analytisch – synthetisch / agglutinierend

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Fortmann, Proseminar Morphologie / Universität Konstanz Wintersemester 2006/07
VII Typologische Unterscheidungen:
analytisch – synthetisch / agglutinierend - fusionierend
Morphosyntaktische Kategorien haben – wie im vorangehenden Abschnitt ausgeführt – einen oder mehrere Exponenten in Gestalt eines Morphems. Morpheme, welche als Exponenten morphosyntaktischer Kategorien fungieren, sind typischerweise gebunden i.e. sie können nicht selbständig oder nur in Kombination miteinander eine Wortform bilden. Sie können nur in Verknüpfung mit einem
Stamm eine Wortform bilden, welche wiederum als Element in die Bildung einer syntaktischen Struktur eingeht. Umgekehrt können Stämme (in vielen Fällen) nicht allein eine Wortform bilden, sondern bedürften der Verknüpfung mit
einem Morphem, welches als Exponent der obligatorisch auszuweisenden morphosyntaktischen Kategorien figuriert. So kann ein Verbstamm in einem Satz –
abgesehen vom Imperativ – keine wohlgeformte Konstituente bilden. Er muß
vielmehr in einer entweder finiten oder infiniten Verbform erscheinen.
Ferner besteht eine systematische Beziehung zwischen den morphosyntaktischen Kategorien und den lexikalischen Kategorien. Tempus und Modus sind
Kategorien, deren Exponenten mit einem Stamm der Kategorie Verb verknüpft
werden muß und deren Verknüpfung (in Sprachen wie dem Deutschen) mit
Stämmen der Kategorie Nomen nicht möglich ist. Umgekehrt sind Genus und
Kasus Kategorien, deren Exponenten mit einem nominalen oder adjektivischen
Stamm kombiniert werden und nicht mit einem verbalen. 1
Andererseits werden die Kategorien in mehr oder weniger vielfältigen Spezifikationen realisiert. Kasus kann im Deutschen nur in der spezifizierten Gestalt
von NOM, GEN, DAT oder AKK erscheinen und nicht davon unabhängig.
Hieraus ergibt sich die naheliegende Annahme, daß, wenn die Lexeme einer lexikalischen Kategorie mit einer morphosyntaktischen Kategorie zu einer Wortform verbunden werden muß, die gegebenenfalls unterschiedlich spezifizierten
Exponenten dieser Kategorie stets ein und demselben Stamm zugefügt werden.
Ein Nomen, welches einen Exponenten für Kasus und Numerus aufweisen muß,
kann von diesem Erfordernis nicht dispensiert werden – auch dann nicht, wenn
innerhalb einer Nominalphrase aufgrund von Kongruenz weitere Konstituenten,
namentlich Artikel und attributive Adjektive ebenfalls diese morphosyntaktischen Kategorien spezifizieren müssen.
1
Diese Feststellung ist triftig allerdings nur unter der Voraussetzung, daß beispielsweise
attributiv verwendete Partizipien, deren Stamm dem ersten Augenschein nach ja durch ein
Verb gebildet ist, vor der Suffigierung in ein Adjektiv umgewandelt worden sind.
(i) mit stolz- geschwellter Brust
1
Die Annahme einer solchen uniformen Zuordnung von lexikalischer und morphosyntaktischer Kategorie ist indessen nicht generell gerechtfertigt.
Im Deutschen werden die Tempora nicht alle auf eine einfache und einheitliche
Weise gebildet. Lediglich die Präsens- und das Präteritum-Form gehen aus der
Suffigierung an das Vollverb hervor.
(1)
a. *Karl arbeit
b. Karl arbeitet
c. Karl arbeitete
Die Futur- und Perfekt-Formen können auf diese Weise jedoch nicht gebildet
werden. Als Träger der Exponenten von Tempus und Modus fungiert in diesen
Fällen nicht das Vollverb sondern ein verbales Element, das selbst kein Prädikat
ausdrückt, sondern lediglich als Träger der erforderlichen morphosyntaktischen
Kategorie fungiert, und eben deshalb als Auxiliarverb tituliert wird. In solchen
periphrastischen Formen ist das Vollverb wiederum auf eine spezifische infinite
Verbform festgelegt (den Infinitiv beim Futur, das Partizip beim Perfekt), kann
also auch nicht in der bloßen Stammform vorkommen.
(2)
a. Karl wird arbeiten
b. Karl hat gearbeitet
Im Latein dagegen werden die entsprechenden Tempora durch Suffigierung des
Vollverbstammes gebildet.
(3)
a. Carolus laborabit
b. Carolus laboravit
Die Trennung zwischen der lexikalischen Kategorie, die der Anforderung morphosyntaktischer Spezfikation unterliegt, und dem Träger des respektiven Exponenten in einer syntaktischen Struktur – hier in einem Satz – verselbständigt den
Exponenten jedoch nicht soweit, daß er als ein freies Morphem und damit unabhängig von einem Stamm vorkommen kann. Im Gegenteil, der Exponent braucht
einen Stamm, dem er affigiert wird und den er (bei den Verben) in Gestalt des
Auxiliars findet. Er bleibt damit darauf angewiesen, eine Komponente einer
komplexen Wortform zu bilden.
Es gibt indessen auch Sprachen, in denen sich die Exponenten soweit verselbständigen, daß sie freie Morpheme bilden und nicht mehr mit einem Stamm zu
einer komplexen Wortform zusammengeschlossen werden. Das Chinesische und
das Vietnamesische gehören zu diesem Sprachtyp.
2
(4)
Sáng nay tôi uô´ng hai tách cà.phê
morning this me drink two cup coffee
Plural wird hier nicht durch eine morphologisch modifizierte Wortform ausgedrückt, sondern durch ein Numeral. Ebenso hat das Verb keinen morphologischen Exponenten für das Tempus.
Im Zusammenhang der Gegenstandsbestimmung der Morphologie in den vorangehenden Abschnitten ist die morphologische Struktur als eine Domäne bestimmt, die von der Syntax getrennt ist. Strukturbildung durch Verknüpfung
morphologischer Elemente oder durch eine Veränderung ihrer Form ist von syntaktischer Strukturbildung verschieden. Dies betrifft sowohl die Bestimmung der
elementaren Strukturobjekte als auch die strukturbildenden resp. -modifizierenden Operationen.
Morphologische Strukturbildung impliziert, daß das Inventar ihrer Einheiten
wenigstens zu einem relevanten Anteil aus gebundenen Elementen besteht, die
nicht frei für syntaktische Strukturbildung zur Verfügung stehen. In einer Sprache, die nur über freie Morpheme verfügt, also Elemente, welche sich in der
Syntax wie komplette Wortformen verhalten, läßt sich daher eine Domäne für
morphologische Strukturbildung im eigentlichen Sinn nicht etablieren. Dies ist
der Grund, warum auch davon gesprochen wird, daß die Morphologie keine
notwendige Komponente der Grammatik bilde.
Im Verhältnis von Morphologie und Syntax, i.e. von deren relativem Umfang an
der Strukturbildung wird daher eine typologische Differenzierung vorgenommen. Man spricht von analytischen und synthetischen Sprachen in Hinblick darauf, wie die bedeutungstragenden Formative kombiniert werden. In analytischen
Sprachen bilden sie selbständige Wortformen, in synthetischen unselbständige
Komponenten, die erst durch Verknüpfung mit anderen zu Wortformen kombiniert werden. Analytische und synthetische Strukturbildung sind jedoch nicht als
absolut getrennte Varianten zu verstehen. Vielmehr bilden die natürlichen Sprachen diesbezüglich ein Spektrum.
Sprachen, deren syntaktische Strukturelemente keine weitere oder nur eine sehr
reduzierte morphologische Binnenstruktur aufweisen – cf. Chinesisch und Vietnamesisch2 – werden als isolierende Sprachen bezeichnet. Als synthetische
Sprachen bezeichnet man solche, die strukturierte Wortformen neben der syntaktischen Struktur aufweisen (Latein, Englisch, Türkisch, u.a.).
Darüber hinaus – als Gegenstück zu den isolierenden – gibt es indessen auch
Sprachen, in denen fast alle Strukturbildung in der Morphologie aufgeht; in denen also das, was in Sprachen wie dem Deutschen durch syntaktische Verknüpfung zu einem Satz ausgedrückt wird, durch ein einziges oder einige wenige
Wörter ausgedrückt wird. Dieser Sprachtyp wird als polysynthetisch bezeichnet.
2
Morphologische Struktur ist im Vietnamesischen nicht überhaupt ausgeschlossen. Es gibt sie im Bereich der
Komposition.
3
Polysynthetische Sprachen sind vor allem in Nordamerika und Grönland vertreten.
(5)
a. (kissartu-mik) kavvi-sur-put
(heiß-INSTRUMENTAL) Kaffee-trink-3PL.INDIKATIV
sie tranken heißen Kaffee
b. Nuum-muka-ssa-atit
Nuuk-geh.nach-FUTUR-2SG.INDIKATIV
du wirst nach Nuuk gehen
Die typologische Differenzierung von analytischen vs. synthetischen Sprachen
hebt also auf den (relativen) Umfang von syntaktischer und morphologischer
Strukturbildung ab.
Ein weiteres typlogisches Kriterium betrifft die Exponens morphosyntaktischer
Kategorien. Im vorangehenden Abschnitt ist ausgeführt, daß die quantitative
Zuordnung von Kategorie, also grammatischer Bedeutung, und Formativ variieren kann. Eine Lautform kann als Exponent genau einer Kategorie fungieren und
umgekehrt eine Kategorie nur durch eine einzige Lautform ausgedrückt werden.
Unter solcher eins-zu-eins Beziehung wird die Menge der zu spezifizierenden
morphosyntaktischen Kategorien in einer Wortform durch eine im Umfang entsprechende Menge unterschiedener Formative/Morphe realisiert. Das Türkische
und Ungarische geben hierfür ein Beispiel. Im Türkischen wird bei den Nomen
die Spezifikation NUM:PL durch die Form ler ausgedrückt unabhängig von weiteren obligatorischen Spezifikationen insbesondere dem Kasus.
Weil bei diesem Sprachtyp die erforderlichen morphosyntaktischen Spezifikationen durch je einzelne Formative einem Stamm angefügt werden, spricht man
hier von agglutinierenden (anklebenden) Sprachen. Sprachen mit multipler Exponens, bei denen eine Menge morphosyntaktischer Kategorien durch ein einziges, morphologisch nicht weiter strukturiertes Formativ ausgedrückt wird,
spricht man von flektierenden oder auch fusionierenden3 Sprachen, wofür das
Latein ein Exempel liefert.
3
Die Terminologie ist hier nicht immer ganz konsistent. Man findet einesteils die Be zeichnung flektierende Sprache als Oberbegriff für sowohl die agglutinierenden als auch die fusionierenden Sprachen. Flexion ist dabei zu verstehen als Ausdruck jedweder morphosyntaktischer Kategorie durch gebundene Formative. Andernfalls wird aber auch die Flexion
der Agglutination gegenübergestellt als eine spezifische, nämlich kumulierende Weise,
morphosyntaktische Kategorien in der Wortform zu exponieren.
4
(6)
domin-us
domin-i
domin-o
domin-um
MASC,
MASC,
MASC,
MASC,
SG,
SG,
SG,
SG,
NOM
GEN
DAT
ACC
domin-i
domin-orum
domin-is
domin-os
MASC, PL, NOM
MASC, PL, GEN
MASC, PL, DAT
MASC, PL, ACC
Das Suffix -orum beispielsweise ist der kollektive Exponent für die Spezifikation MASC, PL, GEN.
Die ausgeführten typologischen Begriffe beziehen sich auf zunächst augenfällige Differenzierungen der natürlichen Sprachen (und spielen beim durch Unterricht vermittelten Zweitspracherwerb bekanntermaßen eine Rolle). Sofern allerdings Agglutination und Fusion/Flexion unterschiedliche Formbildungen vorstellen, die einen gleichen Gehalt ausdrücken können – gleiche Mengen morphosyntaktischer Kategorien können sowohl auf Grundlage von Agglutination
als auch von Flexion exponiert werden – kann man auch dafür argumentieren,
daß agglutinierende Sprachen und flektierende in einer abstrakteren Repräsentation identische Strukturen aufweisen, die nur eben auf unterschiedliche Weise
lautlich realisiert werden. Die verschiedenen morphologische Theorien gehen
diesbezüglich von unterschiedlichen Prämissen aus.
Hinweise zur Literatur
Einführende Darstellungen zur Morphologie und Arbeiten, die einen Überblick über den gegenwärtigen Stand auf diesem Gebiet geben, sind vornehmlich in Englisch verfaßt. Die fo lgenden Hinweise sind als eine Orientierung gedacht. Anhand der genannten Titel ist eine Vertiefung der hier ausgeführten Themen möglich. Die Liste ist selbstverständlich nicht erschöpfend sondern exe mplarisch.
Lehrbücher
Aronoff, M., K. Fudeman (2005) What is Morpholo gy? Blackwell.
Bauer, L., (1988/2003) Introducing Linguistic Morphology, Edinburgh, Edinburgh University
Press.
Carstairs-McCarthy, A. (1992) Current Morphology, London, Routledge.
Matthews, P.H. (1991/2002) Morphology: An Introduction to the Theory of Word-Structure,
Cambridge, Cambridge University Press.
Spencer, A. (1991) Morphological Theory: An Introduction in Word Structure in Generative
Grammar, Oxford, Blackwell.
Handbücher
Booij, G., C. Lehmann, J. Mugdan, S. Skopeteas (2004) Morphologie – Ein internationales
Handbuch zur Flexion und Wortbildung, Berlin, New York, de Gruyter.
Shopen, T. (1985) Language Typology and Syntactic Description, Cambridge, Cambridge
University Press.
Spencer, A., A.M. Zwicky (1998) The Handbook of Morphology, Oxford, Blackwell.
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