Psychische Gesundheit und Arbeit Katarina Stengler Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Leipzig, AöR Sächsischer Betriebsärztetag, Dresden 19.06.2013 Gliederung • Psychische Erkrankungen - Depression – Burnout…, Stress….: Abgrenzungen und Definitionen • Depression am Arbeitsplatz • Präventionsansätze Herausforderungen Demographische Entwicklung alternde Psychiatrie, Gesellschaft Begrenzte Ressourcen ÖkonomieEntgeltsystem Sozialer Wandel individualisierte Gesellschaft & soziale Exklusion Gesundheitssystem & Gesellschaft Psychiatrie, Gesundheitssystem & Gesellschaft Psychiatrie, Gesundheitssystem & Gesellschaft (modifiziert nach: Reynolds et al., Academic Medicine, 2009) Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz: Burn-out-Frühverrentungen erreichen Rekordwerte 30.12.2012 Frühverrentungen wegen Depression auf Rekordhöhe FAZ November November 2012 2012 FAZ Beilage in in der der „Zeit“ „Zeit“ November November 2012 2012 Beilage Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz: Stress lass nach! DER KRANKENSTAND IN DEUTSCHLAND IST SEIT JAHREN NIEDRIG. NUR BEI DEN PSYCHISCHEN LEIDEN GIBT ES EINE DEUTLICHE ZUNAHME. IST UNSER ARBEITSALLTAG SO VIEL STRESSIGER ALS FRÜHER? Brain burdens Nature , 477: 132; (08 September 2011) DOI: SPIEGEL 02/2012 SPIEGEL WISSEN 1/2012 doi:10.1038/477132a Europe's shocking statistics on neurological and mental disorders demand a shift in priorities. (Kommentar zu: Wittchen HU et al., http://www.nature.com/nature/journal/v477/n7363/full/477132a.html Neuropsychopharmacol 21, 665-679, 2011) http://www.nature.com/nature/journal/v477/n7363/full/477132a.html Zahlen und Fakten Psychische Störungen sind: 1. Häufig: Lebenszeitprävalenz: 42,6% (Wittchen & Jacobi, 2004) 12-Monatsprävalenz: 33% (Kurth, 2012; Wittchen & Jacobi, 2012) 2. Folgenschwer: Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit ↑ (Anteil an Erwerbsunfähigkeit in Deutschland knapp 30%) Albus, 2008 „Global Burden of Disease Study 2010“ (GBD 2010, publiziert 13.12.12 , The Lancet: http://www.thelancet.com/themed/global-burden-of-disease : bis zu 40% der individuellen Krankheitslasten (sog. YLD‘s – Years lived with disability ) durch psychische Erkrankungen 3. Unterversorgt: nur 30-40%, die innerhalb von 12 Monaten von psychischer Krankheit betroffen waren, Kontakt zum Gesundheitssystem (Kurth, 2012) psychotherapeutische Versorgung: lange Wartezeiten (für schwer chronisch psychisch Kranke noch schlechter) Siehe auch: Gesundheitsmonitoring des RKI, 2012; http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Degs/degs_w1/degs_info_broschuere.pdf?__blob=publicationFile Auswirkungen psychischer Erkrankungen • in den letzten zehn Jahren Zunahme psychisch verursachter Arbeitsunfähigkeit bei Frauen um 83% bei Männern um 50% (WIdO, Fehlzeitenreport 2012) - bei insgesamt rückläufigem Krankenstand • Dauer von Krankschreibungen aufgrund von Depression, Angstoder Belastungsstörungen sehr hoch: Erkrankung der Atemwege 6,4 Tage, psychische Erkrankung 22,5 Tage (AOK, 2009) • Psychische Erkrankungen häufigster Grund für Frühberentung jede dritte Berentung (Frauen: 41,6 %, Männer: 30,4 %) aufgrund einer psychischen Störung (BKK 2010, Deutsche Rentenversicherung 2009) • Anstieg Kosten für psychische und Verhaltensstörungen 2002 - 2008 um 5,3 Milliarden Euro - höher als bei allen anderen Krankheitsarten (Stat. Bundesamt, 2010) Dietrich, S., Stengler, K. (2012) Geschlechterspezifische Analyse von Fehlzeiten am Arbeitsplatz und Erwerbsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen - eine systematische Literaturrecherche. Gesundheitswesen Nov. 26 http://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Pressemitteilungen/leitfaden-psychische-belastung-2012-07-04.html Rentenzugang wegen verminderter Erwerbsfähigkeit 2009 nach Häufigkeit der Diagnosegruppen Bei den unter 40Jährigen: 45%! (erstellt aus Daten der Deutschen Rentenversicherung Bund, 2011) Aus: Psychiatrie 2020 plus, DGPPN; Springer Echte Zunahme psychischer Störungen? • Zunahme psychischer Erkrankungen durch: – – – – verstärkte Diagnostik und Dokumentation erhöhte Bereitschaft, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen größere Akzeptanz psychischer Störungen ….. • „Versorgungsprävalenz“ bei psychischen Erkrankungen gestiegen (nicht jedoch Inzidenz und Prävalenz) psychische Erkrankungen nicht häufiger als früher, sondern schneller diagnostiziert und häufiger behandelt (Richter et al., 2008) Krank – Gesund - ?! Depression versus… - „nicht so gut drauf sein“…. Burnout…..?! Mangelnde Motivation Disziplinlosigkeit z.B. Unterforderung Überforderung Keine Identifikation Kein Interesse Keine Kontrolle Keine Einbindung Kein Erfolg „gesund“ Akute Erschöpfung Überarbeitung, „Burnout“: z.B. Normale Müdigkeit nach intensiver Arbeitsphase, akute oder chronische Überforderung, Bedürfnis nach Auszeit (Urlaub) KRANKHEIT z.B. Depression Oft rascher Beginn deutliche Veränderung der Persönlichkeit Probleme nicht nur bei Arbeit Auch ohne klare Auslöser Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit„ Versteinerung“ „krank“ Was ist burnout? Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): 7. März 2012 11. Hauptstadtsymposium „Burnout – Der Preis für die Leistungsgesellschaft?“ DGPPN-Konzept: Übergang Arbeitsbelastung zur Erkrankung Quelle: DGPPN DGPPN-Konzept: Übergang Arbeitsbelastung zur Erkrankung Quelle: DGPPN Prävention, Therapie, Rehabilitation Depression Was ist eine Depression? Depression ist eine - häufig auftretende, - meist schwere - oft rezidivierende - aber gut behandelbare Erkrankung Diagnosekriterien der Depression nach ICD-10 Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven Gefühl von Schuld und Wertlosigkeit Suizidgedanken / Suizidale Handlungen Verlust von Interesse u. Freude Depressive Stimmung Verminderter Antrieb Schlafstörungen Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen Appetitminderung Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit Wer ist „schuld“ an der „Zunahme“ psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz? Faktoren der Arbeitssituation (lediglich) als Auslöser • Arbeitsverdichtung höherer Arbeits- und Zeitdruck • unsichere Berufsperspektive • geringe Beeinflussbarkeit + Personenvariablen • hohe Verausgabungsbereitschaft • mangelnde Stressbewältigungskompetenz • mangelnde soziale Unterstützung Arbeit ist oft ein protektiver Faktor! Was wirkt protektiv/„antidepressiv“ bei der Arbeit? Viele Faktoren von Arbeit wirken antidepressiv und könnten genutzt werden: • • • • • • • Struktur Identifikation Erleben von Effizienz Wertschätzung Austausch mit anderen Anforderungen Ablenkung …… Krankschreibung hilfreich ?! Menschen wollen arbeiten…… …psychische kranke Menschen auch! Arbeitstherapie in der Behandlung und Rehabilitation chronisch psychisch Kranker: Eugen Bleuler (1857-1939) „Am meisten wird die Arbeitstherapie allen Anforderungen gerecht. Sie übt die normalen Funktionen der Psyche, gibt unaufhörlich Gelegenheit zu aktivem und passivem Kontakt mit der Wirklichkeit, übt die Anpassungsfähigkeit und zwingt den Patienten den Gedanken ans normale Leben draußen auf.“ Eugen Bleuler: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenen. 1911 Empowerment und Recovery Gesetzlichen Voraussetzungen • 2001 SGB IX: Leistungen der medizinischen Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (Zusammenfassung des Rehabilitations- und Teilhaberechts) • Stufenweise Wiedereingliederung („Hamburger Modell“) (SGB V §74, SGB IX §28) • 2005 RPK-Empfehlungsvereinbarung • 2009 Beitritt BRD zur UN-Behindertenkonvention – Anspruch auf die Zielsetzung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unterstrichen Die gesetzlichen Voraussetzungen für Rechtsansprüche auf Leistungen zur Wiedereingliederung ins Arbeitsleben sind auf Grundlage von SGB V und SGB IX gegeben Wo ist das Problem? Psychisch gesund am Arbeitsplatz Hindernisse und Hürden • • • • Strukturproblem Sozialrecht Deutschland Mangelndes Wissen und Stigmatisierung Verantwortlichkeit Akteure Riedel-Heller S, Luppa M, Seidler A , König HH, Stengler K (2013) Psychische Gesundheit und Arbeit - Konzepte, Evidenz und Implikationen für Forschung und Praxis (Nervenarzt, DOI 10.1007/s00115-012-3726z) Riedel-Heller S, Stengler K, Seidler A. (2012) Psychische Gesundheit und Arbeit. PsychPrax 39(3):103-5 Bedingungsgefüge psychischer Gesundheit und Krankheit Soziale und ökonomische Umweltbedingungen Lebenswelt Psychosoziale Anforderungen Arbeitswelt Individuum Gesundheit Biologische Disposition Psychische und physische Konstitution Bewältigung von Umweltanforderungen Symptome Krankheit Individuum Lebenswelt Biologische und physikalische Umweltbedingungen modifiziert nach Kilian & Becker 2006 Interventionen bei psychischen Störungen Gesundheitsförderung Prävention Kuration / Therapie Rehabilitation SOLL: Orientierung an Individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten Pflege IST: Segmentierung, orientiert an sozialrechtlichen Gegebenheiten 7 Rehabilitation Prävention Kuration / Therapie Pflege 8 Stengler K, Brieger P, Weig W: Psychiatrische Rehabilitation: "deutscher Sonderweg" - wo geht es hin? Psychiatr Prax 2010; 37(4): 206-207 Stengler K, Becker T: Rehabilitation bei psychischen Störungen: wissenschaftliche Evidenz und internationale Perspektiven; Mittelungsseiten im Nervenarzt, 2012 Psychische Krankheit und Stigma, mangelndes Wissen… • 30% glauben, dass der Vorgesetzte wenig Verständnis hat, wenn ein Mitarbeiter wegen psychischer Probleme am Arbeitsplatz fehlt • 31% glauben, dass die Kollegen wenig Verständnis dafür haben, wenn ein Mitarbeiter wegen psychischer Probleme fehlt • Für 56% wäre es unangenehmer wegen psychischer Probleme nicht zur Arbeit zu kommen, als wegen körperlicher Probleme • 26% glauben, dass psychische Erkrankungen oft als Vorwand für Blaumacherei missbraucht werden. • 49% glauben, dass die verbreitete Angst um den Arbeitsplatz das Auftreten von psychischen Erkrankungen begünstigt. (DAK Gesundheitsbarometer 2005, Forsa-Umfrage) Schomerus G et al. Evolution of public attitudes about mental illness: a systematic review and meta-analysis. Acta Psychiatr Scand. 2012 Jun;125(6):440-52 Angermeyer MC et al. Mental health literacy and attitude towards people with mental illness: a trend analysis based on population surveys in the eastern part of Germany. Eur Psychiatry. 2009 24(4):225-32. Psychisch gesund am Arbeitsplatz Hindernisse und Hürden Bundesweite Erhebung 2010/2011: VDBW - elektronisch/ postalische Befragung Handlungsbedarf und Umgang mit psychischer Gesundheit/Krankheit aus Sicht von Betriebs- und Werksärzten und Führungskräften Betriebsärzte Führungskräfte (%) (%) Zunahme AU/ EU 87,9 80 Präsentismus 72 83,7 Umgang „anders“ (Stigmatisierung, Unsicherheit…) 87,9 75 Keine spezifischen Präventionsprogramme 65,4 71,4 Empfehlung Prävention 94,4 Dietrich S, Mergl R, Rummel-Kluge C, Stengler K (2012) Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz aus 96 der Perspektive von Betriebs- und Werksärzten. PsychPrax (39), 1: 40-42. (Aufklärung, Information) Dietrich S, Stengler K. Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz aus der Perspektive von Führungskräften deutscher Unternehmen. (eingereicht) Was ist von wem zu tun? Von der Therapie zur Prävention Prävention psychischer Störungen am Arbeitsplatz • • • • • Zentrale Bedeutung! Wissens- und Informationsvermittlung Reduzierung von Vorurteilen, Stigmatisierung Stärkung und Förderung individueller Ressourcen Früherkennung – Frühwarnsysteme – Netzwerk mit verschiedenen Akteuren • Arbeitsorganisation – Stressärmere Abläufe • Rolle der Führungskräfte! Prävention psychischer Störungen - am Arbeitsplatz - "Stark werden gegen Stress in der Arbeitswelt" Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen bei Tagung zu psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz – Stressreport 2012 vorgestellt Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA): Schwerpunktziel 2013-2018 Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz: www.gda-portal.de Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen: „Psychische Erkrankungen sind eines der drängendsten Probleme in der Arbeitswelt…“ © T. Maelsa Vorstellung Stressreport 2012 ….. Positionierungspapier DGPPN Die DGPPN unterstützt die Neuausrichtung der nationalen Präventionsstrategie. Primärprävention muss zentral im medizinischen Versorgungssystem angesiedelt werden. Eine leistungsgerechte Finanzierung medizinischer Leistungen zur Prävention durch die Krankenkassen muss im Interesse der Bevölkerung sichergestellt werden. Fachärzte für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sind die Experten für die Prävention psychischer Störungen. Ein enges Zusammenwirken mit Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Betriebsärzten, Politik und Sozialpartnern ist erforderlich Fazit • ↑ Gesundheitspolitische Relevanz psychischer Störungen – breiteres Aktionsfeld • Schnittstelle Unternehmen – Gesundheitssystem: neue Offenheit im System: Akteure, Orte, Methoden…. → Netzwerkstrukturen • Entwicklung, Evidenzbasierung und Implementierung von spezifischen Präventionsmaßnahmen • Zukünftige Forschung zu Stigmatisierungs- und Diskriminierungstendenzen bei psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz Dietrich S, Deckert S, Ceynowa M, Hegerl U, Stengler K. Depression in the workplace: a systematic review of evidence-based prevention strategies. Int Arch Occup Environ Health. 2012;85(1):1-11. Riedel-Heller S, Stengler K, Seidler A. (2012) Psychische Gesundheit und Arbeit. PsychPrax 39(3):103-5 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!