PRAXIS-MAGAZIN Altlasten der Physik (82): Wechselwirkung

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PRAXIS-MAGAZIN
Altlasten der Physik (82):
Wechselwirkung
F. Herrmann
Gegenstand
Das Wort „Wechselwirkung“ wird in der Physik in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht. Dabei weicht
seine Bedeutung von der umgangssprachlichen mehr oder
weniger ab.
Im Jahr 1899 schreibt Auerbach [1]:
„Die Kräfte, mit denen zwei Körper aufeinander wirken,
sind einander entgegengesetzt gleich. Oder verallgemeinert: Zu jeder aus den Erscheinungen abstrahierten Kraft
gehört eine entgegengesetzt gleiche Gegenkraft, die mit ihr
zusammen eine Wechselwirkung darstellt.“
Die Enzyklopädie Naturwissenschaft und Technik [2] definiert den Begriff so:
„Wechselwirkung: In der Physik gebräuchlicher Ausdruck
für die Art und Weise, wie Elementarteilchen untereinander bzw. mit einem Feld in dynamische Beziehung treten...“.
Das Fischer-Lexikon Technik und exakte Naturwissenschaften [3] sagt dazu:
„Wechselwirkung, allgemein Bez. für die gegenseitige Beeinflussung physikal. Objekte. Der Begriff umfasst die in
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der klass. Physik behandelten, durch Kraftvektoren (Kraftfelder) beschreibbaren Einwirkungen auf Massenpunkte
und Körper ebenso wie die Wechselbeziehungen zwischen
Elementarteilchen oder den sie repräsentierenden Feldern,
bei denen die Vorstellung von Kraftvektoren Schwierigkeiten bereitet.“
In den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss
[4] ist der Begriff „Wechselwirkung“ eins von vier Basiskonzepten. Es wird dort ausgeführt:
„Wenn Körper aufeinander einwirken, kann eine Verformung oder eine Änderung der Bewegungszustände der
Körper auftreten. Körper können durch Felder aufeinander einwirken.
Strahlung kann mit Materie wechselwirken, dabei können
sich Strahlung und Materie verändern.“
Dazu werden die folgenden Beispiele genannt: Kraftwirkungen, Trägheitsgesetz, Wechselwirkungsgesetz, Impuls, Kräfte zwischen Ladungen, Schwerkraft, Kräfte zwischen Magneten, Reflexion, Brechung, Totalreflexion, Farben, Treibhauseffekt, globale Erwärmung, ionisierende Strahlung.
Schließlich zum Vergleich noch der Duden [5]:
PdN-PhiS. 4/54. Jg. 2005
PRAXIS-MAGAZIN
„Wechselwirkung: wechselseitige Beeinflussung (z. B. zwischen Staat und Gesellschaft).“
A
Mängel
Die Zitate zeigen, dass man in der Physik verschiedene Erscheinungen und Vorgänge als Wechselwirkungen bezeichnet.
1. Man spricht von einer Wechselwirkung, wenn zwei Körper im Sinne des dritten Newton’schen Gesetzes Kräfte aufeinander ausüben. Es scheint zunächst, dass hier die Bezeichnung „Wechselwirkung“ angebracht ist. Wenn ein
Körper A auf einen anderen Körper B eine Kraft ausübt,
so übt nach dem dritten Newton’schen Gesetz auch B auf
A eine Kraft aus. Da man von einer Kraft sagt, sie „wirke“
auf einen Körper, haben wir es hier mit zwei Wirkungen zu
tun: von A auf B und von B auf A, also auch im Sinn der
Umgangssprache mit einer Wechselwirkung. Allerdings
führt uns diese Betrachtung gleich zu einem Problem. Das
Wort ist nur so lange passend, wie man den Vorgang mit
dem Newton’schen Modell der Fernwirkung beschreibt. An
dem Geschehen nehmen zwei deutlich getrennte Partnersysteme teil: ein Körper A und ein Körper B, und sonst
nichts. Nun brauchen wir aber seit nunmehr gut 100 Jahren
die Notlösung „Fernwirkung“ nicht mehr [6], denn man ist
heute überzeugt, dass alle Wirkungen auf Transporten physikalischer Größen beruhen. Insbesondere sind die Newton’schen Kräfte nichts anderes als Impulstransporte. Wenn
die (masselos gedachte) Feder die Körper A und B aufeinander zu zieht (Abb. 1), so nimmt der Impuls von A zu und
der von B ab. Es ist aber nicht etwa so, dass der Impuls bei
B einfach verschwindet, und bei A wieder auftaucht. Vielmehr wird er durch ein dazwischen liegendes Medium oder
System, in unserem Fall die Feder transportiert. Man kann
also genau angeben, auf welchem Wege er von B nach A
gelangt. So gesehen, passt die Bezeichnung „Wechselwirkung“ nicht mehr so recht. Wenn B etwas abgibt und A es
aufnimmt, so wird man einen solchen Vorgang eher als
Übertragung oder als Transport bezeichnen. Wenn man
Wasser aus einem Eimer in einen anderen gießt, so würde
man den Vorgang auch nicht besonders treffend charakterisieren, wenn man ihn Wechselwirkung nennen würde.
2. In der Teilchenphysik unterscheidet man die fermionischen „Materieteilchen“ (Hadronen und Leptonen) von den
bosonischen „Wechselwirkungsteilchen“ (manchmal auch
Kraftteilchen oder Feldteilchen genannt). Von einer Wechselwirkung spricht man, wenn ein Wechselwirkungsteilchen
erzeugt oder vernichtet wird. Da es vier Arten von Bosonen-Feldern gibt, gibt es auch vier verschiedene Wechselwirkungen: die elektromagnetische, die gravitative, die starke und die schwache. Zu diesen Prozessen gehört die Wechselwirkung im klassischen Sinn, also wenn zwischen zwei
(Materie-)Teilchen Impuls übertragen wird und sich die
Natur der Teilchen dabei nicht ändert (Beispiel: ElektronElektron-Streuung). Außerdem gehören hierzu Prozesse,
bei denen zwei Feldteilchen „miteinander wechselwirken“
(Beispiel: Photon-Photon-, oder Gluon-Gluon-Wechselwirkung). Es gehören aber auch Prozesse dazu, bei denen Materieteilchen ihre Natur ändern (Beispiel: der Beta-Zerfall,
bei dem etwa aus einem Neutron ein Proton, ein Elektron
und ein Antineutrino entsteht). Man sieht, dass hier der Gebrauch des Wortes Wechselwirkung mit dem umgangssprachlichen Gebrauch nicht mehr deckungsgleich ist. Vielmehr beschreibt das Wort etwas, was man etwas treffender
als Reaktion (im Sinn der Chemie) bezeichnen würde.
PdN-PhiS. 4/54. Jg. 2005
B
Abb. 1: Impulstransport durch eine Feder
3. In anderen Bereichen der Physik benutzt man das Wort
in einem noch weiteren Sinn, nämlich zur Bezeichnung der
verschiedensten Vorgänge, an denen zwei (oder mehr)
Teilsysteme beteiligt sind. Nun ist aber kaum eine Erscheinung denkbar, bei der das nicht der Fall wäre, sodass
schließlich alles zur Wechselwirkung wird. Es klingt wissenschaftlich wenn man von Wechselwirkung spricht, auch
dann, wenn kaum etwas Konkretes gesagt wird − siehe etwa
die Bildungsstandards [4].
Herkunft
Bei Newton gab es zwar noch keine interactio, dafür aber
actio und reactio. Sein drittes Gesetz wurde auch in der
Folge zunächst nicht als Wechselwirkungsgesetz, sondern
als Gegenwirkungsprinzip bezeichnet. Spätestens Ende des
19. Jahrhunderts findet man die „Wechselwirkung“ in der
physikalischen Literatur, zum Beispiel bei Ernst Mach [7].
Seine große Beliebtheit hat die Bezeichnung aber erst viel
später erlangt, wohl in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts,
also als jeder physikalische Vorgang, an dem nur zwei Teilsysteme beteiligt sind, zur Wechselwirkung wurde.
Entsorgung
Wir wollen sie wieder dreiteilen:
1. Das 3. Newton’sche Gesetz formuliere man nahwirkungsphysikalisch: Der Impuls, den Körper B abgibt,
wird von Körper A aufgenommen.
2. Im Zusammenhang mit den vier Bosonenfeldern hat
das Wort eine so spezifische Bedeutung angenommen,
dass man es wohl als physikalischen Fachausdruck mit
eigener Bedeutung akzeptieren muss. Die beste Wahl
war es aber sicher nicht.
3. Durch sparsamen Umgang mit dem Wort gewinnt fast
jeder Text an Klarheit.
Literatur
[1] Auerbach, F.: Kanon der Physik, Verlag von Veit & Comp., Leipzig
1899, S. 41
[2] Enzyklopädie Naturwissenschaft und Technik, Verlag Moderne Industrie, Landsberg 1981
[3] Lexikon Technik und exakte Naturwissenschaften, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1972
[4] Bildungsstandards im Fach Physik für den Mittleren Schulabschluss,
pdf-Datei: Physik_MSA16-12-04.pdf, S. 8, herunterzuladen vom Deutschen Bildungsserver:
http://www.kmk.org/schul/Bildungsstandards/bildungsstandards.htm
[5] Duden, Deutsches Universalwörterbuch, Dudenverlag, Mannheim
(1989)
[6] Planck, M.: Das Prinzip der Erhaltung der Energie, Verlag von B. G.
Teubner, Leipzig 1908, S. 274: „ ... denn so gut es der mühsamen Arbeit
vieler Jahrhunderte bedurfte, die Vorstellung einer unmittelbaren Fernewirkung zur lebendigen Gewohnheit zu machen, so gut muss es gelingen,
diese Gewohnheit wieder abzustreifen, wenn einmal wirklich festgestellt
ist, dass jene Vorstellung ihren Dienst getan hat.“
[7] Mach, E.: Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Verlag F. A. Brockhaus, Leipzig 1897, S. 193
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Friedrich Herrmann, Abteilung für Didaktik der Physik,
Universität, 76128 Karlsruhe
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