Food Lab, das in Rufweite des Noma auf einem
grauen Hausboot sanft im Hafenbecken schaukelt; es ist einerseits Experimentierstube für das Noma und andererseits ein stiftungsfinanziertes Non-Profit-Labor
für eine nachhaltige dänische Küche. Der andere Schauplatz ist der »gelbe Käse«.
So nennen die Dänen das grelle Gebäude der Abteilung für Ernährungsforschung
der Universität Kopenhagen, an der Per Møller arbeitet.
Die Sinne
115
Mit modernen neurowissenschaftlichen Methoden will der studierte Physiker,
Mathematiker und Psychologe Møller den Geschmack ergründen. »Neue Speisen
sollten nicht nur durch Versuch und Irrtum, wie in der Küche, erschaffen werden«,
sagt er, »sondern durch systematische Erkenntnisse verschiedener Wissenschaften.«
Zu lange hätten Ernährungswissenschaften sich nur für den Zucker-, Fett- und
Eiweißgehalt des Essens interessiert. Doch das Geheimnis guten Essens lüfte man
nicht durch isolierte Betrachtung von Fetten oder Kohlenhydraten. Es liege woanders: in der komplexen Reaktion des Gehirns auf den Geschmack.
Wie den amerikanischen Neurowissenschaftler Gordon Shepherd, der soeben das Buch Neuro­gastronomy veröffentlichte, treibt Møller eine Überzeugung
voran: Wer das Rätsel des Ge­schmacks­­erle­bens löst, kann das Wohlbefinden und
die Gesundheit der Menschen verbessern. Deshalb hat der Däne zusammen mit
dem britischen Physiker Peter Barham das Online-Fachjournal Flavour gegründet.
Ende März wird es im Internetportal BioMed Central zum ersten Mal erscheinen.
Mitglied des international besetzten Beratergremiums ist unter anderem der theoretische Physiker und Mitgründer von Microsoft Nathan Myhrvold. »Neben dem
Kerngeschäft der gastronomischen Forschung wollen wir die ganze Bandbreite abdecken, von der Anthropologie über die Soziologie, von der Ökonomie über die
Neurowissenschaften bis hin zur Chemie und Physik«, sagt Møller.
Einer der Erstautoren im Fachblatt ist Lars Williams, der Koch des Nordic
Food Lab. Wenn der bärtige Amerikaner lächelt, sieht man eine Backenzahnlücke. Er hat schon im britischen Drei-Sterne-Restaurant Fat Duck gearbeitet, im
berühmten New Yorker WD‑50 – und im Noma. Jetzt tüftelt Williams auf dem
Hausboot an neuen Garmethoden, Fermentationen und Extraktionen von Aromen.
»Für uns ist es ein fantastischer Weg, neue Geschmäcke zu erzeugen, indem
man unterschiedliche regionale Mikroorganismen zusammenbringt«, sagt er.
Denn so wie das Bukett eines Weines für eine Zeit und eine Region stehe, so sollen die Speisen in Williams’ schwankender Laborküche nordisches Terroir widerspiegeln. Als Beleg seiner Kunst reicht Williams eine Pipette mit malzig-würzigen
Essig aus Rankenplatterbsen und Gerste zum Kosten über den Stahltisch.
In schneller Folge spricht Williams über Säurewerte und Garzeiten und
über die Schwierigkeiten, toxische Beiprodukte im Gärprozess zu erkennen. Doch
woher weiß der Koch, wann er der perfekten Speise auf der Spur ist? Williams
lacht verlegen. »Es braucht viel Hingabe, Arbeit und Aufgeschlossenheit«, sagt er
ausweichend. »Es wird immer Kunden geben, die damit nichts anfangen können.
Aber so ist es eben – man folgt seiner Intuition.«
Per Møller, der mit am Edelstahlmobiliar des Kochlabors sitzt, runzelt die
Stirn. Für den Forscher zählen nicht Eingebungen, sondern Fakten. Er träumt
Der Amerikaner Lars Williams ist Koch im Nordic Food Lab. Das kulinarische Experimentallabor befindet sich auf einem Hausboot im Hafen von Kopenhagen.
116
Die Welt im Kopf
Die Sinne
117
Überlegendes Gespür
Der Geruchssinn des Homo sapiens gilt
gemeinhin als schwach im Vergleich zu
dem anderer Säugetiere. Tatsächlich
stehen wir sehr gut da. Mehr als 350
Typen von ­Geruchsrezeptoren stehen
uns zur Verfügung. Und was uns an Nasensensibilität fehlt, können wir durch
unser überragendes Interpretationsorgan wettmachen, das Gehirn. Diese
sensorische Luxusausstattung stellt
für Köche die Lebensgrund­lage dar.
Biologisch betrachtet aber erscheint sie
wie eine gigantische Verschwendung
von Ressourcen und Gehirnkapazität.
Warum sind wir dann für den Genuss
von Geschmäckern so gut ausgestattet?
Vielleicht war die Fähigkeit, differenziert riechen zu können, ein evolutionärer Vorteil. So fanden Forscher
um die Tübinger Paläoanthropologin
Katerina Harvarti kürzlich heraus, dass
118
Die Welt im Kopf
das Gehirn des Homo sapiens ein viel
größeres Riechareal aufweist als das
des ausgestorbenen Neandertalers.
Diese olfaktorische Zugabe sei für die
Ausbreitung des Menschen außerordentlich nützlich gewesen, denn
sie habe es ihm erlaubt, sich selbst in
unbekannter Umgebung Genießbares
zu erschnüffeln.
Darüber hinaus stärkt ein gut ausgebildeter Geruchssinn die mensch­­
li­che Gemeinschaft. »Ol­fak­to­­rische
Informationen«, schreiben die beteiligten Wissenschaftler, »ge­lan­gen direkt
in Gehirnregionen, die zuständig sind
für ­Paarung, Emotionen und Angst.«
Befriedigende Düf­te lösen um­ge­hend
Be­lohnungs­reak­tionen aus. Kaum etwas
fördert den Zu­sam­men­halt so sehr wie
ein gutes gemeinsames Mahl.
davon, irgendwann genau quantifizieren zu können, wie köstlich ein bestimmtes
Gericht für einen bestimmten Menschen ist. Anstatt sich auf sein Bauchgefühl zu
verlassen, arbeitet Møller lieber mit dem »Olfaktometer« – einer Maschine, mit
der man Probanden präzise getaktete Stöße verschiedener Aromen in die Nase
bläst, wobei ihre Hirnströme mit einem EEG aufgezeichnet werden. Erst kürzlich
konnte er mit der Duftmaschine nachweisen, dass Menschen Gerüche nicht nur
in der rechten, angeblich emotionserzeugenden Gehirnhälfte verarbeiten, sondern
in beiden Hemisphären. Doch vieles sei noch unverstanden, gibt Møller zu, denn
bisher seien die Vorgänge im Gehirn während des Essens erst grob entschlüsselt.
Im Kochlabor folgt zunächst ein kleiner Grundkurs in Sachen Geschmackswissenschaft. Denn Nahrungsaufnahme ist ein sensorisches Abenteuer, bei dem
es um drei Dinge geht: Gefahrenabwehr, Ernährungsoptimierung und Genuss.
Als Erstes taxieren Augen und Nase einen Bissen auf Genießbarkeit. Riecht die
Substanz fruchtig oder faulig? Dann sondieren Lippen und Mund die Temperatur: Alles über 43 Grad schmerzt – ab hier gerinnt Eiweiß.
Sind alle Tests bestanden, landet der Bissen im Mund. Dort bestimmen
3000 bis 10 000 Geschmacksknospen die groben Qualitäten der Speise: Bitterstoffe in Rettich, Broccoli und Kohl weisen zum Beispiel auf Senfölglycoside hin,
die in hoher Konzentration den Jodstoffwechsel stören können. Säuernis ist ein
Indikator für verdorbene Lebensmittel. Süß und salzig hingegen verheißen Kalorien durch Kohlenhydrate, nützliche Mineralien und Proteine.
Und dann gibt es noch – neben süß, sauer, salzig und bitter – einen fünften
Geschmack, den jüngsten und seltsamsten der Grundgeschmäcke: Umami. Beschrieben hat ihn erstmals 1908 der japanische Chemiker Kikunae Ikeda, doch
im Westen hat das niemand beachtet. Erst als die Molekularbiologie die entsprechenden Rezeptoren vor zehn Jahren entdeckte, änderte sich das. In Reinform erinnert der Geschmack an Brühwürfel. ­Versteckt im Essen, ist er ein gus­
tatorisches Chamäleon, das nach vielem schmeckt, aber immer anheimelnd – so
wie etwa das sanfte Nachglühen im Rachen nach dem Genuss eines Stückchens
echten Parmesans auf Umami zurückzuführen ist.
Im Decodierzentrum des Gehirns steht Umami für »Proteine«. Und dort,
nicht etwa auf der Zunge, entfaltet sich auch das, was als Geschmack gilt, als
der wahre Genuss. Die eigentliche Schnittstelle dafür ist der retronasale Raum.
Flüchtige Stoffe aus der Nahrung steigen in den hinteren Nasen­rachenraum
auf und kitzeln dort ebenfalls Geruchsrezeptoren: Ein stinkender Romadur,
der im Freien, nach einer ersten nasalen Expertise, noch Übelkeit auslöst, bekommt hier seine zweite Chance. Denn im retronasalen Raum werden Düfte
anders wahrgenommen als im vorderen Teil des Organs. Mit der Aktivierung
der retronasalen Geruchsrezeptoren beginnt daher das eigentliche Wunder des
Geschmacks. Von dort gelangen die Geruchsinformationen über nur drei Um­
schalt­stel­len, vorbei am Tor des Bewusstseins, direkt in den präfrontalen Kortex
hinter der Stirn – er ist das oberste Kontrollorgan für Handlungen. Und anders
Die Sinne
119
als die Grundgeschmäcke, die bei jedem
Menschen fest verdrahtet sind, wird der
Geschmack
retro­nasale Geruch erlernt: Hier spiegelt
entfaltet sich nicht auf der
sich die Individualität des Menschen wiZunge, sondern im Gehirn.
der, hier begründet sich die Vielfalt der
Hier begründet sich die Vielfalt
Esskulturen der Welt.
der Esskulturen der Welt.
Wie effektvoll Köche mit diesen
Riechräumen zu spielen wissen, demonstriert Lars Williams mit einer speziellen
Quittenessenz. Die klare Flüssigkeit riecht
extrem fruchtig. In Erwartung einer Geschmacksexplosion träufelt sich der Gast mit einer
Plastikpipette ein paar Tropfen davon auf die Zunge.
Doch es geschieht – nichts. Offenbar stecken darin keine Moleküle, die den retronasalen Raum kitzeln können. Ein Verwirrspiel, das sich vielleicht für eine neue
interessante Speise einsetzen lässt. Auf solche Überraschungsmomente im Essen
ist unser Denkorgan aus. »Wir gewöhnen uns in Sekunden an Gerüche«, sagt Per
Møller, »wenn es etwas gibt, das unser Gehirn im Geschmack sucht, dann sind es
Neuigkeiten.«
Wie groß die Bedeutung des Riechens sowohl für das Indi­vi­duum als auch
für unsere Gattung ist, hat gerade erst die Evolutions­forschung nachgewiesen. Das
evolutionäre Vermächtnis schlägt sich noch heute in einer frühen Prägung auf
Gerüche nieder. In vielen Experimenten hat sich gezeigt, dass unsere Geschmacksvorlieben zum Teil in frühester Kindheit entstehen: Wenn Mütter im letzten Trimester der Schwangerschaft vorzugsweise Karottensaft trinken, bevorzugen später
ihre Neugeborenen Milch mit Karotten­geschmack. Der Mensch ist also bereits vor
Geburt geschmacklich mit seiner jeweiligen Umwelt verbunden – was nicht heißen
soll, dass er nicht im Lauf des Lebens andere Präferenzen erlernen könnte.
Die Verbindung von Geschmack und
Heimat­region ist vielleicht auch der Grund,
weshalb das Noma mit nordischen Geschmäcken bei seinen Gästen so gut anEin befriedigendes
kommt – eine unbewusst praktizierte
Essen aktiviert im Gehirn des
Form der Neurogastronomie. »Es ist uns
Menschen nachweislich
wichtig, dass die Zutaten von hier komgenau dieselben
men«, sagt Noma-Koch Williams und
Belohnungszentren wie Sex.
erklärt, dass dieses Terroir-Prinzip selbst
für »die Mikroorganismen, mit denen wir
sie bearbeiten«, gelte. Zum Beweis streift
er einige nass glänzende, purpurne Kugeln
in eine Schale. Was nach Himbeereis aussieht,
120
Die Welt im Kopf
schmeckt seltsam fruchtig, irgendwie angenehm. Vielleicht entfernt nach Süßholz? Weit gefehlt. »Das Aroma ist aus Algen«, sagt Williams. Es handelt sich
um die Rotalge Dulse (Palmaria palmata), die bereits im 10. Jahrhundert von
skandinavischen Seeleuten ge­gessen wurde und jetzt ihr Comeback im Labor
als Ingredienz in dem kalorienarmem Eis mit atlantischem Terroir feiert.
Per Møller hatte ebenfalls vom Algeneis gekostet – und war überrascht.
»Ich dachte, ich schmecke Malz«, sagt der Neurowissenschaftler, »oder Lakritz.«
Auf Letzteres kam er allerdings erst, nachdem jemand anderes das Wort Lakritz
ins Spiel gebracht hatte. »Olfaktion reagiert sehr sensibel auf Suggestion«, sagt
Møller. Es sei ein Grund dafür, warum Lebensmittelwerbung funktioniere.
Was den Neurowissenschaftler wirklich interessiert, sind weniger Williams’ Verführungskünste, sondern die Frage, inwieweit die Qualität des Essens auch Einfluss auf Appetit und Sättigungsgefühl hat. »Hier gehen sie davon
aus, dass organisch produziertes, regionales Essen besser ist«, sagt er mit Blick
auf das Noma, »aber stimmt das auch?« Die Antwort interessiert ihn nicht zuletzt deshalb, weil in den westlichen Staaten die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig ist. »Wenn wir ein klein wenig besser verstünden, wie Appetit und
Zufriedenheit durch die Geschmäcke kontrolliert werden«, sagt Møller, »dann
könnten wir dieses Problem möglicherweise besser in den Griff bekommen.«
Der Geschmacksforscher hat dazu schon eine These: Je wohlschmeckender eine Mahlzeit, desto schneller ist das Sättigungsgefühl erreicht.
»Befriedigendes Essen aktiviert im Gehirn genau dieselben Belohnungszentren wie Sex«, sagt Møller, und dann erzählt er von einem simplen Tomatensuppen-Versuch: Dabei ließ er 40 Studenten antreten und teilte sie in zwei
Gruppen ein. Die eine bekam eine schlichte Portion Heinz-Tomatensuppe
vorgesetzt, die andere eine mit Chili verfeinerte Variante. Am Ende war die
Chili-Gruppe nicht nur zufriedener mit ihrem Mahl, sondern hatte auch
weniger gegessen. Daraus folgert Møller: Wer nur labberige Speisen in sich
hineinschaufelt, findet nicht, wonach er sucht – und isst deshalb einfach immer weiter. Er propagiert dagegen: »Sattheit durch Zufriedenheit.«
Liegt es vielleicht an diesem Prinzip, dass die Japaner ein vergleichsweise dünnes, langlebiges Volk sind? Sie gehen beim Zubereiten des Essens
eben nicht von Kohlenhydraten und Fetten aus, sondern vom Geschmack –
vor allem von Umami. Diese Idee will Lars Williams auf die nordische Küche
übertragen. Im Flavour-Magazin schreibt er zusammen mit dem Biophysiker
Ole Mouritsen einen Beitrag über »Algen für den Umami-Geschmack in der
neuen nordischen Küche«.
Denn dem fünften Geschmack kommt für die Esskultur der gesamten
Welt eine zentrale Rolle zu. In Japan ist die Grundlage Dashi, ein flüssiges
Extrakt aus der japanischen Alge namens Kombu. Zu dieser Brühe kommt
dann Katsuobushi – getrockneter und geräucherter Thunfisch. Die Alge
liefert viel Glutamat, der Fisch stellt Ribonukleotide zur Verfügung. Diese
Die Sinne
121
Kombination – Glutamat plus Ribonukleotide – erzeugt erst das vollkommene
Erlebnis Umami. Dieser Geschmack, argumentiert Ole Mouritsen, sei ein Teil
der Lösung für gesündere, weniger kalorienreiche und befriedigendere Gerichte.
Im Westen gilt Glutamat bislang allenfalls als teuflischer Geschmacksverstärker
in chinesischem und industriell erzeugtem Essen. Doch auch wenn die meisten
es nicht wissen: U
­ mami ist überall. Schon das Fruchtwasser enthält Glutamat
und die Muttermilch noch viel mehr davon. In der italienischen Küche sorgen
sonnengetrocknete T
­ omaten mit ihrem Glutamatgehalt, gepaart mit Nucleotiden
aus Anchovis oder Sardinen, für das Umami-Erlebnis. In Williams’ fermentierten Quitten steckt Glutamat ebenso wie in gealterten, ge­pökelten, geräucherten
oder marinierten Nahrungsmitteln. »Wir haben weltweit die Küche nach U
­ mami
durchsucht«, sagt Mouritsen. »Man findet es überall – aber nicht so rein wie im
Dashi.«
Lars Williams lüftet in seinem Labor den Deckel einer Plastikschale. Darin liegt wie eine dicke, hellbraune Made eine gepökelte Schweinefiletrolle auf
einem Bett aus Gerstenkörnern. Der Koch hat das Fleisch eine Stunde lang im
Vakuumbeutel bei 65 Grad gegart und dann zwei Stunden lang in Haselnussholz
geräuchert. Anschließend entwässerten Enzyme des Schimmelpilzes Aspergillus
oryzae die Fleischrolle und lockerten die Muskelfasern. Das Ergebnis ist die dänische Variante des japanischen Katsuobushi. Zusammen mit einem Extrakt aus
nordischen Rotalgen ergibt das ein »Schweine-Bushi«, ein dänisches Dashi.
Beide Unterarme des Kochs zieren ausgedehnte Tätowierungen. »Die habe
ich, weil wir uns in der Küche, fernab der Gesellschaft, manchmal fühlen wie eine
Piraten-Brigade«, sagt er. Ein rebellischer Geist treibt den amerikanischen Koch auch
in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Essen um. Er sieht darin nicht nur eine
Möglichkeit, die Vielfalt des Essens systematisch und mithilfe der Wissenschaft zu
steigern. Williams hängt der Open-Source-Idee an und hofft, dass die frei zugängliche Fachliteratur möglichst viele Menschen zu neuen Experimenten für ein besseres
Essen inspiriert. In seinem Flavour-Artikel finden sich sowohl Hinweise auf die Zucht
der Alge als auch Rezepte für Algeneis, Algenbrot und Frischkäse mit Algen.
Besonders gerne verfeinert Williams organisch produzierte nordische Zutaten mit asiatischen Techniken. Und im Internet beschreibt das Nordic Food
Lab detailliert, wie sich Suppenhuhn-Aromen destillieren lassen: Man nehme
einen Drucktopf, entferne das Ventil, schiebe einen Plastikschlauch in das Loch
Schlichte Gerichte aus dem
Edelrestaurant Noma: Eingelegtes
Gemüse mit Knochenmark
(rechts), himbeerfarbenes Algen-Eis
(Mitte) und Hirschfleisch im Waldmeistermantel.
122
Die Welt im Kopf
Die Sinne
123
und führe den Schlauch durch eine eisgefüllte Plastikdose in eine Flasche. So
macht Williams aus der esoterischen Kunst der Sterneköche eine Art Do-it-yourself-Küche für den gemeinen Bastler.
Der Flavour-Herausgeber Per Møller will das gute Essen ebenfalls aus den
Edelküchen befreien. »Snobistisch« nennt er Restaurants wie das Noma. Man
müsse aufpassen, dass man das Essen nicht in ein Spiel für die Elite verwandele.
»Ein Koch sollte sein Essen zu einem erschwinglichen Preis und in einer nachhaltigen Weise anfertigen«, sagt der Neurowissenschaftler, »und das alles nach
wissenschaftlich abgesicherten Kriterien.« Zentral ist für ihn das Geschmacksempfinden. »Die meisten Menschen würdigen nicht, wie wichtig Geschmack und
Geruch für unser Wohlbefinden sind«, sagt Møller. Anders als der Hör- oder der
Sehsinn sei der Geruchssinn viel direkter mit den Gefühls- und Entscheidungszentren des Gehirns verbunden.
Wenn es um die Verführung von Menschen zum Essen geht, lockt das normalerweise die Industrie an. Bei Lars Williams hätten mal zwei Firmen zur Tür
hineingeschaut. »Aber wir sind viel zu klein«, sagt er. Jetzt arbeitet das Labor mit
dänischen Bauern zusammen, um schmackhaftes Hühnerfleisch zu erzeugen. Sie
verfüttern an die Tiere Äpfel, Malz und Algen. »Das Fleisch schmeckt dadurch
intensiver nach Huhn«, sagt Williams. Bald könnte die Spezialität im Supermarkt liegen.
Per Møller kooperiert mit Firmen wie Unilever und dänischen Fleischproduzenten. Aber er spielt das Engagement der Industrie herunter. »Sie geben etwas
Geld und Materialien für die Forschung und bekommen dafür als Erste die Resultate zu sehen«, sagt er. Wird die Industrie jetzt bald mit den Ergebnissen der
Neurogastronomie die Kundschaft noch geschickter manipulieren? »Schon möglich«, sagt Møller, »aber es ist wie mit dem Messer: Man kann es zum Schneiden
eines Brotes verwenden – oder damit jemanden hinterrücks erstechen.«
Und er selbst? Ihn zieht es nicht ins Noma. Er esse jetzt bewusster. Er kaufe
Eier von frei laufenden Hühnern und freue sich über die neue Brotvielfalt in Kopenhagen. »Die Ernährung ist besser geworden in Dänemark«, findet Møller. Gelegentlich kocht er sein spezielles Leibgericht, Chili con Carne. Ein großer Block Bitterschokolade müsse hinein und brauner Zucker. Dazu ein Glas würziger Sancerre.
Dann ist die Welt des Geschmacksforschers im Lot. Bio­physiker Ole Mouritsen
hätte das Erlebnis wahrscheinlich nüchterner beschrieben: viel Umami.
von Harro Albrecht aus der ZEIT Nr. 9/2012
124
Die Welt im Kopf
Stichwort
Sensorische
Wahrnehmung
Das Gehirn hat sich entwickelt, um Veränderungen der Umwelt wahrzunehmen
und darauf zu reagieren, und es empfängt Informationen über die Welt über
die Sinnesorgane. Jedes Sinnesorgan registriert einen spezifischen sensorischen
Reiztyp, der in die elektrochemische
Sprache des Gehirns übersetzt wird.
Die fünf Sinne – Sehen, Hören, Fühlen,
Schmecken und Riechen – wurden bereits vor mehr als 2000 Jahren von dem
griechischen Philosophen Aristoteles beschrieben. Die wissenschaftliche Erforschung der sensorischen Wahrnehmung
begann im 19. Jahrhundert, und die modernen Neurowissenschaften eröffnen
uns ein tieferes Verständnis der beteiligten Mechanismen.
Unsere Sinne sind die
Fenster, durch die
Informationen über
die Außenwelt
ins Gehirn
gelangen. Jedes
Sinnesorgan ist
darauf spezialisiert, Daten in
Form physikalischer Energie
wahrzunehmen; diese Energie wird dann in elektrische
Impulse umgewandelt,
die zum Gehirn geschickt
werden, das sie verarbeitet
und interpretiert. Daraus
entsteht unser kohärentes
Erleben der Welt.
Alle sensorischen Systeme des
Gehirns haben einen gemeinsamen
Grundbauplan. Das erste Stadium der
Wahrnehmung wird als sensorische
Transduktion bezeichnet – es ist der Vorgang, bei dem spezialisierte sensorische
Rezeptoren physikalische Reize aus der
Umwelt aufnehmen und sie in elektrische
Impulse umwandeln. Die Information
wird anschließend an eine Hirnstruktur
namens Thalamus geschickt, der sie an
die zuständigen Regionen des Kortex
weiterleitet.
Stichwort
125
Einblicke in den Sehsinn Der Seh- oder Gesichtssinn ist der Sinn, den
wir bisher am besten verstehen. Die Netzhaut (Retina) enthält mehrere
unterschiedliche Typen von Photorezeptoren, die empfindlich auf Lichtteilchen – Photonen – reagieren. Wenn Licht auf die Retina fällt, bewirkt
es biochemische Reaktionen in den Photorezeptoren. Die Photorezeptoren leiten Signale, die die Lichtinformationen tragen, an andere Retinazellen weiter, welche bereits eine erste visuelle Verarbeitung vornehmen.
Die Information wird dann via Sehnerv an einen Teil des Thalamus geschickt, der als Corpus geniculatum laterale bezeichnet wird und diese
an den visuellen Kortex (Sehrinde) weiterleitet.
Der visuelle Kortex liegt am hinteren Hirnpol im Hinterhauptslappen
und enthält Dutzende eigenständiger Unterregionen. Jede ist auf eine
bestimmte Funktion spezialisiert, und die visuelle Information wird in hierarchischer Weise verarbeitet. Die Sehrinde enthält zahlreiche Bahnen,
die parallel jeweils einen anderen Typ von Informationen verarbeiten und
sie dann im Endstadium der Verarbeitung wieder zusammenführen.
Die Verarbeitung beginnt im primären visuellen Kortex (auch Area V1
genannt), dessen Neurone auf Grundmerkmale eines Bildes reagieren wie
Kontrast und Orientierung von Kanten. Die Information wird von einer Subregion an die nächste weitergeschickt und mit jedem Schritt zunehmend
komplex. Auf diese Weise werden die Grundmerkmale eines Bildes – wie
Form, Farbe und Bewegung – miteinander verwoben, während sie durch die
Sehbahn verschickt werden, sodass aus dem Lichtmuster, das auf die Retina
fiel, das dynamische Bild der Welt rekonstruiert wird, das wir »sehen«.
Das Hören Das äußere Ohr lenkt Schallwellen zum Trommelfell, das sie
in die Gehörschnecke (Cochlea) weiterleitet, eine spiralförmige Struktur
mit drei flüssigkeitsgefüllten Kanälen. Die Schallwellen versetzen diese
Flüssigkeit in Bewegung, und diese Bewegungen werden von speziellen
Rezeptoren, den Haarzellen, registriert, von denen jede auf Schallwellen
einer ganz bestimmten Frequenz reagiert. Die Information wird vom
Hörnerv über den Thalamus zu den Schläfenlappen geleitet und dort in
speziellen Regionen verarbeitet. Der Schläfenlappen enthält Areale, die
All unsere Erkenntniß hebt von den Sinnen an, geht
von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft ...
Immanuel Kant, 1787
126
Die Welt im Kopf
für Sprachverständnis und Sprachproduktion unverzichtbar sind;
werden sie geschädigt, kann dies
zu Schwierigkeiten beim Sprechen
und Verstehen führen. Der Hörnerv
schickt zudem Informationen zum
Colliculus inferior, einem Teil des
Hirnstamms, der die Quelle eines
Schallereignisses lokalisiert, indem
er die Signale vom rechten und vom
linken Ohr vergleicht.
Der »sechste« Sinn
Die Propriozeption, manchmal der
»sechste« Sinn genannt, bezeichnet
unseren Sinn für die Position unserer Gliedmaßen und ihre Bewegung.
Muskeln enthalten Dehnungsrezeptoren, die Muskelspindeln, die
Veränderungen der Muskellänge
wahrnehmen und sie über periphere
Nerven ans Rückenmark übermitteln. Diese Signale werden dann ans
Gehirn weitergeleitet, das aus ihnen
ein Modell der Haltung des Körpers
im Raum konstruiert.
Die Welt fühlen Das somatosenso­
rische System verarbeitet Berührungs-, Schmerz- und Temperaturreize, die von Rezeptoren in den
Nervenendigungen dicht unter der
Hautoberfläche registriert werden.
Diese Informationen werden von peripheren Nerven ans Rückenmark
übermittelt und dann ins Gehirn weitergeleitet, wo sie im primären somatosensorischen Kortex verarbeitet werden. Bei allen beteiligten Zellen
zieht eine einzelne Faser vom Sitz der Zellen direkt unter der Hautoberfläche bis zum Rückenmark – es sind die längsten Zellen im Nervensystem.
Die Nervenendigungen dieser sensorischen Neurone enthalten
zahlreiche Rezeptoren, die auf die Perzeption verschiedener Typen somatosensorischer Information spezialisiert sind. Einige Rezeptoren nehmen beispielsweise Wärme- oder Kältereize wahr, andere Berührung,
Juckreiz oder Schmerz. Jeder Informationstyp wird von den zugehörigen
Nervenfasern zum Rückenmark geschickt.
Schmerzinformationen werden von speziellen sensorischen Neuronen
übermittelt, den Nocizeptoren; sie umfassen Rezeptoren, die einen oder mehrere noxische (gewebeschädigende) Reize registrieren wie extreme Kälte und
Hitze, starken mechanischen Druck oder gefährliche Chemikalien. Darüber
hinaus enthalten sie Rezeptoren, die empfindlich auf verschiedene chemische
Substanzen reagieren, wie sie von geschädigten Zellen ausgeschüttet werden.
Die Wissenschaft von Geruch und Geschmack Die Innenseite der Nase
ist mit einer dünnen Gewebsschicht, der Riechschleimhaut, ausgekleidet;
sie enthält rund 1000 verschiedene Typen von Riechzellen, die in der
Luft schwebende Geruchs- oder Odorantmoleküle wahrnehmen. Aus
den Riechzellen entspringen Axone, die in verschiedene Teile des Gehirns
projizieren und gemeinsam die Wahrnehmung von Gerüchen und den
Stichwort
127
Verknüpfte Sinne
Synästhesie bedeutet so viel wie
»verknüpfte Sinne« und bezeichnet
ein Phänomen, bei dem die Reizung
eines Sinnes auch in einem anderen
Sinn sensorische Empfindungen
hervorruft. Der Physiker Richard
Feynman war ein sogenannter
Graphem-Farben-Synästhet – er
verband also mit Buchstaben
und Zahlen bestimmte Farbeindrücke –, während der expressionistische Maler Wassily Kandinsky
ein Töne-Farben-Synästhet war,
der musikalische Klänge mit Farben
assoziierte. Weitere Formen sind
die Spiegel-Berührungs-Synästhesie (sieht man, dass eine andere
Person berührt wird, ruft dies eine
Berührungsempfindung hervor) und
die Raum-Zeit-Synästhesie (Zeiteinheiten wie Tage und Monate werden
so erlebt, als nähmen sie relativ zum
Körper spezielle Lagen im Raum
ein). Früher glaubte man, Synästhesie sei außerordentlich selten,
doch heute schätzt man, dass dieses
Phänomen rund ein Prozent der
Bevölkerung betrifft. Einer Theorie
zufolge entsteht sie, wenn Verbindungen zwischen verschiedenen
sensorischen Bahnen, die normalerweise während der Hirnentwicklung
eliminiert werden, erhalten bleiben.
Einer anderen Theorie zufolge tritt
Synästhesie auf, weil es zu viel
»Übersprechen« zwischen den
sensorischen B
­ ahnen gibt.
sozialen Schlüsselreizen ermöglichen, die sie übermitteln. Chemische Substanzen, die als Pheromone bezeichnet werden, spielen eine wichtige Rolle
für das tierische und wahrscheinlich auch für das menschliche Verhalten.
Die Geschmacksknospen in der Zunge enthalten Rezeptoren,
die die Geschmacksrichtungen salzig, sauer, bitter und süß sowie eine
»würzige« Geschmacksrichtung namens umami wahrnehmen. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass Geschmacksvorlieben zumindest teilweise genetisch festgelegt sind. So entscheiden beispielsweise Variationen in dem Gen, das für den Geschmacksrezeptor OR7D4 codiert, über
die Empfindlichkeit für Androstenon, ein Pheromon, das man in gekochtem Schweinefleisch findet; und Menschen, die zwei Kopien einer bestimmten Variante tragen, schätzen Schweinefleisch weniger als andere
Menschen. Geschmack und Geruch sind die am wenigsten verstandenen
menschlichen Sinne, doch wir wissen, dass sie eng miteinander verknüpft sind: Wenn man sich beim Essen die Nase zuhält, stellt man fest,
dass man nicht richtig schmecken kann, was man gerade isst.
Moheb Costandi
128
Die Welt im Kopf
Tote Nase
Der Mensch verlernt das Riechen. Die Natur hat den Geruchssinn
ausgemustert – zugunsten des Sehvermögens Kenneth Suslick sorgt sich. Es stehe schlecht um das ursprünglichste Sinnesorgan
des Menschengeschlechts, fürchtet der Forscher von der University of Illinois. Im
Vergleich mit den Leistungen tierischer Nasen sei das menschliche Riechorgan ein
Krüppel. Noch allerdings sei nicht alles verloren, verkündete Suslick unlängst. »Selbst
unsere schwer riechbehinderte Spezies kann noch 10 000 Gerüche wahrnehmen.«
Der klägliche Rest allerdings ist akut gefährdet. Diese betrübliche Nachricht erreicht den Riechfachmann Suslick und seine Fachkollegen dieser Tage
aus Leipzig. Das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie stellte in
Zusammenarbeit mit dem israelischen Weizmann-Institut in Rehovot fest: Der
Mensch hat seine Nasenfunktion im Lauf der Evolution nicht nur weithin eingebüßt, der Schwund geht weiter.
Einst verfügte der Mensch wie andere Säugetiere über knapp 1000 intakte
Riechgene in seinem Erbgut. Jedes war für die Wahrnehmung bestimmter Odorantien zuständig. Doch die einstige Vielfalt in der Nasenschleimhaut ist dahin.
Rund zwei Drittel dieser Gene sind durch Mutationen funktionsunfähig
geworden – Pseudogene nennen die Forscher solche Ruinen, die nun nutzlos im
Erbgut sitzen. Und auch der intakte Rest ist bedroht. Die Evolution scheint den
Totalzusammenbruch unserer olfaktorischen Infrastruktur beschlossen zu haben.
Grand Cru statt Pennerglück
Im Überlebenskampf habe der chemische Sinn für den Menschen offenbar keine
so wichtige Rolle gespielt wie bei anderen Säugetieren, lautet Yoav Gilads Erklärung für den Niedergang im Riechepithel. Belege dafür fand der israelische
Molekulargenetiker beim Vergleich der Riechgenfamilien von Menschen, Affen
und Mäusen. Bei den Nagern sind mindestens 80 Prozent der Genfamilie funktionsfähig, doch bei den Primaten setzte im Verlauf der Evolution ein Schwund
ein. Ihnen fehlt bereits ein Drittel der Riechfunktion.
Die eigentliche Überraschung erlebten die Forscher, als sie die Verlustrate im Menschenerbgut untersuchten. Rund 60 Prozent der Riechgene sind bei
Homo sapiens defekt. Mehr als viermal so schnell wie bei Schimpansen, OrangUtans oder anderen Affen kam der Menschheit in den vergangenen Jahrhunderttausenden Riechgen um Riechgen abhanden.
Die Sinne
129
Die schwindenden Erbanlagen sind zuständig für die Bildung olfaktorischer Rezeptoren in den Riechzellen der NasenNur 400
schleimhaut. Es handelt sich dabei um
intakte Geruchsgene
spezielle Antenneneiweiße, die jeweils
sind dem Menschen geblieben.
bestimmte riechbare Substanzen an
Doch sie reichen aus, um
sich binden können. Jede Riechsinnesviele Tausend verschiedene
zelle bildet nur einen Rezeptor auf ihrer
Düfte wahrzunehmen.
Oberfläche, doch die vielen chemischen
Verbindungen, die von der Nase wahrgenommen werden, können mit verschiedenen Rezeptoren reagieren. So erzeugt jeder
Geruch ein charakteristisches Aktivitätsmuster
in der Nase. Selbst die knapp 400 intakten Gene,
die dem Menschen geblieben sind, reichen daher aus, um
viele Tausend verschiedene Gerüche wahrzunehmen.
Doch sollte der Genschwund im Riechsinn weitergehen, wie die deutsch-israelische Forschergruppe fürchtet, dürfte in Zukunft als Erstes die Kochkunst leiden. Denn
in Wahrheit ist auch der größte Teil des Geschmackssinnes in der Nase angesiedelt. Die
Zunge unterscheidet nur zwischen scharf, bitter, süß und salzig – schon der Unterschied
zwischen Fußschweiß und Gorgonzolasoße erschließt sich nur bei intaktem Nasenrepertoire. Sogar die Zweiliterflasche Pennerglück zu 1,99 Euro wäre uns ebenso lieb wie
ein Grand Cru, würde nicht die Nase ihr Veto einlegen.
Einen entscheidenden Verlust, so scheint es, hat die Menschheit ohnehin
bereits hinnehmen müssen: Wer die oder den Richtigen für Sex und Fortpflanzung sucht, sollte sich auf seine Nase besser nicht verlassen. Anderen Säugetieren
dient das erst vor wenigen Jahren entdeckte Vomeronasalorgan (VNO) zum Aufspüren von Pheromonen: Zwei kleine, zigarrenförmige Strukturen an der Basis
der Nasenscheidewand erkennen die Lockstoffe, mit denen sich Paarungswillige
chemisch outen. Auch der Mensch, so hatten die Gelehrten bald darauf erkannt,
besitzt ein rudimentäres VNO. Und Tests mit getragenen Männer-T-Shirts bei
Studentinnen hatten einst glauben gemacht, dass auch das menschliche VNO
auf den Körpergeruch reagiert. Reüssiert also Karlchen Müller bei Lieschen Müller nicht mit Kreditkarte, IQ oder Oberarmen, sondern mit dem Achselschweiß?
verkünden Emily Liman und Hideki Innan von der University of California in
Los Angeles. Ein entscheidendes Gen für den VNO-Riechapparat bei Mensch
und Affe habe die Natur vor Urzeiten ad acta gelegt – seit Millionen Jahren ist es
bloß noch ein Pseudogen. Wohl mit der Erfindung des Farbensehens, spekulieren
die Forscher, begannen unsere Vorfahren, mehr auf die optischen Reize des anderen Geschlechts zu achten – chemische Lockstoffe wurden überflüssig, die dafür
zuständigen Riechgene ebenfalls.
Dennoch haben manche Gerüche anscheinend auch für Menschen noch
immer eine Bedeutung, zum Beispiel als Warnsignal. Das zeigen die Unterschiede bei der Wahrnehmungsschwelle: Ein Teilchen der schwefelhaltigen Giftverbindung Methylthiol riecht der Mensch bereits präzise unter einer Milliarde
anderer Moleküle heraus. Dagegen schlägt der Riechkolben erst an, wenn jedes
10 000. Teilchen in der Atemluft ein (relativ harmloses) Methanolmolekül ist.
Vollständig werde der Mensch daher den Geruchssinn wohl nicht einbüßen, tröstet uns das Forschungsteam von Yoav Gilad. Den Riechgenen des
Menschen prophezeien sie, abhängig von der Substanz, die sie wahrnehmen können, unterschiedliche Schicksale: Die einen, deren Funktion auch dem modernen
Menschen noch ebenso dienlich ist wie den Affen, bleiben uns erhalten. Andere,
die in der Affenwelt noch wichtig sind, dem Zivilisationswesen aber entbehrlich,
werden wir verlieren. Was nutzlos ist, findet vor der Evolution auf Dauer keine
Gnade.
von Ulrich Bahnsen aus der ZEIT Nr. 13/2003
Beim Sex zählt Geruch nicht mehr
Vielleicht eher mit Charme. Die Gemeinde der Riechforscher musste vergangene
Woche feststellen, dass auch das menschliche VNO längst von der Evolution ausgemustert worden ist. Allenfalls der gemeinsame Vorfahr von südamerikanischen
Neuweltaffen und afrikanischen Primaten habe Sexwillige noch erschnüffeln
können. Doch beim Menschen und heutigen Affen sei damit längst Schluss,
130
Die Welt im Kopf
Die Sinne
131
Trau den Augen nicht
Michael Bach erforscht seltene Augenleiden. Dabei helfen ihm
optische Täuschungen: Sie zeigen, wie das Sehen funktioniert
Wenn Michael Bach Menschen für die Wissenschaft begeistern will, macht er mit
ihnen ein Frankfurter Würstchen. Viel braucht er dazu nicht, weder Fleisch noch
heißes Wasser, noch Senf, nur zwei Finger, zwei Augen und ein Gehirn. »Deuten
Sie mit den Spitzen Ihrer Zeigefinger vor Ihren Augen aufeinander. Lassen Sie dabei eine Lücke. Und nun sehen Sie zwischen den Fingern hindurch in die Ferne.
Na, haben Sie es?«
Ja, da schwebt es. Etwas, das aussieht wie ein Frankfurter Würstchen, nur
ohne Senf: eine optische Täuschung. Wenn man in die Ferne schaut, haben die
Augen für nahe Objekte nicht mehr die richtige Position. Das Bild, das vom
rechten Auge wahrgenommen wird, kann deshalb nicht mehr mit dem Bild des
linken Auges verschmolzen werden. Das Gehirn schwankt zwischen beiden Möglichkeiten, und währenddessen kommt es zur ­Täuschung: Die Spitzen der beiden
Zeigefinger mutieren zu einem Würstchen.
»Faszinierend, nicht?« Michael Bachs blaue Augen blicken durch seine Brille
und seine Zeigefinger hindurch, über den großen Computerbildschirm in seinem
Büro hinweg, dorthin, wo die alte Couch steht und die Plakate vom Theater
hängen. Hunderte Male muss er das Würstchen schon ge­sehen haben, aber noch
immer freut er sich darüber wie ein Junge, der eben die Süßwarenabteilung eines
Supermarktes betreten hat. »Mein Forschungsgegenstand hat den Vorteil, dass er
extrem anschaulich ist«, sagt er und grinst.
Michael Bach ist Sehforscher. Er leitet die Abteilung funktionelle Sehforschung und Elektrophysiologie an der Universitäts-Augenklinik Freiburg. Dort
untersucht er Menschen mit seltenen Augenkrankheiten. Er entwickelt mit seinem Team Verfahren, mit denen man objektiv die Sehschärfe messen kann oder
mit denen Ärzte irgendwann schon die Anfänge eines grünen Stars nachweisen
sollen. Und er erforscht, was bei optischen Täuschungen im Gehirn vor sich geht.
Seit zehn Jahren betreibt er eine weltweit bekannte Website, auf der er 78 optische
Täuschungen präsentiert und erklärt.
Viele Menschen mit seltenen Augenkrankheiten suchen Michael Bach auf.
Der Sehforscher arbeitet an der Universitäts-Augenklinik Freiburg.
132
Die Welt im Kopf
Die Sinne
133
»Für mich sind solche Täuschungen mehr als Spielerei«, sagt Bach. Sie verraten dem Forscher, wie unsere Wahrnehmung funktioniert, wie Sinnesreize im
Gehirn verarbeitet werden. Denn Sehen ist ein komplexes Zusammenspiel von
Augen und Gehirn: Die Augen nehmen das Bild nur zwei­di­men­sio­nal auf. Das
Hirn macht es wieder drei­dimensional, indem es die Information deutet. Sehen
heißt deshalb auch immer interpretieren: Das Gehirn nimmt stets die Si­tua­
tion an, die mit der größten Wahrscheinlichkeit das Netzhautbild erzeugt haben
könnte. Unter speziellen, meist künstlich geschaffenen Bedingungen führt das
zu Fehlinterpretationen – eben zu einer optischen Täuschung. Bach will wissen,
wo genau diese Fehlinterpretationen stattfinden und ob man sie bewusst steuern kann. Etwa beim Necker-Würfel: Diese Zeichnung zeigt die Kanten eines
durchsichtigen Würfels. Für den Betrachter ändert das Gebilde regelmäßig seine Tiefenausrichtung, weil das Gehirn sich zwischen zwei Möglichkeiten nicht
entscheiden kann. »Optische Täuschungen lehren uns, dass wir unseren Sinnen
nicht völlig vertrauen können«, sagt er.
Manche seiner Kollegen haben Michael Bach in seiner wissenschaftlichen
Karriere sicher auch schon für so etwas wie eine optische Täuschung gehalten,
denn er arbeitet in ganz verschiedenen Fachgebieten. Dringt mal in diese oder
jene Disziplin ein und hält sich immer wieder dort auf, wo er nach traditionellen
Maßstäben nicht sein dürfte. So war es von Anfang an. Eigentlich wollte er Chemie studieren. »Da hörte ich: Nur jeder siebte Chemiker erfindet etwas in seinem
Leben. Ich dachte dann, ich hätte größere Chancen in einem anderen Beruf.«
Also Physik. Nach dem Examen suchte er ein Promotionsthema, das mit einer
Stelle verbunden war, weil er mittlerweile eine Familie gegründet hatte. Er fand
es in der Neurologie. »Als ich dort ankam, sagte der Leiter: Wir machen ein Tierexperiment. Wir hatten gerade einen Bewerber da, der ist umgefallen und hat sich
den Kopf angestoßen.« Bach blieb, blieb stehen und leitete fortan mit Elektroden
Der Mensch ...
Michael Bach, 58, leitet die Abteilung funktionelle Sehforschung und
Elektrophysiologie an der Universitäts-Augenklinik in Freiburg. Der
Neurowissenschaftler hat Physik studiert
und anschließend in der Hirnforschung
promoviert. Bach ist Präsident der International Society for Clinical Electrophysiology of Vision.
134
Die Welt im Kopf
... und seine Idee
Bachs Website über optische Täuschungen (www.michaelbach.de/ot) ist
weltweit bekannt. Für den Forscher sind
die Trugbilder, die er darauf erklärt, mehr
als Spielerei: Sie zeigen, dass wir unseren
Sinnen nicht völlig vertrauen können. Diese
Erkenntnis hilft ihm, wenn er Patienten
mit Sehstörungen ohne klare Ursache
untersucht.
die Ströme in Affenhirnen ab. Seine Gruppe erforschte, wie sich Nervenzellen im
Sehzentrum miteinander unterhalten. Danach kamen Angebote aus Amerika,
Bach aber wurde lieber in Freiburg Leiter des elektrophysiologischen Labors, in
dem Menschen mit Augenkrankheiten untersucht werden. »Ich dachte: Toll, nun
kann ich Menschen helfen. Die Operationen an den Tieren haben mir nie Spaß
gemacht.«
In Bachs Abteilung vereinigen sich Naturwissenschaften, Hirnforschung
und Augenheilkunde. Immer geht es darum, was wir sehen und wie wir sehen –
und um Täuschungen aller Art. So untersucht Bachs Team mit Elektroden die
Nervenzellen von Patienten mit unklaren Sehstörungen, um die Ursache zu finden. Reagieren die Zellen im Auge, kommt jedoch der Reiz nicht im Seh­zentrum
an, muss der Fehler auf dem Weg dorthin liegen. Auch Menschen, die nach einem Arbeitsunfall am Auge angeben, nichts mehr sehen zu können, werden zu
ihm geschickt. Bachs Team misst dann, ob die Nervenzellen im Sehzentrum auf
bestimmte, unerwartete Reize reagieren. So wurde schon mancher Betrüger überführt, aber auch manchem Patienten geholfen. Nun will Bach herausbekommen,
ob man das verräterische EEG-Signal, das bei diesen unerwarteten Reizen auftritt, auch bewusst verändern kann.
Gleichzeitig versucht er optische Täuschungen zu entlarven, die den Menschen schaden können. Wer an einem Glaukom, dem grünen Star, leidet, unterliegt oft einer solchen Täuschung. Bei dieser Krankheit, die zur Erblindung
führen kann, sterben aufgrund eines zu hohen Augeninnendrucks die Nervenzellen im Auge ab. Doch erst wenn etwa 40 Prozent von ihnen zugrunde gegangen
sind, fallen Bereiche des Gesichtsfeldes merklich aus – bis dahin fügt das Gehirn
Fehlendes ein und erzeugt den Eindruck, man würde ganz normal sehen. Bachs
Team überprüft die Nervenzellen mithilfe von Elektroden. Bach will daraus ein
elektrophysiologisches Verfahren entwickeln, mit dem Ärzte früh ein Glaukom
nachweisen können.
Nach der Arbeit bastelt der Neurowissenschaftler weiter an seiner Website.
Sie hat ihm schon manche Tür in der Sehforscherszene geöffnet. Er zeigte als
Erster den »Lila Chaser« im Internet, eine neue optische Täuschung, bei der lilafarbene Punkte im Kreis auf einem grauen Hintergrund angeordnet sind. Ein
Punkt nach dem anderen blendet sich im Uhrzeigersinn kurz aus, und wenn man
lange genug auf ein Kreuz in der Mitte schaut, sieht man plötzlich einen grünen
Punkt herumkreisen, auch wenn der gar nicht existiert.
Im Durchschnitt entwickeln Sehforscher drei solcher Trugbilder im Jahr.
Der Lila Chaser verbreitete sich innerhalb von einer Woche rasend schnell im
Internet. Rund 13 000 Besucher und eine Million Klicks hat Bachs Seite pro
Tag. Sie könnte eine kleine Gelddruckmaschine sein. Würde er Werbung zulassen oder seine Seite verkaufen, könnte er Gewinn machen. Tut er aber nicht.
»Ist nur ein Hobby«, sagt er. »Damit kann ich die Leute erreichen, Forschungsergebnisse vermitteln. Die Täuschungen haben ja immer etwas Verblüffendes.«
Die Sinne
135
Die Trugbilder machen es ihm leichter, Menschen über die Großartigkeit
und die Tücken des Sehens zu informieren. Dutzende Vorträge hält er im Jahr
– auch beim Rotary-Club, in Schulen oder im Planetarium. Das Frankfurter
Würstchen ist immer dabei. »Es ist herrlich, wenn hundert Leute so machen«,
sagt er und führt noch mal die Zeigefinger vor die Augen. Wenn er im Altenheim
spricht, geht er gleich vom Würstchen über zum Glaukom. Und sagt, dass man
den Sinnen nicht immer vertrauen kann, sondern auch mal nachschauen muss,
mit Apparaten.
von Christine Böhringer aus der ZEIT Nr. 39/2008
Stichwort
Optische
Täuschungen
Es gibt Illusionen sowohl von Helligkeit und Farbe als auch Form. Es
existieren physiologische Illusionen,
die aus physischen Gründen »verblüffen«, doch die meisten sind kognitive
Illusionen. Viele davon wurden nach ihren Entdeckern benannt und sind weithin
bekannt, wie etwa der Necker-Würfel
oder die Poggendorf-Täuschung. Es gibt
Webseiten, deren einziger Zweck es ist,
die bekanntesten Illusionen zu zeigen
(etwa 20).
Es ist vorgeschlagen worden, dass sämtliche Illusionen zu einer von vier Gruppen
gehören: Kippfiguren, Verzerrungen, Paradoxa (unmögliche Figuren) und Fiktionen. Natürlich sind Illusionen für Wissenschaftler, die das Sehen erforschen, und
für kognitive Psychologen besonders
interessant, da sie wichtige Erkenntnisse
über Prozesse der Sinneswahrnehmung
ermöglichen.
Von jeher waren Künstler
an visuellen Illusionen
und optischen
Täuschungen
interessiert.
So war zum Beispiel der Grafiker
M. C. Escher bekannt dafür,
eine Leidenschaft für nicht
eindeutige und unmögliche
Figuren zu haben. Ganze
Stilrichtungen, wie etwa
die »Op Art« (Kurzform
von Optical Art, »optische
Kunst«), erkundeten
das Wesen visueller und
optischer Illusionen an
stationären, aber auch
bewegten Kunstobjekten.
Die Mechanismen Sinneswahrnehmung
ist der Prozess, durch den wir erkennen,
was die Informationen darstellen, die von
unseren Sinnesorganen geliefert werden. Dieser Prozess läuft sehr schnell,
automatisch und unbewusst ab. Er ist
kein willentlicher Prozess, und unser
Bewusstsein einer optischen Wahrnehmung entsteht gewöhnlich erst, wenn
136
Die Welt im Kopf
Stichwort
137
Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4
der Prozess abgeschlossen ist: Wir erhalten das fertige Produkt, nicht
die Details des Prozesses.
Wie funktioniert das also? Was passiert eigentlich, wenn unsere Sinnesorgane Informationen registrieren und wir wahrnehmen, was geschieht?
Das ist nicht ganz einfach zu verstehen, und eine der erfolgreichsten
Methoden, die Psychologen gefunden haben, um diesen Prozess zu erklären, ist die Erforschung optischer Täuschungen, um herauszufinden,
was sie bedeuten.
Figur und Hintergrund Was wir sehen, wird entweder als das Objekt, das
wir betrachten (die Figur), oder als Hintergrund interpretiert. Die Interpretation eines Eindrucks als Figur oder Hintergrund ist keine immanente
Eigenschaft des Objekts, sondern hängt vom Betrachter ab. Bitte schauen Sie sich das Objekt in Abbildung 1 an – stellt es eine Vase oder zwei
Gesichter dar? Figur und Hintergrund können vertauscht werden und auf
diese Weise zwei verschiedene Bilder darstellen. Können Sie den Saxofonisten und den Frauenkopf in Abbildung 2 erkennen? Welches Bild sehen
Sie zuerst – und warum?
Konturen Einer der wichtigsten Aspekte der Gestaltwahrnehmung ist die
Existenz einer Kontur. Wenn das Blickfeld eine ausgeprägte Änderung in
Helligkeit, Farbe oder Struktur enthält, nehmen wir eine Kante wahr. Die
Abbildungen 3 und 4 zeigen, wie wir illusorische Konturen »sehen« (Linien, die nicht existieren). In der Mitte beider Abbildungen sind Dreiecke
zu sehen, die heller zu sein scheinen als der Rest des Bildes. Dies folgt dem
Gestaltgesetz der Geschlossenheit, da wir dazu neigen, unvollständige
Formen zu komplettieren und Lücken zu schließen.
Gestaltgesetze Psychologen interessieren sich naturgemäß für alle Aspekte der Wahrnehmung unserer Welt: wie wir Farben, Bewegung und
138
Die Welt im Kopf
räumliche Tiefe sehen, wie wir Objekte und Menschen
erkennen und, auch für die ganze Debatte, ob es unterschwellige Wahrnehmungen gibt. Auf der abstraktesten Ebene lassen sich drei Prozesse unterscheiden:
Die Rezeption der Lichtwellen durch Iris und Hornhaut,
deren Umsetzung in neurochemisch codierte Signale
und die Decodierung dieser Signale.
Eine zentrale Frage der Forschung ist, wie wir aus
den separaten Informationseinheiten, die wir haben, ein
komplettes Bild eines Objekts »zusammenbauen« oder
formen. Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg
untersuchten die Gestaltpsychologen die sogenannte
Wahrnehmungsorganisation und stellten verschiedene
Gesetze auf – die Gesetze der Nähe und der guten Fortsetzung, die zu erklären suchen, wie wir Muster in abstrakten Formen sehen. Insgesamt sind sie als Gestaltgesetze bekannt, und sie beschreiben auch heute noch
zutreffend den Vorgang des Sehens.
Die Gestaltpsychologen entwickelten ein besonderes Interesse für die Richtigkeit dessen, was wir sehen. Ende des 19. Jahrhunderts hatte eine Gruppe deutscher Psychologen die Gestaltpsychologie begründet
– eine Theorie der Gestaltwahrnehmung mit Gesetzen
der Prägnanz (oder Prägnanztendenz), die den Prozess
der Wahrnehmung erklären. Das Gesetz der Ähnlichkeit (Abbildung 5) besagt, dass Elemente einer Figur
mit größerer Wahrscheinlichkeit als zusammengehörig
wahrgenommen werden, wenn sie einander ähnlich
sind; die Ähnlichkeit kann sich auf Form, Farbe, Größe
oder Helligkeit beziehen. Das Gesetz der Nähe (Abbildung 6) postuliert, dass Oberflächen oder Konturen, die
nahe beieinander liegen, mit größerer Wahrscheinlichkeit Elemente desselben Objekts sind als solche, die
weit auseinander liegen. Andere Gestaltprinzipien sind
die Gesetze der guten Fortsetzung, des gemeinsamen
Schicksals und der Symmetrie.
Der Ponzo-Effekt und die Müller-Lyer-Illusion Diese
Illusionen können durch die Annahme erklärt werden,
dass bestehendes Wissen über dreidimensionale Objekte fälschlicherweise auf zweidimensionale Muster
bezogen wird.
Abb. 5
Abb. 6
Stichwort
139
Die Wahrnehmung
von Formen ist
ausschließlich eine
Angelegenheit der
Erfahrung.
Der Ponzo-Effekt (Abbildung 7; auch als Mondtäuschung
bekannt) bedeutet, dass zwei horizontale Linien genau die gleiche
Länge haben, obwohl die untere
Linie viel kürzer zu sein scheint.
Das liegt daran, dass die lineare
Perspektive, die durch die konvergierenden Linien der EisenbahnJohn Ruskin, 1890
schienen erzeugt wird, den Eindruck erzeugt, die obere Linie sei
weiter entfernt. Wenn sie auf der
Netzhaut die gleiche Größe hat,
aber weiter entfernt ist, muss sie größer sein – unser Wahrnehmungssystem berücksichtigt irrtümlicherweise auch die Entfernung.
Die Müller-Lyer-Illusion (Abbildung 8) lässt sich ähnlich erklären.
Die linke Linie wirkt wie die äußeren Ecken eines Gebäudes, während
die rechte Linie wie innere Ecken aussieht. Diese inneren Ecken sind in
gewissem Sinne weiter entfernt als die äußeren, und so wird die rechte
Linie als weiter entfernt wahrgenommen, und nach der gleichen Logik
wie beim Ponzo-Effekt wird sie als länger wahrgenommen, da sie die
gleiche Größe auf der Netzhaut hat. Diese Illusionen zeigen, dass die
Wahrnehmung auch von anderen Faktoren als dem eigentlichen Reiz
beeinflusst wird – in diesem Falle von der wahrgenommenen Entfernung
und vorheriger Erfahrung.
Konstanzphänomene Wenn ein Objekt sich nähert oder entfernt, unterschiedlich beleuchtet wird oder sich dreht, neigen wir dazu, es nicht als
unterschiedlich oder veränderlich, sondern als dasselbe Objekt zu sehen.
Es gibt verschiedene Arten von Konstanzprozessen – Form, Größe, Farbe,
Helligkeit –, die dazu beitragen können, optische Täuschungen zu erklären.
Bitte nehmen Sie dieses Buch auf und halten Sie es aufrecht in Ihrem
Blickfeld. Es ist ein Rechteck. Dann drehen Sie es, zunächst um die vertikale, dann um die horizontale Achse. Es hat nicht mehr dieselbe Form,
doch in Ihrer Wahrnehmung bleibt das Buch dasselbe. Das wird als Formkonstanz bezeichnet. In ganz ähnlicher Weise scheint ein Elefant, der sich
von uns entfernt, nicht kleiner zu werden – obwohl sein Abbild auf der
Netzhaut durchaus kleiner wird.
Kultur und die »carpentered world« (»gezimmerte Welt«) Bitte stellen
Sie sich vor, Sie seien in einer Welt aufgewachsen, in der es keine geraden
Linien gibt: keine rechteckigen Häuser, gerade Straßen, lange Stangen
140
Die Welt im Kopf
oder lange, rechteckige Tische. Die Häuser sind rund,
die Felder ebenso. Die Wege sind verschlungen und
gewunden. Würden Sie dann immer noch auf optische
Täuschungen »hereinfallen«? Wenn Sie noch nie gerade Straßen oder Eisenbahngleise gesehen hätten, würden Sie den Ponzo-Effekt erleben? Oder wenn Sie nie
eine Haus- oder Zimmerecke gesehen hätten, würden
Sie die Müller-Lyer-Illusion erleben?
Es sind verschiedene Studien mit Angehörigen
ländlich lebender Stämme der Urbevölkerungen in
Afrika und Australien durchgeführt worden, um Hypothesen über den Einfluss von Lernen und Erfahrung
auf die Interpretation optischer Täuschungen zu untersuchen. In einer Studie wurden städtisch und ländlich
lebende Afrikaner miteinander verglichen, die mit einem Auge eine rotierende, trapezförmige Form, das
sogenannte Ames-Fenster, betrachteten. Erwartungsgemäß sah die ländliche Gruppe es nicht rotieren,
sondern nach 180 Grad die Drehrichtung wechseln.
In einer anderen Studie wurde festgestellt, dass südafrikanische Zulus den Ponzo-Effekt stärker erlebten
als weiße Südafrikaner, möglicherweise aufgrund
ihrer ausgedehnteren Erfahrung mit weiten, offenen
Räumen. Demnach können unsere persönlichen und
kulturellen Erfahrungen es mehr oder weniger wahrscheinlich machen, dass wir optische Täuschungen
sehen.
Abb. 7
Abb. 8
Adrian Furnham
Die wahrgenom­mene Länge einer ­Linie hängt von
Ausrichtung und Form ­anderer Linien ab, die sie um­geben.
Arthur S. Reber, 1985
Stichwort
141
Der sechste Sinn
Alle haben ihn, kaum jemand kennt ihn: Den Körpersinn. Ohne ihn würde der
Mensch unbeholfen durch die Welt stolpern. Aus dem Gefühl für den Körper
könnte einst sogar das Selbstbewusstsein entstanden sein Ian Waterman geht schlurfend, breitbeinig, steif. Immer wieder bleibt er stehen,
schaut an sich herunter, macht erneut ein paar Schritte, blickt abermals auf die Beine. Ginge jetzt das Licht aus, der kräftige Zweimetermann würde zu Boden fallen
und hilflos liegen bleiben. Denn Ian Waterman spürt vom Nacken abwärts seinen
Körper nicht. Er muss seine Bewegungen unablässig mit den Augen kontrollieren.
Dabei war dieser Hüne vor 30 Jahren noch ein Teenager wie jeder andere.
Bis er als 19-Jähriger an einer heftigen Grippe erkrankte. Plötzlich konnte er seinen Körper nicht mehr aus dem Bett heben und fuchtelte unkoordiniert mit dem
Arm herum, wenn er nach einem Buch greifen wollte. Eine Autoimmunreaktion
hatte sämtliche Sinnes­nerven aus Muskeln, Sehnen und Haut unterhalb seines
Genicks vernichtet. Nervenbahnen, mit deren Hilfe das Gehirn Haltung und
Bewegung wahrnimmt.
Bei Ian Waterman ist dieser Körpersinn seither unwiederbringlich zerstört.
Ein Horrorzustand, doch gelähmt ist er nicht. Die motorischen Nerven, die den
Muskeln ihre Kommandos geben, blieben intakt. So konnte er lernen, die Muskeln provisorisch über das Sehen zu kontrollieren.
Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken – jeder kennt die fünf Sinne des
Menschen. Der Körpersinn dagegen ist weitgehend unbekannt. Denn nur selten
wird uns bewusst, mit welcher Macht er unser Leben regiert. Ohne den Körpersinn könnten wir weder geschmeidig gehen noch Fahrrad fahren, weder Sport
treiben noch im Dunkeln hantieren. Und nicht nur unseren Körper erfühlt dieser
sechste Sinn: Mit ihm spüren wir, wie der Sessel, auf dem wir sitzen, geformt ist.
Wir können schätzen, wie viel noch in der Milchtüte ist, wenn wir sie bloß anheben und etwas schwenken.
Dieser Sinn informiert uns über Masseverteilung, Schwerpunkt und Ba­
lance darüber, welche Wirkung welche Kräfte auf Bewegungen haben. Mit seiner
Hilfe navigiert der Kellner ein überladenes Tablett über den Köpfen der Partygäste. Er lässt Werkzeuge wie Messer und Gabel, Hammer oder Schere, sogar das
Auto zu Körperteilen werden. Einen Pinsel spüren wir bis in die Spitze.
Anders als beim Riechen oder Hören hat der Körpersinn kein spezifisches
Organ. Wir nehmen den Körper und seine Haltung mit mehreren Teilsinnen
wahr: mit dem Tastgefühl und dem Gleichgewichtssinn, vor allem aber mit
142
Die Welt im Kopf
sogenannten Tiefensensoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken. Diese winzigen
Messstationen informieren unser Gehirn dauernd über Stellung, Spannkraft und
Bewegung der Körperteile. In den Armen, im Rumpf und den Beinen dominieren sie den Körpersinn. Das Gefühl für die Hände – sie sind beim Menschen
besonders hoch entwickelt – entsteht dagegen gleichermaßen aus Tiefen- und
Tastsinn.
Eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung des Körpers spielt zudem das
Gedächtnis. Denn die Interpretationen von Tiefensinn und Tastgefühl müssen
nach der Geburt erst erlernt werden. Wie fühlt es sich an, eine Tür zu öffnen?
Viele Male muss ein Kind zugreifen. Doch wenn es genug Erfahrung gesammelt
hat, sieht es einer Tür von Weitem an, wie schwer- oder leichtgängig sie ist. Auch
eine große Eisenkugel sieht aus der Entfernung schwer aus – weil wir mit Eisen
schon früher einmal hantiert haben. Dass ein so bedeutender Sinn bis vor etwa
100 Jahren übersehen wurde, ist schwer zu glauben. Doch nachdem Aristoteles in
der Antike die fünf Sinne Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten identifiziert hatte, blieb es mehr als 2000 Jahre lang dabei.
Erst im frühen 19. Jahrhundert fragte sich
der schottische Physiologe Charles Bell, wie
Blinde es schaffen, so geschickt und zielgerichtet zu agieren. Er folgerte daraus, dass
Ohne den
es einen Sinn für die Lage und Bewegung
Körpersinn
können wir
des Körpers geben müsse. Der Neurologe
weder
geschmeidig
gehen
und Medizinnobelpreisträger Charles
noch
Fahrrad
fahren,
Sherrington zeigte schließlich zu Beginn
weder Sport treiben noch im
des 20. Jahrhunderts, dass Muskeln und
Dunkeln hantieren.
Sehnen vollgepackt sind mit Sinneszellen,
die er Propriozeptoren nannte, also Rezeptoren zur Selbstwahrnehmung. Der so enthüllte Körpersinn heißt seither Propriozeption.
Dieses lebenslang geschulte Gefühl lehrt uns nicht
nur, unsere Bewegung und die der Dinge zu verstehen.
Auch die Anfänge der Physik waren unbewusst von Konzepten geprägt, die offensichtlich von körpersinnlichen Erfahrungen rührten. Etwa der Wurf: Noch
im Mittelalter glaubten die Gelehrten, dass der Werfer aktiv einen »Impetus«
erzeugt und auf das Wurfobjekt überträgt. Werfen wir einen Stein, fühlt sich das
tatsächlich so an, als ob wir ihm einen Impuls mitgeben, der ihn durch die Luft
trägt. Der über den Körpersinn vermittelte Eindruck, dass wir mithilfe solcher
Impulse gezielt auf Dinge und Lebewesen einwirken können, ist vielleicht das
Urbild unseres Konzep­tes der »Kausalität«, vielleicht gar die Wurzel der Unterscheidung von Ich und Welt.
Der Körpersinn spielt nicht nur eine entscheidende Rolle für unsere Fähigkeit, die mechanischen Eigenschaften der Dinge im Wortsinn zu begreifen. Auch
Die Sinne
143
das abstrakte Denken könnte seine Wurzel in körpersinnlichen Erfahrungen
und Bewegungsintelligenz haben, vermuteten der Biologe Konrad Lorenz und
der Entwicklungspsychologe J­ean Piaget. Ebenso könnten Gefühle auf Körperwahrnehmungen beruhen, glaubt der amerikanische Neuropsychologe Antonio
Damasio. Und der Anthropologe Daniel Povinelli von der University of Louisiana behauptet sogar, das menschliche Selbst-Bewusstsein habe sich im Zuge der
Evolution zuerst als Körper-Bewusstheit entwickelt, das den Menschenaffen bis
dahin unmögliche Kletterkünste erlaubte.
Bei Feldstudien im Regenwald Sumatras war Povinelli und seinem Kollegen John Cant aufgefallen, dass kleine­re Affen sich mithilfe weniger stereotyper
Bewegungsschemata durchs Geäst hangeln, Orang-Utans sich jedoch äußerst
flexibel und erfindungsreich durch die Bäume schwingen. Povinelli und Cant
vermuten, dass nur ein hoch entwickeltes Körperbewusstsein solche Bewegungskreativität ermöglicht.
Für große Tiere ist die Bewegung im Geäst anspruchsvoller als für kleine.
Nicht nur weil die Schwergewichte meist an mehreren Ästen gleichzeitig turnen
müssen. Auch hängen die Äste unter ihrem Gewicht stark durch und schwanken,
was das Kraxeln und das Wechseln zwischen Bäumen kniffliger macht. Große
Affen kommen deshalb mit Bewegungsstereotypien nicht mehr aus. An deren
Stelle tritt ein neues »psychologisches System«, das Freiheit, Flexibilität und Bewegungsintelligenz stark vergrößert: das Bewusstsein für das körperliche Selbst.
Wir Menschen gehen trotzdem nicht nur mit Werkzeugen viel geschickter
um als Affen. Gefühlsbetont tanzen wir zu schöner Musik. Und nach entsprechendem Training turnen viele von uns besser, als Menschenaffen es je könnten.
Im Zuge der Evolution vom Großaffen zum Menschen hat sich der Körpersinn
offenbar noch einmal sprunghaft entwickelt – und an die menschliche Lust gekoppelt, forschend und übend mit unseresgleichen und den Dingen umzugehen.
So stapeln Kinder Bauklötze und andere Gegenstände zu immer höheren Türmen. Indem sie mit Objekten hantieren, lernen sie viel über Massenverteilung,
Schwerpunkt und Stabilität ihrer Bauwerke.
Die Geduld der Menschenaffen ist da schneller am Ende. Povinelli glaubt,
dass die­se Tiere nur ein rudimentäres Gefühl für die mechanischen Eigenschaften von Gegenständen entwickeln, weil ihr Verständnis dafür noch vom Sehsinn
geprägt ist. Deshalb hätten Affen von Massenverteilung und Schwerpunkt kaum
eine Ahnung.
Menschen nutzen ihren Körpersinn viel intensiver als Affen, um die eigene
Körpermechanik und die Physik der Dinge zu begreifen. Die Augen sind nur
Damit sich Affen im Regenwald Sumatras von Ast zu Ast schwingen können,
brauchen sie ein ausgeprägtes Körperbewusstsein.
144
Die Welt im Kopf
Die Sinne
145
ein unvollständiger Ersatz. Das Schicksal Ian Watermans zeigt: Es bedarf jahrelangen harten Trainings, die mit dem Körpersinn verlorene Kontrolle wenigstens zum Teil zurückzugewinnen und mithilfe der Augen etwa einen Becher zu
greifen. Die meisten körperblinden Menschen bleiben lebenslang ans Bett oder
an den Rollstuhl gefesselt.
Dass Ian Waterman es geschafft hat, sogar wieder zu gehen, ist eine Ausnahme. Er verdankt das vor allem einem selbst er­dachten kreativen Trainingsprogramm, seinem eisernen Erfolgswillen und Fleiß. Noch immer wirken selbst
Alltagsbewegungen oft unbeholfen. Nichts ist automatisch, er muss jedes Detail
seiner Aktionen planen. Wenn er sich bewegt oder auch nur sitzt, darf seine Konzentration keinen Augenblick nachlassen. Die ganz normalen Bewegungen eines
Tages kosteten ihn die Anstrengung eines Top­athleten, wie er sagt.
Gesunde Menschen dagegen bemerken kaum, in welche Richtung und wie
stark sie sich zurücklehnen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Über das Körpergefühl geschieht das wie von selbst.
von Franz Mechsner und Victor Smetacek aus ZEIT Wissen Nr. 4/2008
So klingt das Leben
Musik kann trösten und glücklich machen. Kranke werden mit den richtigen
Klängen gesund, und wer sich isoliert fühlt, findet wieder Anschluss an die Welt Die Frau im gelben Kleid steht allein auf der Bühne vor dem dunklen Saal. Im Orchestergraben hebt Ivan Repušić sachte den Taktstock, Flötenklänge steigen auf. Dann
setzt Karolina Anderssons Sopranstimme ein, und mit einem Mal scheinen Sehnsucht
und Entzücken mit Händen greifbar. Es ist ein Donnerstagabend in der Komischen
Oper in Berlin. Gespielt wird Rigoletto. Die Zuhörer waren zunächst unruhig, doch
jetzt, bei der berühmten Arie der Gilda im ersten Akt, wird es mucksmäuschenstill.
Selbst die flüsternde Schulklasse und der Dauerhuster verstummen. Immer höher
steigt der Gesang empor, fragend, klagend und schließlich in unbändigem Jubilieren.
Nicht weit entfernt, in einer Halle am Stadtrand, schlägt Christoph Schneider einen schnellen Wirbel über seine Drums. Bass und E-Gitarre kommen hinzu, dröhnen durch die Halle. Schneider grinst und verfällt in einen dumpfen,
stampfenden Viervierteltakt. Augenblicklich geht ein Ruck durch die Zuhörer,
sie bewegen sich synchron im Takt. Als der Sänger die Bühne betritt, fliegen
die Arme in die Höhe, beim Refrain schallt Gesang aus allen Kehlen. Rammstein proben Songs für ihre nächste große Tournee. Die Band testet ihren derben,
harten Sound, der bald Zehntausende in Taumel versetzen wird.
Zwei Musikstile, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Und doch vermitteln die beiden Konzerte einen Eindruck davon, wie Melodien und Rhythmen uns
in ihren Bann ziehen. Es gibt wohl nur wenige Dinge, die uns so einfach mit Glück erfüllen und einen so großen Einfluss auf unser Leben haben wie Musik. Beim Kochen
schnippen wir im Takt zu Popsongs aus dem Radio. In der Kneipe plaudern wir mit
Freunden, während im Hintergrund Jazz für lässig-entspannte Atmosphäre sorgt.
Musik ist so alltäglich und vertraut, dass wir uns eine Frage oft überhaupt nicht
stellen: Wie kommt es, dass Menschen in allen bekannten Kulturen und seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte komplizierte Muster aus Schallwellen erschaffen?
Schallwellen – Sie bringen durch minimale Druck- oder Dichteveränderungen
die Moleküle in einem elastischen
Medium wie Luft oder Wasser zum
Schwingen. Die Frequenz beschreibt
146
Die Welt im Kopf
dabei die Anzahl der Schallwellen, die
innerhalb eines bestimmten Zeitraums
auftreten. Grundsätzlich gilt:
Je kürzer die Wellen, desto höher die
Frequenz und desto höher der Ton.
Die Sinne
147
Wie könnten wir einem außerirdischen Besucher die menschliche Leidenschaft für
Es klingt
Rhythmen und Melodien erklären? Ist
paradox: Musik ist Ausdruck
Musik Ausdruck kosmischer Naturgesetkosmischer Naturgesetze –
ze oder eine spezifisch menschliche Erfinund gleichzeitig eine spezifisch
dung? Die Antwort muss lauten: beides
menschliche Erfindung.
zugleich. Denn unter den vielen natürlichen Geräuschen, die an unsere Ohren
dringen, nehmen wir einige als Töne wahr,
und in ihnen steckt schon eine grundlegende
Struktur von Musik.
Töne entstehen immer dann, wenn einfache
Objekte wie Membranen oder Saiten in Schwingung
geraten und nur wenige Frequenzen erzeugen, die in einem klar strukturierten
Verhältnis zueinander stehen. Die gesamte Schwingungsenergie steckt dann in
diesen wenigen Frequenzen, weshalb sie deutliche, weithin hörbare Signale produzieren. Bewusst nehmen wir meist nur die tiefste Frequenz wahr, die anderen
schwingen aber als Obertöne immer mit und bestimmen die Klangfarbe, etwa
den Unterschied zwischen einer Geige und einer Trompete. Der erste Oberton
liegt immer bei der doppelten Frequenz des Grundtons. Hört man einen zweiten
Ton, dessen Grundton in dieser doppelten Frequenz schwingt, dann empfinden
alle Menschen diese beiden Töne als verblüffend ähnlich – sie erklingen im Abstand einer Oktave.
Dass Töne zu Musik werden, ist das Verdienst einer enormen Analyseleistung des Gehirns: Es ordnet scheinbar mühelos ein kompliziertes Gemisch
aus Schallwellen einzelnen Instrumenten und Stimmen zu und erkennt darin
musikalische Phrasen und Motive. Diese Leistung wird nicht von einem spezialisierten »Musikzentrum« vollbracht, vielmehr arbeiten hier verschiedene
Hirnareale zusammen. Musik hat also einen direkten
Einfluss auf unser Gehirn. Der deutsche Neurowissenschaftler Stefan Koelsch hat in Untersuchungen zeigen können, dass fröhliche
Musikstücke wie zum Beispiel das Allegro
Noch erholsamer als
aus Bachs Viertem Brandenburgischem
passives Musikhören wirkt
Konzert oder eine irische Tanzweise bei
Patienten die Konzentration des Stressaktives Musizieren und Singen.
hormons Cortisol im Blut verringerten –
Darum erkunden Forscher
während einer Operation benötigten sie
den therapeutischen Einsatz
eine geringere Dosis des Narkosemittels
von Tönen.
Propofol. Klänge und Rhythmen wirken
also den Stressreaktionen unseres Körpers
entgegen.
148
Die Welt im Kopf
Eine Studie der kalifornischen Forscherin Sky Chafin und ihrer Mitarbeiter
deutet sogar darauf hin, dass Musik den Blutdruck senken kann. Für ihre Studie
stresste Chafin 75 Studenten mit einer Rechenaufgabe, die sie unter Zeitdruck
bewältigen sollten. Bereits nach drei Minuten hatten die Studenten einen beschleunigten Herzschlag und einen deutlich erhöhten Blutdruck.
Anschließend wurden die Probanden gebeten, in getrennten Zimmern
zu warten. In einigen Räumen war es still, in anderen lief Musik: Jazz, Klassik
oder Pop. Nach zehn Minuten maßen die Forscher erneut Blutdruck und Herzfrequenz der Versuchspersonen. Das Ergebnis: Wer in der Wartezeit Pachelbels
Kanon oder Vivaldis Vier Jahreszeiten gehört hatte, war deutlich entspannter als
die Studenten, die in Stille gewartet oder Musikstücken anderer Genres gelauscht
hatten. Klassik kann eine erholsame Wirkung haben, schlossen die Forscher. Und
zwar körperlich messbar. Mit diesem Versuch bestätigten sie Studien, die gezeigt
hatten, dass Musik nicht nur Herzschlagfrequenz und Blutdruck senken kann,
sondern auch den Atem verlangsamen, die Spannung in den Muskeln verringern
und bewirken, dass man weniger schwitzt.
Dass unterschiedliche Musik unterschiedlich wirkt, hat jeder schon selbst
erlebt. Die Wissenschaft bestätigt die Alltagserfahrungen: Schnelle, harte Rhythmen, etwa in Heavy-Metal-Stücken, versetzen uns in Unruhe, Techno lässt den
Cortisolspiegel im Blut steigen. Wenn wir sanfte Sphärenklänge zur Meditation
einsetzen und uns mit Rock oder Elektro in Partystimmung bringen, tun wir also
intuitiv das Richtige: Ruhige Melodien entspannen, schnelle, harte Rhythmen
regen an.
Noch erholsamer als passives Musik­hören wirkt aktives Musizieren und
Singen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung mit 31 Sängern eines
Kirchenchors. Der Musikwissenschaftler Gunter Kreutz ließ die Sänger vor und
nach ihrer Chorprobe Fragebögen zu ihrem Befinden ausfüllen und eine Speichelprobe abgeben. Eine Woche später sollten sie der Aufnahme des Musikstücks
lauschen, das sie in der Probe geübt hatten. Auch diesmal sammelte Kreutz vorher
und nachher Speichelproben ein und befragte die Sänger nach ihrer Stimmung.
Das Ergebnis: Sowohl das Singen als auch das Musikhören hatte die Laune der
Sänger verbessert und ihren Cortisolspiegel sinken lassen. Die Effekte waren beim
Singen aber viel stärker als beim Hören. Auch andere Studien haben ergeben, dass
Singen das Wohlbefinden steigert, zum Beispiel eine britisch-australische Untersuchung mit mehr als 600 Teilnehmern. Hier füllten die Versuchspersonen Fragebögen aus, Stresshormone im Blut wurden nicht gemessen.
Aufgrund solcher und anderer Wirkungen untersuchen Forscher zunehmend den Einsatz von Musik als Medizin. Manche Menschen lernen nach einem
Schlaganfall oder Hirntrauma gemeinsam mit einem Therapeuten am Klavier,
ihre Bewegungen wieder zu koordinieren. Und Tinnituspatienten kann speziell
bearbeitete Musik dabei helfen, das rätselhafte Pfeifen und Klingeln in den Ohren wieder loszuwerden.
Die Sinne
149
Bei Menschen mit Alzheimer und anderen Demenzerkrankungen kann gemeinsames Singen Verhaltensstörungen wie Aggressionen mildern. Die richtige
Musik kann verschüttete Erinnerungen zurückholen und dem Leben wieder
einen emotionalen Halt geben. Wegen ihrer stimmungsaufhellenden Wirkung
wird Musik sogar als Mittel zur systematischen Behandlung von Depressionen
erprobt. Eine Studie der National University of Singapore hat beispielsweise gezeigt, dass Menschen in Altersheimen weniger unter Depressionen litten, wenn
ihnen eine halbe Stunde am Tag ihre Lieblingsmusik vorgespielt wurde.
Musik kann nicht nur Emotionen verändern, sondern ermöglicht auch
Kommunikation ohne Worte. »Musiktherapie ist in erster Linie dann angezeigt,
wenn Menschen nicht sprechen können«, sagt Karin Schumacher, Professorin
am Musiktherapiezentrum der Universität der Künste in Berlin. Sie erforscht vor
allem die Möglichkeiten, durch improvisierte Musik mit autistischen Kindern in
Kontakt zu treten und deren zwischenmenschliche Fähigkeiten zu fördern. Doch
auch andere Menschen kann man so zum Sprechen bringen, etwa demente Patienten oder solche, die aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas oder eines Schlaganfalls die Fähigkeit zu sprechen verloren haben. »Sogar Patienten im Wachkoma
versuchen wir mit Musik zu erreichen«, sagt Schumacher.
Mangelnde Kommunikation kann sich gerade auf die Entwicklung von
kleinen Kindern empfindlich auswirken. Aus diesem Grund wenden die Therapeuten der KunstMusikRäume in Berlin-Kreuzberg seit einiger Zeit eine neue
Methode an, um mithilfe von Musik Defizite auszugleichen. In der Einrichtung
betreut ein kleines Team aus spezialisierten Musiktherapeuten Kinder, deren
Erzieher und Lehrer angesichts massiver Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten nicht mehr weiterwissen und die vom Jugendamt hierher
verwiesen werden.
Zentrum der Praxis ist ein heller, weiter Raum, in dessen Mitte eine große
Trommel steht, die von Sitzkissen umsäumt wird. An den Wänden hängen verschiedene, meist einfache Instrumente, in der Ecke steht ein Klavier. Der zweijährige Paul* und seine Mutter lassen sich auf dem Boden nieder. Paul ist hier, weil
es ihm schier unmöglich ist, sich auch nur für kurze Zeit von seiner Mutter zu
lösen und sich anderen Dingen zuzuwenden. Die Therapeutin Kathrin Vogt setzt
Musiktherapie – Sie kommt unter
anderem zum Einsatz bei psychischen
Krankheiten, kindlichen Entwicklungsstörungen und behinderten Menschen.
Bei der rezeptiven Musiktherapie steht
150
Die Welt im Kopf
das Hören im Vordergrund. Bei der
aktiven Musiktherapie hingegen spielt
der Patient selbst Instrumente. Das soll
ihm helfen, sich auszudrücken.
sich zu den beiden, schlägt die Saiten ihrer Gitarre an und singt dazu ein improvisiertes Lied: »Hallo, Paul, hallo, Paul, was ist denn da?« Zunächst wandert
der Blick des kleinen Jungen ziellos im Zimmer umher. Er schmiegt sich in den
Schoß seiner Mutter. Als diese Pauls Arme hebt, hält Vogt in ihrem Lied inne, es
entsteht eine kleine dramatische Pause. Erst als die Hände von Mutter und Kind
heruntersinken, fährt sie mit dem nächsten Ton fort. Ein kurzes Lächeln huscht
über das Gesicht des Jungen.
Ermutigt durch den lustigen Effekt, hebt er, diesmal aus eigenem Antrieb,
erneut seine Arme – und wieder hält die Therapeutin inne. Immer wieder reagiert
sie auf kleinste Impulse, kommentiert mit Gitarre und Gesang das Verhalten von
Mutter und Kind, während diese zu gemeinsamen Aktionen zusammenfinden.
Ein halbes Jahr später ist daraus ein vergnügtes Spiel geworden, bei dem der Junge begeistert durch den Raum rennt. »Die Probleme von Paul rühren daher, dass
die Mutter bislang sehr verhalten und unsicher reagiert hat und auf die Signale
ihres Kindes nicht angemessen eingehen konnte«, erklärt die Therapeutin.
Bei solchen Störungen der Mutter-Kind-Beziehung stößt Kathrin Vogt etwas an, das normalerweise früh in der Entwicklung des Kindes geschieht. Durch
lautmalerische Übertreibungen in ihrer Sprache versuchen Eltern, die Aufmerksamkeit ihres Babys auf sich zu ziehen und eine Kommunikation herzustellen.
»Die Musik hat viele Elemente dieser frühen Babysprache«, sagt Vogt. »Ich bringe
damit Mutter und Kind in Kontakt und synchronisiere ihre Aktionen und Empfindungen.« Das von den beiden Psychotherapeutinnen Katrin Stumptner und
Cornelia Thomsen entwickelte Konzept soll demnächst auch an der Berliner Universität der Künste gelehrt werden.
Die kanadische Psychologin Sandra Trehub, die lange die Interaktion von
Kleinkindern und Müttern und deren Babysprache studiert hat, vermutet in
dieser lautmalerischen Sprechweise sogar einen Ursprung von Musik. Und die
amerikanische Anthropologin Dean Falk sieht darin einen Beleg für die gemeinsamen Wurzeln von Sprache und Musik: Als die Gehirne der frühen Hominiden
größer wurden, kamen Babys zunehmend unreif zur Welt, damit ihre Köpfe noch
den Geburtskanal passieren konnten. Während neugeborene Affen sich im Fell
ihrer Mütter festklammern können, mussten die Vormenschen, so Falk, eine
Wachkoma – Schwere Hirnschädigungen verursachen diesen Zustand, meist
hervorgerufen durch ein SchädelHirn-Trauma, Sauerstoffmangel oder
Blutungen im Gehirn. Das Großhirn, das
für die Wahrnehmung zuständig ist,
stellt dabei in weiten Teilen oder sogar
komplett die Arbeit ein. Die vegetativen
Funktionen sind allerdings meist intakt,
sodass viele Wachkoma-Patienten
selbstständig atmen können und einen
Tag-Nacht-Rhythmus besitzen.
Die Sinne
151
Möglichkeit entwickeln, ihr Kind auch auf akustische Weise zu beruhigen. Wenn
sie mit dem Säugling durch Säuseln und Gurren in Kontakt blieben, konnten sie
ein waches Kind leichter ablegen und hatten die Hände frei, so die Theorie.
Mit Sicherheit hat die Menschheit das Musizieren schon lange vor der Landwirtschaft entwickelt, manche Funde von Knochenflöten sind älter als 30 000
Jahre. Dabei ist die Unterteilung in Musiker und passive Zuhörer eine recht
neue Entwicklung. In der Geschichte der Menschheit war Musik wohl meist
ein gemeinschaftliches, oft mit Tanz verbundenes Erlebnis. Musik könnte frühzeitig das Zusammengehörigkeitsgefühl von Stammesgruppen gestärkt haben.
Der Psychologe Robin Dunbar von der University of Liverpool argumentiert,
dass schon frühe Hominiden ihre Gehirne durch gemeinsames Musizieren und
Tanzen quasi in beglückenden Endorphinen gebadet hätten – als Äquivalent zum
gegenseitigen Lausen von Affen, das zu einer Dopaminausschüttung im Gehirn
führt und so soziale Strukturen festigt. Musik, so Dunbar, schließe heutzutage
gleichsam die »Endorphinlücke«, die seit der Entstehung der eher verstandesbetonten Kommunikation durch Sprache entstanden sei.
Allerdings ist der Mensch auch ohne Musik vorstellbar. Der Kognitionswissenschaftler Steven Pinker hat Musik daher einmal als »akustischen Käsekuchen«
bezeichnet. So wie Käsekuchen die menschlichen Vorlieben für Zucker und Fett
befriedige, sei Musik ein Zufallsprodukt, das unsere Lustzentren befeuere. Eine
ähnliche Meinung vertritt der Psychologe Gary Marcus von der New York University: »Ich glaube nicht, dass wir mit einem Instinkt für Musik geboren werden.
Wir werden mit einer ganzen Reihe von Fähigkeiten geboren, die uns empfänglich für Musik machen, aber das gilt auch für Videospiele.« Der amerikanische
Neurobiologe Mark Chanzini bezeichnet Musik als »kulturellen Symbionten«,
der sich grundlegende Fähigkeiten des Gehirns zunutze mache. Von jeher sei
der Mensch darauf angewiesen gewesen, akustische Signale aus der Umwelt zu
interpretieren. Musik sei zunächst in die Gehirne der Menschen gelangt, weil die
Klangstrukturen emotional bedeutsame Geräusche der Natur imitierten – insbesondere den gleichmäßigen Rhythmus eines gehenden Mitmenschen. Dann
aber habe sich der Symbiont gemeinsam mit dem Menschen weiterentwickelt
– und so zusammen mit anderen kulturellen Fertigkeiten wie der Sprache das
Menschsein überhaupt erst begründet.
Symbiont – Der Begriff stammt ursprünglich aus der Biologie. Ein Symbiont ist ein
Organismus, der sich im Rahmen einer
Symbiose mit einem Wirt verbindet,
der in der Regel größer ist als er selbst.
Symbiosen können unterschiedlich aus-
152
Die Welt im Kopf
So intellektuell reizvoll derartige Theorien auch sein mögen, ganz begreifen werden wir die Faszination, die Magie der Musik wohl nicht. Wie entstehen
musikalische Ideen, die dann ihren Siegeszug um die Welt antreten und mitunter
unsterblich werden? »Wir haben eine Gabe, diese martialisch-majestätischen
Klänge zu erzeugen«, sagt der Rammstein-Schlagzeuger Christoph Schneider.
»Wenn Besuch da ist« – so nennen die Bandmitglieder jenen magischen Moment,
wenn ein neues Stück entsteht, das ihre Fans gefangen nehmen wird. »Wir wissen es immer sofort, wenn uns ein solcher Gänsehautmoment gelingt, dann darf
nichts mehr geändert werden.«
Giuseppe Verdi kann sich zur Quelle seiner Inspiration nicht mehr äußern,
doch durch seine Wirkung über die Jahrhunderte hinweg ist er der Unsterblichkeit so nahe wie irgend möglich gekommen. »Seine Musik klingt so einfach,
und doch ist Verdi so tief, so reich, jede Note hat etwas zu erzählen«, schwärmt
Ivan Repušić, nachdem er am Ende von Rigoletto den donnernden Applaus des
Opernpublikums entgegengenommen hat. Der junge, aus Kroatien stammende
Dirigent ringt kurz nach Worten. »Etwas, was man nicht beschreiben kann, was
man nur fühlt – das ist Musik.«
von Birgit Herden aus dem ZEIT Wissen Ratgeber Nr. 2/2013
geprägt sein: In der Protokooperation
leben die Organismen in einer lockeren
Al­lianz, während sie eine Eusymbiose
eingehen, wenn sie ohne einander nicht
überleben können.
Die Sinne
153
Volle Dröhnung
Mit allen möglichen Tricks kämpfen Plattenfirmen und Rundfunksender um
die Aufmerksamkeit der Hörer. Musik und Werbespots klingen immer lauter –
und schaden auf Dauer dem Gehör.
Kennen Sie das auch? Im Fernsehen läuft der Film, den Sie im Kino verpasst
haben, und plötzlich schlägt der erste Werbeblock ein. Die Musik des Spots reißt
Sie vom Sofa, so laut klingt sie im Vergleich zum Film. Hektisch greifen Sie nach
der Fernbedienung, um den Ton zu drosseln – und merken gar nicht, dass Sie
Opfer eines Krieges geworden sind.
Es ist der Loudness War, der da tobt – ein Krieg der Lautstärken, mit dem
Werbung, Rundfunksender und Plattenfirmen um unsere Aufmerksamkeit
kämpfen. Das Verblüffende daran: Die maximale Lautstärke all der Aufnahmen,
die uns täglich beschallen, ist nicht höher als vor dreißig Jahren. Die Aufnahmen
klingen nur so – dank der Finessen der modernen Tontechnik, die gelernt hat, das
menschliche Gehör auszutricksen. Dabei gerät die Kunst der leisen Töne in Vergessenheit – und bis zu zehn Millionen EU-Bürgern droht eine Schwerhörigkeit
durch die derart produzierte Musik, wenn sie sie über Kopfhörer hören. Doch es
gibt auch eine gute Nachricht: Der Loudness War könnte bald vorbei sein.
Dass er überhaupt beginnen konnte, hat mehrere Gründe. Einer liegt darin,
dass das Gehör nicht wie ein unbestechliches physikalisches Messgerät funktioniert. Wie laut ein Schallsignal klingt, das unser Ohr erreicht, hängt von seiner
Intensität, Frequenz und Dauer ab. Die psychoakustische Forschung hat herausgefunden, dass tiefe und hohe Töne leiser wirken als mittlere mit einer Frequenz
zwischen einem und fünf Kilohertz. Und einen stakkatoartigen Ton nimmt der
Mensch lauter wahr als einen durchgehenden, auch wenn beide die gleiche Frequenz und Intensität haben.
Was landläufig als Lautstärke bezeichnet wird, ist deshalb keine eindeutig
messbare Größe, sondern eine subjektive Empfindung – Wissenschaftler sprechen von Loudness, Lautheit. Diese gefühlte Lautstärke ähnelt der gefühlten
Temperatur: Null Grad Celsius kommen uns kälter vor, wenn ein scharfer Wind
weht, sommerliche 30 Grad wärmer, wenn die Luftfeuchtigkeit hoch ist.
Werden schon einzelne Töne unterschiedlich wahrgenommen, gilt das erst
recht für Musik, diese äußerst komplexe Überlagerung vieler Töne. Die Tontechnik hat sich das zunutze gemacht und manipuliert nun die gefühlte Lautstärke.
Der grundlegende Trick ist dabei erstaunlich simpel: Man macht erst die lauten
Passagen etwas leiser, die leisen lauter und hebt dann alle zusammen an – und
154
Die Welt im Kopf
schon horcht der Zuhörer auf, weil ein derart verändertes Stück aus anderen,
nicht bearbeiteten Liedern heraussticht.
Das erste Musiklabel, das diesen Trick bereits in den sechziger Jahren anwandte, war die legendäre Soulschmiede Motown. Wenn ein Kneipenbesucher
sie in der Jukebox drückte, klangen die Singles von Marvin Gaye, den Su­premes
oder den Temptations schärfer als die der Konkurrenz. Um dies hinzubekommen, tricksen Tontechniker bis heute mit der Dynamikkompression. Als Dynamik eines Musikstücks bezeichnet man die Abfolge der leisen und lauten Stellen:
das Flirren von Streichern, das sich zu einem Crescendo steigert, in das Paukenschläge drängen, oder eine gezupfte E-Gitarre, die plötzlich verzerrt und gedroschen wird, um zu verstummen und einem E-Piano Platz zu machen. All diese
Klänge muss der Tontechniker in einer begrenzten Lautstärkeskala unterbringen,
die vom Tonträger abhängt. Für CDs beträgt sie rund 96 Dezibel Full Scale
(dbFS) – von minus 96 bis 0 dbFS. Die Einheit gibt an, mit welchem Schalldruck
der Trommelschlag, die Trompete oder das Klavier im Verhältnis zueinander aus
einem Lautsprecher kommen.
In einer Audiosoftware erscheint das Stück als gezacktes Muster, in dem die
höchsten Ausschläge die lautesten Stellen, die flacheren leise Passagen darstellen (siehe
Grafik). Mithilfe von Kompressoren – früher spezielle elektronische Schaltungen, heute
Software – kann der Toningenieur die niedrigen, leisen Ausschläge anheben und die
hohen, lauten absenken. Die Folge: Das Zackenmuster variiert weniger, die Dynamik
der Ausschläge ist gestaucht. Wird diese komprimierte Aufnahme als Ganzes nun noch
ein Stück in Richtung Maximalpegel – 0 dbFS – hochgezogen, ist die gefühlte Lautstärke für den Hörer mit einem Mal größer als die der unkomprimierten Fassung.
Das ist nicht unbedingt schlecht. »Manche Musik lässt sich unkomprimiert
kaum alltagstauglich genießen. Gerade klassische Musik hat zuweilen eine so
hohe Dynamik, dass sie fernab des Konzertsaals nicht mehr funktioniert«, sagt
Marina Riester, Dozentin an der Electronic Media School in Potsdam. Wer etwa
die unkomprimierte Liveaufnahme einer Mahler-Sinfonie im Autoradio hören
möchte, müsste an einer Pianissimo-Stelle die Lautstärke weit aufdrehen, um das
Motorengeräusch zu übertönen. Ein überraschendes Fortissimo wäre dann so
laut, dass der Fahrer womöglich vor Schreck das Steuer verrisse.
Was für Klassikfreunde auf der Autobahn noch eine sinnvolle Hilfe ist,
verselbstständigte sich in den achtziger Jahren in der Pop- und Rockmusik. Als
die Band Guns ’n’ Roses 1987 ihr Album Appetite for Destruction herausbrachte,
setzte sie in puncto Loudness neue Maßstäbe. Weil der fette Sound beim Publikum gut ankam, zogen nun andere Studios nach und komprimierten ebenfalls
heftig – oft auch auf Druck von Musikern oder Plattenfirmen. Ein akustisches
Wettrüsten setzte ein.
Eine Wunderwaffe sind dabei die Multibandkompressoren. Sie teilen das
Musiksignal in verschiedene Frequenzbänder auf, also in Bereiche unterschiedlicher Tonhöhe, und komprimieren sie unterschiedlich stark. Selbst mittelmäßige
Die Sinne
155
Aufgeblasen: Wie die Musik ihre Dynamik verliert
Richard Wagner, »Rienzi«
156
Red Hot Chili Peppers, »Otherside«
The Beatles, »Twist and Shout«, 1987
The Beatles, »Twist and Shout«, 2007
Klassische Musik (links) hat im Original viel »Dynamik«, das heißt, laute und leise
Passagen wechseln einander ab. Rockmusik (rechts) wird heute so abgemischt, dass sie
über weite Strecken gleich laut klingt.
Viele ältere Alben, etwa von den Beatles, wurden inzwischen neu gemischt. Dabei nahm
nicht nur die maximale, sondern auch die durchschnittliche Lautstärke zu, weil leise Passagen verstärkt wurden. Das Gehör werde dadurch verdorben, klagen Experten.
Aufnahmen klingen dann plötzlich druckvoll, und eigentlich brillante Pop-Klassiker aus den siebziger Jahren erscheinen im Vergleich seltsam lahm.
Das schwerste Geschütz ist der Limiter. Er kappt Signale, die oberhalb eines
bestimmten Pegelwerts liegen – etwa besonders laute Beckenschläge oder den besonders starken Bass. Mit einem hart eingestellten Limiter lassen sich sämtliche
Passagen bis auf den allerletzten Millimeter an das Maximum von 0 dbFS heranschieben. Das Pegelmuster zeigt keine Zacken mehr, sondern sieht eher wie ein
Ziegelstein aus – weshalb man auch von Brickwall Limiting spricht. Derart abgeschnittene Signale haben jedoch eine Kehrseite: Sie können verzerren oder gar ein
Knacken erzeugen. Berüchtigtstes Beispiel hierfür ist das Album Death Magnetic
der US-Band Metallica.
Auch im Radio wird der Loudness War ausgefochten. Wer heutzutage das
UKW-Band durchhört, wird feststellen, dass es gerade in Ballungsräumen mit
vielen Sendern erhebliche Klangunterschiede zwischen den einzelnen Rundfunkstationen gibt. Vor allem werbefinanzierte Privatsender versuchen, sich in akustischem Druck gegenseitig zu überbieten, um Hörer anzuziehen. Sie schicken
bereits komprimierte Musik ein zweites Mal durch den Kompressor, um noch
etwas mehr Loudness herauszukitzeln.
Holger Schulze, Sound-Studies-Forscher an der Universität der Künste Berlin, findet das bedenklich. »Sind Kompressionen allgegenwärtig, dann klingt jede
nicht komprimierte Produktion dürftig«, sagt er. »Die Hörenden verlieren ihr
ästhetisches Gespür für nicht komprimierte Hörsituationen im Alltag.«
Die Europäische Rundfunkunion will den Loudness War nun beenden.
Ihre PLOUD-Arbeitsgruppe hat neue Grenzwerte für die Lautstärke entwickelt,
die in Deutschland seit Jahresanfang von den öffentlich-rechtlichen Sendern angewendet werden. Anders als früher werden dabei nicht mehr die Spitzenwerte
der Lautstärke begrenzt, sondern die Loudness eines Programms – also wie nah
dessen durchschnittliche Lautstärke dem maximalen Sendepegel kommt. Die
Privatsender haben den Standard noch nicht übernommen.
Das sollten sie aber tun: Wer täglich komprimierte Musik über Kopfhörer
konsumiert, tut sich keinen Gefallen. »Diese Musik übt einen wesentlich größeren
Stress auf das Gehör aus als dynamische Musik bei gleichem Schalldruck«, also
gleicher Lautstärkeeinstellung, warnt der Toningenieur Friedemann Tischmeyer.
Starke Kompression verringere auf Dauer die Fähigkeit, Gesprächen zu folgen,
man müsse sich dann stärker auf sie konzentrieren, sagt er. Der Wahlkalifornier
hat 2009 die Pleasurize Music Foundation gegründet. Die Stiftung unterstützt
Tonstudios mit einer Software, die während der Produktion die Dynamik von
Aufnahmen anzeigt. Zudem will die Organisation bewirken, dass die Plattenfirmen die Verbraucher über den Dynamikumfang ihrer Musik informieren – um
so dynamischere Aufnahmen wieder populär zu machen.
Immerhin: »Im vergangenen Jahr hatte ich mehr Anfragen für ein dynamisches Mastering als in vielen Jahren zuvor«, sagt der US-Tontechniker Bob
Ludwig, der für Jimi Hendrix, die Rolling Stones, Nirvana und Radiohead gearbeitet hat. »Das ist ein ermutigendes Zeichen, denn lange gab es nur die Anweisung, die Aufnahme ›scharf‹ zu machen – das heißt: laut.« Gerade jüngere
Bands verzichten neuerdings darauf, das Maximum aus ihrer Musik herauskitzeln zu lassen. Am Ende könnte der Loudness War dadurch beendet werden,
glaubt Ludwig, dass laut produzierte Platten plötzlich altmodisch klingen – »wie
ein schlechter Drumcomputer aus den Achtzigern«.
Die Welt im Kopf
von Niels Boeing und Jochen Reinecke aus ZEIT WISSEN Nr. 2/2012
Die Sinne
157
4.
Das erkrankte
Gehirn
Sucht, Schmerz, Panik, Phobie,
Depression – jedes Jahr durchlebt
ein Drittel der Bevölkerung ein
psychisch bedingtes Leiden. Die
wenigsten Menschen reden darüber.
Eine psychische Erkrankung gilt noch
immer als Stigma. Das Versteckspiel
hat Folgen. Viele Patienten suchen erst
spät professionelle Hilfe. Und ihr Rückzug verschlimmert die Situation meist
noch. Die Parole heißt: Nicht raus aus
dem Alltag, rein in den Alltag. Das ist
oft die beste Therapie.
158
Die Welt im Kopf
Immer auf der Kippe
Zwischen Neurose und Psychose, zwischen Angst und Wahn spielt sich das
Leben von Borderlinern ab. In einer Hamburger Klinik lernen sie, anderen
Menschen zu vertrauen
Die Ansage auf dem Anrufbeantworter in der psychotherapeutischen Praxis war
unmissverständlich: »Hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Rufnummer – außer
Sie sind Borderliner.« Diese Abfuhr erlebte eine Patientin, die jetzt in der Asklepios
Klinik Nord in Hamburg unter­gekommen ist. Borderlinepatienten gelten als besonders schwierige psychisch Kranke. Oft schlagen ihnen negative Reaktionen entgegen.
Nicht nur in der Familie. Freunde und Kollegen sind von den sozialen Dissonanzen,
die diese Patienten oft auslösen, äußerst angestrengt. Und auch viele Therapeuten.
Der Hamburger Psychiater Birger Dulz gehört nicht dazu. Er ist Chefarzt
der Klinik für Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen und einer der renommiertesten Borderlinespezialisten in Deutschland. Er versteht die Abneigung
seiner Kollegen gegen diese Patientengruppe nur zu gut, denn Borderliner seien
oft »unflexibel, lahmarschig, humorlos, selbstbezogen, begriffsstutzig, aggressiv,
feige, kommunikationsfaul, kleingeistig, borniert, unfähig zum Verfolgen eigener
Einsichten«. Die Stärken der Borderline­patienten sieht Dulz aber auch: Sie könnten »kreativ, pfiffig, witzig, selbstironisch, hilfsbereit, intelligent, streitbar, mutig,
schlagfertig, großherzig, zugewandt, einsichtig« sein. Diese Gegensätze fordern
Dulz heraus, und er bekennt: »Ja, ich mag Borderliner!«
Auf Station O52A behandeln Dulz und seine Kollegen ausschließlich Bor­
der­line­pa­tien­ten. Sie arbeiten an Fragen, die jeden Menschen umtreiben: Wie viel
Nähe zu anderen kann ich ertragen? Wie viel Distanz ist für mich und andere
nötig? Das hört sich harmlos an, doch für die Kranken sind solche Fragen von
existenzieller Bedeutung. Ihr Problem ist es nämlich, einen Korridor zu finden
zwischen überschwänglicher Zuneigung und hasserfüllter Abneigung. Das führt
immer zu erheblichen Problemen mit anderen Menschen – und nicht selten zu
Übergriffen und Kriminalität. »35 Prozent der erstinhaftierten männlichen Straftäter sind Borderliner«, sagt Dulz. »Bei den Frauen sind es 20 Prozent.«
Im Sportraum der Klinik im Norden Hamburgs sitzen zwei Teddys auf dem
Boden, einander zugewandt. Eine 34-jährige Frau, die hier Sandra Fischer heißen
Das erkrankte Gehirn
159
soll, hat sie so dahin gesetzt. Sie selbst hockt in der Ecke des Raums, halb hinter
einer Säule. Die Aufgabe in der Körpertherapie heute: Die Patienten sollten ihr
wichtigstes Problem darstellen und sich dazu positionieren. »Meine Themen sind
Partnerschaft und Nähe«, sagt Fischer, als sie an der Reihe ist. »Und der große
Wunsch nach einer eigenen Familie.« Die Teddys stehen für Mutter und Kind.
Am Ende der Therapiestunde sollen die Patienten einen großen Schritt auf ihr
Symbol zu machen. Fischer macht aber bloß ein winziges Schrittchen. »Muss ich
wirklich?«, fragt sie.
Sandra Fischer ist zum dritten Mal auf der Borderlinestation. Vorher war sie
in vielen anderen Kliniken, bei vielen anderen Therapeuten. Einen Freund hatte
sie noch nie. Mit Mitte zwanzig hat sie angefangen, mit Fäusten und dem Kopf
gegen Wände und Glasscheiben zu schlagen, sich mit Rasierklingen zu schneiden. Selbstverletzungen sind ein typisches Zeichen für eine Borderlinestörung.
In den Patienten herrschen gleichzeitig große Leere und enorme Anspannung.
Die Autoaggressionen wirken als Ventil, durch das der Druck entweichen kann.
Vorüber­gehend. Dann baut er sich wieder auf.
Die Borderlinestörung ist eine Mischerkrankung – der Begriff entstand, weil
bei den Betroffenen sowohl neurotische Symptome wie Angst diagnostiziert werden
als auch psychotische Symptome wie Wahnvorstellungen. Sie befinden sich also im
Grenzbereich zwischen Neurose und Psychose. Viele Patienten selbst interpretieren
den Begriff anders, sehen sich als »Grenzgänger«, immer auf der Kippe.
Die Borderlinestörung ist eine Krankheit der Beziehungen. Sie wird ausgelöst durch Beziehungen – verletzende, lieblose, nicht vorhandene. Und sie zeigt
sich in Beziehungen – macht sie kompliziert oder instabil oder verhindert sie
ganz. Die Störung lässt sich aber auch durch Beziehungen wenn nicht heilen, so
doch lindern. Das ist das Konzept der Sta­tion O52A. »Man kann sich das vorstellen wie eine Waage«, sagt der Chefarzt Birger Dulz. »Bei den Patienten liegen
viele schlechte Beziehungserfahrungen in der einen Schale. Von denen können
wir sie nicht befreien. Wir versuchen aber, sie durch gute Beziehungserfahrungen
aufzuwiegen.«
Dulz sieht seine Arbeit als sportliche Herausforderung. »Wenn man nicht
bereit ist, mit den Patienten zu kämpfen und um sie zu kämpfen, ist man hier
falsch«, sagt er. Gern spielt der Chefarzt den bad cop, der die Patienten mit Unangenehmem konfrontiert, während der jeweils zuständige Therapeut sie als good
cop in Schutz nimmt. Das Rollenspiel soll die Beziehung zwischen Therapeut und
Patient stabilisieren.
Doch nicht nur auf die Beziehungen zu den Therapeuten, auch auf die zu
den anderen Patienten kommt es an. 22 Borderliner leben auf der Station, für
Wochen und Monate, sie teilen sich die Zimmer, das Bad, die Waschmaschine.
Diese Wohngemeinschaftstherapie sei das Anstrengendste an dem ganzen Aufenthalt, hat eine Patientin einmal zu Dulz gesagt. Es ist wie eine 22er-WG mit
mehr als normal nervigen Mitbewohnern.
160
Die Welt im Kopf
»Ganz am Anfang bin ich hier nur
rumgeschlichen«, erzählt Sandra Fischer.
Die Border»Da haben drei Leute auf dem Flur Karten
line-Störung ist eine
gespielt, und ich habe mich nicht mal geKrankheit der Beziehungen:
traut, hallo zu sagen.« Damit so zurückSie wird ausgelöst durch
gezogene Patienten wie sie wenigstens
Beziehungen, und sie zeigt
zum Pflegeteam Kontakt halten, müssen
sich in Beziehungen.
sie sich regelmäßig im Dienstzimmer melden. »Das war der Horror«, erinnert sich Fischer. »Ich konnte nicht mal sagen, warum es
mir scheiße ging.« Sie verließ die Klinik, kehrte
zurück: »Da konnte ich mich ein bisschen mehr
öffnen.« Jetzt, beim dritten Mal, sei sie schnell da angekommen, wo sie an sich arbeiten wolle, »bei den Themen Partnerschaft, Sexualität, Familie. Jetzt bin ich mittendrin in meinen Gefühlen.«
Ein paar Männer hat sie schon kennengelernt, im Internet, sie hat ihnen
geschrieben, aber immer wenn ein Mailkontakt sie treffen wollte, zog sie sich zurück. »Ich hab einfach nichts gespürt.« Einmal kam es doch zum Treffen, es folgten schneller Sex und wenig Gefühl. Denn so sehr sich Sandra ­Fischer auch nach
Nähe sehnt, so sehr fürchtet sie diese auch. Sex ist da leichter. Andererseits ist
Sexualität ein großes Tabu für sie. Plaudern Bekannte über erotische Vorlieben,
würde Sandra Fischer sich am liebsten unsichtbar machen. Dann aber wieder
fühlt sie sich häufig nicht wahrgenommen, nicht verstanden, nicht geschätzt.
»Frau Fischer empfindet sich wie viele Bor­der­liner vor allem als Opfer«,
sagt Cornelia Bothe, Fischers Therapeutin. »Und sie dreht die Tatsachen immer
so, dass sie auch als Opfer dasteht. Dass sie, wie alle anderen, auch mal böse sein
kann, sieht sie nicht.« Bothe versucht, ihre Patienten aus dieser Schwarz-WeißSicht auf sich und die Welt zu reißen. »Es ist für sie wichtig, zu sehen, dass sie
mitunter auch Kotzbrocken sind und selbst Anteil daran haben, wenn andere
von ihnen genervt sind.« Das zeigt Bothe den Kranken auch: dass sie manchmal
wirklich sauer ist – aber trotzdem die Beziehung zu ihnen nicht abbricht. Sie und
ihre Kollegen bieten sich den Patienten als Spiegel an und als Sparringspartner.
Der Schwarz-Weiß-Blick auf die Welt ist ein Relikt aus einer Zeit, als die
meisten Borderline­patienten tatsächlich Opfer waren – ihrer Kindheit und Jugend.
80 Prozent von ihnen haben das erlebt, was Psychologen Realtrauma nennen: Missbrauch, Aggression, Misshandlung. Noch schlimmere Spuren als körperliche Angriffe hinterlassen aber emotionale Vernachlässigung und Missachtung. Deren Folgen zu
behandeln sei weit komplizierter, sagt Dulz: »Wenn etwas vorgefallen ist, kann man
daran arbeiten. Wenn etwas gefehlt hat, ist das deutlich schwieriger zu therapieren.«
Missachtung und Vernachlässigung – das haben alle Patienten erlebt, auch
Sandra Fischer. Als sie zur Welt kam, litt ihre Mutter an Ängsten und Panik­
attacken, für ihr Kind war sie nicht da. Der Vater, ein Lehrer, war streng und
Das erkrankte Gehirn
161
forderte Leistung. Sex war das große Tabu. Wenn Fischer sich als Jugendliche
schick anzog, warf ihr der Vater vor, sie sei »aufreizend«, die Männer würden ihr
»hinterhergeifern«. Außerdem »sexualisiere« sie ihre Geschwister. Selbst die Zahl
Sechs durfte im Haushalt Fischer nicht ausgesprochen werden. Und immer wieder flog ein Hausschuh, gab es Fußtritte. Die Mutter sei ein »stilles Mäuschen«
gewesen, erinnert sich Fischer, sie habe vor allem nicht auffallen wollen. Wenn
die junge Frau auf einem Fest laut lachte, herrschte die Mutter sie an, sie solle sich
nicht so auff ühren.
Als Reaktion auf die beklemmenden Umstände ihrer Kindheit wurden
die meisten Borderlinepatienten zu Überlebenskünstlern. Sie sind Meister der
Anpassung, sie haben gelernt, sich unsichtbar zu machen. »Keine Schwäche zu
zeigen hat es ihnen ermöglicht, die Situation in ihren Familien durchzustehen«,
sagt Birger Dulz. Bei vielen ist diese Stillhaltetechnik so ausgeprägt, dass sie ihre
Probleme selbst nicht mehr erkennen können. »Eigentlich hab ich ja gar nichts«,
sagen sie im Gespräch mit den Therapeuten und untereinander. Die anderen
Patienten werden dann unwillig. »Klar, du machst hier ja nur Urlaub«, geben
sie zurück, oder: »Sicher, und nächste Woche bringst du dich dann wieder um.«
Das Verhalten vieler Borderliner mag gleichgültig erscheinen, in ihren Köpfen aber herrscht Aufruhr. Zwischen den anderen im Aufenthaltsraum sitzt ein
großer, breitschultriger Mann im Fußballtrikot. Erst vor ein paar Tagen ist er
auf die Station O52A gekommen. Er hört zu, ab und zu sagt er etwas, leise und
ein bisschen schüchtern – ganz gewöhnlich eigentlich. Wie wenig normal diese
Normalität ist, versteht nur, wer weiß, was der Mann im Trikot kurz zuvor in der
Männertherapiegruppe erzählt hat. Als er vier, fünf Jahre alt war, hatte der neue
Freund seiner Mutter immer wieder zur Waffe gegriffen und auf ihn geschossen.
Nicht um ihn zu töten – sondern damit er in Todesangst »tanzte«. Die Mutter
war dabei und hatte gelacht.
Die anderen Patienten waren geschockt. Nicht nur von der Geschichte,
sondern auch davon, dass der Mann sie gleich in der ersten Stunde erzählte.
Dr. Birger Dulz
Birger Dulz ist Gründer des Hamburger
Netzwerkes Borderline. Für ihn ist Angst
und nicht Wut der zentrale Affekt der
Borderline-Erkrankung. Seit 2006 ist Dulz
Chefarzt der Klinik für Persönlichkeits- und
Traumafolgestörungen in der Hamburger
Asklepios Klinik Nord.
162
Die Welt im Kopf
»Wenn du so früh die Schotten aufmachst, landest du ganz schnell auf der Geschlossenen«, warnten die Männer ihn. Der Neuankömmling hatte in früheren
Therapien zu hören bekommen, er öffne sich nicht genug. Auf den Platz in der
Asklepios Klinik hat er vier Monate lang warten müssen. Jetzt will er alles richtig
machen.
Bis die Patienten ihre Probleme nicht nur sehen, sondern auch bewältigen
können, braucht es viel Zeit. Sandra Fischer ist keine Ausnahme, viele Patienten
kommen zwei, drei Mal auf die Station, für mehrere Monate. »Ambulant ist eine
derart intensive beziehungszentrierte Therapie gar nicht zu leisten«, sagt Dulz.
»Außerdem tauchen Borderliner immer gerade dann ab, wenn es ihnen schlecht
geht.« Der Aufwand an Zeit, Geld und Nerven lohne sich aber, nicht nur für die
Betroffenen selbst: »Was wir hier machen, ist eigentlich Prävention. Damit die
Kinder der Patienten nicht auch noch dran glauben müssen.« Etwa 70 Prozent
der Patienten verließen die Station »fast wiederhergestellt«, sagt der Psychiater.
Doch das Phänomen Borderline greift weiter um sich. Dulz hat den Eindruck,
dass die Störung zunimmt, auch wenn das schwer zu bemessen sei, weil Borderliner
früher oft eine andere Diagnose bekommen hätten oder gar keine. »Entscheidend
ist die Atmosphäre in den Familien«, sagt der Psychiater. Und die sei heute häufiger
angespannt. Die Familienstrukturen verändern sich, Paare trennen sich, die Zahl
der Alleinerziehenden wächst. »So trifft die Kinder schneller der Frust der Erwachsenen«, sagt Dulz. »Früher sind sie vielleicht zum Spielen zur Oma gegangen, wenn
Vater oder Mutter gestresst von der Arbeit kamen.« Das Risiko für Kinder, in verletzenden oder lieblosen Beziehungen aufzuwachsen, hängt auch davon ab, wie viel
Druck und Frust in einer Gesellschaft entstehen und wie sie sich verteilen.
Sandra Fischer, die früher von Klinik zu Klinik irrte, sagt, sie habe auf
Station O52A endlich das Gefühl, die Therapeuten wüssten, wie es in ihr aussehe.
»Faszinierend«, sagt sie, und in ihrer Stimme schwingt Ungläubigkeit mit. »Hier
geht mein Gegenüber trotz allem nicht weg.« Hier wird sie gesehen, das ist ihr
wichtig. Aber hier hält man ihr auch den Spiegel vor.
von Stefanie Schramm aus der ZEIT Nr. 47/2013
Das erkrankte Gehirn
163
Stichwort
Illusion und
Realität: Wahn
»Dieser Kandidat in der Castingshow glaubt, er könne
singen – ­anscheinend hat er
Wahnvorstellungen.«
»Dieser Politiker scheint
größenwahnsinnig zu sein.«
»Was ihre Hoffnungen auf
eine Beförderung angeht
– ich fürchte, das ist e
­ ine
Wahnvorstellung.«
Was sind Wahnvorstellungen? Eine
Wahnvorstellung ist eine fixe, unveränderliche, fortdauernde, falsche Überzeugung ohne reale
Grundlage, die Überzeugung
einer Person oder einer Gruppe, die nachweislich falsch,
völlig abstrus oder schlicht und
einfach eine Selbsttäuschung ist. Ein
Betroffener ist sich häufig seiner Wahnvorstellungen vollkommen sicher und absolut davon überzeugt. Er ist weitgehend
uneinsichtig und lehnt unwiderlegbare
Argumente und Beweise über die eklatante Unrichtigkeit seiner Vorstellungen
rundweg ab.
Gewisse religiöse Wahnvorstellungen
können unmöglich verifiziert und daher
auch nicht widerlegt werden. Auch haben
manche Wahnvorstellungen eine selbst
erfüllende Qualität; so könnte zum Beispiel ein wahnhaft eifersüchtiger Mensch
seinem unschuldigen Partner Untreue
vorwerfen, ihn dadurch in die Arme eines
anderen treiben und so erst das Eintreten
seiner Wahnvorstellungen herbeiführen.
Diverse Varianten Ein Mensch kann
Wahnvorstellungen über Geruch (olfaktorisch), Geschmack (gustatorisch), Temperatur (thermozeptiv) und Berührung
(taktil) haben. Er kann sehr abstoßende,
164
Die Welt im Kopf
angenehme oder ungewöhnliche Gerüche wahrnehmen, wenn er einer
bestimmten Person begegnet. Gewöhnliche Nahrungsmittel (Orangen,
Schokolade, Milch) können für ihn einen ganz anderen Geschmack haben
als das, was er und andere Menschen gewöhnlich schmecken. Er kann
einen kühlen Gegenstand als brennend heiß empfinden oder einen warmen Gegenstand als eiskalt. Er kann ein normalerweise glattes Material
(etwa einen Ballon oder das Fell einer Katze) plötzlich sehr rau oder uneben finden.
Es ist gezeigt worden, dass die in der Literatur am häufigsten behandelte Wahnvorstellung, nämlich der Verfolgungswahn (oder die Paranoia), in verschiedenen Phasen verläuft: generelles Misstrauen, selektive Wahrnehmung anderer, Feindseligkeit, p
­ aranoide »Erleuchtung« (alle
Puzzlestücke fallen plötzlich an ihren Platz) und schließlich paradoxe
Wahnideen von Einfluss und Verfolgung.
Wahnvorstellungen nehmen einen Menschen oft völlig gefangen und
verursachen ihm erhebliches Leiden. Es sollte festgehalten werden, dass
Wahnvorstellungen etwas anderes sind als Illusionen. So können wir zum
Beispiel visuelle und akustische Illusionen haben, dass die Sonne sich um
die Erde dreht oder dass die Puppe eines Bauchredners tatsächlich spricht.
Dissimulation und Wahnvorstellungen
Vielfach wird – durchaus zu Recht –
behauptet, dass viele Menschen in
Gesprächen und Fragebögen lügen
oder Tatsachen verfälschen oder
verschweigen würden. Psychologen
nennen dieses Verhalten »Dissimulation« (bewusstes Verheimlichen von
Krankheiten), wobei sie neuerdings
zwei sehr unterschiedliche Arten dieses
Phänomens voneinander abgrenzen. Die
erste wird Impression Management genannt; dabei geht es darum, sich selbst
möglichst positiv darzustellen, unter
Umständen gewisse Details unter den
Tisch fallen zu lassen und kleine, harmlose »Schwindeleien« über andere zu verbreiten. Die andere ist Selbsttäuschung;
dabei handelt es sich, genau genom-
men, nicht um Lügen, sondern eher um
Wahnvorstellungen. Wenn zum Beispiel
ein Mensch behauptet, er habe Humor,
alle seine Freunde und Bekannten das
jedoch bestreiten, dann täuscht er sich
selbst. Oder wenn ein Mensch sich für
hässlich oder unattraktiv hält, sein Umfeld jedoch gegenteiliger Meinung ist,
unterliegt er einer negativen Selbsttäuschung. In Gesprächen können manche
Formen der Selbsttäuschung fast zu
Wahnvorstellungen werden, doch sind
Wahnvorstellungen schwieriger zu
ändern. Sicherlich ist es jedoch bei beständigem Feedback wahrscheinlicher,
dass eventuelle Selbsttäuschungstendenzen einer Person »geheilt« oder
zumindest reduziert werden.
Stichwort
165
Arten des Wahns
In der Psychiatrie werden fünf Arten von
Wahnvorstellungen unterschieden.
Liebeswahn oder Erotomanie – Die
betroffene Person glaubt, ein anderer
Mensch würde sie leidenschaftlich lieben
– und zwar eher auf eine romantische,
aus Hollywoodfilmen bekannte oder gar
spirituelle Art als im sexuellen Sinne.
Häufig ist der andere Mensch eine
Berühmtheit (etwa ein Filmstar oder
bekannter Sportler) oder auch ein
wichtiger Vorgesetzter am Arbeitsplatz.
Oftmals wird ein solcher Liebeswahn
geheim gehalten, doch in anderen Fällen
wenden die Betroffenen viel Energie auf,
um mit dem wahnhaft geliebten Menschen
durch E-Mails, Besuche oder gar Stalking in
Kontakt zu treten. Die meisten Betroffenen
sind Frauen, doch Männer im Liebeswahn
neigen dazu, energischer zu handeln und
mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, besonders wenn sie glauben, die »Geliebte«
sei in Schwierigkeiten oder unmittelbarer
Gefahr.
Größenwahn – Diese Wahnvorstellungen
manifestieren sich, wenn ein Mensch –
ohne reale Gründe – glaubt, er sei etwas
Besonderes, habe erstaunliche Fähigkeiten,
überragenden Scharfsinn oder eine weltbewegende Entdeckung gemacht. Häufig
sind solche Wahnvorstellungen religiöser
Art, und die Betroffenen glauben, sie hätten
eine einzigartige und privilegierte Beziehung zu »dem Allmächtigen«. In anderen
Fällen meinen sie, prominent zu sein und
besondere Beziehungen zu anderen Prominenten zu haben.
166
Die Welt im Kopf
Eifersuchtswahn – Dieser Wahn manifestiert sich in dem starken, aber unbegründeten Glauben, der Partner sei nicht treu
und würde fremdgehen. Es werden skurrile
»Beweise« für solche Behauptungen erbracht, ein Privatdetektiv engagiert oder
versucht, den Partner einzusperren oder
ihn verbal und körperlich zu attackieren.
Verfolgungswahn – Hierbei handelt es
sich um den Glauben, eine Person oder
Gruppe würde sich gegen den betroffenen
Menschen verschwören. Er glaubt, er
werde betrogen, ausspioniert, belästigt,
verleumdet, vergiftet oder unter Drogen
gesetzt. Häufig ist er zornig und überempfindlich und fühlt sich zutiefst ungerecht
behandelt. In vielen Fällen versucht er, die
Verfolgung durch juristische Mittel oder
mithilfe staatlicher Autoritäten zu unterbinden. Verfolgungswahn ist die häufigste
aller wahnhaften Störungen. Manche
Betroffene werden sogar aggressiv und
gewalttätig gegen ihre vermeintlichen
Verfolger.
Hypochondrischer oder somatischer
Wahn – Die Wahnvorstellung, der eigene
Körper sei irgendwie fremd oder würde
nicht richtig funktionieren. Das kann zum
Beispiel der Glaube sein, man würde
seltsam riechen oder bestimmte Körperteile (Nase, Brüste, Füße) seien besonders
merkwürdig, missgestaltet oder hässlich.
Häufig glauben Menschen mit solchen
Wahnvorstellungen, in ihrem Körper
existiere ein Insekt oder Parasit, und dieses
Wesen würde versuchen, einen bestimmten Körperteil zu zerstören.
Die Psychiatrie und wahnhafte Störungen Unter bestimmten Umständen kann ein Psychiater bei einem Patienten eine wahnhafte Störung diagnostizieren. Erstens müssen sich bei der betroffenen Person im Laufe
eines Monats oder länger eine oder mehrere nicht bizarre Wahnvorstellungen manifestieren. Zweitens treffen für die Person keine anderen Verhaltenskriterien zu, die auf Schizophrenie hindeuten würden. Drittens
sind akustische und visuelle Halluzinationen nicht ausgeprägt, während
erhebliche taktile und olfaktorische Halluzinationen durchaus auftreten
können. Viertens ist das psychosoziale Funktionieren der Person trotz
ihrer Wahnvorstellungen oder dem damit einhergehenden Verhalten
nicht gravierend eingeschränkt, sie wird also nicht für besonders seltsam
oder exzentrisch gehalten. Wenn fünftens die spezifischen Wahnvorstellungen Auswirkungen auf die Stimmung der Person haben, halten diese
Stimmungsschwankungen nicht sehr lange an. Sechstens ist die Störung
nicht die Folge physiologischer oder medizinischer Ursachen (etwa der
Medikamente, die eine Person einnimmt).
Mitunter sagen Psychiater, eine wahnhafte Störung sei schwierig zu unterscheiden von anderen Störungen wie zum Beispiel Hypochondrie oder Krankheitswahn (zumal bei Patienten mit mangelnder
Selbsterkenntnis), Körperbildstörung (oder körperdysmorphe Störung,
zwanghafte Beschäftigung mit eingebildeten körperlichen Defekten),
Zwangsstörungen oder einer paranoiden Persönlichkeitsstörung.
Die Wahnvorstellungen schizophrener Menschen sind oft ausgesprochen bizarr. So könnte ein Betroffener zum Beispiel glauben, sein
Gehirn sei durch dasjenige eines anderen Menschen ersetzt worden oder
er sei auf einen Meter Körpergröße geschrumpft. Andererseits können
auch nicht bizarre Wahnvorstellungen auftreten; so kann zum Beispiel
der Patient davon überzeugt sein, dass er verfolgt, fotografiert oder gefilmt wird, von jemandem allmählich vergiftet wird, sein Partner ständig
fremdgeht oder seine Chefin oder eine Nachbarin in ihn verliebt sei.
Ursachen Im Wesentlichen sind die Ursachen von Wahnvorstellungen
nicht bekannt. Das heutige Interesse an Neuropsychologie hat zu Spekulationen geführt, es gebe biologische Funktionen, die im Falle einer
Störung das Problem verursachen oder verschlimmern können. Manche
Wissenschaftler haben Gehirnstrukturen im Verdacht, etwa die Basalganglien, andere das limbische System und wieder andere den Neokortex. Bisweilen werden auch genetische Faktoren für die beste Erklärung
gehalten, da viele Patienten mit wahnhaften Störungen Verwandte
ersten Grades haben, die ebenfalls unter solchen oder vergleichbaren
Störungen leiden.
Stichwort
167
Andere Forscher verweisen darauf, dass viele Menschen mit Wahnvorstellungen eine »schwierige«, von Instabilität und Turbulenzen, Desinteresse und Gefühlskälte geprägte Kindheit hatten. So sehen manche
psychoanalytisch disponierte Psychologen Wahnvorstellungen als eine
Beeinträchtigung der Ich-Abwehr, die dazu dient, das Selbst zu schützen
und zu stärken. Demnach wird Verfolgungswahn als der Versuch angesehen, das auf andere zu projizieren, was der Betroffene sich selbst nicht
eingestehen will. Die Behandlung besteht in Beratung und Psychotherapie, aber auch der Verschreibung von Neuroleptika.
Ohnmächtig im Strudel
negativer Gedanken
Keine psychische Erkrankung ist so häufig wie die Depression. Innere Leere,
Antriebslosigkeit, Schlafstörungen: Wer Anzeichen früh erkennt, kann das
Leiden beherrschen Adrian Furnham
»Inzwischen gehe ich so offen mit meiner Depression um, dass ich darüber reden
kann«, sagt Louisa Kaiser*. »Meine Umwelt aber verkraftet es häufig nicht, dass
ich psychisch krank bin. ›Aber du bist doch total normal?‹, heißt es dann. Sie
schauen mich mit großen Augen an, wenn ich von meiner Krankheit erzähle.«
Louisa Kaiser ist 27 Jahre alt, die Depression zieht sich seit mehr als zehn
Jahren durch ihr Leben. Viele psychische Krankheiten sind stetige Begleiter. »Irgendwann ist es schwer, sich an den Alltag davor zu erinnern«, sagt Kaiser. Aber
mithilfe von Psychotherapie oder Medikamenten ist es möglich, die Erkrankung
schließlich als solche anzuerkennen und nicht sein gesamtes Leben durch sie bestimmen zu lassen. »Heute kann ich auch wieder lachen, ohne affektiert zu wirken. Die Depression ist ein Teil von mir, den ich akzeptieren muss.«
Depressionen können jeden treffen, sie zählen zu den häufigsten psychischen
Krankheiten in Deutschland. Eine von acht Frauen leidet im Lauf ihres Lebens
daran, aber nur etwa einer unter 20 Männern. Typisch ist das episodenhafte Auftreten der Symptome – sie können für Wochen und Monate verschwinden und
dann plötzlich wieder in voller Intensität da sein. Die Ursache dafür ist vermutlich
ein Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn: Ein Mangel an Noradrenalin
und Serotonin wird für die Symptome der Erkrankung verantwortlich gemacht.
Zudem treten Depressionen oft in Verbindung mit anderen Krankheiten auf.
Ist ein Mensch auffallend oft traurig und unzufrieden, kaum zu motivieren und
desinteressiert, können das erste Anzeichen sein. In diesen Phasen lassen sich Betroffene kaum aufmuntern, die negative Grundstimmung hält, unabhängig von äußeren
Ereignissen, an. Depressive Menschen sind wie gelähmt. Sie fühlen sich innerlich
leer, verbunden mit einer tiefen Hoffnungslosigkeit. Die schlechte Stimmung schlägt
auch auf den Körper: Betroffene schlafen oft schlecht und haben kaum Appetit.
Häufige Erkältung, Magenprobleme und Kopfschmerzen sind körperliche Leiden,
die oft mit einer Depression einhergehen – sind dann also psychosomatisch bedingt.
*Name von der Redaktion geändert
168
Die Welt im Kopf
Das erkrankte Gehirn
169
Manche greifen auch zu mehr Alkohol oder zu Medikamenten. Dies ist
Teil der als ausweglos empfundenen Situation. »Ein Schub kündigt sich meist dadurch an, dass ich mich zurückziehe, mich immer öfter dabei ertappe, die Wand
anzustarren, ja geradezu selbst zu erstarren«, sagt Louisa Kaiser über ihre eigenen
Gefühle.
Ständig niedergeschlagen, selbst ohne erkennbaren Grund
Bei ihr begann es mit 16 Jahren. Auslöser waren Probleme in der Familie oder
durch die Pubertät, dachte sie zuerst. Vermutlich hatte beides Anteil, sagt sie
heute. Bis dahin war sie eine Musterschülerin, brachte nur gute Noten nach Hause, sei »ehrgeizig, aber normal« gewesen. Sie war nie eine Außenseiterin, hatte
Freunde, war Teil der Klassengemeinschaft. Aber als sie dann doch aus der Reihe fiel, bröckelte diese Gemeinschaft. Von den Lehrern kam auch keine Hilfe.
»Sie ignorierten mein Weinen, machten mich sogar noch weiter fertig«, erzählt
Kaiser. Der Vertrauenslehrer habe sich über ihren Plan, die Schule zu wechseln,
nur lustig gemacht: »Wir haben schon Wetten abgeschlossen, wann du wieder
zurückkommst.«
Wenn sich die Stimmung immer weiter verschlechtert und die Gedanken immer wieder um dieselben Dinge kreisen, droht in schweren Phasen der
Selbstmord. Jeder zweite Depressive hat irgendwann Suizidgedanken. 15 von
100 Personen mit einer schweren Depression versuchen dann tatsächlich, sich
umzubringen. Kaiser würde diesen Schritt nicht wagen, »dafür ist mein Verantwortungsgefühl gegenüber Familie und Freunden zu groß«, sagt sie. Aber theoretisch durchgespielt hat sie diesen Gedanken schon: »Natürlich habe ich mir
überlegt: ›Wie würde ich es machen?‹ Foren im Internet bringen die Betroffenen
auch immer wieder auf solche Ideen. Deswegen halte ich mich bewusst davon
fern. Natürlich wäre es einfacher, wenn ich nicht mehr da wäre, diese Krankheit
nicht ertragen müsste.«
Dennoch ist Kaiser froh, dass sie durchgehalten hat, auch dann, als ihr
Leben aus den Fugen geriet. »Und jedes Mal aufs Neue muss ich lernen, den
nächsten Schub zu akzeptieren, mich für das Leben motivieren, mir erklären,
dass ich kein Freak bin, dass es einen Sinn hat, auf dieser Welt zu sein, einfach
krank zu sein«, sagt sie. »Alleine hätte ich das wahrscheinlich nicht geschafft,
auch nicht mit Ehrgeiz. Die Depression ist zu stark, sie hält einen gefangen.«
Der Schritt, sich Hilfe zu suchen, fällt schwer. »Es dauert lange, bis man
endlich so weit ist, den eigenen Stolz und die Lähmung durch die Depression
zu überwinden.« Doch dann kommt die nächste Hürde, mit der man in diesem
Moment nicht rechnet: Vier Monate Wartezeit bei den meisten Therapeuten –
das kostet Energie, oft die letzten Reserven. Ein Teufelskreis.
Trotzdem nicht aufzugeben kann schwerfallen. »Ich habe mir oft Hilfe gewünscht in der Zeit zwischen dem Hilferuf und dem Beginn der Therapie«, sagt
170
Die Welt im Kopf
Louisa Kaiser. Unterstützen können dabei vor allem Angehörige und Freunde,
psychologische Notfallambulanzen oder auch der Hausarzt. Vielen können auch
Medikamente helfen, das Chaos der Botenstoffe im Gehirn wieder zu ordnen.
Bei der Wahl des richtigen Psychotherapeuten ist die Beziehung zueinander
sehr wichtig. »Besonders schwer fällt es, offen gegenüber dem fremden Menschen
zu sein, der da vor einem sitzt und nun der Ratgeber fürs eigene Leben sein soll«,
sagt Kaiser. »Am Anfang war ich nicht zu hundert Prozent ehrlich, so etwas baut
sich erst mit der Zeit auf.« Deshalb sollte man versuchen, bei einem Therapeuten
zu bleiben. Wenn es zwischenmenschlich nicht passt, kann aber auch ein Wechsel
sinnvoll sein.
Louisa Kaiser hatte Glück mit ihrer ersten Psychotherapeutin. Die unterstützte ihren Ehrgeiz, trotz der schlechten Noten und der Konzentrationsprobleme das Abi zu schaffen. Es folgten ein Schulwechsel und ein Intelligenztest mit
dem Ergebnis »Hochbegabung«. »Sie gab meiner ›Störung‹ auch einen Namen.
Irgendwann habe ich mal im Bericht das Wort Depression gelesen. Von da an
wusste ich, dass ich etwas habe, das andere auch haben. Das war eine Erleichterung, kein Schock.«
Seitdem hat sie die Depression akzeptiert. Mittlerweile hat sie mit Erfolg
ihr Masterstudium abgeschlossen – auch wenn sie sich immer wieder Auszeiten
für die Krankheit nehmen musste. »Ich habe eingesehen: Es ist erlaubt, krank zu
sein! Außerdem ist es mir wichtig, dass ich vor meinen Freunden so sein darf, wie
ich will, und mich nicht zusammenreißen muss«, sagt Kaiser. »Dieses Verständnis
hilft, die eigene Krankheit als Teil des Selbst anzunehmen. Kommt dann wieder
eine Episode, sieht zwar alles schrecklich aus, aber irgendwo weiß ich doch, dass
ich wieder ›gesund‹ werde – zumindest so weit das möglich ist.«
von Julia Völker, ZEIT Online, 22. August 2013
Das erkrankte Gehirn
171
Mitten ins Leben
Psychisch kranke Menschen haben es schwer, Arbeit zu finden.
Dabei wäre das oft die beste Therapie
Seit ihrem 20. Lebensjahr arbeitet Anna Vogel*. Als Erzieherin, als Tischlerin,
dann wieder als Erzieherin. Seit ihrem 20. Lebensjahr kämpft Anna Vogel auch
immer wieder mit den Stimmen. Sie geben ihr zu verstehen, dass sie auf dieser
Welt nichts zu suchen hat. Vogel ist an einer schizophrenen Psychose erkrankt.
Sie hat mehrmals versucht, sich umzubringen. Aber Anna Vogel ist noch da.
Heute ist sie 56 Jahre alt. »Zu arbeiten und damit Sinn über mich selbst hinaus zu
stiften, das war meine Rettung«, sagt sie.
»Es ist unstrittig, dass Arbeit günstige Auswirkungen auf die psychische
Gesundheit schwer psychisch Erkrankter hat.« So steht es in der neuen Leitlinie
für psychosoziale Therapien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde.
Ein Prozent der Menschen in Deutschland ist wie Anna Vogel an einer Psychose erkrankt, fast drei Prozent leiden an einer chronischen Depression und fünf
Prozent an einer schweren Angststörung – das sind insgesamt fast 6,5 Millionen
Menschen. Viele der Betroffenen wollen arbeiten. Doch nur knapp sechs Prozent
der Menschen mit einer psychischen Erkrankung haben eine Vollzeitstelle.
Dabei ist die Inklusion, die Integration Behinderter im Alltag wie im Arbeitsleben, von den Vereinten Nationen zum Menschenrecht erklärt worden: Für
Rollstuhlfahrer werden Rampen und Fahrstühle gebaut, Schulen müssen bald
behinderten Kindern genauso offenstehen wie nicht behinderten.
Das Recht auf Inklusion gilt auch für psychisch Kranke. Aber mit der Umsetzung hapert es. Zwar wurde die Psychiatrie Anfang der achtziger Jahre geöffnet, die Patienten sollten in Tageskliniken und Wohngruppen behandelt und
in das Alltagsleben integriert werden. Der erste Schritt gelang – der zweite nicht.
Es entstanden Arbeitseinrichtungen für psychisch Kranke, Wohneinrichtungen
für psychisch Kranke, Freizeiteinrichtungen für psychisch Kranke. »Aus der
Gemeindepsychiatrie ist eine Psychiatriegemeinde geworden«, sagt der Medi­zin­
sozio­lo­ge Dirk Richter.
Das allgemeine Misstrauen gegenüber psychisch kranken Menschen ist der
Grund dafür, dass diese Parallelwelt sich so hartnäckig hält. Hinter dem Misstrauen
verbirgt sich eine ganz grundsätzliche Frage: Was ist normal, was verrückt? Innerhalb
*Name von der Redaktion geändert
172
Die Welt im Kopf
der Psychiatrie wird das gerade heftig diskutiert, Anlass ist die fünfte Auflage
des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM-V. Darin versuchen amerikanische Psychotherapeuten, die Grenze zwischen normalem menschlichem Verhalten und behandlungsbedürftiger Krankheit zu definieren. Doch viele
Psychologen und Psychiater gewinnen mehr und mehr die Einsicht, dass es keine
klare Grenze gibt – sondern ein breites Spektrum zwischen krank und gesund,
verrückt und normal. Im Alltag kommt diese Erkenntnis jedoch nur langsam an.
Wie also könnte eine Rampe für psychisch Kranke aussehen, wie ein Lift
für Menschen mit Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen?
Die Krankheit
Als Anna Vogel zum ersten Mal in die Psychiatrie kam, war sie 13 Jahre alt.
Sie hatte mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Psychiater diagnostizierten eine Psychose, gaben ihr starke Medikamente und sagten, sie werde ihr Leben lang
krank bleiben. »Da ist in mir das Gefühl entstanden, ich würde nie dazugehören.«
Eine schizophrene Psychose ist eine der gravierendsten psychischen Krankheiten; sie macht es den Betroffenen besonders schwer, am Leben teilzuhaben.
Doch Psychosen sind vielgestaltig – wie die meisten psychischen Erkrankungen.
Manche Erkrankte sind zwischen den Schüben nahezu beschwerdefrei, und viele
haben Techniken entwickelt, um mit ihrer Krankheit zu leben.
Die amerikanische Juristin und Psychologin Elyn Saks hat untersucht, warum
es einige Menschen mit Psychosen schaffen, selbstbestimmt zu leben. Dazu hat sie Betroffene befragt: Studenten, Manager, Techniker, Ärzte, Rechtsanwälte, Psychologen.
Einige hinterfragen ihre Wahnvorstellungen systematisch, viele kontrollieren die Sinneseindrücke, die auf sie einstürzen (etwa durch den Blick auf kahle Wände oder das
Hören leiser Musik), die meisten haben herausgefunden, was ihre Symptome hervorruft, und versuchen, diese Auslöser zu vermeiden, zum Beispiel Stress durch Reisen.
»Aber die Technik, die die allermeisten nannten, war Arbeit«, sagt Saks. Sie lenke von
den Symptomen ab und gebe Selbstbewusstsein. Die Professorin kann das gut beurteilen: Sie leidet selbst an einer Psychose, seit mehr als 30 Jahren. »Meine wissenschaftliche Arbeit hat mich gerettet«, sagt sie. »Sie hält das verrückte Zeug an der Peripherie.«
Der Mangel an Zutrauen
Hätte Elyn Saks vor 30 Jahren auf den Rat ihrer Ärzte gehört, säße sie heute
an einer Kasse im Supermarkt. Stattdessen sitzt sie auf einem Lehrstuhl an der
Gould School of Law der University of Southern California. Sie war die Beste ihres Jahrgangs in Oxford und Yale. Und sie hat ein eigenes Institut gegründet, das
Saks Institute for Mental Health Law, Policy, and Ethics. »Die Ärzte sagten mir
damals, ich solle meine Erwartungen herunterschrauben. Das war ein schlechter
Rat. Große Ziele zu haben, das hat mir geholfen.«
Das erkrankte Gehirn
173
Immer noch trauen Ärzte, Arbeitgeber, auch Angehörige psychisch Kranken wenig zu. »Menschen mit Psychosen sind wesentlich rehabilitationsfähiger,
als wir lange gedacht haben«, sagt Peter Falkai, Direktor der Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychologie in München. Mehr Zutrauen, auch von Arbeitgebern,
könnte den Betroffenen nicht nur zu einem selbstbestimmten Leben verhelfen,
sondern auch Selbstvertrauen geben. »Viele glauben nicht mehr daran, dass sie es
schaffen können«, sagt Falkai. »Das ist wie bei einem Arbeiterkind, das immer
nur hört, es sei höchstens für eine Bäckerlehre geeignet.«
Anna Vogel hat früh erkannt, dass Arbeit hilft. »Verantwortung zu übernehmen und ein Teil der Gesellschaft zu sein hat mein Selbstbewusstsein gestärkt«, sagt sie. »Auch in meinen kritischsten Phasen habe ich so lange wie möglich gearbeitet.« Sie hatte Glück: Gerade in einer besonders schwierigen Zeit fand
sie Therapeuten, die sie unterstützten. Vier Jahre lang war sie am Uni-Klinikum
Hamburg-Eppendorf (UKE) in ambulanter Behandlung. »Die Psychologen dort
haben mich sehr gut beraten, ob ich in meinem jeweiligen Zustand noch arbeiten
kann«, erzählt Vogel. »Das war für mich eine ganz wichtige Kontrolle. Ich wollte
ja die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, nicht in Gefahr bringen.«
Das Stigma
Wenn Anna Vogel von ihren Jahrzehnten mit der Psychose erzählt, wirkt sie klar
in der Beurteilung ihrer selbst und nachsichtig mit anderen, immer um Ausgewogenheit bemüht. Dann wird sie plötzlich laut: »Man kann nicht sagen, dass man
eine Psychose hat, nicht im Beruf. Über eine Depression kann man sprechen,
über eine Psychose nicht.«
Das ist auch das Ergebnis der Forschung von Georg Schomerus von der
Uni-Klinik Greifswald. Zwei Dinge schrecken viele Menschen: dass psychisch
Kranke gefährlich sein könnten und dass sie unberechenbar oder schlicht anders
seien. Die erste Sorge kann Schomerus entkräften: »Studien zeigen, dass die tatsächliche Gefährdung viel geringer ist, als die Bevölkerung annimmt. Im Einzelfall besteht die größte Gefahr für die Betroffenen selbst und für ihr unmittelbares
Umfeld, von einer allgemeinen Gefahr kann aber wirklich keine Rede sein.«
Das Unbehagen gegenüber dem Andersartigen ist dagegen viel schwieriger
zu vertreiben. Aufklärung hilft nicht immer: Seit psychische Krankheiten vermehrt biologisch erklärt werden können, hat sich die Stigmatisierung von Menschen mit Psychosen sogar verschlimmert, hat Schomerus herausgefunden. Offenbar verstärke sich der Eindruck, dass es unabänderliche Unterschiede zwischen
»Verrückten« und »Normalen« gebe. »Stigma ist keine Kopfsache; was hilft, ist
nicht Wissen, sondern sind Erfahrung und Begegnung.«
Das zeigt auch eine Befragung der Psychologin Sofie Stadler: Menschen, die
alltägliche Kontakte zu psychisch Kranken hatten, waren ihnen gegenüber deutlich positiver eingestellt. Doch solche Kontakte sind selten, wenn die Betroffenen
174
Die Welt im Kopf
entweder in der Parallelwelt der Psychiatriegemeinde verschwinden oder sich aus
Angst vor Stigmatisierung zurückziehen.
Die Macht des Stigmas ist auch davon abhängig, was wir für gesund halten
und was für krank – und wie wichtig wir diese Unterscheidung finden. »Früher
habe ich gedacht, man ist gesund, wenn man so ist wie die anderen«, sagt Anna
Vogel. »Inzwischen bin ich sehr einverstanden mit meinem Leben, es ist meine Antwort auf meine Möglichkeiten.« Sie benutze die Begriffe »gesund« und
»krank« nicht mehr. Niemand sei »nur gesund oder nur krank«.
Die Psychiaterin Sandra Dehning, die an der Münchner Uni-Klinik eine
Tagesklinik leitet, sieht das ähnlich: »Wenn sich mehr Menschen klarmachen
würden, dass es keine deutliche Trennung zwischen gesund und krank gibt, sondern ein ganzes Spektrum, dann würden psychisch Kranke vielleicht weniger
stigmatisiert«, sagt sie. »Tatsächlich kennt jeder das eine oder andere Symptom
einer Psychose.«
Dass viele Menschen in Denkfallen tappen, aus denen im Extremfall psychotische Symptome, zum Beispiel Wahnideen, entstehen können, nutzt Steffen
Moritz vom UKE für die Therapie. Im sogenannten metakognitiven Training,
das er für Psychosepatienten entwickelt hat, erklärt der Psychologe zunächst, wie
Denkverzerrungen funktionieren. Zum Beispiel an verbreiteten »Mini-Wahnideen«: Die Mondlandung sei bloß vorgetäuscht gewesen, Paul McCartney sei
nach einem Unfall durch einen Doppelgänger ersetzt worden. Erst dann geht
Moritz die krankhaften Ausprägungen an. »Diese Normalisierung entspannt die
Kranken.« Womöglich funktioniert das auch andersherum: Die Hinweise auf
die Normalität des Wahns könnten auch die Gesunden entspannen. Das könnte
dann der Anfang für ein verständnisvolleres Miteinander sein: Toleranz.
Das Reha-System
Sie habe großes Glück gehabt, sagt Anna Vogel. Vor allem hatte sie oft ein gutes
Gespür dafür, welche Beschäftigung ihr guttun würde. Als ihr die Arbeit mit
Jugendlichen zu viel wurde, entdeckte sie das Handwerken mit Holz. Da konnte
sie anpacken, das gab Halt. Nach ein paar Jahren wurde klar, dass es in der Werkstatt für sie nicht weitergehen würde: Sie besaß weder viel Sinn für Design noch
ausgeprägte Körperkräfte. Sie bewarb sich wieder als Erzieherin. Ausgerechnet eine
gemeinnützige Stiftung für Menschen mit Behinderung traute ihr diesen Job zunächst nicht zu. »Das war relativ irre, eigentlich total verrückt«, sagt Vogel. Schließlich sprach sich eine Bereichsleiterin für sie aus – weil sie sich an die Tischlerin Anna
Vogel erinnerte: Die hatte ihr einmal ein Regal gebaut, pünktlich und passend.
Viel zu oft hängt es von glücklichen Fügungen ab, ob ein Mensch mit
einer psychischen Krankheit eine erfüllende Tätigkeit findet. Die allermeisten
Programme funktionieren nach dem Prinzip first train then place: erst in einer
geschützten Einrichtung ausbilden, dann auf dem regulären Arbeitsmarkt
Das erkrankte Gehirn
175
unterbringen. »Es bringt wenig, jemanden in ein Reha-Zentrum auf der grünen
Wiese zu schicken und zu hoffen, dass der schon irgendwas lernt«, sagt Psychiater
Falkai. »Da wird einer in die Holzverarbeitung gesteckt, und hinterher sagt er:
›Ich hatte eigentlich noch nie Bock auf Holz.‹ Wir sollten die Betroffenen öfter
fragen, was sie selbst eigentlich wollen.«
In den USA versucht man es schon seit den achtziger Jahren genau andersherum: Die Patienten bekommen früh einen Platz auf dem freien Arbeitsmarkt
und werden dort von Job-Coaches unterstützt. Ein mindestens doppelt so hoher
Anteil der Teilnehmer solcher Supported-Employment-Programme hat später einen regulären Arbeitsplatz, verglichen mit Patienten, die ein berufsvorbereitendes
Training erhalten hatten.
So also könnte die Rampe aussehen, die psychisch Kranken den Weg in
den Alltag ebnet. Beschrieben wird sie auch in der neuen Leitlinie für psychosoziale Therapien: »Programme mit einer raschen Platzierung direkt auf einen
Arbeitsplatz des ersten Arbeitsmarktes und unterstützendem Training (sollten)
ausgebaut werden.« Doch bisher gibt es nur Modellprojekte. Und das werde sich
so schnell nicht ändern, sagt der Medizinsoziologe Dirk Richter von der Fachhochschule Bern: »Das deutsche Sozialrecht ist darauf nicht ausgerichtet. Es gibt
zwar solche Möglichkeiten, aber bisher nur für geistig Behinderte, nicht für psychisch Kranke.« Statt Arbeit gibt es für die Betroffenen meist eine Rente. »Das ist
der beste Weg, jemanden nicht zu rehabilitieren«, sagt Peter Falkai.
Anna Vogel hilft inzwischen anderen Menschen, die mit einer Psychose
kämpfen. Sie arbeitet als Peer-Beraterin in einer Hamburger Klinik. »Ich wollte mich selbst rehabilitieren, meine Verstörung anders verstehen, nicht mehr als
Minderwertigkeit.« Deshalb fing sie mit 52 Jahren noch einmal etwas ganz Neues
an und machte die EX-IN-Ausbildung. EX IN ist ein Projekt für Menschen,
die mit ihrer Erfahrung aus psychischen Krisen andere unterstützen wollen. »Ich
muss mich nicht mehr verstecken, und ich kann in ganz existenziellen Fragen
hilfreich sein«, sagt Anna Vogel. Die Stelle in der Peer-Beratung hat sie wegen,
nicht trotz ihrer Psychose bekommen.
von Stefanie Schramm aus der ZEIT Nr. 46/2013
176
Die Welt im Kopf
Stichwort
Nicht neurotisch,
nur anders
Seit Langem sind Macht, Praxis und
Anmaßung von Psychiatern infrage
gestellt w
­ orden. Kritiker, Dissidenten
und Reformer haben zu verschiedenen
Zeiten und in verschiedenen Ländern die
konventionelle akademische und biologische Psychiatrie scharf angegriffen.
Politik und Psychiatrie Indem die Psychiatrie sich immer mehr etablierte und
institutionalisiert wurde, war es unvermeidlich, dass sich Kritiker zu Wort
meldeten, denen weder die Macht der
Psychiater noch deren Kategorien behagten. Es existieren vielfältige Berichte
von Künstlern und Schriftstellern sowie
von Patientenorganisationen, die sich
vehement gegen bestimmte Formen
der Behandlung (Medikamente, Elektroschocks, Operationen) von »Geisteskrankheiten« einsetzen. Es gab aufsehenerregende Fälle im »Dritten Reich«
und in der Sowjetunion, die zeigten, wie
die Psychiatrie als politisches Unterdrückungsinstrument eingesetzt wurde. In
gewissen Situationen scheint die Zunft
der Psychiater als ausführendes Organ
staatlicher Unter­drückung zu fungieren.
Die antipsychiatrischen Kritiker
stellten drei Dinge infrage: die Vereinnahmung von Verrücktheit durch die Medizin, die Existenz von Geisteskrankheiten
»Unser ganzes
Leben ist bestimmt
von der Sorge um
Sicherheit und
unser Auskommen, sodass
wir eigentlich gar
nicht wirklich leben.«
Leo Tolstoi, 1900
Stichwort
177
Die Neurose ist
stets ein Ersatz für
legitime Leiden.
sowie die Macht der Psychiater, bestimmte Individuen zwangsweise
zu diagnostizieren und zu therapieren. Die Antipsychiatrie-Bewegung
richtete sich gegen mehr als nur
Zwangseinweisungen: Sie drückte
C. G. Jung, 1951
häufig eine Antiregierungshaltung,
eine fast anarchische Haltung aus.
Sie betrachtete viele staatliche Institutionen, zumal psychiatrische
Anstalten, als Instrumente, die der Verfälschung und Unterdrückung
humanistischer Ideale und menschlichen Potenzials in verschiedenen
Bevölkerungsschichten dienten.
Erst in den 1960er-Jahren wurde der Begriff »Antipsychiatrie« geprägt. Es gab eine Reihe verschiedener Strömungen in den diversen
Organisationen, die sich unter diesem Dachbegriff formierten. Und man
mag es für paradox halten, dass die schärfsten Kritiker aus den Reihen
der Psychiater selbst stammten.
Geschichte der Bewegung Die Bewegung hatte drei Ausgangspunkte. Der erste nahm in den frühen 1950er Jahren Form an und war das
Ergebnis einer erbitterten Fehde zwischen der Freudschen Schule psychoanalytischer Psychiater und den Anhängern der neu aufkommenden
biologisch-physischen Psychiatrie. Die Ersteren, die zunehmend an Einfluss verloren und ausgedehnte, dynamische Gesprächstherapien bevorzugten, wurden von den Letzteren herausgefordert, die diesen Ansatz
nicht nur für kostspielig und ineffektiv, sondern auch für zutiefst unwissenschaftlich hielten. Die neuen, biologisch fundierten psychologischen
Behandlungsmethoden waren operativ und pharmazeutisch und konnten einige wichtige frühe Erfolge verzeichnen. Die neue Schule forderte
die alte heraus.
Die zweite Attacke begann in der 1960er Jahren mit Persönlichkeiten wie David Cooper, R. D. Laing und Thomas Szasz, die in verschiedenen Ländern lautstark Kritik übten an der Instrumentalisierung der
Psychiatrie mit dem Ziel, von gesellschaftlichen Normen abweichende
Menschen zu beherrschen. Demnach wurden Menschen, die man für sexuell, politisch oder moralisch abweichend oder anders hielt, psychiatrischer Behandlung und Kontrolle zugeführt. Szasz’ bekanntes Buch The
Myth of Mental Illness (Geisteskrankheit – ein moderner Mythos?) erläutert
diese Position sehr gut.
Die dritte Gruppierung waren US-amerikanische und europäische
Soziologen, insbesondere Erving Goffman und Michel Foucault, die die
178
Die Welt im Kopf
hinterhältige Macht der Psychiatrie und deren Auswirkungen, nämlich
die Etikettierung, Stigmatisierung und Einweisung von Menschen, kritisierten.
Ihren Höhepunkt erreichte diese Bewegung in den 1960er Jahren
im Rahmen der antiautoritären Gegenkultur dieser Zeit. Populäre Kinofilme (wie etwa Einer flog über das Kuckucksnest) und radikale Zeitschriften erschienen, die die biologische Psychiatrie sowie staatliche Anstalten
und Praktiken infrage stellten.
Die Antipsychiatrie-Bewegung war stets eine lose Koalition verschiedener Gruppierungen von Sozialaktivisten und tendierte dazu, sich auf sehr
spezifische Probleme wie Schizophrenie oder die Sexualstörungen zu konzentrieren. Sie setzten sich für Authentizität und Befreiung, für Emanzipation
und Selbstbestimmung anstelle pharmazeutischer Intervention ein. Viele
Gruppen begannen, die Pharmaindustrie und etablierte Instituti­onen wie
etwa die viktorianisch geprägten psychiatrischen Anstalten zu attackieren.
Fundamentale Überzeugungen Die Bewegung hatte bestimmte fundamentale Überzeugungen und Anliegen gemein. Die erste davon lautete, dass Familien, Institutionen und der Staat ebenso sehr Ursache von
Krankheiten waren wie organische Beeinträchtigungen oder genetische
Ausstattung eines Individuums. Zweitens opponierten ihre Anhänger
gegen das medizinische Krankheits- und Therapiemodell. Sie glaubten,
Die neue Psychiatrie
Viele Psychiater sind bemüht, der
antipsychiatrischen Kritik durch
Einführung bestimmter Prinzipien
oder Richtlinien Rechnung zu tragen.
Daher ist zunehmend Folgendes zu
beobachten: Erstens wird zugestanden, dass das Ziel einer Therapie
eine Besserung ist, anstatt lediglich
Einsichten oder Selbsterkenntnis
fördern zu wollen. Zweitens sollte
die Therapie auf Tatsachen beruhen
und nur bewährte Behandlungsverfahren einsetzen. Drittens muss
anerkannt werden, dass Patienten
das Recht haben, die sie betreffenden Unterlagen einzusehen, die
gestellte Diagnose zu kennen und
über die verfügbaren Behandlungsalternativen sowie die damit jeweils
verbundenen Risiken informiert zu
werden. Patienten und Psychiater
sollten realistische Vorstellungen
über die Möglichkeiten und Grenzen
einer Therapie haben. Alle psychisch
kranken Patienten verdienen Fürsorge, Mitgefühl und Respekt.
Stichwort
179
dass Menschen, die nach einem anderen Verhaltenskodex lebten, in irriger und gefährlicher Weise als wahnhaft abgestempelt wurden. Drittens waren sie davon überzeugt, dass bestimmte religiöse und ethnische
Gruppen unterdrückt wurden, weil sie in einem gewissen Sinne abnorm
waren. Sie wurden pathologisiert und so zu dem Glauben verleitet, sie
müssten therapiert werden.
Die Anhänger der Bewegung waren sehr beunruhigt über die Macht diagnostischer Etiketten. Sie meinten, solche Etiketten würden einen falschen
Eindruck von Richtigkeit und Unangreifbarkeit erzeugen. Diagnostische
Etiketten und Handbücher wurden abgelehnt, da kaum Einigkeit unter
den Experten besteht.
Normal in einer verrückten Umgebung
Eine der bekanntesten Antipsychiatrie-Studien wurde in den frühen
1970er Jahren durchgeführt. Acht
»normale«, geistig gesunde Forscher
bemühten sich an mehreren psychiatrischen Anstalten in den USA,
aufgrund einer entsprechenden
Diagnose eingewiesen zu werden.
Als einziges Symptom gaben sie an,
sie würden Stimmen hören. Sieben
von ihnen wurden als schizophren
diagnostiziert und eingewiesen.
Nach der Aufnahme in die jeweilige
Anstalt verhielten sie sich normal und
wurden ignoriert, wenn sie höfliche
Fragen stellten. Nach Ende der Studie
berichteten sie, das diagnostische
Etikett »Schizophrenie« habe in der
Klinik zu einem niedrigen Status und
geringer Glaubwürdigkeit geführt.
Dann offenbarten sie sich und beichteten, keine Symptome zu haben und
gesund zu sein. Gleichwohl dauerte
es fast drei Wochen, bis sie entlassen
wurden, häufig mit der Diagnose
180
Die Welt im Kopf
»abklingende Schizophrenie«. Also
können normale, gesunde Menschen
leicht als »abnorm« diagnostiziert
werden. Ist jedoch auch das umgekehrte Szenario denkbar? Dieselben
Forscher erzählten psychiatrischem
Anstaltspersonal, dass mehrere
falsche oder Pseudopatienten behaupten könnten, schizophren zu
sein, um so in die jeweilige Klinik
aufgenommen zu werden. Daraufhin
wurden 19 echte Patienten von zwei
oder mehr Mitgliedern des Personals,
darunter ein Psychiater, als Simulanten verdächtigt.
Daraus lässt sich schließen, dass
es in psychiatrischen Kliniken nicht
möglich ist, die Normalen von den
Verrückten zu unterscheiden. Wenngleich diese bekannte Studie aus
ethischen und versuchsmethodischen
Gründen weithin kritisiert worden
ist, verlieh sie der AntipsychiatrieBewegung erhebliche zusätzliche
Stoßkraft.
Angriffe auf Therapien Außerdem konzentrierte die Bewegung ihre
Opposition auf sehr spezifische Therapien, insbesondere Medikamente –
zum Beispiel solche, die entwickelt wurden, um hauptsächlich Probleme
im Kindesalter (ADHS) und Depressi­onen zu therapieren. Sie griffen solche Therapien wegen ihrer Kosten und Nebenwirkungen an, aber auch,
weil den Patienten die Wahrheit über solche Medikamente vorenthalten
wurde. Antipsychiatrie-Aktivisten haben zahlreiche Aspekte des Verhaltens von Pharmaherstellern kritisiert und argumentiert, die Industrie
würde ihre Daten fälschen und Medikamente zu weit überhöhten Preisen
verkaufen, was wiederum dazu geführt hat, dass die Industrie sehr genau
überwacht und durch gesetzgeberische Maßnahmen kontrolliert wird.
Andere Angriffsziele waren die Elektrokrampftherapie (EKT) sowie
sehr spezifische Verfahren wie etwa die Gehirnchirurgie. Ungeachtet gewisser Hinweise auf manche Erfolge solcher Operationen, argumentierten Kritiker, sie würden ahnungslosen Patienten »aufgezwungen« und
schwerwiegende, permanente Nebenwirkungen verursachen.
Die Macht von Psychiatern, einen Patienten zwangsweise in eine
geschlossene Abteilung zu verlegen oder in eine Anstalt einzuweisen,
wird ebenfalls von der Bewegung kritisiert. Viele Kritiker halten Psychiater für ausführende Organe des Staates, vergleichbar mit Polizisten,
Richtern und Geschworenen.
Die Anhänger der Antipsychiatrie-Bewegung setzen sich für eine
humanere Psychiatrie ein. Nach wie vor stellen sie den psychiatrischen
Jargon und die Illusion einer biomedizinischen, wissenschaftlichen Psychiatrie, die nach biologischen und genetischen Erklärungen sucht, infrage. So halten sie zum Beispiel nicht etwa Neurotransmitter-Fehlfunktionen, sondern Armut für die wichtigste Ursache von Depressionen.
Die ursprünglichen Bewegungen bestanden aus ideologischen,
hochgradig politisierten Antireduktionisten. Sie versuchten, der Psychiatrie die bösen Geister auszutreiben und sie zu rehabilitieren. Sie opponierten gegen »das System«. In vielerlei Hinsicht hatten sie Erfolg: Viele
Behandlungsmethoden sind eingestellt, viele psychiatrische Anstalten
geschlossen worden. Psychiatrische Etiketten haben sich verändert und
werden heute sehr viel vorsichtiger verwendet.
Die Antipsychiatrie-Bewegung hat sich zur patientenbasierten Verbraucherbewegung gewandelt. Ihr Anliegen ist inzwischen weniger die
Abschaffung der organisierten Psychiatrie, sondern vielmehr die Durchsetzung von Rechten und Mitbestimmung der Patienten.
Adrian Furnham
Stichwort
181
Auf der Suche nach
der gesunden Mitte
Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt: Menschen, die an einer Bipolaren
Störung leiden, leben in den Extremen. Oft wird die Krankheit verkannt, das
ist lebensbedrohlich
Ein Rausch der Gefühle, unglaubliche Energie, die Welt verbessern, jetzt und
hier. Und alle sollen helfen. Es ist der Enthusiasmus einer Manie, die eine Seite
der Bipolaren Störung. Denn an anderen Tagen sind die vielen Ideen, die sexuelle
Energie oder der Kaufrausch plötzlich verflogen. Angst und tiefe Traurigkeit bestimmen das Leben, die Depression übernimmt.
Monique Seidel lebt seit mehr als 20 Jahren in diesen Extremen. Sie kennt
das Leben im Rausch: »Ich kann dann nicht mehr aufhören, rutsche hinein,
kaufe Bücher wie eine Verrückte und schreibe und schreibe, ohne zu schlafen –
unglaublich produktiv!« Doch sie weiß auch um die andere Seite, wenn all die
Energie von einem Tag auf den anderen einfach weg ist. Dann ist Seidel müde, oft
sogar lebensmüde. Ein quälender Stillstand macht sich breit, und die 46-Jährige
verfällt in eine Depression.
Seidel ist eine Getriebene, stets auf der Suche. Ihr Leben ist geprägt von langen Phasen mit ausufernden Stimmungszuständen. »Das kann reichen von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt«, weiß der Berliner Psychiater Thomas
Stamm. Dementsprechend groß ist die Herausforderung für Bipolare, zwischen
den Welten ihre innere Balance zu finden.
Totale Lähmung, nichts geht mehr
Die depressiven Episoden sind für Seidel deutlich belastender als der positive Rausch.
Die Phasen erstrecken sich über Wochen bis Jahre. Der Körper wird dann zu einer
leblosen Hülle, in der sie gefangen ist. »Ich kann nichts mehr, nicht mehr essen, nicht
mehr schlafen, mich zu nichts aufraffen, so als gäbe es mich gar nicht«, sagt die Bipolare. Besonders schlimm ist, dass sie mit ihrem Willen allein nicht weiterkommt:
»Ich habe immer gekämpft, aber in der depressiven Phase fühle ich mich ausgeliefert.«
Mehr als zwanzig Jahre lang blieb Seidels Krankheit unentdeckt. In der
Zeit hat sich die Krankheit tief in ihr Leben gefressen. »Ich hatte immer wieder
Suizidgedanken«, sagt sie. »Mein Mann konnte mit den Depressionen nicht
182
Die Welt im Kopf
umgehen. Am Ende ist meine Ehe zerbrochen.« Erst vor drei Jahren stellte ein
Psychiater die Diagnose – endlich.
Etwa ein bis drei Prozent der Deutschen sind bipolar, viele, ohne es zu wissen. »Viele Bipolare werden gar nicht oder als rein Depressive behandelt«, sagt
Thomas Stamm, Leiter des Klinischen Bereichs Bipolare Störungen der Charité
Berlin. Das liegt zum einen am irreführenden Verhalten der Betroffenen. Bipolare werden oft als anders wahrgenommen, vor allem in manischen Phasen.
Aber anders sein heißt nicht unbedingt gleich krank sein. Eine gesteigerte Redebereitschaft, vermindertes Schlafbedürfnis oder vermehrte sexuelle Lust wirken
im ersten Moment nicht wie eine Krankheit, sondern sympathisch, formen das
Gegenüber zu einem interessanten Menschen.
Zum anderen ist es oft auch für Ärzte schwierig, eine Bipolare Störung zu
diagnostizieren. Die Betroffenen suchen meist in einer depressiven Phase Hilfe.
Die Krankheit wird verkannt, die richtige Behandlung bleibt aus. »Die Gefahr,
sozial abzurutschen, oder die eines Suizids ist dann hoch«, sagt Stamm.
Der manische Teil der Störung ist nicht zu unterschätzen. Je intensiver
und länger die Phase anhält, desto schlimmer wird die darauffolgende depressive
Episode – so wie auch bei einem größeren Feuer mehr Asche zurückbleibt. Auch
neigen die Betroffenen derweil zur Aggression: Sie stellen plötzlich alles infrage,
ihren Arbeitsplatz oder ihre Beziehung. Sie provozieren bewusst, auch im sexuellen Bereich. Im Rausch der Manie überkommt viele Betroffene die Lust und
damit ein reger Partnerwechsel. Andere leiden unter psychotischen Gedanken.
Sie verlieren den Bezug zur Realität und laufen beispielsweise schreiend durch
die Straßen, um die Menschheit vor vermeintlich großem Unheil zu bewahren.
Monique Seidel durchlebte solch einen
Schrecken nur einmal – doch es war die
schlimmste Phase ihres Lebens. Sie hatte
An manchen Tagen
sich in einer eigenen, psychotischen Geverläuft das Leben wie im
dankenwelt verloren. Nach einer maniRausch. Doch plötzlich
schen Schreibattacke konnte sie plötzlich
ist die Energie weg. Dann
nicht mehr zurück. Es war, als würde sich
in ihrem Gehirn eine Barriere auflösen,
macht sich ein quälender
die bis dahin Gedanken und Realität vonStillstand breit.
einander getrennt hatte. Die Energie ihrer
Manie katapultierte sie direkt in eine andere
Welt, in der Wahngedanken und Realität ineinander verschwammen.
»Es war wie im Film, ich dachte, alles um
mich herum würde gleich in die Luft fliegen und ich wäre
die Einzige, die es verhindern könnte. Das war wahnsinnig anstrengend, ein
Gedanke verdrängte den nächsten, immer nur denken. Schlafen war gar nicht
Das erkrankte Gehirn
183
mehr möglich«, beschreibt sie die Situation.
Sie war kurz davor durchzudrehen, wollte
alle retten und schrie wild um sich. Die
Menschen um sie herum wandten sich ab.
»Das versteht ja auch keiner, was da dann
abläuft.«
Trotz all des Schreckens: Seidels
Psychose ist glimpflich ausgegangen. Auch
war sie ausschlaggebend dafür, dass der Psychiater die Bipolare Störung überhaupt dia­
gnos­
ti­
zie­
ren konnte. Dank Medikamenten hat
Seidel nach wenigen Tagen wieder zurück in den Alltag
gefunden. Ein Glücksfall. Denn Einsicht in das eigene Verhalten haben die Betroffenen in solchen Situationen kaum. Sie zu erzwingen ist nahezu unmöglich.
»Maniker reagieren besonders empfindlich auf Bevormundung oder Fremdbestimmung«, erklärt der Berliner Psychiater Stamm, »statt sie einzuengen oder
sogar den Konflikt mit ihnen aufzunehmen, sollte man an ihre Eigenverantwortlichkeit appellieren und versuchen, wieder Realität herzustellen.«
Die Betroffenen lernen,
wie sie die ersten Anzeichen
einer Depression oder
Manie rechtzeitig erkennen
und abbremsen können.
Dritteln der Bipolaren, die es schaffen, ihr Leben trotz Krankheit in den Griff zu
bekommen und sogar in einer Führungsposition zu arbeiten. Gewinnt hingegen
die Bipolare Störung die Überhand, stehen Alkoholabhängigkeit sowie Angstund Schlafstörungen meist am Ende eines Lebens mit vielen Brüchen.
Ein entscheidender Schritt, um das zu vermeiden: die Krankheit als Teil
von sich zu akzeptieren. Seidel bekämpft ihre psychische Störung nicht mehr
dauerhaft, sondern versucht, sie in positive Energien umzuwandeln. »Da ich im
kreativen Bereich tätig bin, bemerke ich immer wieder, dass ich eine besondere
Sensibilität habe für Gedichte oder Romane von Schriftstellern, die häufig sogar
selbst bipolar sind«, sagt sie.
Womöglich zieht Seidel gerade aus den Extremen ihrer Erkrankung die
schöpferische Sensibilität und die Kraft, um ihren Alltag zusammen mit drei
Kindern, Beruf und der Krankheit zu meistern.
von Julia Völker, ZEIT Online, 29. Oktober 2013
Was hilft, ist eine langfristige Behandlung mit Medikamenten
Im Notfall, etwa wenn der Betroffene selbst oder sein Umfeld gefährdet ist, folgt
die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik. »Eine Zwischenlösung ist der
Sozialpsychiatrische Dienst, da er auch zu Patienten nach Hause kommt und dort mit
ihnen spricht, ohne diese mit in die Klinik zu nehmen«, empfiehlt Psychiater Stamm.
Seidel sagt, sie würde seit der Psychose nur noch funktionieren: »Ich bin nicht
mehr glücklich. Aber langsam sehe ich wieder Licht, bin auf dem Weg zur Mitte.«
Die Krankheit in den Griff zu bekommen braucht Zeit. Denn eine Bipolare Störung ist eine Diagnose auf Lebenszeit. »Die akute Behandlung der
Stimmungszustände hilft nicht allein, sondern vor allem eine langfristige Medikation«, sagt Stamm. Medikamente wie Lithium oder auch spezielle Antiepileptika helfen den Patienten, eine stabile Stimmung und damit die Basis für eine
weitere Psychotherapie zu erlangen.
Eine alleinige Psychotherapie wirkt bei Bipolaren deutlich weniger effektiv als bei reinen Depressionen. »Deshalb ist es so wichtig, auch leichte Manien
nicht zu übersehen«, sagt Stamm. In Einzelgesprächen oder Gruppentherapien
können Betroffene lernen, wie sie erste Anzeichen einer Depression oder Manie
rechtzeitig erkennen und abbremsen können. »Erst wenn der Umgang mit den
Akutsymptomen gut eingeübt ist, kann eine tiefergehende Psychotherapie beginnen«, sagt der Berliner Psychiater.
Zu verstehen, was mit ihr los ist, hat auch Monique Seidel geholfen. Sie hat
gelernt, die Extreme weitestgehend zu beherrschen, und gehört nun zu den zwei
184
Die Welt im Kopf
Das erkrankte Gehirn
185
Schau mir in die Augen
Autisten nehmen ihre Umwelt als eine Flut von Details wahr. Gesichter
überfordern sie, oft sind sie unfähig, soziale Beziehungen aufzubauen.
Nun soll ein Roboter autistischen Kindern helfen, aus der Isolation
auszubrechen. Erste Begegnungen stellen verbreitete Thesen infrage
Zwölf Sekunden lang schaut Paul seinem Gegenüber in die Augen. Zwölf Sekunden lang rutscht er nicht auf dem Stuhl hin und her, ruft nicht »tut weh, tut
weh«. Zwölf Sekunden – eine kleine Ewigkeit und ein kleines Wunder. Denn der
15-jährige Paul ist Autist. Normalerweise kann er sich nur für wenige Augenblicke konzentrieren, bevor sein Blick wieder durch den Raum zappelt, als verfolge
er eine Fliege – und bevor sein Fuß wieder zu zucken beginnt, dann das Bein und
schließlich der ganze Körper. Nur wenn Kaspar da ist, ist es anders.
Kaspar trägt Jeans, eine Baseballkappe und ein T-Shirt mit viel zu langen
Ärmeln. Und ihm gelingt, was Pauls Lehrer oft vergeblich versuchen: Er verwickelt
Paul in ein Spiel. Abwechselnd schlagen sie auf ein Plastiktamburin, erst Kaspar,
dann Paul, dann wieder Kaspar. Für die Sprachtherapeutin Lisabeth Connor, die
das Treffen im Gymnastikraum der St.-Elizabeth’s-Förderschule nördlich von London beobachtet, ist das unfassbar. Schließlich ist Kaspar nur ein ferngesteuerter Roboter. In den Kinderklamotten Größe 52 stecken Teile einer Puppe, ein Computer,
Motoren und eine Gummimaske mit menschlichen Zügen.
Seit Wochen ist der Maschinenjunge mit dem Robotikforscher Ben Robins
von der University of Hertfordshire unterwegs. Robins besucht eine Förderschule
nach der anderen, um eine These seiner Arbeitsgruppe zu belegen: Roboter können helfen, autistische Kinder zu therapieren. Mit einem Notebook, von dem aus
vier Kabel in Kaspars Rücken führen, steuert Robins den Roboter wie ein Marionettenspieler seine Puppe. Es surrt leise, Kaspar blinzelt, sssst, Kaspar winkt,
sssst, Kaspar verzieht die Lippen zu einem Lächeln. Jetzt grinst auch Paul über
beide Ohren. »Unglaublich«, flüstert die Therapeutin.
Autisten wie Paul leiden an einer unheilbaren Entwicklungsstörung des Gehirns. Meist treten die Symptome schon in den ersten beiden Lebensjahren auf.
Bereits autistische Säuglinge schauen lieber die Gitterstäbe ihres Bettchens an als
ihre Mutter. Das Gesicht überfordert sie, anstelle des liebevollen Lächelns sehen
sie unzählige Details.
Die Lachfältchen am Mund – für sie irritierend. Die großen Augen mit den
hochgezogenen Brauen – ein Rätsel. Nicht nur die Züge der Mutter, ihre ganze
Umwelt nehmen Autisten als Flut überscharfer Einzelheiten wahr. Geräusche
186
Die Welt im Kopf
wie das Quietschen der Gummiente oder das Dingdong der Spieluhr machen
ihnen Angst. Kleinste Berührungen versetzen sie in Panik. Die Kinder schotten
sich von der Außenwelt ab und verpassen eine normale Entwicklung. Während
Gleichaltrige mit Modellautos nachspielen, wie ihre Familie in die Ferien fährt,
sortieren Autisten die Autos der Farbe nach – um wenigstens ein bisschen Ordnung in die Welt da draußen zu bringen.
Ihr Leben lang bleiben Autisten unfähig, sich in andere hineinzuversetzen.
»Seelenblindheit« nennt der britische Psychologe Simon Baron-Cohen das. Viele
empfinden Blickkontakt als unangenehm und unerheblich. Stark betroffene Patienten wie Paul lernen zudem nie richtig sprechen und scheuen jede Initiative.
Bricht ihm im Unterricht der Bleistift ab, verlangt er keinen neuen, sondern starrt
aus dem Fenster, bis es dem Lehrer auffällt. Rollt auf dem Bolzplatz ein Ball auf
ihn zu, schießt er nur, wenn er dazu aufgefordert wird: »Paul! Schuss!«
Jeder Moment, in dem Paul sein inneres Exil verlässt, ist daher kostbar. Als
Robins an diesem Morgen den nächsten Jungen hereinbitten will, macht Paul
eine Faust und schlägt mit der anderen Hand darauf. In seiner Zeichensprache
heißt das: »Mehr!«
Für Robins ein kleiner Triumph. Kaspar vermittelt
erfolgreich zwischen Pauls Welt und der der anderen.
»Er ist dazu das ideale Werkzeug«, sagt der Forscher. »Autisten lieben technische Dinge, etwa
Computer und ferngesteuerte Autos. Einen
Das Verhalten des
Roboter wie Kaspar lieben sie besonders, weil
Roboters ist kalkulierbarer
er puristische Gesichtszüge hat.« Sein Verhalals das von Menschen,
ten sei kalkulierbarer als das von Menschen,
eine verlässliche Konstante
eine verlässliche Konstante in einer Welt
in einer Welt voller
voller Unwägbarkeiten. »Noch ist es aber zu
Unwägbarkeiten.
früh, einen therapeutischen Effekt festzustellen«, sagt Robins. »Das hier sind ermutigende
Einzelfälle, mehr nicht. Genaueres werden wir
erst nach einer Langzeitstudie wissen.«
Paul darf bleiben. Und als Lenny schließlich mit
am Tisch sitzt, vollführt der Roboter das nächste Kunststück. Lenny ist neun, und die Situation ist ihm sichtlich unangenehm. Er versteckt
sein Gesicht hinter dem Ärmel seines T-Shirts und kichert andauernd in sich hi­nein.
Robins drückt ihm eine Minitastatur mit Symbolen in die Hand. Ein Trommelstock
steht für die Tamburinschläge. Bam, bam-bam, Kaspar legt los. Äußerlich unbeteiligt
steuert Lenny den Roboter, Paul soll ihn imitieren. Dann passiert es: Aus dem Augenwinkel sieht Lenny, dass der Mitschüler auf den Tisch klopft, weil er kein Tamburin
hat. Er nimmt Robins eines aus der Hand und hält es Paul hin.
»Diese Jungs würden nie miteinander spielen«, sagt die Therapeutin. »Wenn
Kaspar ihnen eine Brücke baut, ist das ein riesiger Schritt.« Zwei Wochen zuvor,
Das erkrankte Gehirn
187
Die Roboterpuppe Kaspar wurde von Ben Robins von der Universität
Hertfordshire entwickelt. Kaspar beherrscht menschliche Ausdrücke, und die sind bei
ihm zum Glück immer eindeutig – anders als bei echten Menschen.
erzählt sie, habe ein Kind einem anderen beim Spielen mit Kaspar sogar die Hand
auf die Schulter gelegt. »Wir waren erstaunt, das Kind hatte bis dahin jeden Körperkontakt gemieden.« Ein paar Tage später, Kaspar war lange fort, habe sich die Szene
beim Sport wiederholt: Ganz nebenbei lehnte sich der Junge bei dem anderen an.
Können Roboter wirklich helfen, die Symptome des Autismus zu lindern?
Die Szene dürfte sich so gar nicht abgespielt haben, glaubt man einigen Experten.
»Vielleicht animieren Roboter Kinder dazu, miteinander zu spielen«, sagt Beate
Herpertz-Dahlmann, Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirates im Bundesverband Autismus. Unwahrscheinlich sei aber, dass sich das auf Situationen übertragen lasse, in denen kein Roboter da ist. »Schließlich lässt sich Autismus auf
eine tiefgreifende Störung des Gehirns zurückführen.«
Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass die Hirne autistischer
Kleinkinder vom zweiten Lebensjahr an deutlich schneller wachsen als gewöhnlich. Ob der Autismus die Ursache dafür ist oder eine Folge davon, ist unklar.
Sicher ist nur, dass vor allem die weiße Masse schließlich im Überfluss vorhanden
ist. So werden die Nervenfasern zwischen Hirnzellen aufgrund ihres Aussehens in
Hirnschnitten genannt. Eine mögliche Erklärung: Beim Hirnwachstum werden
normalerweise unnötige Verbindungen gekappt, übrig bleiben nur die, die wirklich gebraucht werden – bei Autisten versagt dieser Mechanismus offenbar.
Autismus – Gefangen im Ich Lange Zeit
glaubten Wissenschaftler, Autismus
sei die Folge fehlender Mutterliebe, sie
sprachen von »Kühlschrankmüttern«.
Heute gehen sie davon aus, dass es sich
um eine genetisch veranlagte Entwicklungsstörung handelt. Sie beeinträchtigt
Wahrnehmung und Informationsverarbeitung im Gehirn. Neuen Schätzungen
zufolge könnte jedes 60. Kind betroffen
sein, vier Fünftel davon Jungen. Der
188
Die Welt im Kopf
frühkindliche Autismus, der sich schon
bei Kleinkindern bemerkbar macht, geht
oft mit einem geringen Wortschatz und
geistiger Behinderung einher. Das mildere
Asperger-Syndrom wird dagegen oft erst
ab dem dritten Lebensjahr entdeckt. Die
Kinder können trotz aller Defizite hochintelligent sein, Inselbegabte entwickeln
sogar extreme Talente: Sie kennen Telefonbücher auswendig oder berechnen
Zahlen auf 60 Dezimalstellen genau.
Das drastische Wachstum betrifft allerdings nur die Verbindungen innerhalb einzelner Hirnareale. Untereinander sind die Regionen viel schlechter verdrahtet. Es ist, als müssten sich die Informationen ihren Weg durch ein Labyrinth
unzähliger Feldwege bahnen, weil Schnellstraßen fehlen.
Vielleicht ist das der Grund, warum Autisten sich nach einem Treffen bis
auf den letzten Leberfleck an ein Gesicht erinnern, aber nicht sagen können, ob
der andere glücklich oder traurig war. »Hirnscans haben gezeigt, dass bei Gesunden ein kleiner Bereich im Temporallappen aktiv wird, wenn sie ein Gesicht
sehen. Autisten reagieren nicht darauf«, sagt Herpertz-Dahlmann. Sie nähmen
Gesichter nicht als Ganzes, sondern als Ansammlung von Details wahr. »Es ist
kaum vorstellbar, dass ein Roboter so etwas Grundlegendes beeinflusst.«
Zögerlich reagierte zunächst auch der Autismusexperte Simon Baron-Cohen, als er von dem Kaspar-Experiment hörte. Als er dann jedoch Videos davon
sah, war er begeistert. Jetzt will er die Arbeit mit dem Roboter genauer verfolgen. Und Fritz Poustka, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Frankfurt, würde gern selbst mit Kaspar experimentieren »Die Prognose bessert sich
Das erkrankte Gehirn
189
deutlich, wenn die Betroffenen lernen, andere zu imitieren«, sagt er. »Wir haben
gute Erfahrungen mit interaktiven PC-Programmen gemacht, bei denen Patienten am Bildschirm die Mimik von Gesichtern erkennen und nachahmen sollen.«
Warum sollten also nicht auch Roboter helfen, den sozialen Umgang zu lernen?
»Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Autisten je so spontan auf Menschen
reagieren wie Gesunde. Ihr Verhalten wird immer hölzern wirken.«
Richard ist diese Debatte egal. Der 16-Jährige ist nicht mehr zu stoppen,
wenn Ben Robins mit seiner Umhängetasche über den Schulflur geht. Er weiß, da
drinnen sitzt Kaspar. Und er ist zu stämmig, als dass ihn jemand aufhalten könnte.
Heute begegnet Richard dem Roboter zum dritten Mal. Brüllend tobt er
durch den Raum, als er bemerkt, dass Lenny noch am Tisch sitzt. Kaspar teilen,
das kommt nicht infrage. Als er ihn endlich für sich hat, streichelt er behutsam über den schwarzen Schopf und krempelt ihm die T-Shirt-Ärmel hoch. Tief
schaut er ihm in die Augen: »Kameras«, murmelt er. »Ja, die Pupillen, das sind
Kameras«, sagt Robins.
Richard pflegt eine eigentümliche Beziehung zu Kaspar. Längst hat er erkannt, dass das seltsame Wesen eine Maschine ist. Längst weiß er, wie das Programm funktioniert, das den Kopf hin- und herdreht. Und trotzdem drückt er
seine Nase vorsichtig auf die des Roboters, als wäre er sein kleiner Bruder.
Auf die Idee, dass Roboter eine besondere Anziehungskraft auf Autisten
ausüben könnten, kam Kerstin Dautenhahn, die Leiterin von Robins’ Arbeitsgruppe, bereits vor zehn Jahren. »Damals dachte ich, alle Welt forscht an immer
komplexeren Maschinen«, sagt sie. »Für Autisten ist aber gerade ein niedrigeres
technisches Niveau viel interessanter.« Auf einem Kongress in Zürich erzählte sie
einem kanadischen Roboterbauer von ihrem Einfall. Prompt schenkte der ihr
Labo-1, ein flaches Gefährt mit dicken Reifen und Hitzesensor. »Wir haben es so
programmiert, dass es den Standort der Kinder orten und sie verfolgen konnte,
ihnen aber davonfuhr, wenn sie selbst darauf zuliefen.« Autisten liebten das Spiel.
Der 50 Zentimeter große Kaspar ist nun der erste Roboter mit menschlichem Gesicht, mit dem Dautenhahn und ihr Team experimentieren. Er soll
ihnen auch helfen herauszufinden, wie Roboter idealerweise beschaffen sein
müssen, damit sich Autisten auf sie einlassen. Die Ergebnisse sollen in das von
der EU mit mehr als zwei Millionen Euro geförderte Iromec-Projekt einfließen:
Forscher aus sechs Ländern wollen gemeinsam einen Roboter entwickeln, der
Kinder mit den verschiedensten Behinderungen beim Lernen unterstützt. Ein
Team aus Wien erforscht beispielsweise die Bedürfnisse körperlich Behinderter.
»Von Kaspar haben wir gelernt, dass er gerade auf Autisten unglaublich
anziehend wirkt, weil er ein wenig Maschine, ein wenig Mensch ist«, sagt Dautenhahn. »Er beherrscht menschliche Ausdrücke, allerdings sind diese immer
eindeutig.« Leicht geschlossene Augen und herabgezogene Mundwinkel stehen
für Traurigkeit, offene Arme und ein Lächeln für Freude. Diese Mimik wirkt
so echt, dass sich gesunde Erwachsene unwohl fühlen, wenn sie Kaspar sehen.
190
Die Welt im Kopf
Zombie-Effekt nennen Roboterforscher dieses Phänomen – es tritt auf, wenn
künstliche Gesichter zu stark echten ähneln, zugleich aber auch verstörend leblos
sind.
Genau das scheint Kinder wie Richard aber zu beruhigen. Nie käme man
auf die Idee, dass gerade der Junge am Tisch sitzt, der gewalttätig wird, sobald
ihm ein Mitschüler zu laut ist. Als die Stunde vorbei ist, streicht er Kaspar noch
einmal liebevoll über die Gummibacken, fährt noch einmal mit der Fingerspitze
über die winzigen Lippen. Und als der Computer herunterfährt und der Roboter
in sich zusammensackt, fragt er: »Ist Kaspar traurig?«
von Jens Uehlecke aus ZEIT Wissen Nr. 5/2007
Das erkrankte Gehirn
191
Wahnsinns-Typen
Wie gestört muss man sein, um Besonderes zu leisten?
Erstaunlich viele Chefs sind psychisch auffällig
Eine Frage der Weltgeschichte: Muss man außergewöhnlich sein, um Außergewöhnliches zu leisten? Und was heißt außergewöhnlich? Bloß wunderlich, ganz speziell
intellektuell, mental auffällig oder sogar psychisch gestört? Da ist die Studie der Cass
Business School in London, in der mehr als jeder dritte Firmengründer bekennt,
Legastheniker zu sein. Die Lese- und Rechtschreibstörung tritt bei Unternehmenslenkern demnach achtmal häufiger auf als im Durchschnitt der Bevölkerung.
Oder ADHS. Studenten mit dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, so haben Forscher der Erasmus-Universität Rotterdam beobachtet, werden später mit überdurchschnittlich großer Wahrscheinlichkeit ein Unternehmen gründen.
Es kann sogar ganz schlimm kommen: Konzernkarrieristen sind übermäßig
häufig gefährliche Irre. In den Führungsetagen von Unternehmen finden sich dreieinhalbmal so viele Psychopathen wie im Durchschnitt der Bevölkerung, wie Robert Hare, Psychologe und Forensiker aus Vancouver, und der New Yorker Unternehmensberater Paul Babiak durch Hunderte von Interviews herausgefunden haben.
Zwischen Legasthenie und Psychopathie liegt eine gewaltige Spanne von
mentalen Defiziten – sie reicht von der Rechenschwäche bis zum Narzissmus,
von der Depression über die bipolare Störung bis hin zum Autismus. Mal sind die
Leiden relativ harmlos, mal schwerwiegend. Und alle diese Verrücktheiten stehen
in einer seltsamen Verbindung zum beruflichen Erfolg.
Narzissmus – Wer unter einer narzisstischen Persönlichkeits­störung leidet, hat
ein geringes Selbstwertgefühl und lehnt
sich selbst ab, versucht dies jedoch durch
übertriebenes Selbstbewusstsein nach
außen zu kaschieren. Narzissten überschätzen dabei deutlich ihre Fähigkeiten,
sind aber der Meinung, dass ihre Mitmenschen sie genau so sehen, wie sie sich
selbst sehen. Um ihr Ansehen zu steigern,
bauen sie nicht selten Lügenkonstrukte
192
Die Welt im Kopf
auf. Bei Miss­erfolgen fühlen sie sich
erniedrigt und wertlos und können mit
Kritik schwer umgehen. Die Klassifikation
ICD-10 der Weltgesundheits­organisation
kennt die narzisstische Persönlichkeitsstörung nicht als Diagnose. Unter einer
narzisstischen Persönlichkeitsstörung
leiden mehr Männer als Frauen, insgesamt aber weniger als ein Prozent der
Bevölkerung. Nur sehr ­wenige Betroffene
lassen sich behandeln.
Selbst ins Fernsehen hat das Phänomen schon gefunden: Die CIA-Agentin
Carrie Mathison jagt in der gefeierten US-Serie Homeland wie besessen Terroristen. Ihre Erkrankung, die manisch-depressive Störung, ist das Geheimnis ihres
Erfolgs. Oder der von Phobien geplagte Superdetektiv Adrian Monk, der mit
seiner absurden Logik jeden Fall löst. Auch im realen Leben sind Sonderlinge
mit sozialen Defiziten oder mentalen Störungen auf einmal gefragt; Softwarefirmen umgarnen eigenbrötlerische Computerfreaks; Hedgefonds reißen sich um
verschrobene Zahlen-Nerds; Politiker preisen exzentrische Firmengründer: Die
Arbeitswelt hat sich zu einem Eldorado für Sonderlinge entwickelt.
Psychisch Auffällige sitzen tatsächlich bemerkenswert häufig in den Topetagen von Unternehmen, Kultureinrichtungen und Parteibüros. Dort, wo es auf
besondere Fähigkeiten und Führungsqualitäten ankommt, trifft man Menschen
mit Außenseiterhirnen. Zum Beispiel Mark Zuckerberg, Anfang 30: Der Chef
des Milliardenunternehmens Facebook kann bis heute seinem Gegenüber kaum
in die Augen schauen. Welche Rolle würde so jemand als junger Mensch heute
auf dem Schulhof spielen? Wohl die des sozialen Sonderlings. Und dann definiert
ausgerechnet so einer das Verständnis von Freundschaft und sozialer Beziehung
neu. Und macht damit ein Vermögen. »Züge von Asperger-Autismus« attestiert
ihm ein ehemaliger Facebook-Manager. Zuckerberg gebe »kaum aktives Feedback oder eine Rückmeldung, dass er dir zuhört«, schrieb der einstige Mitarbeiter
auf dem Internetportal Quora.
Oder Richard Branson. Der Flugliniengründer und Weltraumreise-Pionier
pflegt als in die Jahre gekommener Milliardär noch pubertäre Gockeleien. Im
Frührentenalter ließ er sich fotografieren, wie er beim Kitesurfen die Elemente
bezwingt – umklammert von einem nackten Model. Wo verläuft hier die Grenze
zwischen »normaler« Eitelkeit und einer ernsthaften narzisstischen Störung?
Oder Steve Jobs. Zu seinen Lebzeiten galt der Chef von Apple als Charismatiker und Choleriker. Vor allem aber galt er als jemand, der in die Zukunft sah. Er
verlieh Dingen Gestalt, die andere noch nicht einmal erkennen konnten. Er war
schwerer Legastheniker, erfolgloser Student – aber ein Visionär.
Man hat die Geschichten vieler großer Persönlichkeiten immer als Erfolgsgeschichten herausragender Talente erzählt. Aber womöglich sind es zugleich Krankengeschichten. Dann müsste man sich zwei Fragen stellen: Ist Genie und Wahnsinn
doch ein und dasselbe? Muss man ein Abweichler sein, um Besonderes zu leisten?
Aus einem psychisch Kranken wird womöglich der Manager des Jahres
Durchaus möglich, meint Nassir Ghaemi, Psychiatrieprofessor in Boston, der erstaunliche »Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen und Führungsfähigkeiten« entdeckt hat. Der Wissenschaftler glaubt, dass die Karrieren etlicher großer Männer aus Politik, Militär und Wirtschaft ohne ihre Krankheitsschübe anders
verlaufen wären. »Wenn Frieden herrscht, und das Staatsschiff nur auf Kurs bleiben
Das erkrankte Gehirn
193
muss, eignen sich geistig gesunde Führer. Wenn unsere Welt aber in Aufruhr gerät,
eignen sich geistig kranke Führer am besten«, behauptet Ghaemi in seinem Buch A
first-rate madness (»Erstklassiger Wahnsinn«). Er nennt seine Theorie the inverse law
of sanity, das umgekehrte Gesetz der Vernunft, was zur alten Psychiater-Weisheit
passt: »In guten Zeiten behandeln wir sie, in schlechten regieren sie uns.«
Das Problem, vor dem Forscher wie Ghaemi stehen: Geistige Leiden sind
schwer zu beweisen, die Grenzen zwischen Normalsein und Wahnsinn oft fließend. Präzise Diagnosen sind aus der Ferne kaum möglich. Die Betroffenen
müssten schon bereit sein, sich untersuchen zu lassen. Doch wer erfolgreich und
gesellschaftlich anerkannt ist, legt sich freiwillig kaum auf die Couch oder in
die Röhre. Seine Krankheit geht als Spleen durch. Und aus einem Fall für den
Therapeuten wird jemand, der Grenzen überwindet und Wunder vollbringt. Aus
einem psychisch Kranken wird womöglich der Manager des Jahres.
Nassir Ghaemi hat sich deshalb einen Kniff einfallen lassen: Er erforscht die psychischen Leiden
von Verstorbenen. Dafür wälzt er Biografien,
studiert Krankenakten, spricht mit Zeitzeugen. Dem britischen Staatsmann
Winston Churchill zum Beispiel bescheinigt Ghaemi schwere DepresDie Grenzen
sionen. Er, der sein Land durch den
zwischen Normalsein
Zweiten Weltkrieg navigierte und daund Wahnsinn sind oft fließend.
rüber hinaus den Literaturnobelpreis
Präzise Diagnosen sind
gewann, bezeichnete seine Krankheit
aus der Ferne kaum möglich.
als seinen »schwarzen Hund«, der ihn
treu begleite, bis ins hohe Alter. Weil
Churchill Angst hatte, sich während eines Krankheitsschubs das Leben zu nehmen, mied er zeitlebens Felsvorsprünge und
Bahnsteigkanten. Er fürchtete: »Eine spontane
Aktion würde alles beenden.«
Gerade depressive Phasen, argumentiert Ghaemi,
hätten Churchill geholfen, herausragende Führungsqualitäten zu entwickeln.
Die bewies er in der schwersten Krise des vergangenen Jahrhunderts. 1930, weit
vor allen anderen, warnte er vor den Nazis und drang auf eine militärische Aufrüstung. Als Arthur Neville Chamberlain das Münchner Abkommen mit Hitler
unterzeichnet hatte, verweigerten nur Churchill und eine Handvoll Abgeordnete
dem Premier den Applaus und blieben demonstrativ auf den Parlamentsbänken
sitzen. Sie wurden ausgebuht – und hatten doch recht. »Depressive sehen die Welt
tendenziell klarer, mehr so, wie sie ist«, schreibt Ghaemi. Wer kein Vertrauen ins
Leben und in die Zukunft hat, lässt sich nicht täuschen. Auch bei Willy Brandt
gingen finstere Tage mit einer klarsichtigen Politik einher.
194
Die Welt im Kopf
John F. Kennedy steht für ein anderes Extrem. Ghaemi attestiert dem
jungen amerikanischen Präsidenten manische Züge, die sich oft in völlig übersteigertem Tatendrang äußerten. Obwohl Kennedy körperlich sehr angeschlagen
war, arbeitete er wie ein Besessener. Er las Manuskripte im Gehen, diktierte ohne
Unterlass Briefe und Memos, konnte Hände und Füße kaum still halten. Was
andere Präsidenten in einem Jahr an Regierungserklärungen und Gesetzesanträgen bewältigten, erledigte Kennedy in gerade mal zwei Monaten. Zwei Stühle
verschliss der umtriebige Präsident im Weißen Haus durch permanentes Wippen
und Aufspringen. Seine Besessenheit und, damit verbunden, die Begeisterungsausbrüche eines Manikers trugen viel zum glänzenden Image bei, das Kennedy
bis heute anhaftet.
Je nach Umgebung gelangen sehr unterschiedliche Abnormitäten und psychische Auffälligkeiten zu ihrer Blüte. Andy Grove, einer der Gründer des Chipkonzerns Intel, hat in den neunziger Jahren ein Buch mit einem prophetischen
Titel geschrieben: Nur die Paranoiden überleben. Man hat Grove damals ironisch
verstanden, aber der Mann dürfte es todernst gemeint haben. Paranoia äußert
sich oft als Verfolgungswahn und ist eigentlich eine behandlungsbedürftige
Krankheit – kann aber in einer wettbewerbsintensiven Branche zum entscheidenden Plus werden.
Denn wer überall Verfolger und Verräter wittert, tut alles, um Wettbewerber früh aus dem Weg zu räumen. So wie Gina Rinehart, die mächtige australische Bergbauunternehmerin, eine der reichsten Frauen der Welt. Rineharts
Kosmos besteht aus zwei Lagern: aus Verbündeten und aus Feinden, die sie ums
Erbe bringen wollen. Über Jahre zerrte die eisenharte Lady ihre Stiefmutter vor
Gericht und bezichtigte sie des Mordes an ihrem Vater. Sie setzte Privatdetektive
auf sie an, bestach Zeugen, die ihre Widersacherin mit Falschaussagen belasten
sollten, und bewirkte schließlich eine Autopsie ihres Vaters. Diese ergab, dass der
82-Jährige eines natürlichen Todes gestorben war. Ihre eigenen Kinder zwang
Rinehart, Schweigeabkommen zu unterzeichnen, die es ihnen verbieten, schlecht
über die Mutter zu reden.
Restlos geklärt ist sie nicht, die Frage, wie psychische Leiden und beruflicher Erfolg zusammenhängen, aber es gibt Erklärungsversuche. Zum Beispiel bei
der Lese- und Rechtschreibstörung. So lernen Legastheniker schon in der Schule,
Arbeit abzugeben, indem sie Mitschüler oder Mütter dazu bringen, die Hausaufgaben für sie zu machen. Die Fähigkeit, Aufgaben zu delegieren, die anderen die
Kleinarbeit machen zu lassen und sich derweil ums Große und Ganze zu kümmern, zeichnet Führungskräfte aus. Die Erklärung mag sich simpel anhören, aber
fest steht, dass viele prominente Legastheniker ökonomische Weltreiche erschaffen haben. Dazu zählen neben Steve Jobs auch die Gründer von Konzernen wie
Ford, General Electric, IBM und Ikea. Auch Charles Schwab (der Gründer des
gleichnamigen Finanzmaklerunternehmens), John Chambers (der Chef von Cisco) und Ferdinand Piëch (VW) kämpften mit dem Gewimmel der Buchstaben.
Das erkrankte Gehirn
195
Beim »Zappelphilipp-Syndrom« ADHS, das ebenfalls bei zahlreichen Firmengründern zu finden ist, geht die Vermutung in eine andere Richtung: Jemand, der sich nicht lange auf eine Sache konzentrieren kann und sich schnell
langweilt, ist vielleicht ein Chaot, aber eben auch ein Quell immer neuer Ideen.
Er ist kreativer und risikofreudiger als andere.
Eines sollte dabei aber nicht vergessen werden: Psychische Leiden und mentale Störungen jeder Art sind kein Glück für den Betroffenen. Im Normalfall ist
eine Krankheit auch kein Karrierebeschleuniger. Oft zerstört die Diagnose nicht
nur das Leben der Betroffenen, sondern auch das ihrer Familie und Freunde.
Das wohl prominenteste Beispiel ist die Geschichte des genialen Mathematikers
und Spieltheoretikers John Forbes Nash, die unter dem Titel A Beautiful Mind
ein Massenpublikum im Kino begeisterte. Nash litt unter Schizophrenie und
gewann den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.
Vor einiger Zeit verblüffte der ebenso kauzige wie geniale Mathematiker
Grigori Perelman die Öffentlichkeit, als er für die Lösung eines mathematischen
Jahrhunderträtsels die Fields-Medaille, eine Art Mathematik-Nobelpreis, sowie
eine Million Dollar Preisgeld ablehnte. Er hätte zur Verleihung nach Madrid
reisen müssen. Nach Medienberichten verlässt der akademische Eremit äußerst
ungern seine Dreizimmerwohnung, in der er mit seiner Mutter am Rande von
St. Petersburg lebt.
Schon vor 2500 Jahren brachte Aristoteles Genie und Wahnsinn in einen
Zusammenhang. Doch erst im 19. Jahrhundert entwickelte der italienische Psychiater Cesare Lombroso daraus eine bekannte Theorie. Diese wurde wiederum
Anfang des 20. Jahrhunderts stark angezweifelt, etwa von dem britischen Naturforscher Francis Galton. Dieser war überzeugt, dass Genialität nur einem gesunden Geist entspringen könne. »Seither gab es diverse Phasen, in denen wir
psychiatrischen Erkrankungen mal mehr und mal weniger aufgeschlossen gegenüberstanden. Derzeit befinden wir uns in einer toleranten Phase«, sagt der Neuropsychologe Niels Birbaumer von der Universität Tübingen.
Zwischen Genie und Wahnsinn liegt ein schmaler Grad, der mitunter in
den Abgrund führen kann. Vor allem dann, wenn Kontext, Krankheit und Karriere auf unheilvolle Weise zusammenwirken. Dann hat auch das Böse seinen
Platz auf der Karriereleiter.
»Schlangen in Anzügen«, so nennen der Psychologe Robert Hare und der
Unternehmensberater Paul Babiak die psychisch gestörten Aufsteiger, die auf
ihrem Weg an die Spitze erst die anderen, dann dem ganzen Unternehmen und
letztlich auch sich selbst schaden. Der Tübinger Psychologe Birbaumer würde
ihnen gerne eine echte klinische Diagnose stellen, kommt aber nicht nah genug
an sie heran: »Ich bin sicher, dass ein erheblicher Teil der Topmanager erfolgreiche
Psychopathen sind, aber ich kann es nicht beweisen. Dafür müsste ich sie in den
Kernspintomografen stecken«, sagt er. So könnte er die aktiven und die abgeschalteten Hirnregionen erkennen und beobachten.
196
Die Welt im Kopf
Kevin Dutton hat eine andere Methode gewählt, um sich Psychopathen
anzunähern: Er ist selbst einer geworden. Der britische Psychologe unterzog sich
einem »psychopathischen Umstyling«. Dafür ließ er sich auf einem speziell präparierten Zahnarztstuhl festschnallen, seinen Kopf mit einem Geschirr fixieren
und setzte diesen einem elektromagnetischen Feld aus. Dabei wurde – vereinfacht ausgedrückt – jener erdnussgroße Bereich seines Gehirns, der dafür verantwortlich ist, wie wir Dinge empfinden, deaktiviert. Für eine halbe Stunde
fühlte Dutton wie ein Psychopath. Und erschrak über sich selbst: Beim Anblick
von Fotos von Verstümmelten, Gefolterten und Hingerichteten, auf die er zuvor
im Gehirnscan noch heftig reagiert hatte, zeigte er nun keinerlei Regung. Sein
Puls blieb ruhig, die Gehirnströme glitten in sanften Wellen dahin. Hätte er sich
vorher beim Anblick der Bilder noch fast übergeben, sagte er jetzt: »Um ehrlich
zu sein, fällt es mir schwer, ein Lächeln zu unterdrücken.«
Zum ersten Mal spürte Dutton am eigenen Leib, was allen Psychopathen
fehlt: die Fähigkeit zur Empathie. Mit Entsetzen stellte der Gelehrte fest, dass es
sich in dieser Gefühlskälte wunderbar leben lässt. »Ich fühlte mich großartig! Es
war ein bisschen, wie betrunken zu sein, aber ohne die Trägheit und Müdigkeit
von Alkohol. Ich war enorm fokussiert und platzte vor Selbstvertrauen.«
Dutton trägt eine auffällige Hornbrille, das nach hinten gekämmte Haar
fällt auf ein rosafarbenes Hemd mit Blümchenmuster. Er empfängt im altehrwürdigen Magdalen College der Oxford-Universität, das sich rühmt, sieben
Nobelpreisträger hervorgebracht zu haben. Dutton führt durch den von Efeu
umrankten Innenhof mit den spitzen Türmchen und
den hohen Fenstern, umrundet den perfekt getrimmten Rasen, der so aussieht, als hätte ihn
noch nie jemand betreten. Sein Büro liegt im
neueren Teil des Colleges, wobei in Oxford
als neu gilt, was nicht älter als 300 Jahre
Psychopathen
ist. Wo einst der Literaturwissenschaftler
verfügen über Eigenschaften,
C. S. Lewis, der Verfasser der Chroniken
die im Beruf sehr nützlich
von Narnia, sein Arbeitszimmer hatte,
sein können. Sie sind Meister
serviert Dutton Tee mit Zitrone, entder Manipulation.
schuldigt sich für die fehlenden Biskuits
und versinkt in einem Polstersessel.
Auf dem Tisch liegt Duttons neuestes
Werk, das vor wenigen Monaten auf Deutsch
erschienen ist: Psychopathen: Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann. Man
fragt sich natürlich, ob man überhaupt etwas von ihnen
lernen will. Sind Psychopathen nicht diese blutrünstigen Serienkiller, die Frauen
verstümmeln und Kinder verscharren? »Das sind nur die extremsten Vertreter,
die früher oder später im Gefängnis landen.« Für Dutton sind das die erfolglosen
Das erkrankte Gehirn
197
Psychopathen – die weitaus größere Zahl, glaubt Dutton, laufe frei herum und sei
im Job sogar überaus erfolgreich. Denn Psychopathen verfügen über Eigenschaften, die im Beruf sehr nützlich sein können: Sie halten sich für grandios, können
extrem charmant sein, kennen weder Skrupel noch Reue oder Angst, scheuen
kein Risiko und wissen, wie man andere geschickt für seine Zwecke einsetzt. Sie
sind Meister der Manipulation.
Wohl niemand beherrschte das besser als Adolf Hitler, der vielleicht
schlimmste Irre der Weltgeschichte, der die Psychopathie gewissermaßen zur
Staatsform erhob.
Dutton wollte nicht nur wissen, was Psychopathen erfolgreich macht,
sondern auch, in welchen Berufen sie häufig anzutreffen sind. In einer groß angelegten Studie setzte er britischen Berufstätigen einen Persönlichkeitstest vor,
mit dem er psychopathische Merkmale abfragte. Die Berufe mit dem höchsten
Anteil an Psychopathen waren – in dieser Reihenfolge – Vorstandsvorsitzende,
Anwälte, Rundfunkjournalisten, Verkäufer, Chirurgen. Auch Geistliche und Beamte waren unter den Top Ten.
»Psychopathen lieben Machtstrukturen, die sie manipulieren und kontrollieren können. Manche Berufe bieten dafür ein ideales Umfeld«, sagt Dutton. Ein
Manager, der unter großem Druck harte Entscheidungen treffen und andere ausstechen kann, ist erfolgreicher als einer, der sich in Selbstzweifeln ergeht. Ein Strafverteidiger, der seinen Mandanten rücksichtslos vertritt, bringt es weiter als einer,
der Mitleid mit dem Opfer hat. Ein Chirurg, der sich von seinem Patienten emotional ganz und gar distanziert, operiert womöglich präziser. So argumentiert Dutton.
Erfolgreiche Business-Psychopathen sind dabei
nicht unbedingt weniger gestört als inhaftierte Gewaltverbrecher. Das zeigt eine Studie der beiden
Psychologinnen Belinda Board und Katarina
Fritzon aus dem Jahr 2005, die die Wesenszüge von 39 britischen Firmenchefs mit
Ein Manager,
denen von über tausend Insassen der
der harte Entscheidungen
englischen Hochsicherheitsklinik Broadtreffen und andere
moor verglichen. Das Ergebnis: Die Wirtausstechen kann, ist
schaftsführer übertrafen die verhaltenserfolgreicher als einer, der sich
gestörten Kriminellen sogar in manchen
in Selbstzweifeln ergeht.
Eigenschaften, die Psychopathen zugeschrieben werden. Sie traten noch herrischer
auf, zeigten noch weniger Mitgefühl und waren noch besser darin, andere zu manipulieren.
Das bedeutet: Die Kombination aus mangelnder Empathie und fehlender Angst vor den Folgen
des eigenen Handelns kann einen Menschen je nach Umstand zu einem blutrünstigen Ted Bundy machen oder zu einem smarten James Bond.
198
Die Welt im Kopf
Auch in Richard Fuld, einstiger Chef der Pleite-Bank Lehman Brothers, deren Zusammenbruch den Ausbruch der globalen Finanzkrise markiert, erkennen
manche einen Paradepsychopathen. Fuld, auch bekannt unter dem Spitznamen
Gorilla, drohte in einem internen Firmenvideo Widersachern an, ihnen das Herz
bei lebendigem Leibe herauszureißen und es zu verschlingen. Das US-Magazin
Time wählte Fuld unter die »25 Menschen, die die Finanzkrise verschuldet haben«.
Darüber, ob die Finanzkrise das Werk von Psychopathen ist, lässt sich nur
spekulieren. Aber es ist plausibel, dass in einer kompetitiven und auf kurzfristige
Gewinne ausgerichteten Geschäftswelt Psychopathen leichter nach oben gelangen.
Dutton glaubt sogar, dass unsere Gesellschaft insgesamt psychopathischer
wird. Eine Meta-Analyse der US-Psychologin Sara Konrath mit mehr als 13 000
amerikanischen Collegestudenten zeigt, dass die Empathiewerte zwischen 1979
und 2009 kontinuierlich abnahmen, am deutlichsten war der Abfall nach dem Jahr
2000. Die Studenten zeigten immer weniger Anteilnahme für Menschen, denen es
nicht so gut ging wie ihnen. »Gleichzeitig hat der Narzissmus in dieser Zeit zugenommen mit dem stärksten Anstieg in den vergangenen zehn Jahren«, sagt Dutton.
Die Folgen können gewaltig sein, wenn einflussreiche Narzissten zerstörerisch wirken. »Wir mussten den Mann schließlich rausnehmen, weil die ganze
Organisation nach und nach in Schockstarre verfiel«, erzählt der ehemalige Personalchef einer international operierenden Großbank über den Ex-Vorstandsvorsitzenden einer nationalen Tochter. »Der CEO hatte alle Anzeichen einer narzisstischen Störung und glaubte, besser zu sein als alle anderen. Dann begann er,
ausschließlich Menschen um sich zu versammeln, die ihm bedingungslos zustimmten. Wer ihn kritisierte, flog raus.«
Lange sei die Entwicklung unbemerkt geblieben, erinnert sich der Personaler.
Und selbst als das Verhalten auffiel, habe sich die Bank nur schwer von dem Chef
trennen können. Denn auf dem Papier waren die Ergebnisse des Topmanagers prächtig, an den Umsätzen und Gewinnen der von ihm gelenkten Tochtergesellschaft
war nichts auszusetzen. Zudem konnte er gegenüber seinen eigenen Vorgesetzten
äußerst charmant und überzeugend auftreten. Dass ihn seine narzisstische Störung
schließlich doch den Job kostete, lag daran, dass es kaum ein Mitarbeiter bei ihm
aushielt. »Er feuerte viele Leute, die besten gingen freiwillig, weil sie so nicht mehr
weiterarbeiten wollten«, erzählt der ehemalige Personalchef. »Die Bank verlor auf
diese Weise viel wertvolles Know-how. Lange wäre das nicht mehr gut gegangen.«
Mit Entwicklungsstörungen und psychischen Leiden ist es wie mit Dr.
Jekyll und Mr. Hyde. Psychopathen oder Narzissten können ein Unternehmen
zum Erfolg führen oder es zugrunde richten. Oder beides – in dieser Reihenfolge. Ein manischer Manager kann ungeahnte Kreativität freisetzen oder seine
Mitarbeiter in den Wahnsinn treiben. Ein depressiver Chef kann Weitsicht entwickeln oder in Tatenlosigkeit verfallen. Es kommt also sehr darauf an, in welche
Richtung eine Krankheit ausschlägt. Und wie die Umgebung reagiert – ob sie die
Störung auffängt oder sie noch verstärkt.
Das erkrankte Gehirn
199
Es kommt aber auch darauf an, was eine Gesellschaft für »normal« hält.
Der deutsche Softwarekonzern SAP hat diese Definition als eines der ersten Unternehmen erweitert. Vor wenigen Wochen kündigte die Firma an, gezielt auch
Autisten einzustellen.
Autismus ist eine unheilbare Entwicklungsstörung, bei der Wahrnehmung
und Verarbeitung von Informationen beeinträchtigt sind. Viele Autisten sind
arbeitsunfähig und können ihren Alltag ohne Hilfe nicht meistern. Aber gerade diejenigen mit Asperger-Syndrom, einer milden Ausprägung von Autismus,
unterscheiden sich in Intelligenz und Sprachvermögen nicht von anderen Menschen. Nur tun sie sich mit den einfachen Dingen im Leben enorm schwer. Der
Kinofilm Rain Man, in dem Dustin Hoffman einen genialen Autisten spielt, der
mit seinem Bruder (Tom Cruise) durch Amerika tourt, hat das Leiden Millionen
Menschen zum ersten Mal nähergebracht. Autisten haben Probleme, soziale Situationen richtig einzuschätzen und mit anderen Menschen zu kommunizieren.
Jede Mimik, jede Geste ist für sie ein Code, den sie mühsam knacken müssen. Sie
lernen Gesichter zu lesen wie andere chinesische Schriftzeichen. Menschliche Begegnungen bedeuten für sie Stress. Sie vermeiden Blickkontakt, Smalltalk empfinden sie als Qual, was ihre Routine stört, bringt sie aus der Fassung. Schon ein
Blumentopf, der nicht an seinem gewohnten Platz steht, kann eine Krise auslösen.
Etwa ein Prozent der Bevölkerung lebt mit einer Form von autistischer Störung. Der Softwaregigant SAP hat sich nun verpflichtet, diese Quote auch bei seinen Angestellten zu erreichen. SAP hat weltweit 66 000 Mitarbeiter, Hunderten
von Autisten winkt nun also ein Arbeitsplatz. Diese Aktion ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung, denn SAP glaubt, dass Autisten in der Welt der Computerprogramme Spitzenleistungen vollbringen können.
Autismus – Menschen mit Autismus haben Probleme, soziale Situationen richtig
einzuschätzen und mit anderen Menschen angemessen zu kommunizieren. Es
handelt sich dabei um eine tief greifende
Entwicklungsstörung. Unterschieden
wird zwischen frühkindlichem Autismus,
atypischem Autismus und dem AspergerSyndrom. Weil die Abgrenzung zunehmend schwerfällt, wird heute oft der
Oberbegriff Autismus-Spektrum-Störung
200
Die Welt im Kopf
verwendet. Woher Autismus kommt, ist
unklar. Wahrscheinlich wirkt mehreres
zusammen: Schädigungen am Gehirn,
biochemische Störungen und die Gene.
Menschen mit Asperger, benannt nach
einem Wiener Kinderarzt, der diese milde
Form des Autismus 1944 erstmals beschrieb, besitzen eine normale bis überdurchschnittliche Intelligenz. Etwa 6 von
1000 Menschen sind Autisten, die Hälfte
von ihnen leidet am Asperger-Syndrom.
Viele Autisten sind sehr geschickt im Umgang mit Zahlen, Daten, Formeln.
Ihr Blick für Details und ihre Vorliebe für Regeln sind ideale Voraussetzungen
für die Arbeit mit Algorithmen. Computer funktionieren nach binären Regeln,
sie haben eine klare Struktur und eine logische Sprache und müssen nicht erst
mühsam entschlüsselt werden. Maschinen sind berechenbarer als Menschen.
»Wir bekommen unglaublich viele Bewerbungen, seit wir unseren Plan publik gemacht haben«, sagt Anka Wittenberg, Chief Diversity Officer bei SAP und
verantwortlich für das Autismus-Programm. In den Büros im indischen Bangalore habe der Konzern schon einige Erfahrung gesammelt. Dort arbeiten Autisten
seit zwei Jahren, »sie sind so weit integriert, dass sie mittlerweile selbstständig zur
Arbeit kommen können, ohne dass sie von Familienmitgliedern begleitet werden
müssen. Stellen Sie sich diesen Freiheitsgewinn vor«, sagt Wittenberg.
SAP profitiert von den Neuen, weil Autisten oft »ein fotografisches Gedächtnis haben und Fehler sehr schnell erkennen«, sagt die Managerin. Zum Beispiel
entdecken sie kleinste Fehler in seitenlangen Programmcodes besser als andere.
Autisten üben auch solche Tätigkeiten überdurchschnittlich gut aus, die sich sehr
oft wiederholen. Außerdem habe sich das Betriebsklima gewandelt. »Menschen
mit Autismus verstehen keine Ironie und keinen Sarkasmus, sie benötigen eine
klare Kommunikation. Dies kommt allen Mitarbeitern zugute. Seit die Teams gemischt sind, geht man höflicher und ehrlicher miteinander um«, sagt Wittenberg.
Demnächst soll das Programm auch in den SAP-Büros in Palo Alto im Silicon Valley starten. Die Gegend südlich von San Francisco wird von Firmen wie
Google, Facebook und Apple beherrscht, sie gilt als Brutstätte des Nerds, jenes
sozialen Sonderlings, der in analogen Dingen zwar ein Problemfall ist, im digitalen Kosmos aber ein Held. Mit komplizierten Programmcodes und Formeln
jonglierend, wurde er zum Leitbild einer ganzen Generation. In der Fernsehserie
Big Bang Theory wird dem Nerd ein Denkmal gesetzt.
Im Silicon Valley scheint Asperger schon fast zum Gencode eines erfolgreichen Unternehmers zu gehören. The Geek Syndrome nannte das Technologiemagazin Wired den Asperger-Autismus einmal, das Computerfreak-Syndrom.
Microsoft-Gründer Bill Gates werden autistische Züge zugeschrieben. Craig
Newmark, der Gründer des erfolgreichen Kleinanzeigenportals Craigslist, hat
einmal gesagt, die Symptome kämen ihm »auf unbehagliche Weise vertraut« vor.
Peter Thiel, einer der frühen Investoren in Facebook, erzählte vor zwei Jahren im
New Yorker von den besonderen Menschen im Tal der digitalen Wunder: »Sehen
Sie sich all die Internetunternehmen der vergangenen zehn Jahre an«, sagt er.
»Deren Führungskräfte sind alle auf irgendeine Art und Weise autistisch.« Im
Valley kursiert der Witz, das ganze Internet sei von Autisten für Autisten erfunden worden.
Tatsächlich gibt es in der Region überdurchschnittlich viele Menschen
mit autistischen Symptomen. Die Diagnose trifft eines von 88 Kindern. Kein
Zufall. Der Autismusforscher Simon Baron-Cohen hat herausgefunden, dass
Das erkrankte Gehirn
201
Cambridge-Studenten, die Mathematik, Physik oder Ingenieurwesen studieren,
mit größerer Wahrscheinlichkeit autistische Verwandte haben als etwa Literaturstudenten.
Gerade der Umgang mit dem Asperger-Syndrom zeigt, wie produktiv es
sein kann, die Definitionen des Normalen zu allen Zeiten infrage zu stellen. Vielleicht brauchen neue Zeiten neue Menschen. Es könnte ja sein, dass Erfindungen
und unerwartete Entwicklungen der Arbeitswelt die Stärken der Schwachen zutage treten lassen. Dass das Anderssein sich plötzlich als evolutionärer Vorteil
entpuppt. Dass als genial entdeckt wird, was eben noch als krank galt. Und dass
die Verlierer von gestern die Gewinner von morgen sind.
von Kerstin Bund und Marcus Rohwetter aus der ZEIT Nr. 34/2013
Coach oder Couch
Über seelische Leiden wird so offen geredet wie nie. Doch ernsthaft
Betroffene finden kaum richtige Hilfe. Was läuft schief?
Als sich Hanna Pohl* zum ersten Mal bei ihrer Psychotherapeutin fallen lässt, hat
sie noch immer das Gefühl: Eigentlich gehöre ich gar nicht hierher. Die 40-Jährige, zierlich, asymmetrischer Kurzhaarschnitt, hat viel erreicht. Sie lebt in einer
schönen Altbauwohnung in Berlin und entwickelt Vermarktungsstrategien für
ein globales Technologieunternehmen. Sie ist gefördert worden, gut bezahlt, war
immer passioniert bei der Arbeit.
Bis sich ihre Abteilung, von Schließung bedroht, in ein Haifischbecken verwandelt hat. Die Teamleiterin Pohl erlebt, wie sie »leistet und leistet«, aber im
Konkurrenzkampf trotzdem »fertiggemacht und weggebissen« wird. Zwei Jahre
geht das so, jetzt hat sie sich endlich einen Ruck gegeben: »Lass dir mal helfen.
Rede mit jemandem nur über dich. Den Luxus gönnst du dir.«
Die Geschichte klingt wie eine jener typischen Burn-out-Episoden, von
denen man seit einiger Zeit überall hört und liest. Doch sie wirft eine Frage
auf, die dabei selten gestellt wird und längst nicht nur gestresste Manager und
Erschöpfungsgeplagte betrifft: Warum hat Hanna Pohl so lange gewartet, bis sie
zu einem Therapeuten ging? Kann es sein, dass – trotz all der Berichte über ausgebrannte Fernseh- und Fußballstars – noch immer viele Menschen Hemmungen
haben, sich einem »Seelenklempner« anzuvertrauen? Fehlt ihnen im Dschungel
der diversen Therapieformen die Orientierung, das richtige Angebot?
Zwei Hörstürze hat Hanna Pohl erlebt, bevor sie endlich Hilfe sucht. Mehrmals
ist sie mit Schmerzen in der Brust beim Kardiologen gewesen, auch am Wochenende,
jedes Mal ohne organischen Befund. Sie schläft schlecht, fühlt sich zu Hause wie gelähmt, bedrohlich oft überfällt sie der Gedanke: Wofür lebst du überhaupt noch? Nur
die Verantwortung für ihren dreijährigen Sohn ist es, die sie hält. Die Analytikerin diagnostiziert eine schwere Erschöpfungsdepression, die auch tiefer liegende Konflikte
wachgerufen hat. Nun sieht Hanna Pohl die Therapie nicht mehr als Luxus.
In der Rückschau sagt sie: »Schwach und gekränkt zu sein, das war für mich
und meine Welt total tabu.« Tabu? Das klingt paradox in einem Land, in dem die
Selbsterfahrungskultur blüht und sogar die Arbeitsministerin öffentlich erklärt,
dass »psychische Störungen« zu den »drängendsten Problemen in der Arbeitswelt«
*Name von der Redaktion geändert
202
Die Welt im Kopf
Das erkrankte Gehirn
203
zählen. Wie passt das zusammen? Was stimmt nicht mit unserem System der Versorgung, wenn sich jemand über Monate, ja Jahre mit einem schweren seelischen
Problem quält und nicht die richtige Hilfe bekommt?
Der Bedarf ist längst erkannt. Pro Jahr durchlebt ein Drittel der Bevölkerung ein psychisch bedingtes Leiden; in der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen
betrifft das sogar 45 Prozent. Das haben Psychologen der TU Dresden jüngst
im Auftrag des Robert-Koch-Institutes ermittelt und damit frühere Befunde
bestätigt. Die Krankheitsformen reichen von Verdauungsbeschwerden bis Kopfschmerzen, Panikattacken bis Phobien, Sucht bis Depressionen. Manches Problem
löst sich von selbst, andere müssen behandelt werden. 53 Millionen Krankentage
gingen allein 2010 auf solche Ursachen zurück. 27 Milliarden Euro geben Arbeitgeber und Versicherungen laut dem Statistischen Bundesamt jährlich für die
Behandlung seelischer Störungen aus. Diese sind in fast vierzig Prozent der Fälle
die Begründung dafür, dass sich Lehrer, Manager oder Schichtleiter vorzeitig in
den Ruhestand abmelden.
Dennoch sagt der Hamburger Psychiater und Psychotherapeut Michael
Stark: »Psychisch krank zu sein ist nach wie vor ein Stigma.« In seiner Klinik
erlebt er, dass sich Patienten nicht trauen, ihren Freunden zu erzählen, wo sie
sind. Auch viele Hausärzte bekommen, wenn sie eine Überweisung zum Psychotherapeuten schreiben wollen, vor allem von Männern zu hören: Ich hab doch
nichts am Kopf. Bin doch nicht bekloppt. Geh doch nicht in die Klapsmühle.
Viele Kranke würden sich »lieber operieren lassen, als zum Therapeuten zu gehen«, sagt Peter Henningsen, Direktor der Klinik für psychosomatische Medizin
und Psychotherapie an der Technischen Universität München. Alles – bloß nicht
die Seele!
Auf andere Weise schauen auch Gesundheitspolitiker weg. Dem immensen
Bedarf an Hilfe steht ein Engpass bei den Therapieplätzen gegenüber. Bundesweit stehen Klienten im Durchschnitt drei Monate lang auf den Wartelisten, ehe
sie einen Therapeuten auch nur ausprobieren können. Hanna Pohl fasste beim
ersten Versuch kein Vertrauen, suchte lange weiter nach einem passenden Helfer
und musste sich dann noch einmal fast ein Jahr lang gedulden, bis sie bei der
gewünschten Analytikerin unterkam. Auch die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken könnten derzeit fast alle anbauen. Die Zahl der Menschen,
die dort wegen psychischer Störungen behandelt werden, hat laut dem Krankenhausreport der Barmer GEK in den vergangenen 20 Jahren um 129 Prozent zugenommen. 1990 waren es 3,7 von tausend Versicherten, 2010 bereits 8,5.
Insgesamt ist die Behandlungsrate außerordentlich gering: Nicht mal ein
Drittel der Betroffenen hat sich überhaupt versorgen lassen, stellen die Forscher der
TU Dresden fest; und wenn, dann häufig erst Jahre nach dem Beginn ihrer Krankheit. Nur etwa zehn Prozent bekommen früheren Studien zufolge die Therapie, die
ihrer Diagnose angemessen wäre. »Skandalös« findet Rainer Richter, Präsident der
Bundespsychotherapeutenkammer, diese Unterversorgung. Verantwortlich dafür
204
Die Welt im Kopf
sei nicht zuletzt ein langjähriges politisches Desinteresse an dem Thema. Auch das lasse sich als
Ausdruck eines Stigmas interpretieren.
Ob wirklich überall neue Kapazitäten
Psychisch krank
fehlen,
ist unter Experten umstritten. Dazu
zu sein gilt als Stigma:
sind die Informationen über das, was in
Ich habe doch nichts am
den Praxen und Kliniken geschieht, oft zu
Kopf. Bin doch nicht
ungenau und die Unterschiede in der Verbekloppt. Geh doch nicht in
sorgungslage viel zu groß. Beispielsweise
die Klapsmühle.
wartet man in ländlichen Regionen länger
auf einen Therapieplatz als in Großstädten,
im Ruhrgebiet oder im Osten länger als im
Süden. Sicher aber ist: Die vorhandenen Angebote werden häufig nicht bedarfsgerecht vergeben.
Längst nicht jeder Hilfesuchende landet bei dem Therapeuten, den er eigentlich brauchte. »Eine vergleichbare Lage in der somatischen
Medizin würde niemand tolerieren«, vermutet der Psychiater Michael Welschehold vom psychiatrischen Krisenzentrum Atriumhaus in München.
Ein Grund für die Misere sind ausgerechnet die verstärkten Debatten um
schwammige, aber psychologisch nicht definierte Syndrome wie Burn-out oder
Mobbing. Die führen dazu, dass der Ansturm auf die Psychotherapie-Praxen
steigt – und dass oft nur die Durchsetzungsfähigsten einen Therapieplatz erobern, wie die Psychologin Katja Salkow von der Berliner Salus-Ambulanz beschreibt: »Klienten mit einer schwerwiegenden Diagnose, die einen Therapieplatz
viel nötiger hätten, werden oft weitergeschickt.« Michael Welschehold bestätigt:
»Nicht jeder, der sich ausgebrannt und erschöpft fühlt, ist auch im engeren Sinne
psychisch krank und behandlungsbedürftig.« Oft brauchten diese Menschen
eher vielfältige Lebenshilfe als eine Analyse oder Medikamente. Sie nehmen den
Schwerkranken die Plätze weg.
Offensichtlich passen also die Seelenlage der Nation, deren öffentliche
Wahrnehmung und die Konzepte, sie zu stabilisieren, nicht mehr zusammen –
auf Kosten der Schwächsten.
Dabei werden psychische Leiden so verständnisvoll verhandelt wie nie zuvor. »Auch die Schönen und Reichen haben oft verletzte Seelen«, stellt zum Beispiel die Bunte mitfühlend fest und schildert episch, wie selbstverständlich Carla
Bruni ihre Selbstzweifel offenbart oder Mr. and Mrs. Obama ihre Ehekrisen zum
Therapeuten tragen. Als Hanna Pohl ihr Depressionsproblem einem Bekannten
anvertraute, beruhigte der sie sogar schulterklopfend: »Ist doch schon fast ein
Makel, wenn man noch nicht zum Psycho geht!«
Menschen aber, die gravierende Krankheiten wie Sucht, Schizophrenie oder
Psychosen durchleiden, bleiben stigmatisiert; die Ablehnung ihnen gegenüber hat
sich sogar leicht verstärkt, fand eine Forschungsgruppe der Universität Greifswald
Das erkrankte Gehirn
205
für mehrere westliche Länder, auch Deutschland, heraus. Derart psychisch Erkrankte will eine deutliche Mehrheit weder als Nachbarn noch anderweitig in
der Nähe haben. »Je fremder und unberechenbarer, desto weniger«, sagt Georg
Schomerus, einer der Autoren der Studie.
Auch Martina Mayer* kennt die bohrende Sorge, »dass die Nachbarn
tuscheln könnten: Jetzt ist sie ganz verrückt«. Die 38-Jährige hat seit Langem
Angst- und Essstörungen. Ob diese Leiden Ursache oder Folge ihres beruflichen
Scheiterns sind, ist schwer zu sagen. Klar ist: In ihrem 500-Seelen-Dorf in Brandenburg findet die gelernte Altenpflegerin keine Arbeit mehr.
Dabei unternimmt sie seit Jahren immer neue Bewerbungsanläufe, als
Übersetzerin, in einem Fotoladen – und hat immer wieder Pech. Als Alleinerziehende, die wegen ihrer Diabeteserkrankung nicht alles machen kann, habe sie
es einfach besonders schwer, sagt Mayer. Schließlich hat sie sich kaum mehr aus
dem Haus getraut und ihre Verletzlichkeiten, aber auch Fähigkeiten in einem
weichen Panzer aus zu vielen Kilos verschanzt. Jahre hat es gedauert, bis sie sich
endlich zu einer Psychotherapie entschlossen hat. Doch das wird sie nur ihren
Eltern erzählen: »Glauben Sie denn, dass die Gesellschaft schon so weit ist?«
Tatsächlich kommt zu den persönlichen Gefühlen von Scham und Schuld
oft die Angst hinzu, ausgegrenzt zu werden. Schließlich gibt es bei psychischen
Krankheiten noch immer Vorurteile und eine Missachtung, die bei körperlichen
Erkrankungen unmöglich wäre. Da lehnt die private Krankenkasse es ab, die
Kosten für den Psychotherapeuten zu übernehmen. Da zögert der Staat, Bewerber zu verbeamten, wenn sie einmal in einer Therapie waren. Jugendliche beschimpfen sich in der U-Bahn: Du Schizo, Depri, Psycho! Ein Kollege geht lieber
zum Coach – das klingt nicht so peinlich wie die Couch.
In mehr als der Hälfte der Fälle zögerten selbst Familienmitglieder und
Freunde, denen sich Betroffene anvertrauten, einen Psychotherapeuten zu empfehlen, schreibt das Autorenteam einer Studie der Universität Leipzig. Während
für regelmäßige Besuche im Fitnesscenter Bonuspunkte bei der Kasse diskutiert
werden, gilt ein Selbsterfahrungswochenende in der Psychoklinik eher als verdächtiges Unterfangen denn als gesundheitliche Prävention.
Das Tabu greift unterschiedlich stark. Bei Männern, in der älteren Generation, auf dem Land und in toughen Managementetagen wirkt es in der Regel
stärker als bei Frauen, jüngeren Leuten, in sozialen Berufen, in der Stadt. In jedem Falle erschwert es die Lage der Betroffenen, weil sie im Verborgenen leiden.
Und je länger wiederum eine seelische Erkrankung beiseitegeschoben wird,
desto komplizierter kann sie sich entwickeln. Die Eskalationen treiben die Behandlungskosten in die Höhe. Martina Mayer etwa hat über die Jahre zusätzlich
zu ihrer Angst alle möglichen psychosomatischen Störungen ausgeprägt, die teils
chronisch wurden. Auch Hanna Pohls Zustand wäre womöglich nicht so dramatisch geworden, hätte ein Arzt sie früher zum Therapeuten überwiesen. Gegen die
Depression musste sie fast zwei Jahre lang Psychopharmaka einnehmen.
206
Die Welt im Kopf
Dabei ist die Wirksamkeit der Psychotherapie selbst für erhebliche Störungen längst nachgewiesen. Dass vielen der Gang zum Therapeuten dennoch
so schwerfällt, erklärt der Greifswalder Psychologe Georg Schomerus auch mit
Veränderungen der wissenschaftlichen Deutung. In den sechziger bis achtziger
Jahren, als gesellschaftskritische Psychoanalytiker wie Alexander und Margarete
Mitscherlich oder Horst-Eberhard Richter die »Geisteskrankheit« enttabuisierten
und die »Antipsychiatrie«-Bewegung die Würde der diskriminierten »Verrückten«
verteidigte, wurden psychische Störungen auf soziale Ursachen zurückgeführt.
Schuld waren die autoritäre Gesellschaft, die sexuellen Tabus, der »Leistungsdruck«, die »Konsumgesellschaft«.
Heute sprechen mehr und mehr Psychologen von einem komplexen »biopsychosozialen« Zusammenhang. Doch in den vergangenen Jahrzehnten standen
die genetischen Prägungen besonders im Fokus der Ursachenforschung, oder
man untersuchte minutiös chemische Vorgänge im Gehirn, um bessere Psychopharmaka entwickeln zu können. In den Gesundheitsrubriken populärer Zeitschriften zeigten bunte Bilder die aktiven zerebralen Areale. Diese »Biologisierung«, sagt Schomerus, habe psychische Krankheiten leider nicht – wie erhofft
– durch Wissen entdämonisiert. Im Gegenteil, das Stigma des Schicksalhaften,
Dunklen, Unberechenbaren sei eher noch verstärkt worden. Bei vielen Patienten
macht sich die fatalistische Haltung breit: Es liegt an mir.
Dazu kommt der allgegenwärtig signalisierte Zwang zum individuellen
Erfolg, dessen Druck sich auch Hanna Pohl irgendwann nicht mehr gewachsen
fühlte. In den scripted reality-Shows im Fernsehen habe sie nur die zwei Extreme
gesehen: »Germany’s Top-Erfolgreiche – oder die Verlierer und Versager«. Da
muss im Privatleben alles stimmen; zugleich wird die berufliche Anerkennung
immer wichtiger für das Selbstwertgefühl. Fehlt die Wertschätzung am Arbeitsplatz, obwohl man sich ständig anstrengt, führt das besonders häufig zu seelischen
Krankheiten. Untersuchungen belegen, dass die mangelnde Bestätigung dann
schädlicher ist als der reine Arbeitsstress. Wenn zudem die Grenzen zwischen
Arbeits- und Privatleben verschwimmen, weil man in Teams enger zusammenarbeitet und per Handy ständig erreichbar ist, wachsen die Hemmschwellen erst
recht, sich und anderen einzugestehen, dass man am Anschlag ist. »Mein Chef,
der mich tagsüber demütigte und hinterging, rief abends bei mir zu Hause an, um
seine Sorgen bei mir abzukippen«, erzählt Hanna Pohl.
Die Debatte über Burn-out hat zwar einerseits mehr Akzeptanz für seelische
Leiden geschaffen. Andererseits wird schon sprachlich sorgsam das Stigma der
Depression vermieden, die oft hinter der Erschöpfung liegt. »Sogar die Krankheit
muss man sich noch durch Leistung verdienen«, sagt Georg Schomerus, »darf
man nicht einfach krank sein?« In so einem Klima werde den arbeitslosen und
ärmeren Menschen umso mehr unterstellt, sie seien selbst an ihrer seelischen Erkrankung schuld, schreiben die Psychologin Irene Kühnlein und der Wirtschaftssoziologe Gerhard Mutz in einer Studie über den Wandel der Psychotherapie.
Das erkrankte Gehirn
207
Martina Mayer scheint das verinnerlicht zu haben: »Es gibt die Starken und die
Schwachen. Zu den Starken gehöre ich nicht.«
Für sie ist es nur ein schwacher Trost, wenn Arbeitsministerin Ursula von
der Leyen »mit höchster Priorität« nach Lösungen für das Problem der psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz suchen will – denn dabei geht es ja vorwiegend um jene, die unter einem Zuviel der Anforderungen leiden. Doch fast
noch schlimmer ist es in einer Leistungsgesellschaft, aus dem Arbeitsprozess ganz
herauszufallen. Arbeitslose bekommen in Deutschland etwa doppelt so häufig
psychische Probleme wie Berufstätige. Ihre oft langwierigen Qualen haben weit
weniger Glamour als das Burn-out eines Prominenten.
Immerhin: Eine Suchbewegung hat begonnen, um in der widersprüchlichen Situation zwischen Psycho-Boom und Psycho-Tabu neu zu klären: Wer gilt
als krank und wer als gesund? Wem sollen die Gesundheits- und Sozialsysteme
helfen? Und wie werden die Mittel gerechter verteilt? Bislang gehen vor allem
Fachkreise diesen Fragen nach, und angesichts der ungenauen Datenlage drohten
»Willkür« und »politischer Kuhhandel«, wenn jetzt über neue Versorgungsstrukturen nachgedacht werde, kritisiert der Psychologe Hans-Ulrich Wittchen, der
die Untersuchung an der Technischen Universität Dresden geleitet hat.
Schon weisen sich unterschiedliche Berufsgruppen
gegenseitig die Schuld zu. Da werfen Psychiater den
Psychotherapeuten vor, sie kümmerten sich nur
um die leichteren, bequemeren Fälle sich selbst
bespiegelnder Mittelschichten; die Therapeuten
Ein Drittel der
kontern, Psychiater verdienten schnelles Geld
Bevölkerung durchlebt
mit Medikamentenrezepten im Minutentakt.
pro Jahr ein psychisch
Hinter dem Streit stecken knallharte Verteibedingtes Leiden.
lungskämpfe, die womöglich erneut auf KosDoch es mangelt an
ten der sozial Schwächsten gehen. Schon jetzt
geeigneten Therapiewerden viele Psychologen lieber Coach, weil
plätzen.
man mit Beratung besser verdient; Unternehmen schließen angesichts der langen Wartelisten
langfristige Verträge mit Therapeuten, um sich eine
schnelle Betreuung für ihre Mitarbeiter zu sichern.
Denn zumindest in den großen Firmen ist – schon
wegen der hohen Krankheitskosten – einiges in Bewegung geraten. Gesundheitsabteilungen versuchen, Führungskräfte zu sensibilisieren, zur Vorbeugung
sollen Arbeitszeiten flexibler gestaltet oder Mitarbeiter an Entscheidungen beteiligt werden. »Wenn Betriebsärzte jemals ernst genommen wurden, dann heute«,
sagt die Arbeitsmedizinerin Marianne Engelhardt-Schagen. Wichtig sei, nicht
bei der Verhaltensprävention stehen zu bleiben, sondern die Verhältnisse zu verbessern. »Seelische Störungen sind nicht nur ein persönliches, sondern auch ein
strukturelles Problem. Es kann einfach nicht sein, dass so viele scheitern.«
208
Die Welt im Kopf
Beim Blick auf die Versorgungsstrukturen ist kaum mehr strittig, dass sich
Hausärzte, Fachärzte und Kliniken besser koordinieren müssen, um flexibler auf
die einzelnen Klienten eingehen zu können. Einige Therapeuten schlagen eine
Sprechstunde wie beim Hausarzt auch für Psychotherapeuten vor; sie würde
mehr kurze Gesprächsinterventionen ermöglichen als die zigstündige Behandlung nach langwierigen Genehmigungsverfahren. Eine größere Vielfalt an Beratungsstellen müsse geschaffen werden, die Menschen in seelischen Notlagen
kurzfristig helfen oder an die richtigen Stellen lotsen können. Beispiele dafür
sind die psychiatrischen Krisenambulanzen in Berlin und München. Oder die
psychologische Salus-Ambulanz in Brandenburg: Dort wird eine intensive Zusammenarbeit mit Arbeitsämtern und Suchtkliniken erprobt.
Im Rahmen dieses neuen Modells empfahl eine aufmerksame Betreuerin
des Jobcenters auch Martina Mayer, eine psychologische Beratungsstelle in Potsdam aufzusuchen, damit sie seelisch stabiler wird und sich ihre Vermittlungschancen erhöhen. Die Gespräche in der Salus-Ambulanz haben Mayers Blick für
die eigenen Lebensumstände und Verhaltensmuster allmählich geschärft, und
ihre Entscheidung reifte, trotz aller Ängste und Vorurteile nun doch eine Psychotherapie in Angriff zu nehmen. Damit wuchs auch die Hoffnung, dass sie noch
einmal eine Chance bekommt: »Das Reden hilft mir.«
Auch Hanna Pohl geht es heute besser. Sie habe sich davon befreit, sagt sie,
»ständig äußeren Anforderungen gerecht zu werden und dabei die eigenen Bedürfnisse und Stärken gar nicht mehr zu erkennen«. Aber ihre Stelle habe sie dafür erst kündigen müssen, und freiberuflich zu arbeiten bringe natürlich weniger
Geld und Sicherheit. »Wäre ich früher zur Therapeutin gegangen«, glaubt Hanna
Pohl heute, »dann hätte ich mich vielleicht innerhalb des beruflichen Gefüges
behauptet – und nicht so einen hohen Preis bezahlt.«
von Christiane Grefe aus der ZEIT Nr. 28/2012
Das erkrankte Gehirn
209
5.
Das alternde
Gehirn
Am 3. November 1906 stellt der
Psychiater Alois Alzheimer
auf einer Tagung in Tübingen
seinen Kollegen erstmals
die »Krankheit des Vergessens«
vor. Seit mehr als hundert Jahren
versuchen Forscher, die Demenz
zu verstehen. Warum gibt es die
Krankheit überhaupt? Was entscheidet darüber, ob ein Mensch
dement wird? Die Antwort fehlt.
Eine wirksame Therapie gegen Alzheimer gibt es nicht. Aber der Blick
auf die Krankheit wandelt sich.
210
Die Welt im Kopf
Ist Alzheimer angeboren?
Der Weg ins Vergessen beginnt mit der Geburt:
Eine Hypothese zur Ursache des Hirnleidens
Es scheint kein Kraut gewachsen gegen das Zellsterben im Gehirn, das den Menschen erst ihr Gedächtnis, dann ihre Selbstständigkeit, schließlich ihr Ich raubt.
Alzheimer ist nicht zu heilen, der Verlauf kaum zu bremsen. Die großen Pharmakonzerne haben mit neuen Wirkstoffen reihenweise Schiffbruch erlitten. Eine
hochgelobte Substanz nach der anderen fiel in klinischen Studien durch. Trotz
dieser herben Rückschläge gehen die Tests weiter. Bei den Medizinern wächst die
Überzeugung, dass ihre Arzneien durchaus effektiv wären – wenn man sie nur
früh genug einsetzte, nämlich lange bevor die Patienten handfeste Symptome
zeigen.
Über die Erfolgsaussichten dieser Bemühungen kann man nur spekulieren.
Denn das Grundrätsel der Alzheimerkrankheit ist ungelöst: W
­ arum gibt es das
Leiden überhaupt? Wieso verdämmern manche Menschen mit 70 Jahren im Vergessen, während andere mit 95 noch rüstig und rege sind? Gesucht wird so etwas
wie ein Zündmechanismus, der darüber entscheidet, ob ein Mensch irgendwann
in seinem Leben demenzkrank wird oder nicht.
Ist es in dieser Lage denkbar, dass die Variablen dieser Alzheimerformel
tatsächlich schon alle auf dem Tisch liegen? Dass sie nur noch zusammengesetzt
werden müssen zu einer schlüssigen Erklärung für jene Tragödie, die jedes Jahr
Tausende Familien in Deutschland trifft? Einfache Erklärungen sind in der Medizin selten die richtigen. Dennoch – dieser Artikel wagt eine Hypothese. Stimmt
das Gedankenspiel, ist ein Jahrhunderträtsel gelöst.
Es gibt keine wissenschaftliche Veröffentlichung, in der die Hypothese so
vorgedacht wird und auf die sich dieser Artikel berufen könnte. Analysen und
Experimente, um die Idee zu bestätigen oder sie zu widerlegen, stehen noch aus.
Doch starke Indizien existieren. Was die Lösung für das Rätsel Alzheimer sein
könnte, findet sich in einer Spurensuche; in Etappen führt sie querbeet durch die
Welt der neuromedizinischen Forschung.
Das alternde Gehirn
211
Die Saat
Was den Untergang der Nervenzellen bewirkt, ist den Wissenschaftlern inzwischen ziemlich klar: Es sind toxische Fragmente eines Eiweißmoleküls, sie
heißen A-beta. Schreitet die Krankheit fort, verklumpen sie zu Amyloid-Plaques,
den typischen Ablagerungen, die Pathologen in geschrumpften Hirnen von Alzheimerpatienten finden. Doch der Niedergang der Neurone beginnt Jahrzehnte
bevor die Patienten erste Symptome zeigen. Ganz neu ist die Erkenntnis, dass
dafür wohl nicht die auffälligen ­Plaques verantwortlich sind, sondern unsichtbar
winzige Aggregate aus nur wenigen A-beta-Molekülen. Man nennt sie seed, die
Saat.
Mit Tierexperimenten haben der Tübinger Neurowissenschaftler Mathias
Jucker und sein amerikanischer Kollege L
­ ary Walker die Pio­nier­arbeit bei der
Erkundung der seed geleistet. Die besitzt eine fatale Eigenschaft – ihre Moleküle
haben eine fremde, eine bösartige Gestalt angenommen. Und sie sind infektiös:
Treffen sie auf normal geformte A-beta-Moleküle, dann zwingen sie auch diesen
die gefährliche Form auf (ZEIT Nr. 3/12). So verbreiten sie sich wie ein virulenter Erreger. Sie zerfressen das Nervengewebe, so wie der Rinderwahnsinn BSE
das Gehirn der Kuh, wie Scrapie das des Schafs und wie die Creutzfeldt-JakobKrankheit (CJD) das des Menschen. »Im Hirngewebe ist die seed infektiös«, sagt
Jucker, der für seine Forschungen gerade mit dem Hamburger Wissenschaftspreis ausgezeichnet wurde. »Das heißt aber nicht, dass die Patienten für andere
Menschen ansteckend wären.«
Die meisten Wissenschaftler sind inzwischen davon überzeugt, dass Alzheimer wie Scrapie, BSE oder CJD zu den Hirnleiden gehört, die durch infektiöse
Proteine (Prionen) ausgelöst werden, die sich wie ein Schwelbrand im Nervensystem ausbreiten. Langsam, aber nicht aufzuhalten.
Die Lehre des Downsyndroms
Woher aber stammt der Zündstoff, und wer hält die Lunte? Wieso entstehen die
infektiösen Ei­weiße überhaupt? Bei der Suche nach Antworten stößt man auf
Menschen mit dem Downsyndrom. Sie können eine Vielzahl unterschiedlicher
Symptome aufweisen, und sie sind mehr oder weniger stark geistig behindert.
Infolge der besseren medizinischen Versorgung ist die Le­bens­erwar­tung von
Downpatienten deutlich gestiegen. Seither beobachten die Neurologen etwas
Neues: Downpatienten entwickeln sehr häufig nach dem 40. Lebensjahr eine
Demenz vom Alzheimertypus.
Dieses Zusammentreffen ist nicht überraschend: Das Downsyndrom entsteht durch eine Chromosomenstörung; die Betroffenen besitzen ein drittes, überzähliges Chromosom 21, auch in ihren Hirnzellen. Und just das Chromosom 21
trägt die genetische In­for­ma­tion für das Eiweiß A-beta. Sind drei Kopien dieses
212
Die Welt im Kopf
Gens vorhanden, wird zu viel A-beta produziert, die Moleküle nehmen leichter
die toxische Gestalt an und starten ihr Zerstörungswerk.
Dass die dreifache Gendosis für die Alzheimerkrankheit bei Downpatienten verantwortlich ist, gilt als sicher. Es gibt nämlich auch Menschen, die zwar
kein drittes Chromosom 21 besitzen, sondern bei denen »nur« der betreffende
Genabschnitt auf diesem Chromosom verdoppelt ist. Auch sie tragen die Gen­
infor­ma­tion für A-beta dreifach in sich. Und auch diese Menschen erkranken
sicher an Demenz.
Der Fluch der Familien
Es gibt Familien, in denen Alz­hei­mer-­Demenz vererbt wird. Wie unter einem
Fluch trifft die Krankheit jede Ge­ne­ra­tion aufs Neue. Jeder zweite Blutsverwandte fällt ihr zum Opfer. Schlimmer noch: Die Symptome beginnen früh im
Leben, oft weit vor dem 50. Lebensjahr. In Frankreich sind über 100 betroffene
Fa­mi­lien bekannt, in Deutschland gibt es wohl noch mehr. Unterschiedliche Veränderungen in drei Genen (den sogenannten Alzheimer-Genen APP, PS1 und
PS2) können für diese frühe familiäre Alzheimer-Demenz (FAD) verantwortlich
sein; wer sie geerbt hat, bildet früh im Leben zu viel A-beta und wird unweigerlich
erkranken. Offenbar wirkt die Über­pro­duk­tion wie ein Brandbeschleuniger, der
die Verwandlung von A-beta in ein toxisches Prion erleichtert – in die Saat.
Das sind Extremfälle. Die weitaus meisten Alzheimer-Opfer jedoch, über
99 Prozent, sind älter als 60 Jahre, wenn sie erkranken. Woher stammt die Saat
bei ihnen? Es gibt eine Verbindung zwischen der seltenen, vererbten und der üblichen, spontanen und spät einsetzenden Variante der Krankheit. Sie findet sich
in den furchtbaren Schicksalen einer Mutter und ihrer Tochter.
Eine Tragödie in England
John Collinge ist Prionforscher. Er leitet die Abteilung für Neurodegenerative
Krankheiten des University College London am Queens ­Square. Als der Rinderwahnsinn in Großbritannien grassierte, war Col­linge einer der am heftigsten von
den Medien belagerten BSE-Experten. Es ist kein Zufall, dass er, wie viele seiner
Kollegen aus der Prion­szene, intensiv in der Alzheimerforschung mitmischt. Bei
Col­linge begann es mit der Tragödie einer Familie, über die er bereits 2004 berichtet hatte. »Heute ist das von viel größerem Interesse.«
Viele Jahre zuvor war – nennen wir sie Edna Miller, vielleicht aus einem
kleinen Ort unweit Londons, mit erst 42 Jahren von den ersten Symptomen einer
unheimlichen, fortschreitenden Nervenkrankheit befallen worden. Bald litt sie
unter Lähmungen und ausgeprägter Demenz. Zunächst konnten Col­linge und
seine Mitarbeiter in den Blutproben der Frau keinen der bekannten Erbdefekte
für Alzheimer aufspüren. Nach 16-jähriger Leidenszeit starb Edna Miller mit 58
Das alternde Gehirn
213
Jahren. Nach ihrem Tod entdeckten die Forscher im Hirn das typische Bild der
Alzheimer-Demenz – ausgebranntes Nervengewebe, durchzogen von Plaques. Zu
dieser Zeit war auch Ednas Tochter, Alice mag sie geheißen haben, bereits schwer
krank. Bei ihr hatte es schon im Alter von 27 Jahren begonnen, die Symptome
unterschieden sich von denen ihrer Mutter, doch auch Alice litt unter Lähmungen und fortschreitender Demenz. Sie starb noch vor ihrem 40. Geburtstag.
Alice, stellte Collinges Team fest, war das Opfer der früh einsetzenden,
erblichen Variante des Alzheimerleidens mit krassem Verlauf: Sie hatte von ihrer
Mutter Edna einen Defekt im Gen PS1 geerbt, der Alzheimer auslöst.
Bei genauen Untersuchungen in Geweben der Mutter stießen die Londoner
Wissenschaftler auf die Lösung des Rätsels. Ednas Schicksal hatte sich bereits in
den ersten Tagen ihres Lebens entschieden, als sie noch ein Embryo im Mutterleib war. Bei einer Zellteilung trat der Fehler im PS1-Gen auf. Die mutierte Zelle
teilte sich weiter, und ihre Nachkommen verteilten sich in den keimenden Organen und Geweben. Edna wurde zu einem genetischen Mosaik. Manche ihrer
Körperzellen trugen die gefährliche Erbanlage – auch jene Eizelle, aus der ihre
Tochter Alice entstehen sollte.
Bei der Mutter entdeckten Collinge und seine Mitarbeiter den Defekt in jeder
zwölften Blutzelle. Das Verhängnis aber lauerte in Ednas Großhirn – etwa 14 Prozent der Nervenzellen waren von der Mutation im Alzheimer-Gen betroffen. Hatte
die verstreute Zellpopulation so viel tödliches A-beta in Marsch gesetzt, dass Edna
Millers frühe Demenz programmiert war? Wenn die Antwort Ja lautet – und die
Wissenschaftler halten das für gesichert –, dann stellt sich eine beunruhigende Frage: Könnte es sein, dass die vielen Patienten mit der häufigen, der späten Form des
Leidens einem ähnlichen Verhängnis anheimfallen? Dass auch sie solche genetische
Muster im Hirn tragen, die ihnen das Leiden vorherbestimmen?
Das Ich, ein Mosaik
Erst seit kurzer Zeit kann man vermuten, dass Edna Miller nur Pech hatte. Vor wenigen Wochen haben die neuesten Befunde eines Teams um den Neurowissenschaftler
Fred Gage und des Neurogenetikers Alysson Muotri zu einer alarmierenden Erkenntnis geführt: Jeder noch so gesunde Mensch trägt ein höchst komplexes Patchwork im
Kopf. In ihrer Erbinformation gleicht keine Nervenzelle eines Menschen der nächsten
– manche Neurone besitzen überzählige Chromosomen, viele haben reihenweise genetische Information verloren, andere zuhauf vervielfacht; springende Gene können
sich im Erbgut von Hirnzellen frei bewegen und ebenso ungehindert Unheil anrichten. Manche Forscher sehen in dieser genetischen Vielfalt des Hirngewebes und seiner
Schaltkreise sogar eine Basis für die individuelle Personalität.
Womöglich liegt hier aber auch der Ursprung der Demenz. In genetischen
Veränderungen in Zellmosaiken; in Mustern aus zwei, drei oder zehn Prozent
der Hirnzellen, die Alzheimer-Gene tragen und schließlich die Demenz auslösen.
Bei der Suche nach Belegen für diese Vorstellung stößt man auf alte Forschungsarbeiten, die schon beinahe vergessen waren. Zusammen mit Fred Gages
aktuellen Befunden zeigen sie, was Downpatienten, was Edna Miller und die vielen Kranken mit spät einsetzendem Alzheimerleiden verbinden könnte: Im Hirn
jedes Menschen, auch jedes gesunden, gibt es viele Nervenzellen mit fehlenden
Chromosomen (Monosomie) oder eben mit überzähligen (Trisomie). Vielleicht
sind nur ein oder zwei Prozent betroffen. Aber selbst das würde zwei Milliarden Zellen bedeuten, die seed produzieren. Bei verstorbenen Alzheimerpatienten
wurden sogar über zehn Prozent Neurone mit Trisomie 21 gefunden. »Als Erste
haben das russische Kollegen schon Ende der 1960er Jahre veröffentlicht«, sagt der
Neuroforscher Thomas Arendt vom Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung in
Alzheimer:
Wissenschaftler unterscheiden
drei mögliche Formen der
Entstehung. Die Tragödie des
Vergessens aber ist die gleiche.
Downsyndrom – Menschen mit
Trisomie 21 tragen das Chromosom 21
dreimal und damit auch die Gene für
das Eiweiß A-beta: Es wird vermehrt in
giftiger Form produziert
214
Die Welt im Kopf
Erblicher Alzheimer – Patienten
tragen mutierte Gene APP, PS1 oder
PS2 in allen Zellen, es entsteht viel
toxisches A-beta. Vom 40. Lebensjahr an erkranken alle Betroffenen
Alters-Alzheimer – Nur einzelne
Hirnzellen tragen Mutationen.
Diese produzieren die giftige A-betaVariante, die im Hirn ansteckend ist.
Die Krankheit tritt spät auf
Das alternde Gehirn
215
Chromosom
Neurone betroffen sind, wie bei den seltenen erblichen Fällen, dann beginnen die
Symptome schon mit Anfang 40. Wer hingegen sehr wenige gestörte Zellen im
Gehirn hat, wird nie Anzeichen für Alzheimer entwickeln – oder, bei utopischer
Lebenserwartung, erst mit 130 Jahren.
Erkranken werden Menschen also insbesondere dann, wenn die rasante
Zellteilung während der embryonalen Entwicklung des Gehirns zu viele Nervenzellen mit einem genetischen Alzheimer-Defekt erzeugt hat. Oder dann, wenn
sich diese Zellen zufällig an einem besonders anfälligen Ort im Hirn versammeln,
an dem das große Nervensterben normalerweise beginnt: im Nucleus coeruleus
oder dem entorhina len Kortex.
Alzheimer im Alter
PS1
PS2
Wie genetisch geschädigte Neurone
einen Flächenbrand im Hirn verursachen
21
1,
14
Wenn das Gen für das
Amyloid-Precursor-Protein
(APP) verdoppelt (Trisomie
21) oder durch eine
Mutation verändert wurde,
entsteht aus dem APP-Protein zu viel schädliches
A-beta. Die beiden Gene
PS1 und PS2 enthalten
die Informationen für ein
Enzym, das das APP-Eiweiß
in A-beta umwandelt.
APP-Gen
e
e
Enzym APP
Nerven-Zelle
Immer mehr Hirnzellen
werden durch Aggregationen von A-beta vergiftet.
Das Zellsterben im Hirn
kommt ins Rollen
e
N
e
e
e
R
EL
L K E en
Z
46
A-beta
e
Ch
ro m o s o m
Das Enzym spaltet A-beta aus dem APPProtein heraus. Mutationen in den Genen
PS1 oder PS2 verändern die Enzymaktivität und verstärken die Bildung der
toxischen Form des A-beta
A-beta
... kommt es zur Umwandlung in
toxisches A-beta. Das gefährliche
Eiweiß vermehrt sich in einer
Kettenreaktion
Bei der Begegnung mit
normalen A-beta ...
Das A-beta spaltet
sich ab und wandert
Leipzig, der sich mit dem Phänomen schon ein halbes Forscherleben lang beschäftigt. »Aber die Publikationen waren auf Russisch, das hat natürlich kein Mensch
gelesen.« Auch wenn es im Detail noch Ungereimtheiten gibt – Arendt und eine
Reihe anderer Forscherteams haben diese Befunde inzwischen mehrfach bestätigt.
Bis zur Entdeckung der infektiösen Natur des aggregierten A-beta hatte sich
nie erklären lassen, wie eine kleine Schar unter den 100 Milliarden Hirnzellen so
viel toxisches Beta-Amyloid auswerfen könnte, dass schließlich das Gehirn der
zerstört wird. »Der Dosiseffekt ist viel zu gering«, sagt etwa Konrad Beyreuther,
ein alter Recke der Alzheimerforschung.
Nun aber, mit der Erkenntnis, dass sich die Saat selbst vermehren und
dabei in immer größere Areale des Großhirns vordringen kann, gäbe es eine
Erklärung für das große Enigma. Einfach gesprochen: Je mehr Nervenzellen
mit Alzheimer-Defekten ein Mensch im Hirn besitzt, desto mehr prionartiges
A-beta wird er bilden. Und desto früher wird er erkranken. Wenn alle seine
216
Die Welt im Kopf
fazit
All dies ist erst eine Hypothese. Doch erweist sie sich als stimmig, wird sie erhebliche Konsequenzen haben. Etwa: Alzheimer wäre dann komplett schicksalhaft.
Menschen würden, gerade frisch geboren, bereits den Weg in die Demenz antreten. Und: In ganz ähnlicher Form könnten so auch andere neurodegenerative
Leiden erklärt werden, vor allem die Parkinsonkrankheit.
Erst heute verfügen die Genomexperten über Verfahren, die ihnen die Suche
nach genetischen Mosaiken im Hirn erlauben: Mit Erbgutanalysen einzelner Nervenzellen können die Wissenschaftler im Hirn von verstorbenen Patienten nach
verstreuten Neuronen mit Alzheimer-Gendefekten fahnden. Tatsächlich hat die
Mosaik-Hypothese in der Forscherszene Resonanz erzeugt. »Wir diskutieren die
Idee bereits«, sagt der Münchner Demenzexperte Christian Haass, eine der führenden Figuren am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen.
Für die Wissenschaftler wäre eine Bestätigung der Mosaik-Hypothese jedoch keineswegs eine Revolution oder die Aufforderung, umzudenken. Sie wäre
vielmehr eine weitere Bestätigung, dass man bei der Strategie für eine erfolgreiche Therapie auf dem richtigen Weg ist. Und dass sich langer Atem lohnt. Die
Mediziner müssen nun Wege finden, um die Prionen im Hirn früh zu stoppen
und das Hirn vor der Zerstörung zu retten.
Diese Arbeit hat bereits begonnen: Derzeit werden gescheiterte AlzheimerMedikamente erneut getestet. Man kann heute Probanden therapieren, bei denen
Alzheimer noch gar nicht ausgebrochen ist. Das sind die Menschen, die erblich
mit Alzheimer-Mutationen belastet sind und bei denen der Ausbruch der Krankheit als sicher gelten darf.
Gelingt es, die Alzheimerkrankheit bei diesen Menschen zu verhindern oder
wenigstens zu verzögern, dann sollte das auch bei allen anderen Patienten möglich
sein. Vorausgesetzt, man lernt, wie man das nahende Leiden rechtzeitig erkennt.
von Ulrich Bahnsen aus der ZEIT Nr. 3/2014
Das alternde Gehirn
217
Stichwort
Das alternde
Gehirn
Wenn wir älter werden, baut
das Gehirn langsam ab,
und das geht gewöhnlich
mit einem Nachlassen der
geistigen Funktionen einher.
Neue Studien sprechen
jedoch dafür, dass das
Gehirn funktionelle Veränderungen durchmacht,
die die altersbedingte
Degeneration kompensieren
können, und wir beginnen
gerade zu verstehen, wie
eine gewisse Lebensweise
hilft, dem Zahn der Zeit
besser zu widerstehen.
218
Die Welt im Kopf
Wir alle fürchten den Abbau geistiger
Fähigkeiten im Alter und sind mit
dem pessimistischen Bild dessen
vertraut, was an unserem Lebensabend geschieht. Allgemein wird angenommen, dass
unsere geistigen Fähigkeiten
mit Ende zwanzig auf ihrem Höhepunkt sind und es von da an nur noch
bergab geht – dass das Gehirn unwiderruflich abbaut, was zu beeinträchtigtem
Denkvermögen und möglicherweise zu
seniler Demenz führt. Zum Glück ist dieses Bild nicht ganz richtig.
Etwa ab dem 50. Lebensjahr beginnt
das Gehirn, langsam abzubauen, doch
auch wenn jüngere Leute ältere Menschen bei verschiedenen Tests durchweg
übertreffen, entspricht das nicht unbedingt unserer Alltagserfahrung. Der Alterungsprozess wirkt sich auf verschiedene
Individuen durchaus unterschiedlich aus:
Viele erleben einen Abbau ihrer geistigen
Fähigkeiten, wenn sie altern, doch viele
andere bleiben bis ins hohe Alter geistig
fit, und die meisten von uns kennen einen
Menschen, der körperlich und geistig
jung geblieben ist, obwohl er schon 80
Jahre oder noch älter ist.
Bildgebende Verfahren wie Hirn­
scans ermöglichen uns heute Einblicke in
altersbedingte Hirnveränderungen, und
so hat sich im letzten Jahrzehnt ein neues, teils überraschendes Bild des
alternden Gehirns herauskristallisiert. Wie es aussieht, macht das Gehirn
funktionelle Veränderungen durch, um den altersbedingten Abbau zu
kompensieren, und die Forscher haben sogar einige Menschen gefunden, deren Gehirn komplett immun gegen die negativen Auswirkungen
des Alterungsprozesses zu sein scheint.
Die Erfahrung lebe hoch! Mit zunehmendem Alter verschlechtern sich in
der Regel verschiedene geistige Fähigkeiten; die bestuntersuchte davon
ist das Gedächtnis. Ältere Menschen haben oft Erinnerungslücken, wenn
es um das episodische Gedächtnis geht, vergessen Details, zum Beispiel,
wo sie ihr Auto geparkt haben, und das liegt wahrscheinlich an Defiziten
bei Codierung, Speicherung oder Abruf von Erinnerungen. In Labortests
zeigen sie signifikante Beeinträchtigungen bei Aufgaben, bei denen es
darum geht, seine Aufmerksamkeit rasch von einer Sache auf eine andere zu richten, sowie bei Aufgaben zum Arbeitsgedächtnis, bei denen verlangt wird, Informationen kurze Zeit zu speichern und zu manipulieren.
Auf der anderen Seite haben ältere Menschen in der Regel keine
Probleme mit dem semantischen (konzeptuellen) Gedächtnis, und ihr
Wissen über die Welt übertrifft häufig das jüngerer Erwachsener. Zudem
wurde festgestellt, dass ältere Erwachsene über mehr Empathie verfügen und sich emotional wohler fühlen als jüngere Menschen.
Altersbedingte Veränderungen Altersbedingt kommt es zu verschiedenen Veränderungen in der Hirnstruktur, doch wie diese eigentlich mit
kognitiven Funktionen verknüpft sind, ist bisher ungeklärt. Die auffälligste Veränderung ist ein kleiner, aber signifikanter Rückgang in der
Dichte der grauen Substanz. Wenn wir altern, schrumpft die graue Substanz, vor allem im frontalen Kortex, Hippocampus, Nucleus caudatus
und Kleinhirn, sodass es im Alter zwischen 20 und 90 Jahren zu einer
insgesamt etwa zehnprozentigen Abnahme des Gehirnvolumens kommt.
Dieser Schrumpfungsprozess geht mit dem Absterben von Zellen im
Denn es ist … nicht zu glauben, daß alternd
einer noch viel zu lernen vermag …;
vielmehr gehören alle großen und anhaltenden
Anstrengungen der Jugend. Platon, um 380 v. Chr.
Stichwort
219
cerebralen Kortex einher. Einer Schätzung zufolge sterben etwa 9,5 Prozent der corticalen Zellen während dieser Zeit ab – das Äquivalent von
85 000 Neuronen pro Tag oder einem Neuron pro Sekunde; das führt
zu einem Ausdünnen des Kortex und einer Reduktion in Gesamtgewicht
und Oberfläche.
Hirnstudien mit bildgebenden Verfahren zeigen, dass es altersbedingt auch zu einer Abnahme in der Dichte der weißen Substanz kommt.
Diese Abnahme findet breitflächig statt, ist aber am deutlichsten bei den
Bahnen ausgeprägt, die unterhalb der Stirn-, Schläfen- und Scheitellappen verlaufen. Auch die weiße Substanz im Corpus callosum (Balken),
das die beiden Hirnhälften verbindet, nimmt im Alter ab. Diese Veränderungen sind offenbar enger mit dem langsamen Abbau geistiger Fähigkeiten korreliert als der Rückgang der grauen Substanz und könnten mit
der verringerten Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung in Zusammenhang ­stehen.
Mit dem Alterungsprozess gehen auch verschiedene chemische
Veränderungen im Gehirn einher – so zeigen viele Studien, dass wir dann
weniger Dopamin produzieren. Die Zahl der Dopaminrezeptoren im ganzen Gehirn nimmt mit zunehmendem Alter ebenfalls ab, und das könnte
Super Ager
Amerikanische Forscher haben
kürzlich eine kleine Gruppe Menschen jenseits der 80 ausgemacht,
deren Gehirn offenbar dem altersbedingten Abbau trotzt. In Labortests, bei denen es unter anderem
um das Memorieren von Wortlisten
ging, übertrafen diese Personen
– von den Forschern Super Ager
genannt – andere gesunde Personen
gleichen Alters und schnitten so gut
ab wie gesunde 50- bis 65-Jährige.
Strukturelle MRT-Scans zeigten,
dass ihr Gehirn nicht die normalen
Abbauerscheinungen aufweist, die
gewöhnlich mit dem Alter einhergehen. Ihr Neokortex war genauso
220
Die Welt im Kopf
dick wie derjenige jüngerer Erwachsener, und das Gesamtvolumen
ihres Gehirns war etwa gleich groß.
Besonders eine Region – der Gyrus
angularis anterior – war bei den
Super Agern sogar dicker als bei
gesunden jüngeren Erwachsenen.
Diese Befunde zeigen, dass Hirnabbau und Nachlassen geistiger Fähigkeiten im Alter nicht unausweichlich sind. Weitere Untersuchungen
dieser Personen könnten Hinweise
erbringen, wie sich den Beeinträchtigungen geistiger Fähigkeiten,
die normalerweise mit dem Altern
einhergehen, vorbeugen lässt oder
man sie zumindest lindern kann.
für die Beeinträchtigung von Aufmerk­samkeit, Gedächtnis und Mobilität
verantwortlich sein, die viele ältere Menschen erleben.
Mit zunehmendem Alter können sich im Hirngewebe auch amyloide
Plaques und neurofibrilläre Knäuel bilden. Diese Strukturen sind pathologische Anzeichen für die Alzheimer-Krankheit, und obgleich ihr Auftreten ein normaler Teil des Alterns ist, entwickelt sich nur bei manchen
Menschen ein klinisches Krankheitsbild. Warum das so ist, wissen wir
nicht, doch es wird vermutet, dass die Alzheimer-Krankheit das Ergebnis
eines anomalen oder beschleunigten Alterungsprozesses ist.
Kompensation Das Gehirn behält zeitlebens die Fähigkeit, sich zu verändern – ein Phänomen, das als Neuroplastizität bekannt ist –, doch nach
allem, was wir wissen, nimmt diese Fähigkeit im Alter ab. Dennoch sprechen aktuelle Studien dafür, dass das Gehirn funktionelle Veränderungen
durchmacht, die altersbedingte Beeinträchtigungen kompensieren. Wie
zahlreiche Hirnscan-Studien zeigen, sind gewisse Regionen im Gehirn
älterer Menschen bei einer breiten Palette von Prozessen aktiver als bei
jüngeren, zum Beispiel bei Aufgaben, bei denen motorische Kontrolle
sowie autobiografisches, episodisches und Arbeitsgedächtnis eine Rolle
spielen.
Warum einige Menschen von altersbedingtem Abbau stärker betroffen sind als andere, wissen wir nicht, doch wahrscheinlich gibt es
genetische Varianten, die ihren Träger mehr oder weniger empfindlich
für die Auswirkungen des Alterns machen. Offenbar kann ein gewisser
Lebensstil – wie Bildung, regelmäßige körperliche Bewegung, gesunde
Ernährung, ausreichend Schlaf und sogar Kontaktpflege – ein gesundes
Altern fördern und genetischen Prädispositionen bis zu einem gewissen
Grad entgegenwirken. In den letzten Jahren sind Computerprogramme
zum Trainieren des Gehirns (»Hirnjogging«) enorm populär geworden.
Die Hersteller behaupten, diese Programme könnten einem altersbedingten geistigen Abbau entgegenwirken und das Alzheimer-Risiko senken.
Solche Programme mögen die Leistungsfähigkeit für die Fertigkeiten
verbessern, die sie trainieren, doch es gibt bisher keinerlei Beweise, dass
sich dies positiv auf die geistigen Fähigkeiten im Allgemeinen auswirkt.
Moheb Costandi
Stichwort
221
Damit die Würde bleibt
Die Diagnose Alzheimer löst oft Horrorvorstellungen aus. Dabei kann man
auch mit dieser Krankheit Freude am Leben haben. Ein Plädoyer für einen
neuen Blick
Mit ihm sei es wie mit einer Sandburg, sagt Christian Zimmermann: »Ständig
bröckelt etwas ab.« Doch die Burg, die sei »standhaft«, die sei immer noch da.
Zimmermann spricht gern in Bildern. Seine Bilder helfen ihm, sich verständlich
zu machen, wenn er wieder einmal die Worte nicht findet. Wenn ihm die Sätze,
die Gedanken auseinanderfallen.
Seit vier Jahren lebt der 62-Jährige mit der Dia­gno­se Alzheimer. Vorher
arbeitete er in seinem Betrieb, der auf die Herstellung von Kunststoffspiegeln
spezialisiert ist. Irgendwann machte er plötzlich Fehler, einmal sägte er sich fast
den Finger ab. Beim Autofahren verlor er die Orientierung, überfuhr Bordsteinkanten. Eines Tages fiel er aus der Duschkabine, einfach so. Der lange Weg durch
die medizinische »Maschinerie« begann, bis ihm der Neurologe ein Bild seines
atrophierten Gehirns zeigte. »Dann sitzt man da und schaut«, sagt Zimmermann
und macht eine lange Pause.
Mit Dreitagebart und Nickelbrille sitzt er am Küchentisch seiner Dachwohnung im Münchner Stadtteil Haidhausen und redet über seine Krankheit.
Zimmermann will raus aus seiner Burg. An schlechten Tagen, erzählt er, steige
die Angst in ihm hoch. Dann kommt es vor, dass wieder etwas abbröckelt, dass
ihm Namen, Orte und Begriffe verloren gehen. Er sucht die Schlüssel, das Handy, das Portemonnaie; lässt die Einkaufstüte im Supermarkt liegen oder bringt
die falschen Dinge nach Hause.
An guten Tagen malt er, geht mit Freunden spazieren – oder berichtet anderen von seiner Situation. Eigentlich sei es die »bestbetreute Zeit« seines Lebens,
sagt Zimmermann. Manchmal schaue er in seiner alten Firma vorbei. Immerhin
erkenne er noch heute, wenn die Mitarbeiter wieder einmal etwas falsch zusammenbauten – obwohl er es selbst nicht mehr zusammenbrächte. Es freut ihn,
wenn die Leute überrascht reagieren. Man müsse die Krankheit eben »überlisten«, diesen Alzheimer »übermalen«, so wie es ein Maler mit einem schlechten
Bild mache. Und wenn die Leute im Supermarkt mal wieder grantig werden, weil
er so lange zum Einpacken braucht, erklärt er einfach, er habe Alzheimer. »Dann
reagieren die immer ganz betroffen und packen mit mir zusammen die Tüte ein.«
Alzheimer – schon der Begriff löst bei vielen Hor­ror­vorstel­lun­gen aus. Es ist
die Rede von »lebenden Toten«, von »welken Hüllen«, die sinnlos dahinvegetierten.
222
Die Welt im Kopf
Man denkt an sabbernde Greise, die lallend durch die Altenheime irren. Die im
Nachthemd auf die Straße laufen, die ihre engsten Angehörigen nicht mehr erkennen und am Ende nicht mal mehr sich selbst. Alzheimer, dieses Schicksal
möchte niemand erleiden. Gunter Sachs hat sich – so schreibt er in seinem Abschiedsbrief – aus Angst vor »der ausweglosen Krankheit A.« erschossen. Der Tod
schien ihm die bessere Alternative.
Doch Menschen mit Demenz (von der es neben dem Alzheimer-Typ noch
andere Formen gibt) erleben sich selbst keineswegs nur im Zustand abgrundtiefer
Verzweiflung. Wie Befragungen zeigen, finden sie durchaus noch Freude am Leben. Ihre Zufriedenheit hängt ab von erfüllenden Tätigkeiten, von der Bindung
an Familie und Freunde, vom Gefühl, doch noch irgendwie gebraucht zu werden.
Die medizinische Diagnostik nimmt allerdings vor allem die Defizite in
den Blick: den schleichenden, jahrelangen Prozess der Hirnveränderung; die Gedächtnisprobleme und Wortfindungsstörungen, die irgendwann so groß werden,
dass die Betroffenen nicht mehr selbstständig leben können; der schließliche Verlust der Sprache, zunehmende körperliche Probleme bis hin zur Inkontinenz und
Bettlägerigkeit; das Endstadium mit künstlicher Ernährung.
Selten ist in diesem Zusammenhang davon die
Rede, dass Demenzkranke häufig mehr Fähigkeiten
haben, als wir ihnen gemeinhin zutrauen. Auch in
einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit
Wir müssen
können sie mitteilen, was ihnen wichtig ist, was
Menschen mit Demenz als
sie wollen und was nicht. Und selbst schwerst
Person ernst nehmen.
demenzkranke Menschen haben – wie neuere
Sie haben mehr Fähigkeiten,
Studien­zeigen – noch immer ein subjektives
Erleben und einen Rest von Selbst. Dieser
als wir ihnen gemeinhin
andere Blick auf die Alzheimerkrankheit legt
zutrauen.
nahe, dass wir Menschen mit Demenz als Personen ernst nehmen müssen – und dass wir ihnen Selbstbestimmung zugestehen sollten, solange
sie dazu noch irgendwie in der Lage sind.
Mehr als eine Million demenzbetroffene Menschen
leben derzeit in Deutschland. Bis zum Jahr 2050 soll sich die Zahl mehr als verdoppeln. Jeder dritte Mann, jede zweite Frau könnte – so warnt die Deutsche
Alzheimer Gesellschaft – im Laufe des Lebens an einer Demenz erkranken. Und
da uns die Medizin wenig Hoffnung auf eine wirksame Therapie macht, folgt daraus zwangsläufig: Wir müssen lernen, mit demenzkranken Menschen zu leben
und nicht nur über sie zu reden, sondern mit ihnen.
»Wir stehen mitten in einem großen Veränderungsprozess«, sagt Peter Wißmann, Herausgeber des Demenz-Magazins, das über Fragen des Umgangs mit
den Betroffenen berichtet. Die Gesellschaft dürfe Menschen mit Demenz nicht
länger »ins Abseits der Krankheit und Pflegebedürftigkeit« schieben. Immer
Das alternde Gehirn
223
Ab 80 steigt das Risiko
Häufigkeit von Demenz in verschiedenen Altersgruppen nach Geschlecht, in %
Häufigkeit von Demenz in verschiedenen Altersgruppen nach Geschlecht, in Prozent
32,1
32,3
31,6
36,0
Frauen
90–94
94
95–99
0,2
0,1
1,9
1,6
0,5
2,2
1,1
4,6
3,9
5,0
6,7
12,1
13,5
18,5
22,8
Männer
30 – 59 Jahre
60 –64
65 – 69
70 – 74
75–79
80 – 84
85 – 89
ZEIT-Grafik/Quelle: Demenz-Report 2011 des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung
mehr Betroffene gehen mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit. Statt den
Blick nur auf die Krankheit zu richten, so lautet ihre Botschaft, sollten wir uns
mehr auf die Menschen dahinter konzentrieren.
Vor 30 Jahren erstritten sich behinderte Menschen die gesellschaftliche Anerkennung. Aus den »Krüppeln« von einst sind weitgehend gleichberechtigte Dialogpartner geworden. Heute geht es um die Rechte von Menschen mit Demenz.
»Wir verletzen tagtäglich die Menschenwürde von Demenzkranken«, sagt der
Bonner Gerontopsychiater Rolf Hirsch. Schätzungen zufolge ist jeder dritte Pflegeheimbewohner in Deutschland von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen: An ihren Betten werden Gitter angebracht, ihre Türen werden verschlossen,
oder man stellt sie mit Psychopharmaka ruhig. Überall fehlt es an Geld und an
Personal. Doch wer die Demenz nur auf ein Pflegeproblem reduziert, der redet
am eigentlichen Notstand vorbei.
Die Alzheimerkrankheit rührt auch an unser Menschenbild, das sich einseitig am kognitiven Leistungsvermögen orientiert: Wer geistig nicht mehr folgen,
wer nicht mehr sinnvoll kommunizieren kann, der droht aus der menschlichen
Gemeinschaft herauszufallen. Schon sprechen einige Philosophen Menschen mit
schwerer Demenz den Personenstatus ab (siehe Kasten). Da ist der Schritt nicht
mehr groß vom Menschen zur Sache, vom »Jemand« zum »Etwas«.
Dabei hat die Wissenschaft gerade erst begonnen, das persönliche Erleben
von Demenzkranken zu erforschen – ihre Ängste, ihre Freuden, ihren Blick auf
die Welt. Forscher der Universität Bangor in Wales etwa befragten Heimbewohner mit leichter bis mittelschwerer Demenz. Was sie in den Interviews zu hören
bekamen, war zum einen bedrückend. Viele Betroffene äußerten Gefühle von
Angst, Entfremdung und Einsamkeit. »Ich fühle mich so allein hier. Ich weiß
nicht, was los mit mir ist. Warum die Leute nicht mehr mit mir reden. Ich fühle
224
Die Welt im Kopf
mich wie ein Außenseiter.« Andere erklärten, sie seien »ein Haufen Mist« – oder
eine »seltsame Kreatur«, die irgendwie auf die Erde gekommen sei: »Aber ich weiß
nicht, wer das ist.«
Demenzkranke Menschen entwickeln aber auch Strategien, um mit dem
fortschreitenden geistigen Verfall zurechtzukommen. Während einige ihre Krankheit herunterspielen oder so lange wie möglich zu verstecken suchen, setzen sich
die anderen aktiv damit auseinander, gehen in Selbsthilfegruppen, beteiligen sich
an Forschungsprojekten. Manchen gelingt es sogar, mit ihren Defiziten humorvoll umzugehen. Oft helfen die intakten Langzeiterinnerungen. Aus der Rückschau auf ihr früheres Leben schöpfen viele neues Selbstwertgefühl.
So hatte eine scheinbar völlig apathische Heimbewohnerin zeitlebens ihren
Beruf als Schreibkraft geliebt. Als ihr die Forscher eine alte Schreibmaschine und
Papier gaben, fing die Frau nach kurzer Zeit zu tippen an, bis am Ende alle Blätter
vollgeschrieben waren. Auf dem Papier stand zwar nur Buchstabensalat. Doch als
die Frau das letzte Blatt ausgespannt hatte, atmete sie tief ein, strahlte plötzlich
übers ganze Gesicht und sagte nur: »Da hast du aber was weggeschaff t.«
Von »Selbstaktualisierung« spricht Andreas Kruse, Direktor des Instituts
für Gerontologie an der Universität Heidelberg. In jeder Person gebe es etwas,
das Kontinuität zeige bis zuletzt. Das Seelische drücke sich aus, es teile sich mit –
auch wenn es sich bei Menschen mit schwerer Demenz nur noch situativ äußere,
für einen Augenblick. Um solche Formen der »Selbstaktualisierung« aber wahrzunehmen, müssten wir uns ebenso bemühen, die Emotionen, Empfindungen
und sozialen Bedürfnisse der Betroffenen zu erfassen.
In den vergangenen Jahren sind die Heidelberger Wissenschaftler auch in die
Erlebenswelt jener Demenzkranken vorgedrungen, die sich nicht mehr sprachlich äußern können. Per Videokamera beobachteten die Forscher demente Heimbewohner
in verschiedenen Alltagssituationen – wenn sie Besuch von Verwandten bekamen, in
ihrer Lieblingszeitschrift blätterten oder am Fenster standen und die Vögel beobachteten. Dabei wurden zunächst die mimischen Ausdrucksmuster aufgezeichnet, vom
kleinsten Stirnrunzeln bis zum Anflug eines Lächelns; dann ordneten die Forscher
diesen Mustern Basisemotionen wie Freude, Ärger oder Traurigkeit zu.
»Auch schwerst demenzkranke Menschen verfügen über ein höchst differenziertes emotionales Erleben«, fasst Kruse das Ergebnis seines Projekts zusammen. Wenn die Menschen Zuwendung und Ansprache bekämen, zeigten
viele Ausdrücke von Freude oder Wohlbefinden, ebenso wenn sie ihren Lieblingsaktivitäten nachgingen. Hingegen reagierten sie verärgert, wenn man sie zu etwas
drängte oder nötigte.
Trotz weit fortgeschrittener Demenz, glaubt Kruse, hätten diese Menschen ein
intuitives Empfinden, dass sie selbst es sind, die eine Handlung in Bewegung setzen
– und nicht jemand anderer. Wegen ihrer kognitiven Defizite neigten wir allerdings
dazu, die Fähigkeiten von Demenzbetroffenen zu unterschätzen, sagt Kruse. Dabei
besäßen sie oft noch Ressourcen und Potenziale, die geweckt werden könnten.
Das alternde Gehirn
225
Das erlebte zum Beispiel die schottische Psychologin Maggie P. Ellis, die
das Kom­mu­ni­ka­tions­ver­hal­ten einer schwerst demenzkranken, bettlägerigen Frau
studierte. Schon vor Jahren hatte diese ihr Artikulationsvermögen verloren, sie
reagierte auf keine normale Ansprache mehr. Manchmal allerdings stieß sie einen
durchdringenden hohen Ton aus. Als Ellis den Ton nachahmte, hob die Frau ihren
Kopf und rieb ihn an der Hand der Forscherin. Als diese sich zu ihr herabbeugte
und sich die beiden Köpfe berührten, schaute die demente Frau überrascht und gab
wieder ihren Ton von sich. Plötzlich bekam die Interaktion etwas Spielerisches –
abwechselnd produzierten die beiden ihre Töne und lachten immer wieder dabei.
Solche Erlebnisse zeigen: Trotz ihres devastierten Gehirns sind die Äußerungen demenzkranker Menschen keineswegs reflexhaft oder beliebig. Sie folgen vielmehr, wie die Heidelberger Wissenschaftler nachwiesen, einer bestimmten Logik.
Das erschüttert allerdings die traditionelle Vorstellung, die Autonomie einer Person basiere lediglich auf ihrer rationalen Fähigkeit zum Planen und Entscheiden. Die Philosophin Agniesz­ka Jaworska von der Universität Stanford etwa
argumentiert, Autonomie sei weniger eine Sache des rationalen Urteilsvermögens,
sondern eher der Fähigkeit, etwas­als »wichtig« ansehen zu können. Und diese
Fähigkeit besäßen selbst hochdemente Menschen: Mit ihren Emotionen brächten
sie weiterhin ihre Wertvorstellungen zum Ausdruck, auch wenn ­ihnen jegliche
Möglichkeit fehlte, diese in Handeln umzusetzen.
Die Frage nach der Autonomie von Demenzkranken treibt ebenso den
Deutschen Ethikrat um. Wie zum Beispiel soll eine frühere Patientenverfügung
interpretiert werden, wenn ein schwer Demenzkranker erkennen lässt, dass er
nun eigentlich doch weiterleben möchte? Was ist sein »autonomer« Wunsch?
Oder: Wann überwiegt das Fürsorgeprinzip, wann muss man dem Kranken
Selbstbestimmung zugestehen? Solche Fragen sind von drängender Relevanz:
Tagtäglich laufen Pflege­personen und Angehörige Gefahr, die Selbstbe­stim­mung
demenzkranker Menschen ein­zu­schrän­ken – aus Überfürsorglichkeit, aus Achtlosigkeit oder schlicht aus Zeitmangel.
Doch die Positionen zur Frage der Autonomie sind im Ethikrat gespalten. Die
einen argumentieren, wer kein Reflexionsvermögen mehr besitze, könne keinen »Gesamtbegriff seiner Si­tua­tion« mehr fassen. Folglich sei ein solcher Mensch nicht mehr
selbstbestimmungsfähig. Eine frühere Patientenverfügung, im Vollbesitz der geistigen
Kräfte festgelegt, habe daher Vorrang, auch wenn der Kranke später andere Präferenzen
zeige. Andere Experten halten dagegen: Demenzkranke Menschen seien selbst in späten
Phasen der Erkrankung noch in der Lage, Situationen zu bewerten und ihren e­ igenen
Willen zu äußern – und sei es am Ende nur noch durch mimische Reaktionen.
»Wer eine Patientenverfügung unterzeichnet, hat keine Vorstellung davon,
wie es tatsächlich ist, dement zu sein«, sagt etwa der Psychiater Hans Lauter, Mitbegründer der Alzheimer Gesellschaft. Statt verbindlicher Verfügungen fordert er
ein »ethisches Konzil« aus Angehörigen und Ärzten, das im Ernstfall das Für und
Wider weiterer medizinischer Maßnahmen abwägen soll.
226
Die Welt im Kopf
Die Philosophin Agnieszka Jaworska geht noch einen Schritt weiter: Sie plädiert dafür, Demenzkranke auch im täglichen Leben in ihrer Autonomiefähigkeit
gezielt zu fördern, indem man ihnen hilft, nach ihren noch verbliebenen Wertvorstellungen zu leben. Ein früherer Wissenschaftler etwa, der selbst an Alzheimer erkrankte und nun an einem Demenz-Forschungsprojekt teilnahm, zog daraus tiefe
Befriedigung. Obwohl er kaum noch verstand, worum es in dem Projekt überhaupt
ging, steigerte die bloße Mitwirkung sein Selbstwertgefühl: Als Projektteilnehmer
könne er »viel mehr machen«, erklärte der Mann – im Heim hingegen sei er »nichts«.
Nach Auffassung des amerikanischen Psychiaters Steven Sabat sind Menschen mit Demenz immer noch »semiotische Subjekte«, also sinngeleitete Wesen,
die ein Anliegen, einen Sinn verfolgen – auch wenn es für Außenstehende oft
schwierig ist, diesen Sinn zu entschlüsseln. Was etwa soll man von der Heimbewohnerin halten, die aus dem Kaffeegeschirr kleine Bauwerke errichtet? Oder von
dem Mann, der ständig mit dem Rollstuhl unterwegs ist, um nach Gegenständen
zu fahnden, die er in ihre Einzelteile zerlegen kann?
Die Heidelberger Gerontologin Marion Bär hat solche Verhaltensweisen
zu deuten versucht. Nach ihrer These machen schwer demenzkranke Menschen
durchaus Sinnerfahrungen. Natürlich könne jegliche Interpretation solcher Handlungen von außen fehlgehen. Doch indem wir Demenzbetroffene überhaupt als
»Sinnsucher« anerkennen, so meint Bär, können wir die kognitive Ungleichheit
überwinden – und damit das Gefühl der Fremdheit, das uns von ihnen trennt.
Wachsendes Problem
Von 100 000 Menschen erkranken an Demenz:
Wachsendes Problem
Von 100 000 Menschen erkranken an Demenz
183
(1,1 %)
2005
203
(1,31 %)
2015
247
(1,67 %)
2030
Das alternde Gehirn
227
Durch das Erzählen erschaffen wir unser Selbst. Dazu braucht es Zuhörer
Menschen sind im Kern »narrative« Wesen: Mit unseren Geschichten erzählen
wir uns und anderen, wer wir sind. Unser Selbst steckt demnach nicht in einem
bestimmten Hirnareal, sondern es besteht aus einem Netz all der Geschichten,
aus denen wir unsere Identität immer wieder neu zusammenweben. Demente
Menschen tun im Grunde­nichts anderes. Nur müssen sie immer wieder neue
Geschichten erfinden, weil sie ihre früheren Rollen nicht mehr ausüben können.
Marion Bär erzählt etwa von einer Heimbewohnerin, die mit leuchtenden
Augen ihre Tätigkeit als Sekretärin in der Einrichtung beschrieb, obwohl sie dort
nie irgendwelche Arbeiten übernommen hatte. Ihr Sinnpotenzial verwirkliche
sich durch das Erzählen, meint Bär: Sie erschafft sich gleichsam eine neue Geschichte – und damit ein neues Selbst.
Doch wer erzählt, der braucht Zuhörer. Nur im sozialen Raum, im Austausch mit anderen, mit unserer Unterstützung können Menschen mit Demenz
ihren Sinn verwirklichen – und ihr Selbstgefühl aufrechterhalten. Es liegt also an
uns, die Vergesslichen an ihr Selbst zu erinnern. Wir alle schreiben mit an ihren
Geschichten. Das allerdings zwingt zum genauen Zuhören, zum Verstehenwollen, es erfordert Entschleunigung, Toleranz und Empathie.
Es dauert manchmal quälend lange, bis Christian Zimmermann, der Demenzbetroffene in München-Haidhausen, einen Satz zu Ende bringt. Manchmal
findet er den Spickzettel nicht, auf den er sich etwas notiert hat. Mitunter liegt
die Schwierigkeit aber auch bei seinem Gegenüber. Als Interviewer etwa wird mir
plötzlich bewusst, wie ich selbst überdeutlich spreche. Wie ich auf seine Defizite
achte. Die Wortfindungsstörungen. Die Wiederholungen. Hat er mich richtig
verstanden? Als ich später das Band abhöre, wundere ich mich weniger über seine
klugen Antworten als über die Banalität meiner Fragen.
Wer wirklich zuhört, kann von Menschen wie Zimmermann lernen – von ihrer
Kreativität, von ihrem Humor, von ihren Bildern. Klar, irgendwann sei seine »Sandburg« abgebröckelt, sagt Zimmermann. In solchen Momenten frage er sich zum Beispiel, ob er nicht doch was falsch gemacht habe mit seiner Burg, die er einst so akribisch
geplant hatte. Mit seinem Leben. »Das schleppst du immer mit. Das kriegst du voll
rein. Dann reißt das Seil. Erinnern oder Vergessen, das ist der Knackpunkt.« Stellen wir
uns ähnliche Fragen nicht alle? Und haben wir nicht alle womöglich auf Sand gebaut?
Schließlich gehört der Verfall, das »Ab­bröckeln«, zu jeder Existenz. Solange
die Burg bröckelt, ist sie noch da. In diesem Punkt sind alle Menschen gleich – mit
oder ohne Demenz. Uns alle eint unser emotionales Erleben, das soziale Bedürfnis,
die Suche nach Sinn. Was uns trennt, sind unsere ­unterschiedlichen kognitiven
Defizite. In den ­allerletzten Phasen der Krankheit kann es sein, dass wir bei einem
dementen Menschen nichts Kognitives mehr finden, kaum noch Emotionen oder
einen Ausdruck von Selbst. Aber wir dürfen nicht aufhören, danach zu suchen.
von Thomas Vašek aus der ZEIT Nr. 20/2011
228
Die Welt im Kopf
Im Dorf des Vergessens
Im niederländischen De Hogeweyk genießen Menschen mit Demenz maximale Freiheit. Nun wird ein solches Projekt auch in Deutschland geplant Ruth weiß schon lange nicht mehr, in welcher Welt sie lebt, aber sie weiß genau,
was sie will: ihrem Besucher einen Kuss geben – auch wenn es sich bei diesem
um einen wildfremden Journalisten han­delt. Sie nimmt meine Hand, schaut mir
tief in die Augen, zieht mich zu sich herunter und küsst mich fest auf die Wange.
Dann schnappt sie sich ihren Gehstock und spaziert los, einem Ziel entgegen, das
sie selbst nicht kennt.
Ruth hat schwere Demenz. Aber hier, im niederländischen De Hogeweyk,
darf sie sein, wie sie ist. Denn dieses Dorf ist ganz auf Menschen mit Demenz
eingestellt. Seine 152 Bewohner leiden allesamt unter der Alterssenilität – und
können doch tun, wonach ihnen der Sinn steht. Wer etwa, wie Ruth, nachmittags lieber im Morgenmantel spazieren geht, statt Tee zu trinken, darf dies. Denn
verlaufen kann sie sich nicht. De Hogeweyk ist so verschachtelt gebaut, dass sie
immer wieder an ihrem Ausgangspunkt landet.
»Menschen mit schwerer Demenz verstehen die Welt da draußen nicht
mehr. Wir schaffen ihnen eine Welt, die sie verstehen: einen normalen Alltag
in einem normalen Haus«, sagt die Managerin Yvonne van Amerongen, die das
weltweit einmalige Projekt vor rund 20 Jahren aus der Taufe hob. Heute ist das
Demenzdorf, das 20 Kilometer von Amsterdam entfernt im Städtchen Weesp
liegt, zu einer Pilgerstätte für Pflegemanager, Wissenschaftler und Gesundheitspolitiker aus aller Welt geworden. Nach dem Vorbild De Hogeweyks werden
gerade in vielen Ländern ähnliche Einrichtungen geplant – auch in Deutschland.
»Normalität« ist der Schlüsselbegriff dieses Konzepts. Auf den ersten Blick
gleicht De Hogeweyk einem ganz normalen niederländischen Dorf. Es gibt einen
Friseur, ein Restaurant und ein Café, einen Teich und eine Promenade zum Spazierengehen. Die 23 Wohnungen sind den Milieus nachempfunden, aus denen
ihre Bewohner stammen, sie reichen von Oberschicht bis Arbeiterklasse, sieben
verschiedene Lebensstile gibt es in De Hogeweyk. Wer in den einzelnen WGs
wohnt, verraten die Namen, die in großen und bunten Buchstaben neben den
Haustüren stehen.
Die Kranken leben tagsüber mit Pflegern und Helfern zusammen. Diese
tragen statt weißer Uniform Alltagskleidung. Unterscheiden kann man sie erst
gegen Abend, wenn die Pflegekräfte beim Schichtwechsel nach Hause fahren.
Man muss schon genau hinsehen, um die Brüche in der Illusion der Normalität
Das alternde Gehirn
229
De Hogeweyk bietet seinen dementen Bewohnern so viel Normalität wie möglich.
zu bemerken: etwa die Tatsache, dass jede Wohnung zwei Eingangstüren hat –
eine normale für den Alltag und eine versteckte, für Notfälle. Oder die Tatsache,
dass das ganze Dorf nur einen zentralen Ein- und Ausgang hat, der Tag und
Nacht kontrolliert wird.
Kritiker sprechen von einem »Ghetto«, in dem Demente isoliert und weggesperrt werden. Andere dagegen sehen Dörfer wie De Hogeweyk als Lösung eines
immer drängender werdenden Problems. Jan Bennewitz plant im rheinland-pfälzischen Städtchen Alzey das erste deutsche Demenzdorf nach dem niederländischen
Vorbild. Mitte 2014 sollen die ersten von 120 Bewohnern in die Wohnungen einziehen und »damit eine echte Alternative zum klassischen Pflegeheim haben«, wie
Bennewitz sagt. Der für soziale Einrichtungen tätige Unternehmensberater ist mit
seiner Partnerin Yvonne Georgi die treibende Kraft hinter dem Projekt Alzey. Das
Wort »Demenzdorf« meidet Bennewitz; er redet lieber von einem »Quartier, in dem
wirkliches soziales Leben stattfindet«. Ein Café soll die Alzeyer Bevölkerung dorthin locken, Arzt und Friseur sollen nicht nur für die dementen Anwohner da sein.
Vermutlich werden bald noch andere Kommunen hierzulande ähnliche Pläne schmieden. Denn der Betreuungsnotstand in der Versorgung von Demenzpatienten ist unbestritten. Rund 1,3 Millionen Menschen leiden derzeit in Deutschland an Demenz. Für das Jahr 2050 rechnet das Berlin-­Insti­tut für Bevölkerung
und Entwicklung mit 2,6 Millionen Demenzkranken. Viele Familien sind von
230
Die Welt im Kopf
der kräftezehrenden Aufgabe der Pflege überfordert, Pflegeheime stoßen schon
heute an ihre Kapazitätsgrenzen. Oft fehlt ihnen das Know-how im Umgang mit
Dementen, obwohl diese einen immer größeren Teil ihrer Patienten ausmachen.
Oder sie konkurrieren miteinander um Fachkräfte, die in der Not aus dem Ausland angeworben werden.
Zudem belastet die Betreuung die So­zial­kas­sen und den Staatshaushalt, ein
Pflegeheimplatz kostet mehrere Tausend Euro pro Monat. Für manche ist das
ein einträgliches Geschäft. Denn in Deutschland sind Kranken- und Pflegekasse
getrennt. Wird bei einem Patienten Pflegebedürftigkeit festgestellt, wechselt er
von der Kranken- in die Pflegekasse. Für den Altersforscher Wolf Dieter Oswald
ist das eine »unselige Trennung«. Sie führe dazu, dass nicht die Aktivierung von
Menschen mit Demenz belohnt werde, sondern das Gegenteil: Je pflegebedürftiger ein Mensch sei, desto mehr Geld bringe er für die Heime. Und »dort herrscht
oft Grabesruhe«, sagt Oswald, Professor am Institut für Psychogerontologie der
Universität Erlangen-Nürnberg: »Die Leute werden mit Medikamenten sediert,
möglichst im Bett gehalten. Denn dann gibt es die höchste Pflegestufe.« Stu­dien
zeigen, dass zwischen 26 und 42 Prozent der Kranken in irgendeiner Weise fixiert
werden, fünf bis zehn Prozent werden sogar mit Gurten fest­geschnallt.
Der ökonomische Druck auf die Pflegeheime, der Fachkräftemangel und
das Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen werden sich in Zukunft noch
Das alternde Gehirn
231
verschärfen. Ohne ein grundsätzliches Umdenken in der Gesellschaft wird der
demografische Wandel ziemlich hässliche Seiten bekommen.
»Jeder bekommt Alzheimer, wenn er nur alt genug wird«, sagt Wolf Dieter Oswald provokativ. Deshalb fordert er mehr Re­ha­bi­li­ta­tion, Prä­ven­tion und
Aktivierung: Auch im Pflegeheim sollten die Menschen gefördert und je nach
Niveau gefordert werden. Dafür hat er ein Programm entworfen, das viele Punkte
enthält, die auch im niederländischen De Hogeweyk umgesetzt werden.
Dort herrscht an einem Nachmittag im Dezember rege Geschäftigkeit. Aus
dem dorf­eige­nen Café dringt der Gesang von Kindern, dazwischen hört man die
Stimmen einiger Bewohner. Gerade ist eine Kindergartengruppe zu Gast, die
mit den Dementen die Ankunft von Sinterklaas, dem niederländischen Nikolaus,
feiert. Nebenan in der lichtdurchfluteten Einkaufspassage wird mit Unterstützung von zwei Pflegehelfern an Advents­gestecken gewerkelt – eine von vielen
Aktivitäten, die Bewohner wählen können, neben Singen oder Basteln und dem
unvermeidlichen Bingo. Wichtig ist, dass die Dementen aktiv sind, auch im Alltag. Deshalb werden sie bei vielen Tätigkeiten einbezogen: Sie helfen beim Kartoffelschälen, Blumenbeetharken oder Tischdecken.
Auch einkaufen gehen können die Bewohner. Im Dorfladen »Hogeweyk
Super« gibt es Äpfel, Fertiglasagne und Duschlotion. »Alles ganz normal«, sagt die
Managerin Yvonne van Amerongen. Ungewöhnlich ist höchstens, dass es niemand
stört, wenn mit Knöpfen oder Taschentüchern bezahlt wird – alles ist erlaubt, solange es die Il­lu­sion von Normalität auf­recht­erhält. Und was ist mit dem Eierlikör-Regal, das schon fast leer geräumt ist? Trinkt sich hier jemand heimlich einen Rausch
an? Kein Problem, die Mitarbeiter kennen schließlich jeden der 152 Bewohner. Und
bevor einer von ihnen mit zwei Flaschen Eierlikör zu Hause ankommt, hat die Verkäuferin schon längst in seiner Wohngruppe angerufen und die Pfleger informiert.
Dieser Umgang mit den Demenzkranken hat auch Markus Vögtlin beeindruckt. Er ist Direktor der Dahlia Oberaargau AG, die insgesamt vier Pflegeheime in der Schweiz führt. Nach einem Besuch in De Hogeweyk will er nun am
Standort Wiedlisbach, rund 30 Kilometer von Bern entfernt, das erste Schweizer
Demenzdorf bauen. 100 Plätze sind geplant; wenn alles gut läuft, können die
ersten Bewohner 2019 einziehen. »Uns hat überzeugt, wie dort Normalität gelebt
wurde«, sagt Vögtlin. »Wir waren beeindruckt, wie ruhig die Bewohner waren,
wie glücklich. So etwas habe ich noch nie erlebt.«
Die Simulation des Alltags hat mehrere positive Effekte: Sie schafft soziale
Kontakte und fördert die geistige Aktivität. Und wie wichtig diese sind, weiß auch
die Wissenschaft. »Wir haben uns gefragt: Was hält das Gehirn fit?«, beschreibt
Elmar Gräßel, Professor am Uni-Klinikum Erlangen, die Herausforderung. »Auf
einmal ist es uns wie Schuppen von den Augen gefallen.«
Gräßel fasst die Antwort in dem Kürzel MAKS zusammen – motorische,
alltagspraktische, kognitive und spirituelle Aktivität. Sein Konzept ist vom Bundesgesundheitsministerium als eines von 29 »Leuchtturmprojekten Demenz«
232
Die Welt im Kopf
ausgezeichnet worden. Mit geistiger Anregung, psychomotorischen Übungen,
alltagspraktischen Tätigkeiten und Kommunikation in der Gruppe will Gräßel
jenen Prozess verlangsamen, der das Gehirn in sich zusammenfallen lässt. Langfristig aufhalten lässt dieser sich allerdings nicht. Denn bislang gibt es keine wirksamen Medikamente, häufig zeigen Anti­demen­ti­va nur einen geringen Effekt.
Umso wichtiger ist es, den Alltag möglichst lange aufrechtzuerhalten. Denn
bei vielen Betroffenen setzt die beginnende Demenz einen Teufelskreis in Gang.
Wer unter Vergesslichkeit leidet und sich den Anforderungen des Alltags nicht
mehr ganz gewachsen fühlt, zieht sich langsam zurück. Betroffene gehen nicht
mehr einkaufen und wissen irgendwann nicht mehr, wie man den Bus benutzt. Sie
bleiben zu Hause, um Fehler zu vermeiden, und weichen Gesprächen aus, die sie
überführen könnten – was die Isolation noch steigert und den geistigen Verfall befördert. Irgendwann greift die Krankheit auf das Langzeitgedächtnis über. Die Betroffenen wissen nicht mehr, wie man sich die Schuhe bindet und wozu eine Gabel
gut ist. Sie vergessen das Gesicht des Nachbarn, haben Angst vor der Schwiegertochter, die zum Putzen vorbeikommt, haben keinen Hunger mehr und wollen um
Mitternacht einen Spaziergang mit dem Hund machen, der seit 30 Jahren tot ist.
Der Weg in das Vergessen ist schmerzhaft. Die Betroffenen merken, wie
nach und nach das eigene Ich zerfließt. Wehren können sie sich nicht. Noch
wissen Forscher viel zu wenig über die Entstehung. Bis heute steht fest: Rund zwei
Drittel der Fälle gehen auf die Alzheimer-Erkrankung zurück, rund ein Drittel
sind vaskuläre Demenzen, aus­gelöst durch eine Reihe kleiner Hirn­infark­te. Die
dritte und kleinste Gruppe sind die familiären Demenz­erkran­kun­gen, die häufig
schon vor dem 60. Lebensjahr auftreten.
Wäre also ein Demenzdorf die geeignete Lösung für jene Menschen, die früher
oder später stationäre Hilfe in Anspruch nehmen müssen? »Ich kann mir ein solches
Modell gut in Deutschland vorstellen«, sagt Elmar Gräßel vom Uni-Klinikum Erlangen. Allerdings müsse hinter dem Projekt das entsprechende therapeutische Konzept
stecken. So komme es etwa darauf an, wie gut das Dorf in das Gemeindeleben eingebunden ist. Nicht zu nah am Verkehr, aber auch nicht auf der grünen Wiese müsse es
angesiedelt sein. »Ghettobildung hat sich nie bewährt«, warnt Gräßel.
Andere sehen solche Einrichtungen kritischer. »Dort wird eine Art Disneyland aufgebaut, das mit der Realität nichts mehr zu tun hat«, schimpft Peter Michell-Auli, Geschäftsführer des Kuratoriums Deutsche Altershilfe. Ihm schwebt
anderes vor. »Fast immer wollen die Menschen so lange wie möglich zu Hause
bleiben, das sollten wir ihnen ermöglichen«, sagt er. Er plädiert für eine enge
Einbindung der Demenzkranken innerhalb ihres gewohnten Wohnquartiers mit
nachbarschaftlicher Hilfe, einem barrierefreien öffentlichen Raum, einem Netz
aus Beratung und Dienstleistungen. »Darauf müssen wir viel mehr achtgeben als
auf solche Sonderformen wie das geplante Demenzdorf in Alzey«, sagt er.
Noch radikaler ist Reimer Gronemeyer. Der emeritierte Professor von der
Universität Gießen empfindet es als Kränkung, eine Il­lu­sion wie in De Hogeweyk
Das alternde Gehirn
233
mit allen Mittel aufrechtzuerhalten. Überhaupt sollten wir aufhören, Demenz als
Krankheit zu sehen, fordert er. Vielmehr sei sie ein Teil des Lebens, das »vierte
Lebens­a lter«: »Wir müssen uns fragen, wie wir diese große humane Aufgabe lösen, ohne uns wegzudrehen und zu sagen: Gebt sie doch den Ärzten.«
Auch Klaus Pawletko war skeptisch, als er zum ersten Mal von der Idee der
Demenzdörfer hörte. Der Vorsitzende des Vereins »Freunde alter Menschen« in Berlin
gründete schon Mitte der neunziger Jahre die erste »Demenz-WG«, in der Kranke und
Gesunde zusammenleben. Mittlerweile hat das Konzept Nachahmer in ganz Deutschland. In der Gesellschaft habe sich seitdem eine ganze Menge verändert, glaubt Pawletko: »Wir sind unglaublich viel weiter, einfach deshalb, weil über die Krankheit geredet
wird.« Künstliche Welten wie in De Hogeweyk habe er anfangs abgelehnt, erzählt er.
Nach und nach aber habe er seine Meinung geändert, auch weil Kollegen ihm berichteten, noch nie so entspannte Demenzkranke wie in De Hogeweyk gesehen zu haben.
»Mittlerweile kann ich mir ein Demenzdorf grundsätzlich hier vorstellen«, sagt er. »Ich
weiß nur nicht, ob das mit der Mentalität der Deutschen zusammenpasst.«
Fragt man ihn nach seiner Idealvorstellung, skizziert Pawletko eine ähnliche Utopie wie Michell-Auli. »Keine Spezialeinrichtungen mehr. Menschen mit
Demenz können frei auf der Straße herumlaufen, Nachbarn und die Menschen
auf der Straße sind hoch sensibilisiert. Aber um das zu erreichen, müsste man in
so viele Bereiche eingreifen«, sagt er und klingt dabei eher skeptisch.
Dass das im Prinzip funktionieren kann, hat der Erlanger Professor Elmar
Gräßel selbst einmal erlebt, als er in Irland auf dem Weg zu einer Tagung war: In
seinem Bus saß eine offensichtlich verwirrte Dame, die an jeder Haltestelle aussteigen wollte. Doch der Busfahrer hielt sie zurück. Erst an der richtigen Adresse
rief der Fahrer der Frau zu, nun könne sie aussteigen, dort drüben sei ihr Haus.
Dann nahm die Frau ihre Einkaufstüten und machte sich auf den Heimweg.
Leider klappt so eine aufmerksame nachbarschaftliche Hilfe eher in überschaubaren Räumen als in Großstädten. Doch die Diskussion, wie wir in Zukunft mit unseren vergesslichen Alten um­gehen wollen, hat in Deutschland
gerade erst begonnen. Klar ist nur, dass sie unsere Vorstellung einer optimierten
Leistungsgesellschaft massiv infrage stellt. Denn uns allen droht am Ende der
Sturz ins Vergessen, unabhängig von Schicht und Bildung.
»Wir müssen akzeptieren, dass Leben Wandel ist«, sagt Elmar Gräßel. »Deshalb sollten wir tolerant sein und bedenken, dass nichts so bleibt, wie es ist.«
von Fritz Habekuß aus der ZEIT Nr. 5/2013
234
Die Welt im Kopf
Stichwort
Neurodegeneration
Neurodegenerative Erkrankungen sind progressive, altersabhängige
Zustände, denen ein gemeinsamer pathologischer Mechanismus
zugrunde liegt. Unter solchen Krankheiten leiden weltweit Millionen
von Menschen, und es könnten in den kommenden Jahren noch mehr
werden, denn die Bevölkerung der westlichen Welt altert zusehends.
Daher stellen diese Krankheiten eine schwere, mit enormen Kosten
verbundene Last für das Gesundheitssystem dar.
Neurodegenerative Erkrankungen führen zum Absterben bestimmter
Neuronengruppen im ZNS. Man kann sie grob in zwei Kategorien einteilen:
Demenzen
Bewegungsstörungen
• Alzheimer-Krankheit (häufigste und
•Parkinson-Krankheit
bekannteste Form der Demenz)
• Chorea Huntington
• frontotemporale lobäre Degeneration
• Motoneuronenkrankeiten (wie
• vaskuläre Demenz
amyotrophe Lateralsklerose ALS)
•Pick-Krankheit
• spinozerebelläre Ataxien
Transmissible (übertragbare) spongiforme Enzephalopathien oder Prionenkrankheiten bilden eine weitere Gruppe neurodegenerativer Erkrankungen.
Sie führen zu Demenz und Bewegungsstörungen, darunter:
• bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE oder »Rinderwahnsinn«)
• Variante der Creutzfeldt-JakobKrankheit (vCJK)
•Gerstmann-Sträussler-ScheinkerSyndrom (GSS)
• letale familiäre Schlaflosigkeit
•Kuru
• Scrapie (bei Schafen)
Stichwort
235
Kannibalismus und der »zitternde Tod«
Kuru ist eine Prionenkrankheit, die in
den 1950er Jahren beim Stamm der
Fore in Papua-Neuguinea entdeckt
wurde, dessen Mitglieder die Infektion
durch ritualisierten Kannibalismus
Verstorbener weitergaben. Wenn ein
Stammesmitglied starb, verlangte
der Brauch, dass die weiblichen Verwandten den Leichnam zerlegten und
aufaßen, einschließlich des Nervensystems. Kuru-Opfer galten als besonders reiche Nahrungsquelle, da die
Krankheit mit einer Vermehrung des
Fettgewebes einhergeht, das ähnlich
wie Schweinefleisch schmeckt. Der
Begriff Kuru bedeutet in der Sprache
der Fore so viel wie »zitternder Tod«
und beschreibt die Symptome –
die Krankheit befällt vor allem das
Kleinhirn und führt zu unstetem Gang
und Muskelzittern. In den 1950er
Jahren forderte ein Ausbruch das
Leben von mehr als 100 Mitgliedern
des Fore-Stammes, bevor Kannibalismus von der australischen ­Regierung
verboten wurde. Vor rund fünf Jahren
kehrten jedoch Forscher nach PapuaNeuguinea zurück und identifizierten
elf Kuru-Fälle. Kuru, so vermuten sie,
hat eine außerordentlich lange In­ku­ba­
tions­zeit, was die Besorgnis auslöste,
nach der BSE-Krise Ende der 1980er
Jahre könnte Großbritannien eine
vCJK-Epidemie drohen.
Die Prionenhypothese Prionenkrankheiten sind extrem selten und gerieten erst Ende der 1980er Jahre in den Blick der Öffentlichkeit, als eine
BSE-Epidemie (»Rinderwahnsinn«) in den britischen Rinderbeständen
wütete. Anschließend starben 156 Menschen an der Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, offensichtlich deshalb, weil sie Fleisch von infizierten Kühen gegessen hatten. Die meisten Infektionen werden von Mikroorganismen hervorgerufen, doch Prionenkrankheiten sind einzigartig: Der
Prionenhypothese zufolge werden sie von einer abnormen Form eines
Nervenzellproteins hervorgerufen, das sowohl zwischen den Mitgliedern
einer Art als auch über Artgrenzen hinweg übertragen werden kann.
»Prion« leitet sich vom englischen Ausdruck proteinaceous in­
fec­tious particle (proteinöses infektiöses Teilchen) her und beschreibt
dessen einzigartige Übertragungsweise. Das Prionprotein findet sich in
sämtlichen Nervenzellen, doch seine normale Funktion ist bislang unbekannt, wenn sein Sitz in der Zellmembran auch dafür spricht, dass es eine
Rolle bei der Signalübermittlung von Zelle zu Zelle spielt. Mutationen im
Prion-Gen bewirken, dass sich das Protein falsch faltet; diese abnorm gefalteten Moleküle häufen sich an und bilden unlösliche Klumpen, die für
Neurone toxisch sind. Die Klumpen brechen dann in kleinere Fragmente
auseinander; diese wirken als »Keime«, die sich ausbreiten und normale
236
Die Welt im Kopf
Prionenmoleküle veranlassen können, die pathologische Konfiguration
einzunehmen.
Falsch gefaltete Proteine An fast jeder bekannten neurodegenerativen
Krankheit ist ein pathologischer, prionenartiger Mechanismus beteiligt, bei
dem ererbte oder spontan auftretende Genmutationen dazu führen, dass
sich Proteine falsch falten, als unlösliche Klumpen oder Faserbündel in
oder rund um Neurone ablagern und deren Funktion in irgendeiner Weise
beeinträchtigen. Der Typ des beteiligten Proteins, die Verteilung und die
Auswirkungen der Klumpen variieren in Abhängigkeit von der Krankheit.
Bei einigen neurodegenerativen Krankheiten spielt mehr als ein einziges
falsch gefaltetes Protein eine Rolle, und in vielen Fällen setzen Proteinablagerungen lange vor dem Auftreten der ersten Symptome ein.
Typisch für die Alzheimer-Krankheit ist beispielsweise die Ablagerung von Beta-Amyloid-Peptiden, die in den Zwischenräumen der Neurone sogenannte P
­ laques bilden, sowie von Tau-Protein, das in den Neuronen neurofibrilläre Knäuel bildet. Solche Anomalien breiten sich ganz
ähnlich wie ein Virus von Zelle zu Zelle aus. Der Zelltod führt zu einem
Schrumpfen des Gehirns, das normalerweise im Hippocampus einsetzt
und zu Problemen bei Gedächtnis und räumlicher Orientierung führt.
Dieses Schrumpfen lässt sich lange vor dem Auftreten von Symptomen
auf Hirnscans erkennen, doch die Verklumpungen sind nur mikroskopisch nachweisbar; daher lässt sich eine definitive Diagnose gewöhnlich
erst nach dem Tod des Patienten bei der Obduktion stellen.
In ähnlicher Weise sind für die Parkinson-Krankheit Ansammlungen
von falsch gefaltetem Alpha-Synuclein-Protein typisch, die in den Neuronen sogenannte Lewy-Körper bilden, sowie ein Absterben von Dopamin produzierenden Neuronen im Mittelhirn. Bei der Chorea Huntington
(Huntington-Krankheit) spielt hingegen ein mutiertes Protein namens
Huntington eine Rolle, das sich im Zellkern der Neurone anhäuft. Normalerweise werden falsch gefaltete Proteine und andere Zelltrümmer
Die Obduktion zeigt Veränderungen, die eine
extreme Form seniler Demenz darstellen ...
merkwürdige, sich stark anfärbende Fibrillenbündel.
Emil Kraepelin, deutscher Psychiater, in einer frühen Beschreibung
der Alzheimer-Pathologie, 1910
Stichwort
237
Ursache oder Folge?
Bei einigen neurodegenerativen
Erkrankungen sind verklumpte
Proteine eine direkte Ursache der
Symptome, doch bei anderen ist
der Zusammenhang nicht so klar.
Allgemein wird angenommen, dass
Ablagerungen von Beta-Amyloid
und Tau-Protein Alzheimer hervorrufen und Medikamente, die diesen
Prozess blockieren, der Krankheit
vorbeugen oder sie verlangsamen
können. Doch das muss erst noch
eindeutig nachgewiesen werden –
genauso gut könnte es sein, dass die
Verklumpung eine Folge statt eine
Ursache der Krankheit ist.
abgebaut, entweder von Mikroglia,
den »Haushaltszellen« des Gehirns,
oder durch biochemische Reaktionen
(im sogenannten Ubiquitin-LysosomSystem), die wie ein zellulärer Mülleimer wirken. Inzwischen häufen sich
die Belege, dass diese Mechanismen
bei neurodegenerativen Krankheiten
nicht richtig funktionieren – das könnte erklären, warum sich falsch gefaltete Proteinen ansammeln, statt abgebaut und weggeräumt zu werden.
Eine drohende Epidemie? Ererbte
Mutationen können zu schweren, früh
einsetzenden Fällen neurodegenerativer Krankheiten führen, doch die
meisten Fälle sind sporadisch, und
Alter ist der größte einzelne Risikofaktor. So verdoppelt sich die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, bei einem Alter über 65 alle
fünf Jahre und erreicht nach dem 85. Lebensjahr rund 50 Prozent. Warum das so ist, wissen wir nicht, doch einige Forscher vermuten, dass
neurodegenerative Krankheiten von einem beschleunigten normalen
Alterungsprozess ausgelöst werden.
Die Bevölkerung der westlichen Welt altert, teilweise aufgrund der
dramatischen Zunahme der Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren,
aber auch wegen der niedrigen Geburtenrate. Inzwischen sind mehr als
die Hälfte der Menschen in Westeuropa und Nordamerika älter als 50
Jahre. Diese Zahl wird weiter steigen, wenn die Babyboomer-Generation
in den kommenden Jahrzehnten in Rente geht; einige Experten vermuten daher, dass es zu einem starken Anstieg der Zahl der Menschen kommen wird, die eine neurodegenerative Krankheit entwickeln. Unter der
Alzheimer-Krankheit, der häufigsten neurodegenerativen Erkrankung,
leiden heute allein in Amerika schätzungsweise 5,4 Millionen Menschen;
in Deutschland liegt die Zahl bereits bei über einer Million. Bis zum Jahr
2050 wird sich diese Zahl verdoppelt oder verdreifacht haben.
Moheb Costandi
238
Die Welt im Kopf
Drück mich!
In Japan ist der Kuschel-Roboter »Paro« bei alten Menschen beliebt. Jetzt soll
er auch in Europa verkauft werden. Demente Bewohner eines Altenheims in
Baden-Baden haben ihn zwei Jahre lang getestet – und ins Herz geschlossen
Plötzlich ist alle Lethargie gewichen. Herr Kühn hebt die Augenbrauen, Frau
Mayer nippt noch einmal am Wasserglas, Frau Merz reckt den Hals, ein Lächeln
gräbt tiefe Furchen in ihre Wangen. Es ist kurz vor halb zehn, die Therapeutin
Wilma Falk tritt in der Altenwohngruppe des Baden-Badener Christinen-Stifts
ihren Dienst an, unter dem Arm ein weißes Fellbündel. Schon von Weitem waren
Laute zu hören gewesen wie von einem bettelnden Hündchen. »Ich habe Besuch
mitgebracht«, sagt Falk überdeutlich. »Gell, ich hab’s doch versprochen!«
Der Besuch heißt Paro und ist eine weiße Babyrobbe aus Plüsch, mit großen
schwarzen Augen und viel Technik im Bauch, programmiert darauf, möglichst
lebendig zu wirken. Seit zwei Jahren bringt Wilma Falk sie fast täglich mit. So
lange testet das Christinen-Stift bereits, ob Plüschroboter alten Menschen Nähe
und Geborgenheit geben können. Die Wohngruppe von Herrn Kühn, Frau Mayer
und Frau Merz steht dabei im Mittelpunkt, alle Bewohner hier leiden an Demenz.
Manche können sich Kleinigkeiten nicht mehr merken, ob es Käse oder Marmelade
zum Frühstück gab zum Beispiel. Andere haben vergessen, wer sie sind.
Behutsam bettet Wilma Falk das Plüschtier auf Frau Merz’ Schoß. Es windet sich ein wenig und juchzt. Erst als die Seniorin zärtlich seinen Kopf streichelt, hält es still und schließt andächtig die Augen. »Ja, du bist mir ein ganz ein
Lieber«, flüstert sie. Roboter in Pflegeheimen? Auf die Idee kam der japanische
Robotikforscher Takanori Shibata bereits in den 90er Jahren. Er hatte gelesen,
dass ein Haustier Kranke und Alte aufheitern, ihren Stresslevel senken und so ihr
Leben verbessern, womöglich sogar verlängern könne. Da aber die meisten nicht
mehr für einen Hund oder eine Katze sorgen können oder sogar in Einrichtungen
leben, die keine Tiere gestatten, erfand er Paro: eine Hausrobbe, die für Entspannung sorgen und das soziale Miteinander stärken soll, 57 Zentimeter groß,
2,7 Kilogramm schwer, abwaschbar.
Die japanische Öffentlichkeit war wie so oft begeistert vom technischen
Fortschritt, mehr als 1000 Robben für umgerechnet je 3200 Euro hat Shibata seit
2003 verkauft. Als jedoch vor ein paar Jahren die ersten Bilder von kuschelnden
Können wir es uns leisten, eine Technik zu ignorieren, die die Lebensqualität alter
Menschen erhöhen könnte?«, sagt Barbara Klein, Professorin für Pflegewissenschaften an der Fachhochschule Frankfurt.
Das alternde Gehirn
239
Diese Plüschrobben sind Roboter, 57 Zentimeter lang, 2,7 Kilogramm schwer und
gespickt mit Dutzenden Sensoren.
In Paros Fall erzeugt die Technik eine perfekte Illusion – das Äußere und
das Verhalten sind kanadischen Babyrobben nachempfunden. »Erst haben wir
mit Hunde- und Katzen-Robotern experimentiert. Doch die wurden von vielen
abgelehnt, weil sie eben nicht ganz genau wie ihre alten Haustiere waren«, erklärt
Shibata. »Eine Robbe dagegen hat noch niemand besessen, deshalb wirkt Paros
Verhalten auf die meisten ganz natürlich.«
Um auf ihre Umwelt zu reagieren, hat sie Dutzende Sensoren: Lichtsensoren, um Tag und Nacht zu erkennen. Mikrofone, um bis zu 50 Stimmen auseinanderzuhalten. Und Drucksensoren, die Streicheleinheiten und Schläge registrieren. Ein Computer im Bauch verarbeitet die Eindrücke und steuert lautlose
Motoren in Flossen, Hals und Lidern. Paro kuschelt, Paro nickt, Paro zwinkert.
Frau Mayer ist heute dennoch nicht so gut auf ihn zu sprechen. Paro robbt
auf dem Tisch herum, sie zupft an seiner rechten Flosse. Ein Winseln, er hebt den
Kopf. »Was machst du für Sachen?«, schimpft sie. »Hast du schon wieder mein
Glas ausgetrunken?«
Dass die Robbe lebt, glaubt in der Demenzgruppe des Christinen-Stifts
immerhin jeder Zweite. Aber auch die anderen lassen sich auf das Spiel ein. Niemand hat je erwähnt, dass eine Babyrobbe in Baden-Baden ja eigentlich nichts zu
suchen habe. Niemand hat je gefragt, warum sie nicht wächst. »Sich in Paro einzufühlen ist wohl wie im Kino«, erklärt Christine Riesner, Pflegewissenschaftlerin
240
Die Welt im Kopf
an der Universität Witten/Herdecke. »Da versetzt man sich ja auch in den Film
hinein, obwohl das auf der Leinwand nur Schauspieler sind.« Bewohnern einer
Demenzwohngruppe falle das noch leichter.
Die meisten von ihnen leiden an Alzheimer, der Krankheit, die für etwa zwei
Drittel aller Demenzfälle in Deutschland verantwortlich ist. Oft schleicht sie sich in
den Alltag der Betroffenen ein: Sie stocken plötzlich mitten im Satz, weil ihnen ein
geläufiges Wort nicht mehr einfällt. Sie kommen aus dem Supermarkt, in dem sie seit
Jahren einkaufen, und wissen nicht mehr, ob es rechts oder links nach Hause geht. Sie
wollen morgens den Briefkasten leeren und haben vergessen, welcher ihnen gehört.
Schuld daran sind Eiweißpartikel, die sich zu Abermillionen im Hirn ablagern und Nervenzellen schädigen, vermuten Mediziner. In spezielle Wohngruppen wie die im Christinen-Stift kommen die Erkrankten oft erst, wenn das
zerstörerische Werk noch weiter fortgeschritten ist. Wenn sie über Nacht verlernt
haben, die Dusche zu bedienen oder den Herd wieder auszumachen, wenn sie
ständig Angst haben, zu verhungern, obwohl der Kühlschrank randvoll ist.
Dann geraten sie in die Situationen, in denen Shibatas Kuschelrobbe helfen
soll: Sie schämen sich für ihre Ausfälle, reden weniger und werden manchmal depressiv, weil sie bemerken, wie ihr Ich verfällt. Sie leben mehr und mehr in einer
eigenen Welt, in der die Mutter wieder eine junge Frau ist oder der verstorbene
Ehemann gleich von der Arbeit heimkommt. Und oft fühlen sie sich dann unverstanden von allen anderen, wollen weglaufen oder werden aggressiv. »Herausforderndes Verhalten« heißt das dann auf Pflegedeutsch.
Im Idealfall versuchen die Betreuer dann nicht, das krude Weltbild zu korrigieren.
»Die Betroffenen auf ihre Defizite aufmerksam zu machen löst oft Ängste oder Abwehr
aus«, sagt Christine Riesner. »Besser ist es, demente Menschen zu bestärken und sich
mit ihnen über die Dinge zu unterhalten, an die sie sich noch erinnern können.« Eine
Busfahrerin sollte man von ihrer Lieblingsroute erzählen lassen, auch wenn sie es zum
hundertsten Mal tut. Und ein ehemaliger Hausmeister soll ruhig den ganzen Tag lang
die Gartenmöbel hin und her räumen dürfen, wenn er sich dabei wohlfühlt.
Bei Frau Burghard half Zuhören und gutes Zureden irgendwann nicht
mehr, sie wurde depressiv und aggressiv. Der Hausarzt überwies sie in die Psychiatrie. »Dort bekam sie Psychopharmaka, und tatsächlich ging es ihr bald ein
wenig besser«, erzählt Keller. »Als sie dann aber zurück zu uns kam, war sie nicht
mehr die alte.« Es fiel ihr schwer, sich einzugewöhnen, den Aufenthaltsraum mit
der Holzvitrine wieder als ihre Stube zu akzeptieren und sich im bunt bemalten
Flur zurechtzufinden. Auch mit ihren Pflegern wollte sie nicht so recht sprechen.
Bis Wilma Falk sie mit Paro bekannt machte. Frau Burghard lernte sein
weiches Fell lieben, begann sich um den Roboter zu kümmern, deckte ihn abends
zu, wenn die Programmierung ihn schläfrig werden ließ. Eines Tages nannte sie
ihn »das Bubele« und behauptete steif und fest: »Der ist auf mich fixiert.« – »Der
größte Erfolg war, dass wir ihre Medikamentendosis senken konnten, weil sie ausgeglichener und zufriedener wurde«, erinnert sich Keller.
Das alternde Gehirn
241
Selbst wenn Frau Burghard wie heute einen schlechten Tag hat, in der Ecke
des Aufenthaltsraums sitzt und eigentlich lieber allein sein möchte, macht sie für
die Robbe eine Ausnahme.
»Möchten Sie sich nicht zu Paro und den anderen setzen?«, fragt Keller.
Frau Burghard schüttelt den Kopf.
»Möchten Sie die Robbe vielleicht kurz mal halten?«
Frau Burghard richtet den Blick aus dem Fenster, denkt nach. Dann streckt sie
beide Arme aus und drückt Paro an sich. Ein Juchzen – die Robbe kuschelt zurück.
Momente wie diesen gebe es dauernd, sagt Wilma Falk, auch mit den nicht
dementen Bewohnern: »Wenn zwei sich streiten, hilft Paro, die Lage zu entspannen. Wenn ein Bewohner mal aufgedreht ist, wirkt das weiche Tier beruhigend.«
Aber lassen sich diese Einzelfälle auch verallgemeinern?
Takanori Shibata glaubt schon. In Pilotstudien sammelte er erste Hinweise
auf eine therapeutische Wirkung der Robo-Robben. Einem Altenwohnheim im
japanischen Tsukuba überließ er für drei Wochen zwei Paros und beobachtete
mit Videokameras das Sozialleben. Und tatsächlich, die neuen Mitbewohner veränderten die Stimmung. Die Alten verbrachten mehr Zeit miteinander, unterhielten sich mit den Robben (»Guten Morgen, warst du auch ein guter Junge?«) – und
über die Robben. (»Heute sieht er aber hungrig aus!«) Sogar Bewohner, die nie
miteinander geredet hatten, kamen sich näher.
Für ein zweites Experiment durften Besucher eines ambulanten Pflegezentrums fünf Wochen lang mit Paro spielen, ein Drittel war dement. Vorher und
nachher sollten die Studienteilnehmer aus 20 gemalten Gesichtern jeweils das
auswählen, das ihre Stimmung am ehesten widerspiegelte, zusätzlich nahmen die
Forscher Urinproben.
Der Versuch zeigte, dass sich nicht nur die Stimmung der meisten Alten
besserte, sondern auch weniger Abbauprodukte des Stresshormons Cortisol in
ihrem Urin nachzuweisen waren. Das Spielen hatte sie offenbar entspannt. »Besonders interessant war aber, dass wir die Betreuer einen Burn-out-Fragebogen
ausfüllen ließen und auch bei ihnen eine Entlastung feststellen konnten«, sagt
Takanori Shibata.
Allerdings, schränkt der Forscher selbst ein, seien die Ergebnisse nur begrenzt aussagekräftig, zu klein war die Zahl der Studienteilnehmer. »Allein aufgrund der bemerkenswerten Einzelbeobachtungen lohnt es sich aber, Paro weiter
zu erforschen«, sagt Barbara Klein. Sie plant mit britischen Kollegen eine internationale Studie, in der sie die Wirkung auf Heimbewohner und ihre Betreuer
Die Roboter verändern die Stimmung. Die alten Menschen reden mit den
Robben – und über sie. So kommen sie sich näher.
242
Die Welt im Kopf
Das alternde Gehirn
243
genauer untersuchen will. Und auch Pflegeforscher der Universität Bremen haben
sich schon an die Maternus-Kliniken gewandt, um die augenscheinlichen Erfolge
mit Paro zu überprüfen.
»Aber selbst wenn sich eine therapeutische Wirkung eindeutig nachweisen
ließe, wären Roboter wie Paro kein Allheilmittel«, sagt Klein. In vielen Heimen
fehlten bislang ausreichende Betreuungsangebote. »Das können auch Robben
nicht gut machen. Sie können nur ein Arbeitsmittel für Pflegekräfte sein wie zum
Beispiel auch Handpuppen oder Besuchshunde, und sie müssen in das Gesamtkonzept passen.« Ähnlich sieht das der Pflegeexperte Claus Fussek. Er nannte es
vor Jahren noch »pervers«, Roboter zu streicheln. »Am Ende entscheidet aber das
Motiv darüber, ob sie in der Pflege einen Platz haben sollten. Geht es darum, dass
Pflegekräfte das Leben dementer Menschen würdevoller gestalten wollen, sind sie
hilfreich. Geht es aber nur darum, Geld zu sparen, sind sie ein Skandal!«
Im Christinen-Stift wird demnach bisher alles richtig gemacht. Wilma Falk
lässt die Bewohner nie aus den Augen, wenn sie mit Paro spielen. Wie so oft, versucht sie auch heute über ihn ins Gespräch zu kommen. Vorsichtig reicht sie die
Robbe wieder zurück an Frau Merz.
»Sie mögen Tiere, oder?«
»Ja.«
»Haben Sie nicht einmal auf einem Bauernhof gewohnt?«
»Doch, da hatten wir Schweine und einen Hofhund.«
»Aber keine Robbe, oder?«
»Nee, so einen Lieben nicht.«
Dann beugt sich Herr Kühn von der Seite mit einer Babybürste herüber
und beginnt, Paro zu striegeln und ihm leise vorzusingen: »Auf der Heide blüht
ein kleines Blümelein. Und das heißt – Erika. Heiß von hunderttausend kleinen
Bienelein wird umschwärmt – Erika.« Frau Merz stimmt ein.
von Jens Uehlecke aus ZEIT Wissen Nr. 6/2008
244
Die Welt im Kopf
Autorenverzeichnis
Harro Albrecht
Harro Albrecht studierte Medizin an der Universität Hamburg
und war Redakteur des Spiegel. Seit 2000 ist er Redakteur im
Wissenschaftsressort der ZEIT.
Ulrich Bahnsen
Ulrich Bahnsen studierte Biologie in Hamburg und arbeitet seit
1994 als Wissenschaftsjournalist. Seit 2001 ist er Redakteur im
Ressort Wissen der ZEIT.
Nils Boeing
Niels Boeing studierte Physik und Wissenschaftstheorie in A
­ achen
und Berlin. Er war Ressortleiter bei der Woche, arbeitet heute
als freier Journalist und ist Autor bei ZEIT Wissen.
Anhang
Autorenverzeichnis • Bildnachweis
Christine Böhringer
Christine Böhringer studierte Geschichte, Kommunikationsund Medienwissenschaft sowie Umweltwissenschaften in Basel.
Sie ist Absolventin der Henri-Nannen-Journalistenschule und
arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Wissen,
Medizin und Bildung.
Kerstin Bund
Kerstin Bund studierte Kommunikationswissenschaft und
Wirtschaft an der Universität Hohenheim. Seit 2009 ist sie
Redak­teurin im Wirtschaftsressort der ZEIT.
Moheb Costandi
Moheb Costandi ist Neurowissenschaftler und Wissenschaftsautor. Er hat zahlreiche Artikel in Wissenschaftsjournalen
veröffentlicht, darunter in Nature, New Scientist, Science und
Scientific American. Zudem schreibt er das Blog Neurophilosophy des Guardian. Er lebt in London.
Autorenverzeichnis 247
Adrian Furnham
Adrian Furnham ist Professor für Psychologie am University
College London (UCL). Er ist Fellow der British Psychological
Society, ehemaliger Präsident der International Society of
Individual Differences und schreibt regelmäßig für die Sunday
Times und den Daily Telegraph.
Jochen Reinecke
Jochen Reinecke ist freier Journalist und lebt in Berlin.
Christiane Grefe
Christiane Grefe studierte Politikwissenschaft und besuchte
die Journalistenschule in München. Sie schrieb für Natur, GEO
und das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Seit 1999 arbeitet
sie als Reporterin im Berliner Büro der ZEIT.
Marcus Rohwetter
Marcus Rohwetter ist studierter Jurist und seit 2000 Redakteur im Wirtschaftsressort der ZEIT.
Fritz Habekuß
Fritz Habekuß studierte Wissenschaftsjournalismus mit den
Schwerpunkten Biowissenschaften und Medizin in Dortmund.
Seit 2014 ist er Redakteur im Ressort Wissen der ZEIT.
Ulrich Schnabel
Ulrich Schnabel studierte Physik und Publizistik an der Universität Karlsruhe und an der FU Berlin und arbeitet seit 1993 als
Wissenschaftsredakteur für die ZEIT.
Birgit Herden
Birgit Herden hat in Deutschland und Israel Biochemie studiert.
Sie war Redakteurin von Vanity Fair und arbeitet heute als freie
Wissenschaftsjournalistin.
Stefanie Schramm
Stefanie Schramm studierte Volkswirtschaftslehre und Politik
und besuchte die Kölner Journalistenschule. Seit 2005 schreibt
sie für das Ressort Wissen der ZEIT.
Tobias Hürter
Tobias Hürter studierte Philosophie und Mathematik in München und Berkeley. Er war Redakteur bei der MIT Technology
Review und bei der ZEIT und ist jetzt stellvertretender Chefredakteur des Philosophiemagazins Hohe Luft.
Werner Siefer
Werner Siefer studierte Neurobiologie in München und Madurai (Südindien). Er ist freier Wissenschaftsjournalist und Buchautor; zuletzt erschien von ihm »Wir und was uns zu Menschen
macht« im Campus Verlag.
Katharina Kluin
Katharina Kluin, geboren 1980, schreibt seit ihrer Ausbildung
an der Henri-Nannen-Journalistenschule über Psychologie,
Medizin und Gesellschaft. Als freie Autorin arbeitete sie unter
anderem für stern, GEO und ZEIT WISSEN. Seit 2009 ist sie
Redakteurin beim stern.
Victor Smetacek
Victor Smetacek ist Meeresbiologe und Leiter des Fachbereichs Pelagische Ökosysteme am Alfred-Wegener-Institut für
Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven.
Josephina Maier
Josephina Maier studierte Wissenschaftsjournalismus in
Darmstadt. Seit 2008 schreibt sie regelmäßig für das Ressort
Wissen der ZEIT. Jetzt studiert sie Medizin und arbeitet als
freie Wissenschaftsjournalistin in Hamburg.
248
Franz Mechsner
Franz Mechsner war bis 2012 außerordentlicher Professor
für Psychologie an der Northumbria University im britischen
Newcastle. Er ist Verfasser zahlreicher Beiträge für deutsche
und internationale Zeitschriften.
Peter Spork
Peter Spork ist Wissenschaftsautor und Neurobiologe und berichtet seit Jahren aus der Welt der Schlafforschung. In seinem
aktuellen Buch »Wake up!« plädiert er für eine ausgeschlafenere Gesellschaft.
Autorenverzeichnis 249
Jens Uehlecke
Jens Uehlecke hat Politikwissenschaften in Hamburg studiert
sowie Business Administration, Entrepreneurship und Innovation in Berkeley, Kalifornien. Zwischen 2008 und 2013 war er
Redakteur des Magazins ZEIT WISSEN in Hamburg und San
Francisco; heute leitet er »Greenhouse«, das Innovation Lab
von Gruner + Jahr.
Thomas Vasek
Thomas Vasek war Chefredakteur von Technology Review und
P.M.; außerdem ist er Gründungs-Chefredakteur des Philosophiemagazins Hohe Luft.
Julia Völker
Julia Völker ist Ärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Heidelberg. Als ausgebildete Wissenschaftsjournalistin schreibt sie unter anderem für ZEIT ONLINE
und GEO WISSEN.
Bildnachweis
Umschlag 4r3p /Westend61/Strandperle
Kap. 1 Wunderwerk Gehirn
Im Labyrinth des Denkens: Seite 21, Nicolas Righetti/rezo.ch;
Seite 22, EPFL/Alain Herzog. Ich bin zwei: Seite 32, ZEIT- ­Info­
grafik, Jelka Lerche; Seite 36/37, Appold/plainpicture. Sind die
Gedanken noch frei?: Seite 40, Michael Körner/action press;
Seite 43, MARK STROZIER/VintageMedStock/Archive Photos/
Getty Images; Seite 47, ZEIT-Infografik. Bauteile für die Seele:
Seite 56, ZEIT-Infografik, Jelka Lerche; Seite 58, MFK MedizinFotoKöln. Die Zellen des Anstoßes: Seite 62, privat; Seite 65,
Basso Cannarsa/LUZphoto/fotogloria. Die große Neuro-Show:
Seite 72, ZEPHYR/SPL/Agentur Focus.
Kap. 2 Grenzzustände des Gehirns
Jenseits von Gut und Böse: Seite 78, ZEIT-Infografik. Die Dramaturgie der Nacht: Seite 94, ZEIT-Infografik, Jelka Lerche;
Seite 96/97, ZEIT-Infografik; Seite 98, ZEIT-Infografik. Leerlauf
im Kopf: Seite 102, privat. Das Ringen um Worte: Seite 109, Ann
States 2008/laif.
Kap. 3 Die Sinne
Auf den Geschmack gekommen: Seite 117, Claes Bech-Poulsen/
www.claasbp.com für NordicFoodLab; Seite 122, Erik Refner/
The New York Times/Redux/laif; Seite 123, NordicFoodLab;
Seite 123, Claes Bech-Poulsen. Trau den Augen nicht: Seite
133, Benjamin Doerr. Der sechste Sinn: Seite 144, Vitaly Titov &
Maria Sidelnikova/Shutterstock. Volle Dröhnung: Seite 156/157,
Ela Strickert.
Kap. 4 Das erkrankte Gehirn
Immer auf der Kippe: Seite 162, Asklepios Klinik Nord; Seite
189, Dominik Gigler.
250
Bildnachweis 251
Kap. 5 Das alternde Gehirn
Ist Alzheimer angeboren?: Seite 214/215, ZEIT-Infografik,
Anne Gerdes; Seite 216, ZEIT-Infografik, Anne Gerdes. Damit
die Würde bleibt: Seite 224, ZEIT-Infografik, Quelle: DemenzReport 2011 des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung; Seite 227, ZEIT-Infografik, Quelle: Demenz-Report 2011
des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung; Seite
230/231, Pavel Prokopchik/The New York Times/Redux/laif;
Seite 240, Silke Wernet/laif; Seite 243, Silke Wernet/laif.
252
Herunterladen