62-64 Kakteenwilli

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Beziehung mit
Durststrecken
Karl Wullschleger arbeitet seit 34 Jahren in der Sukkulenten-Sammlung Zürich. Manche seiner Pflanzen
sind kugelrund, andere lang und schmal. Einige haben
Blätter, andere Dornen, und gewisse machen in ihrem
ganzen Leben nur eine einzige Blüte. Aber alle sind
äusserst widerstandsfähig und überleben monatelange
Trockenheit.
Text und Fotos: Claudia Schneider
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S
o mancher Passant bleibt vor den
grossen Treibhäusern am Zürcher
Mythenquai verwundert stehen
und erkennt hinter Glas seltsame
Gewächse. Oft aus purer Neugierde
werfen einige einen Blick ins Innere der
Treibhäuser. Andere melden sich zuerst
an und nehmen eine lange Reise in Kauf,
um diese einzigartige Sammlung an
Sukkulenten zu studieren. Beispielsweise
Schüler, die einen Vortrag über Sukkulenten vorbereiten. Oder Menschen, die zu
Hause Probleme mit ihrem Kaktus haben
und Rat suchen. Wiederum andere betreiben wissenschaftliche Forschung. «Wir
Obergärtner Karl Wullschleger im «Kakteenwald» der Sukkulenten-Sammlung Zürich.
Gewisse Exemplare erreichen eine Höhe von
über 8 Metern.
pflegen regen Kontakt mit unseren Besuchern», erzählt Obergärtner Karl Wullschleger, 56. Doch in den Treibhäusern
sind nicht die Menschen die Protagonisten, sondern die rund 9000 Arten sukkulenter Pflanzen.
Dank ihrer enormen Widerstandskraft gedeihen Sukkulenten in freier Natur an extremen Standorten, wo andere
Pflanzen keine Überlebenschance haben.
Sie halten massive Temperaturschwankungen aus und können monatelang
ohne Regen überleben, weil sie die Fähigkeit haben, Wasser zu speichern. Manche
Sukkulenten leben nur ein Jahr lang,
andere werden mehrere hundert Jahre alt.
Einige Arten sind kugelrund, andere lang
und so dick wie ein Feuerwehrschlauch.
Manche wachsen nur ein paar Millimeter
pro Jahr, andere machen in ihrem ganzen
Leben nur eine einzige Blüte.
Kakteen und Affenbrotbäume
Je nach Klimazone, in der die Sukkulenten leben, haben sie Blätter oder Dornen.
Die bekanntesten Vertreter der Sukkulenten sind Kakteen, aber genauso zählen
afrikanische Affenbrotbäume und verschiedene Liliengewächse dazu. Die meisten Sukkulenten sind endemisch, das
heisst, eine bestimmte Art wächst einzig
in einer bestimmten Region. «Mexiko hat
weltweit die grösste Vielfalt an Kakteenarten», erklärt Karl Wullschleger. Hier,
im Nordamerika-Haus, pflanzt er gerade
verschiedene mexikanische Kakteen in
ein bodenbeheiztes Beet. Er platziert die
Kakteen nicht einfach nach Gutdünken.
Vielmehr orientiert er sich anhand einer
Mexikokarte an den Originalstandorten:
So entsteht eine Art mexikanische Steppe
in Miniatur.
Einige der Kakteenstandorte sah Karl
Wullschleger während einer Mexikoreise:
«Es war überwältigend. Ich stand in einem natürlich gewachsenen Kakteenwald, in einem Abstand von zehn bis
dreissig Metern ragen die Kakteen dort
bis zu 15 Meter hoch.» Hier im Treibhaus
erreichen sie eine maximale Höhe von
8 Metern.
Die meisten Sukkulenten-Arten stehen heutzutage unter Schutz – eine Massnahme, die notwendig wurde, weil zuvor Kakteenhändler Pflanzen in der
Wildnis ausgruben und mit Lastwagen
abtransportierten. Heute ist der Schutz
Porträt GESELLSCHAFT
allerdings so rigoros, dass es seither auch
für botanische Institute fast unmöglich
geworden ist, wild gewachsene Kakteen
zu erwerben. «Das ist schade», sagt Karl
Wullschleger. Er ist der Auffassung, dass
internationale Kakteengärten dazu beitragen könnten, die Vermehrung bedrohter Arten zu fördern. «Die Zürcher
Sukkulenten-Sammlung hat schon botanische Gärten mit Pflanzen beliefert, die
im betreffenden Heimatland ausgestorben sind.»
Immerhin hat das Importverbot für
wilde Sukkulenten auch zur Folge, dass
im Handel erhältliche Kakteen heutzutage ausschliesslich aus Gärtnereien
stammen.
Zu viel Feuchtigkeit ist Gift
Wer keine Erfahrung mit Sukkulenten
hat, sollte nicht gleich einen anspruchsvollen Melokaktus für 100 bis 200 Franken kaufen. Karl Wullschleger empfiehlt
für den Anfänger pflegeleichte Arten wie
kugelförmige Echinopsis, grüne Warzenkakteen (Mammillarien), Wolfsmilchgewächse (so genannte Euphorbien) oder
Aloe-Arten. «Diese Arten brauchen nicht
viel mehr als Licht, Sonne und ein wenig
Feuchtigkeit.» Die Erde, in der sie verkauft werden, ist gut für die Aufzucht,
aber für das weitere Wachstum wenig
geeignet. Deshalb sollte man Kakteen im
Frühjahr kaufen, wenn man sie problemlos umtopfen kann. Am wohlsten fühlen
sich Sukkulenten in speziell mineralischer Erde, die bei der SukkulentenSammlung, bei Kakteengärtnereien oder
bei den lokalen Ortsgruppen der Kakteengesellschaft erhältlich ist. Werden
beim Umtopfen die Wurzeln geschnitten
oder Stecklinge gemacht, muss der Kaktus unbedingt einige Wochen an der Luft
trocknen, bevor man ihn wieder einpflanzt. Ansonsten riskiert man, dass die
Pflanze fault. Dasselbe gilt, wenn zu oft
gegossen wird – zu viel Feuchtigkeit ist
Gift für die genügsamen Pflanzen. Von
November bis März sollte man sie überhaupt nicht giessen. «Am besten stellt
man Sukkulenten im Winter an einen
kühlen, aber möglichst hellen Ort im
Keller oder Treppenhaus», sagt Wullschleger. «Durch den markanten Temperaturrückgang erhalten sie den Impuls,
im folgenden Frühjahr Blüten zu machen.»
Das richtige Mass an Feuchtigkeit
ist auch in den Treibhäusern ein heikler
Punkt. Nur im Sommer, wenn es wochenlang heiss und trocken ist, giessen die
Gärtner grossflächig. Sobald die Witterung feucht ist, wird die Erde nur noch
stellenweise benetzt. Während der Hauptblütezeit, von Mitte April bis Mitte Juni,
brauchen die Pflanzen alle zwei bis drei
Wochen etwas Dünger. «Kakteen müssen
langsam wachsen. Ansonsten können sie
ihre Form nicht optimal entwickeln», sagt
Karl Wullschleger. Deshalb enthält Kakteendünger vor allem Phosphor und Kali,
auf keinen Fall zu viel Stickstoff. Wenn
eine neue Pflanze in die Sammlung
kommt, gibt es selten eine Kulturanleitung dazu. «Man muss ausprobieren, was
die Pflanze mag.» Es gibt zwar gute
Bücher über die Pflege von Sukkulenten,
entscheidend ist jedoch die lokale klimatische Situation. Deshalb mag auch ein Kakteenbuch aus Südfrankreich die Pflege einer bestimmten Pflanze anders beschreiben als ein Buch aus Norddeutschland.
Um Schädlinge wie Blattläuse und
winzige rote Spinnen zu bekämpfen, hat
Karl Wullschleger schon vieles ausproBizarre, kugelrunde Schönheit:
Echinocactus grusonii
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GESELLSCHAFT Porträt
biert. «Biologische Mittel sind leider
nicht effizient. Wir haben es auch mit
Marienkäfern probiert.» Den hübschen
kleinen Nützlingen war es jedoch zu
heiss und zu trocken in den Gewächshäusern. Sie flohen binnen kurzer Zeit
durch die Dachfenster auf die Lindenbäume im umliegenden Park. Effizient als
Schutz vor Schädlingen sei hingegen ein
Blattglanzmittel. «Seit wir es verwenden,
brauchen wir wesentlich weniger chemische Mittel.»
Mit einem Pinsel bestäubt Karl Wullschleger die blühenden Sukkulenten.
Komplimente verteilen
Abgesehen von der botanischen Kulturpflege brauchen die Pflanzen auch Zuwendung – davon ist Wullschleger überzeugt: «Wenn wir in einem Teil der
Gewächshäuser eine Zeit lang wenig
machen, weil andere Arbeiten anstehen,
dann sehen die Pflanzen aus, als fühlten
sie sich vernachlässigt.» Manchmal,
wenn ein Kaktus besonders schön blüht,
macht ihm Wullschleger Komplimente.
Wenn andererseits eine Pflanze ewig auf
sich warten lässt, bis sie eine Blüte macht,
mag der Gärtner schon mal die Geduld
verlieren. Dann droht er (mit einem
Lächeln auf den Stockzähnen), die
Pflanze auf den Kompost zu werfen,
wenn sie nicht bald blühen will. «Nein,
im Ernst», sagt der Gärtner, «wenn eine
Pflanze schlecht wächst, wird sie unter
Umständen ausgegraben und auf eine gesunde Pflanze gepfropft.» Das heisst, man
macht auf der Trägerpflanze einen scharfen Schnitt und setzt die kränkliche
Pflanze darauf. So wachsen, bei Schönwetter, die beiden Pflanzen innerhalb
von 48 Stunden zusammen. Hat sich
die Gastpflanze erholt, wird sie wieder
von der Trägerpflanze getrennt und neu
bewurzelt.
Die Arbeit in den Gewächshäusern
ist körperlich anstrengend. «Man muss
vor allem aufpassen, dass man schwere
Sachen wie Säcke voller Erde, Steine und
Pflanzen richtig hebt», sagt Karl Wullschleger. «Als ich jung war und zu wenig
darauf Acht gab, bekam ich Schwierigkeiten mit den Bandscheiben.» Nichtsdestotrotz war für Wullschleger, seit er
sich erinnern kann, stets klar, dass er
eines Tages Gärtner werden will. «Vielleicht, weil auch mein Vater Gärtner von
Beruf war.» Unzufrieden mit seiner Wahl
fühlte er sich nur kurze Zeit, und zwar
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nach der Lehre. Damals hatte es den
jungen Mann gereizt, die Landschaftsgärtnerei kennen zu lernen, weshalb er
bei der Stadt Zürich eine Stelle als
Friedhofsgärtner annahm. «Es zeigte sich
bald, dass mich die Treibhäuser mehr
faszinieren.» Als bei der SukkulentenSammlung eine Stelle frei wurde, meldete
er sich: «Ich habe es nie bereut und mich
nie nach einer anderen Stelle umgeschaut.» 34 Jahre im selben Betrieb zu
arbeiten, hat heute Seltenheitswert. Allerdings gab es in all den Jahren auch mehrmals Pläne, die Sukkulenten-Sammlung
aufzugeben. «Im Moment sieht es nicht
schlecht aus.»
Pastellfarbene Blüten
Gegründet wurde die umfangreiche
Sammlung zu Beginn des letzten Jahrhunderts vom Zürcher Kakteenzüchter Jakob
Gasser. Altershalber verkaufte er sie an
den damaligen Warenhausbesitzer Jakob
Brann, und dieser schenkte sie 1929 der
Stadt Zürich mit der Auflage, die wertvolle
Sammlung öffentlich zugänglich zu machen. So wurde beim bestehenden Gewächshaus der damaligen Stadtgärtnerei
am Mythenquai ein zusätzliches Glashaus
errichtet. Derzeit zählt die ständig gewachsene Sammlung rund 9000 Varietäten in fünf öffentlich zugänglichen Treibhäusern. Die letzte Erweiterung gab es vor
16 Jahren, und nun platzt auch hier schon
wieder alles aus den Nähten. Teilweise
sind die Beete so dicht bepflanzt, dass sich
die Sukkulenten gegenseitig im Wachstum behindern. Manchmal, wenn eine
Sukkulente bis zum Dach hoch geschossen ist, wird sie ins grösste, knapp neun
Meter hohe Schauhaus verpflanzt. «Ein
Riesenaufwand, der mehrere Tage in Anspruch nimmt. Gelegentlich brauchen wir
dann sogar einen Kran, um die Pflanze
zu transportieren.» Obschon die Gärtner
beim Arbeiten Handschuhe tragen,
kommt es immer wieder vor, dass sie mit
blossen Händen zugreifen. «Besonders
mühsam sind die ganz feinen Dörnchen,
die man im Moment kaum spürt. Nachts
wache ich dann auf, weil es mich überall
juckt.» Die Dörnchen haben zum Teil
Widerhäkchen und können sehr hartnäckig sitzen. Jeder, der schon mal eine
Kaktusfrucht in den Händen gehalten hat,
weiss, wovon der Kenner spricht. Dennoch verhält es sich mit den Kakteenfreunden ähnlich wie mit den Rosenfreunden: Sie nehmen die Dornen in Kauf – und
freuen sich über die prächtigen Blüten.
«Die verschiedenen Pastelltöne der Blüten
sind fantastisch schön», schwärmt Karl
Wullschleger. Dennoch sind Sukkulenten
nicht die einzigen Pflanzen, die er mag.
Als Kind faszinierte ihn die Vegetation im
Engadin, wo er aufgewachsen ist. Während der Lehre als Topfpflanzengärtner
beschäftigte er sich vor allem mit tropischen Gewächsen, die üppige, farbenintensive Blumen hervorbringen. «Der
Reiz der Sukkulenten ist die Exklusivität
der Blüten», erklärt er. «Manche Sukkulente muss zwanzig bis dreissig Jahre alt
werden, bevor sie ein erstes Mal blüht.» ■
Sukkulenten-Sammlung Zürich
Mythenquai 88, 8002 Zürich, Tel. 043 344 34 80,
www.sukkulenten.ch; geöffnet jeden Tag
9 bis 11.30 und 13.30 bis 16.30 Uhr; Eintritt frei;
zur Ausstellung ist ein umfangreicher Führer für
2 Franken erhältlich; Pflanzenberatung Mittwoch
14 bis 16 Uhr, Tel. 043 344 34 84. An die Sammlung angeschlossen ist ein Förderverein, der die
Zeitschrift «Sukkulentenwelt» publiziert.
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