Psychisch krank nach der Geburt – und wie geht es dem Kind? Dr. Christiane Hornstein Frankfurt, 11.06.2016 Mutterschaftskonstellation nach Stern (1998) 1.Kann ich das Überleben und Gedeihen des Babys gewährleisten? Das Thema des Lebens und Wachstums. 2. Kann ich eine für mich selbst authentische emotionale Beziehung zu meinem Baby aufnehmen und wird diese Beziehung sicherstellen, dass sich das Baby psychisch zu dem Kind entwickelt, das ich mir wünsche? Das Thema der primären Bezogenheit. 3. Werde ich das Unterstützungssystem schaffen und tolerieren können, das zur Erfüllung dieser Funktionen notwendig ist? Das Thema der unterstützenden Matrix. 4. Werde ich in der Lage sein, meine Selbstidentität so zu transformieren, dass sie diese Funktionen unterstützt und fördert? Das Thema der Reorganisation der Identität. • Auseinandersetzung und Anpassung an das reale Baby. • Veränderungen der inneren Repräsentanzen des imaginierten Wunschbabys. • Veränderungen des Identitätsgefühls weg von der Tochter der Mutter zur Mutter des Babys. • Aufbau der triadischen Beziehung Vater-Mutter-Kind. „Jede Therapie in der Postpartalzeit hat die Mutterschaftskonstellation mit ihren typischen Aufgaben zu berücksichtigen.“ (Stern, 1998) Postpartale psychische Erkrankungen - Prävalenz • Postpartum Blues 50-80% (Riecher-Rössler & Steiner, 2005) • Postpartale Depression 10-15% (Munk-Olsen et al., 2006; Riecher-Rössler & • Postpartale Psychose 0,1-0,2% (Heron et al., 2007; Sit et al., 2006; • Angst-/Zwangsstörungen 11-16% (Reck et al., 2008) • Borderline-Störung 0,7-1,2% in Allgemeinbevölkerung Brockington, 1996) (Bohus, 2007) • Alkohol und Drogen 1,9% bzw. 1,1% bei jungen Frauen (Jacobi, Klose & Wittchen, 2004) Steiner, 2005) Postpartale Depression: Klinisches Erscheinungsbild • Mehr oder weniger ausgeprägte depressive Verstimmungen mit Antriebsmangel, Energie- und Freudlosigkeit, Müdigkeit, Schlaf- und Appetitlosigkeit, Konzentrationsstörungen, Ängste, Sorgen und Schuldgefühle sowie Suizidgedanken. • Möglicherweise häufiger agitiert. • Depressive Inhalte beziehen sich auf das Kind und die Mutterschaft, 20-40% der Mütter leiden unter Zwangsgedanken, die sich auf das Kind beziehen. (Wisner 1999) • Die Gefahr einer mütterlichen Bindungsstörung dem Säugling gegenüber (statt Zuneigung und Liebe Feindseligkeit und Gefahr des Infantizids). (Hornstein 2007) • Die Frauen berichten eher über körperliche Beschwerden wie Erschöpfung und Schlaflosigkeit statt über Depressionen. (Oss 2003) • Hohe Komorbidität mit Angststörung (50%). (Ross 2003, Austin 2010) Störungsbilder Postpartale Depression (PPD) - Gedanken Gedanken „Ich schaffe das alles nicht mehr, ich bin so erschöpft, so müde.“ „Ich kann mein Kind nicht beruhigen. Es mag mich nicht, immer schreit es.“ „Ich habe solche Angst. Wie soll es nur weiter gehen?“ „Ich habe keine Gefühle für mein Kind. „Ich bin eine schlechte Mutter, ich versage völlig.“ Postpartale Depression Dauer der PPD Dauer der Episoden meist mehrere Monate, bei 50% der Frauen über 6 Monate bis zu 1 Jahr. Rezidivrisiko PPD 80% innerhalb von 4 ½ Jahren gegenüber 42% von Frauen, die in der Postpartalzeit nicht depressiv waren (Philipps, O´Hara, 1991) Pathogenese Die Pathogenese der postpartalen Depression unterscheidet sich prinzipiell nicht von Depressionen, die unabhängig von der Entbindung auftreten. Postpartale Psychose Prävalenz • 1-2 PPP bei 1000 Geburten in den ersten 3 Monaten nach der Entbindung (Kendell, 1987; Brockington, 1996) • 13fach erhöhtes Risiko stationärer Aufnahme wegen PPP 3 Monate postpartum • 21,7fach erhöhtes Risiko einer Aufnahme wegen PPP 30 Tage postpartum • 35fach erhöhtes Risiko einer Aufnahme wegen PPP für Erstgebärende Erkrankungsdauer • Unbehandelt lang (im Durchschnitt 5 Monate) • Dauer unter Behandlung bei Ersterkrankung oft kurz Postpartale Psychose Symptomatik • Häufige Verwirrtheitssymptome, rasche affektive Schwankung, schnell wechselnde Symptomatik • Glückspsychotische-, verwirrtheitspsychotische und motiliätspsychotische Züge, 62% zykloide Psychosen (Pfuhlmann, 2000) • Gehäufte manische Episoden 13% Frauen mit PPP gegenüber 3% bei Frauen ohne PPP (Dean & Kendell, 1981) • Weniger häufig systematisierter Wahn, Verfolgungsideen, akustische Halluzinationen, inadäquater Affekt und soziale Zurückgezogenheit (Brockington, 1981) Postpartale Psychose (PPP) - Mutter-KindInteraktion Kindbezogene Kognitionen psychotischer Mütter „Gott bestraft mich und das Baby, wenn ich etwas falsch mache.“ „Mein Baby ist ein Geschenk Gottes, etwas Besonderes, ich darf es nicht aus den Augen lassen.“ Störungsbilder „Mein Baby ist ein Gedankenkatalysator, induziert mir Gedanken.“ „Mein Baby spürt meine Gedanken. Wenn sie schlecht sind, schreit es. Es wird verdorben durch meine Gedanken.“ „Mein Baby ist mir entfremdet worden, deshalb isst es nichts bei mir.“ „Mein Baby könnte durch außerirdische Mächte geschädigt werden.“ „Mein Baby ist böse, ist Judas, der Satan, der Teufel.“ Störungsbilder Postpartale Psychose (PPP) Symptome meist abrupter Beginn innerhalb der ersten Tage pp Verwirrtheitssymptome, rasche affektive Schwankungen, schnell wechselnde Symptomatik selten systematisierter Wahn, Verfolgungsideen, akustische Halluzinationen, unangemessener Affekt, soziale Zurückgezogenheit (Brockington 2003; Pfuhlmann 2000) Postpartale Psychose Rezidivrisiko • Nach erneuter Entbindung 20-30% • Bei vorbestehenden bipolaren Psychosen 20-50% Rezidivhäufigkeit nach einer Entbindung • Unabhängig von einer Entbindung über 60%, davon 9% Schizophrenien, 75% affektive und schizoaffektive Psychosen (Schöpf, 1994, Roberston 2005) • Bei vorbestehender Psychose und postpartalen Episoden bis zu 100% Rezidivhäufigkeit nach einer Entbindung reine Puerperalpsychosen haben einen günstigeren Langzeitverlauf. Postpartale Psychose Pathogenese • Familiäre Belastungen von 11% mit affektiven Psychosen • ca. 7% mit anderen psychiatrischen Erkrankungen. • Keine spezifischen Risikofaktoren identifiziert. Resümee: Postpartale Psychosen sind keine nosologische Einheit, jede Form einer psychotischen Störung kann postpartal auftreten. Die Geburt wirkt als Stressor bei einer individuellen Disposition. Mutter-Kind-Interaktion Assoziation mit Diagnose 1 Jahr postpartal Psychose & Depression Bindungsverhalten vermeidend (n=5) desorganisiert (n=2) Manie Bindungsverhalten sicher (n=9) desorganisiert (n=1) Borderline Störung Auftretenswahrscheinlichkeit Borderline Störung - Kriterien 1. Instabile intensive Beziehungen 2. Impulsivität 3. Affektive Instabilität 4. Wut 5. Suizidales oder selbstverletzendes Verhalten 6. Identitätsstörung Borderline Störung - Kriterien 7. Gefühl von Leere 8. Angst vor dem Verlassenwerden 9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome Borderline Störung – Mutter-Kind-Beziehung Verhaltensbeobachtung Alter des Kindes 2 Monate Mutter intrusiv, insensitiv 12 Monate intrusiv, insensitiv 24 Monate weniger sensitiv und strukturiert Kind Blickabwendung wenig reaktiv wenig pos. Engagement mit Fremden, desorganisiertes Bindungsmuster unaufmerksam, wenig interessiert und interaktiv mütterliche Selbstwahrnehmung: weniger zufrieden und kompetent, mehr Stress Borderline Störung – Entwicklungsrisiko der Kinder • Impulskontrollstörung • Kindliche BPD • Höhere Psychopathologie-Werte • BPD-Mütter plus komorbide Depression erhöhtes Risiko für depressive Störung und kognitive, interpersonelle Vulnerabilität Mutter • • • • sexuell übertragene Infektionen (De Gunna, 2007) Hypertonie 11,4 % vs. 2,2 % Prä-Eklampsie 4,3 % vs. 0,6 % vorzeitige Wehen 26,1 % vs. 14,1 % Kind • niedriges Geburtsgewicht 50,4 % vs. 32,3 % • Frühgeburt 51,8 % vs. 17,5% • Neugeborenen-Erkrankungen (Asphyxie, fetale/neonatale Mortalität) Quelle: Kumar, 2007 Jugendliche Mütter – Psychische Erkrankungen • Störungen des Sozialverhaltens/ADHD ? • Nikotin/Zigaretten 46%(Cornelius et al. 2007) • Alkohol, Drogen 42% (Barnet et al. 1995; Bayatpour et al 1992) • Selbstverletzendes Verhalten / Suizidversuche • Emotionale Instabilität/Borderlinestörung • Depressionen • Angststörungen 23% (Bayatpour et al 1992) ? 36% (Schmidt et al. 2006) ? Jugendliche Mütter – kindliche Entwicklung Eingeschränkte Erziehungskompetenzen •3 Jahre unsichere Bindung •Vorschulalter Aggression, weniger Impulskontrolle, geringere Sprachfähigkeiten •Schulalter externalisierendes, disruptives Verhalten, Lernbehinderung minderjährige Schwangerschaft (Coley, 2002) straffällige Jungen (Maynord, 1996) (Hoffert & Reich, 2002) Risiko für Vernachlässigung und Misshandlung bei eingeschränkten Erziehungskompetenzen auf Seiten der Eltern und aggressivem, impulsivem Verhalten auf Seiten des Kindes Quelle: Lounds, 2006 Kindliche Entwicklungsstörungen Resümee • Schweregrad • Dauer der depressiven Erkrankung • assoziierte Risikofaktoren • Kombination mehrfach aversiver Faktoren Kindliche Entwicklungsbeeinträchtigung Folgen für das Kind / Kindeswohl Kind • erhöhtes Gesundheits- und Verletzungsrisiko (Chung et al., 2004) • kindliche Entwicklungsstörungen (kognitiv, psychisch) (Josefsson & Sydsjo, 2007; Weinberg & Tronick, 1998) • Bindungsstörungen (Brisch, 2006; Papousek et al., 2004) Elternbeziehung • Eheprobleme, disharmonische Partnerbeziehung (Dennis & Letourneau, 2007; Jungbauer 2002) • Störungsrisiko beim Lebenspartner (Trautmann-Villalba et al., in Druck; Hornstein et al., 2007; Ramchandani et al., 2005) Mutter-Kind-Beziehung • eingeschränkte Erziehungsfähigkeit, Gefahr der Trennung (Wagenblass, 2006; Howard et al., 2003) • mütterliche Bindungs-/Beziehungsstörung (Hornstein et al., 2009; Taylor et al., 2005 Edhborg et al., 2004) Mutter • Suizidalität (Austin et al., 2007; England Report of Confidential Enquiries into Maternal Death, 2001) • Infantizid (Trautmann-Villalba & Hornstein, 2007; Bourget & Gagné, 2002) Kindliche Entwicklungsstörungen • Ein Zusammenhang zwischen einer postpartalen psychischen Erkrankung und Störungen der kindlichen Entwicklung konnte mehrfach belegt werden: Affektregulation (Papousek, 2001; Beebe et al., 1992) Emotionale Entwicklung (Laucht et al., 2002; Fergusson et al., 1995) Verhaltensauffälligkeiten (Laucht et al., 2002; Murray et al., 2001) Kognitive Entwicklung (Murray et al., 2003; Grace et al., 2003; Laucht et al., 2002) • Neben biologisch-genetischen Mechanismen werden vor allem sozial-interaktionale Transmissionswege diskutiert. Warum Mutter-Kind-Behandlung? Interaktion Mutter-KindBeziehung Bindung Selbsteinschätzung mütterlicher Fähigkeiten • Die Störungen der Mutter-Kind-Beziehung können die psychische Erkrankung der Mutter überdauern.