Das gefügige Belgien«

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Sven-Claude Bettinger
»Das gefügige Belgien«
Das Königreich im Zweiten Weltkrieg
I
m Februar veröffentlichten fünf Forscher des unabhängigen Brüsseler »Zentrums zur
Erforschung und Dokumentation Krieg und Gesellschaft« (CEGES/SOMA) – wie das frühere »Zentrum zur historischen Erforschung des Zweiten Weltkriegs« inzwischen heißt –
ihre fast 1.200 Seiten umfassende Untersuchung über die Mitwirkung aller staatlichen Stellen Belgiens an der Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs. Die Studie mit dem
Titel »Das gefügige Belgien« stieß in Belgien und im Ausland auf lebhaftes Echo. Das lag
zum Teil auch daran, dass es sich um ein offizielles Dokument handelt. Wie viele in den
Zweiten Weltkrieg verwickelte Länder setzte auch Belgien 1997 eine Sachverständigenkommission ein, die beschlagnahmte oder nie zurückgeforderte Güter und Guthaben von Juden
ausfindig machte, soweit wie möglich ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückerstatten ließ,
und mit dem übrig gebliebenen Geld andere jüdische Opfer entschädigte. Belgiens Senat
verlangte daraufhin 2002 in einer Resolution eine umfassende, wissenschaftliche Untersuchung der Judenverfolgung während des Zweiten Weltkriegs. Ein Jahr später stellte Premierminister Guy Verhofstadt die erforderlichen Mittel zur Verfügung: Geld, um die Forscher zu
bezahlen, und die Anweisung an alle staatlichen und kommunalen Stellen des Landes, rückhaltlos ihre Archive zur Verfügung zu stellen. Noch vor der Veröffentlichung von »Das gefügige Belgien« entschuldigte sich Premierminister Verhofstadt für die Kollaboration, sowohl im »Museum der Deportation und des Widerstands der Juden« in Mechelen als auch
in »Yad Vashem« in Jerusalem.
Das Vorwort zu »Das gefügige Belgien« verspricht »neue Erkenntnisse« und nicht zuletzt
eine »neue Sicht der Dinge«. Als Leitmotiv – oder, in den Worten der Autoren, »basso continuo« - zieht sich folgende These durch die gesamte Studie: »In der Scharnierperiode 19301950 stellte die Mehrheit der gesellschaftlichen Elite Belgiens die liberale Demokratie als
Staatsform in Frage. In dieser Oberschicht gab es eine recht ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit, zu der auch Antisemitismus zählte…« Diese Elite arbeitete an der Verwirklichung der
»Neuen Ordnung« in einem korporatistischen Staat, in dem der König eine zentrale Machtstellung bekommen sollte.
In Belgien gab es zwei jüdische Immigrationswellen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – und sehr stark nach der belgischen Unabhängigkeit 1830/31 – wanderten zahlreiche
liberale Juden aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Österreich ein. Im sehr
früh industrialisierten, aufstrebenden Belgien bauten sie insbesondere das Bankenwesen und
die Holdinggesellschaften stark aus. Intellektuelle fühlten sich im Land mit der liberalsten
Verfassung Europas, der 1834 von Freimaurern gegründeten »Freien Universität Brüssel«
und den ebenfalls sehr offenen staatlichen Universitäten Gent und Lüttich wohl. Diese jüdischen Einwanderer integrierten sich perfekt in die belgische Gesellschaft. Viele zählten zum
Establishment, viele wurden Freidenker.
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Die zweite Immigrationswelle setzte Ende des 19. Jahrhunderts ein und verstärkte sich
nach dem Ersten Weltkrieg. Nun wanderten osteuropäische Juden ein, die meisten orthodox
und arm. Mit Diamant-, Leder- und Textilbearbeitung und -handel hielten sie sich in den
Großstädten Antwerpen, Brüssel, Charleroi und Lüttich eher schlecht als recht über Wasser.
Die Weltwirtschaftskrise traf sie ebenso hart wie den einheimischen, belgischen Mittelstand,
der sie als lästige Konkurrenten empfand. Mit der Machtübernahme Hitlers 1933 strömten
weitere Flüchtlinge – nicht nur Juden, sondern auch Kommunisten, Sozialdemokraten und
andere Regimegegner – ins Land. Der prominenteste war Albert Einstein. Die Regierung
verbot ihnen die Berufstätigkeit, so dass die meisten auf die Unterstützung der sehr rührigen
»Hilfscomités« angewiesen waren. 1937 beschloss Belgien, keine weiteren Flüchtlinge
mehr aufzunehmen. Illegal kamen sie allerdings noch immer über die Grenze. Nach dem Anschluss Österreichs, der Annexion des Sudetenlandes und der Reichspogromnacht wurde
das Einreiseverbot Ende 1938 wieder gelockert. Viele Flüchtlinge, die oft daran dachten,
über die Häfen Antwerpen und Ostende weiterzureisen, kamen in Auffanglager.
Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurden alle Fremden registriert. Insbesondere
deutsche Staatsbürger, »les boches de 1914-18«, wurden als Feinde und potentielles Sicherheitsrisiko betrachtet. Als die »drôle de guerre« am 10. Mai 1940 mit dem deutschen Überfall auf Belgien, Frankreich und die Niederlande endete, wurden etwa 13.500 Fremde von
der belgischen Polizei verhaftet, die Hälfte von ihnen nach Frankreich deportiert. Aus den
Lagern am Fuß der Pyrenäen kamen nur wenige Flüchtlinge nach Belgien zurück. Bevor die
Regierung nach Frankreich (und letztlich nach London) floh, ermächtigte sie die Generalsekretäre, die Spitzenbeamten der Ministerien, alle Aufgaben der Minister zu übernehmen.
Die Generalsekretäre beratschlagten mit einem der prominentesten Industriellen und Bankiers des Königreichs, Alexandre Galopin, Gouverneur der »Société Générale«. Sie einigten sich auf eine Linie, die der Historiker José Gotovitch später als »Politik des geringeren
Übels« umschrieb.
Man war sich einig: Auf keinen Fall durfte sich die erste deutsche Besatzung von 1914 bis
1918 wiederholen, mit einer deutschen Zivilverwaltung, die den Staat zerschlug, die Geldvorräte raubte, die Industrieanlagen demontierte und Arbeitskräfte deportierte. Diesmal
sollten alle Entscheidungen in belgischer Hand bleiben, mit den produzierten Gütern Lebensmittel für die Bevölkerung gekauft werden. Die Richtlinien für die Beamten waren bereits 1935 von der Regierung festgelegt worden. Sie sollten mit einem Besatzer zusammenarbeiten, außer wenn es sich »um Befehle handelte, die nicht mit der Treuepflicht gegenüber
dem Vaterland vereinbar« waren. Dann mussten sie sich an ihre Vorgesetzten wenden.
Nach der belgischen Kapitulation am 28. Mai 1940 akzeptierte die deutsche Militärverwaltung für Belgien und Nordfrankreich die »Galopin-Doktrin«. Auf diese Weise sparte sie
Mühe und Kosten und konnte sich ganz auf die strategischen Ziele konzentrieren. Diese
pragmatische Haltung kam am 28. Oktober 1940 zum ersten Mal auf den Prüfstand. Eine
Verordnung der Militärverwaltung verlangte, dass alle Juden – die Verordnung definierte sie
als »alle Personen, die mindestens drei jüdische Großmütter haben« – aus sämtlichen öffentlichen Ämtern entfernt werden mussten. Das stand in krassem Widerspruch zur belgischen
Verfassung, die die Glaubens- und Religionsfreiheit sowie die Gleichheit aller Belgier garantiert. Die Generalsekretäre weigerten sich deshalb, diese Verordnung auszufertigen. Sie
forderten beim »Gesetzgebungsrat«, dem die Obersten Richter und die Präsidenten der Anwaltskammern angehörten, ein Gutachten an. Der »Gesetzgebungsrat« urteilte, dass die belgischen Behörden nicht das Recht hätten, Maßnahmen gegen Juden zu treffen. Das sei »die
Politik des Feindes« und berühre die öffentliche Ordnung Belgiens nicht. Allerdings seien
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die belgischen Behörden aufgrund der deutschen Besatzung auch genötigt, solche Maßnahmen der Militärverwaltung zu dulden.
Die Studie »Das gefügige Belgien« macht den Juristen den Vorwurf, sich nicht auf Artikel 46 der Haager Konvention berufen zu haben. Er lautet: »Der Besatzer verpflichtet sich,
die Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Menschen, das Privateigentum, sowie
die religiösen Überzeugungen und ihre praktische Ausübung zu respektieren.« Diese Haltung, so vermuten Historiker heute, ist von der Tatsache beeinflusst worden, dass nur fünf
Prozent der 1940 in Belgien lebenden Juden die belgische Staatsangehörigkeit hatten. Bei
der übergroßen Mehrheit handelte es sich um Flüchtlinge. Das erste Zugeständnis an die Besatzer löste eine »Dynamik in Richtung maximale Zusammenarbeit« aus.
Die judenfeindlichen, deutschen Verordnungen häuften sich. Im November 1940 wurden
die Kommunen aufgefordert, Judenregister anzulegen. Alle Geschäfte und Betriebe von
Juden erhielten einen stigmatisierenden Aufkleber. Zum 31. Dezember 1940 wurde allen jüdischen Lehrkräften und Juristen Berufsverbot erteilt, bald darauf galt es auch für Ärzte und
Pflegepersonal. Die Feldkommandantur Antwerpen befahl 8.609 im Landkreis Antwerpen
registrierten Juden, sich in die Provinz Limburg zu begeben. Dort mussten die Provinz- und
Kommunalverwaltungen Unterkunft, Arbeit und Verpflegung beschaffen. Im Sommer 1941
befahl die Militärverwaltung die Rückführung dieser Zwangsaussiedler nach Antwerpen,
Brüssel, Charleroi und Lüttich. Dann verlangte sie auch den roten Stempel »Jood – Juif« in
den Personalausweisen. Jüdische Unternehmen bekamen deutsche »Treuhänder«, ihr Vermögen wurde »verwahrt«, immer mehr wurden mit fadenscheinigen Vorwänden »übernommen« oder geschlossen. Schließlich ordnete die Militärverwaltung am 8. Mai 1942 für alle
Juden – die sie bis dahin systematisch der Arbeit beraubt hatte – Zwangsarbeit in belgischen
Rüstungsbetrieben und vor allem am Atlantikwall in Nordfrankreich an. Dagegen protestierten die Generalsekretäre förmlich, und die Bürgermeister von Brüssel und Lüttich wiesen
die ihnen unterstehende Kommunalpolizei an, die deutschen Gestellungsbefehle nicht abzuliefern. Den Widerstand, so die Studie, löste nicht diese anti-jüdische Maßnahme aus, sondern die kurz davor von den Deutschen beschlossene »Arbeitspflicht« für alle Belgier.
Allerdings hatte die Militärverwaltung, unter politischem Druck Berlins, inzwischen dem
Aufbau einer belgischen Parallelverwaltung zugestimmt, in der ausschließlich belgische
Kollaborateure tätig waren. Das neue »Nationale Arbeitsamt« mit örtlichen Dienststellen
und darin besonderen »Judenstellen« organisierte die Zwangsarbeit. Antwerpen, Gent und
Charleroi waren mit Vororten zu großen Stadtverbänden zusammengeschlossen worden, an
deren Spitze Kollaborateure standen. Die Deutschen hatten auch die Kreis- und Provinzverwaltungen gründlich »gesäubert«, und sogar die Ernennung einiger ihnen wohl gesonnener
Generalsekretäre durchgedrückt.
Am 5. Juni 1942 befahl die deutsche Militärverwaltung, alle Juden müssten den gelben
»Judenstern« tragen. Es war Sache der Kommunalverwaltungen, die Sterne zu beschaffen
und zu verteilen. Die meisten fügten sich. Aber die Bürgermeister von Brüssel und Lüttich
weigerten sich, »an einer Maßnahme mitzuwirken, die einen Anschlag auf die Menschenwürde bedeutet.« Nur durch den listigen Vorwand der Besatzer, es handele sich um eine
Routinekontrolle, nahmen Brüsseler und Lütticher Polizisten im Sommer 1942 an der ersten
großen Razzia in ihren Städten teil. Danach verboten die Bürgermeister weitere Einsätze.
Wenige Monate später wurden sie ihrer Ämter enthoben, als die Deutschen »Groß-Brüssel«
und »Groß-Lüttich« mit genehmen Kollaborateuren schufen.
Ganz anders sah die Lage in Antwerpen aus. Dort führten Kommunalverwaltung und
Kommunalpolizei die deutschen Befehle ohne Wimpernzucken aus. Im Mai 1940 floh der
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sozialistische Bürgermeister und Kammerabgeordnete Camille Huysmans nach London.
Sein Nachfolger, der katholische Politiker Leo Delwaide, war ein Anhänger der »Neuen Ordnung«. Er ließ die deutschen Befehle ausführen. So half die Kommunalpolizei am 15. August und 11. September 1942 bei zwei großen Razzien mit. Am 28. und 29. September führte die Antwerpener Kommunalpolizei eigenmächtig eine große Razzia durch, bei der 1.243
Juden verhaftet und anschließend der SIPO-SD überstellt wurden. Die Opfer wurden in die
»Dossin-Kaserne« in Mechelen gebracht und von dort nach Auschwitz transportiert. Weder
der Bürgermeister noch die Staatsanwaltschaft reagierten.
Am 30. September 1942 entschied die Militärverwaltung, dass die belgischen Behörden
und Polizei nicht mehr an der Judenverfolgung mitwirken mussten. Das war fortan eine Angelegenheit von Gestapo und SIPO-SD und der belgischen Kollaborateure, die ihnen zuarbeiteten. Wenige Tage später brachen die inzwischen durch parallele Strukturen weitgehend
entmachteten Generalsekretäre mit der Militärverwaltung, als sie den »Arbeitseinsatz« für
belgische Staatsbürger in Deutschland anordnete. Damit missachtete sie eines der wichtigsten Elemente der »Galopin-Doktrin«, die sich endgültig als Fehlkalkulation erwies. Noch
einmal protestierten sie energisch und förmlich im Oktober 1943, als die Deutschen, entgegen allen Zusicherungen, mit der Deportation der belgischen Juden begannen. In dem Zusammenhang kreidet »Das gefügige Belgien« der belgischen Staatseisenbahn SNCB an,
sich nie zu den 28 Transporten von Mechelen nach Auschwitz geäußert zu haben. Sie fanden zum Teil mit belgischem Material und auf belgischem Gebiet, teilweise auch mit belgischem Personal statt. Allerdings unterstand die SNCB seit Kriegsbeginn nicht mehr dem
Generalsekretär des belgischen Verkehrsministeriums, sondern der »Wehrmachtsverkehrsdirektion«. Alle Transporte nach Auschwitz wurden überdies von der SS begleitet. Die Vorwürfe wirken besonders merkwürdig, da es kein Archivmaterial gibt – und zahlreiche Eisenbahner im bewaffneten Widerstand aktiv waren.
Die Studie lobt einen Berufsstand, der nicht zur Staatsgewalt gehört: Die Notare. Trotz
Druck und Drohungen der Militärverwaltung lehnten sie, unter Berufung auf die Haager
Konvention, die belgische Verfassung und den »Code civil« – Verträge zu Ungunsten »abwesender« jüdischer Eigentümer – kategorisch ab. Ihre strikt legalistische Haltung wurde
von den Obersten Richtern Belgiens und von den Generalsekretären geteilt.
Weniger gut kommen die Militärgerichte weg, die sofort nach der Befreiung Belgiens und
der Rückkehr der Exilregierung im September 1944 eingesetzt wurden, um die Kollaborateure zu bestrafen. Ihnen wird vorgeworfen, führende Vertreter der Wirtschaft, der Justiz und
der Verwaltung, die die »Politik des geringeren Übels« verfochten hatten, nicht behelligt zu
haben, um keine »Pandora-Büchse« zu öffnen, die dem Wiederaufbau des Landes geschadet
hätte. Auch wurde die Judenverfolgung nicht gesondert strafrechtlich geahndet, weil – so
mutmaßen die Historiker – die weitaus meisten Opfer keine belgischen Staatsbürger waren.
Das verhinderte auch die Anerkennung der – wenigen – überlebenden jüdischen Deportierten als politische Gefangene, und damit eine Entschädigung als Kriegsopfer. Andererseits
wurde die politische Kollaboration, insbesondere in den Parallelverwaltungen, durchaus hart
bestraft. »Hilfe bei der Ausführung von Vorhaben des Feindes« oder »Verrat am belgischen
Staat und seinen Gesetzen« – worunter zahlreiche Maßnahmen gegen Juden fielen – galten
als schwere Verbrechen.
Global betrachtet urteilten die 21 Militärgerichte übrigens hart. Sie legten 560.000 Akten an,
was in 57.000 Fällen tatsächlich zu einem Verfahren und in den meisten zu einer Verurteilung
führte. 43.000 Kollaborateuren wurden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Die Kriegsgerichte verhängten 2.940 Todesurteile, von denen 242 auch tatsächlich vollstreckt wurden.
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Dennoch endet die Studie mit der Feststellung, die bereits im Vorwort steht: »Die fremdenfeindliche, manchmal antisemitische Kultur der belgischen Elite und ganz allgemein das
demokratische Defizit in den 1930er und 1940er Jahren gaben den Durchschlag bei der Mitwirkung an der antijüdischen Rassenpolitik.«
Diese These und ihre dekonstruktivistische Ausarbeitung, bei der viele Details stark vergrößert werden, ist höchst anfechtbar. Die belgische Demokratie funktionierte zwischen
1918 und 1940 sehr wohl. Zwar schnitten bei den sieben Parlamentswahlen die flämischen
Rechtsextremisten des VNV immer besser ab – von 2,6 Prozent der Stimmen und fünf Abgeordneten 1919 kamen sie auf letztlich 8,3 Prozent und 17 Abgeordnete bei den letzten
Wahlen im Frühjahr 1939. Die wallonischen Rechtsextremisten von »Rex« bekamen 1936
11,5 Prozent der Wählerstimmen und 21 Abgeordnetenmandate, fielen 1939 jedoch schon
wieder auf 4,5 Prozent und vier Abgeordnete zurück. Die Katholische Partei bildete mit Sozialisten oder/und Liberalen Koalitionsregierungen, die zugegeben viel stritten und regelmäßig stürzten. Katholische und Sozialistische Partei waren ungefähr gleich stark, Sozialisten
und Liberale zusammen wesentlich gewichtiger als die Katholische Partei. Ihre Einstellung
umschrieb José Gotovitch, einer der besten belgischen Historiker, folgendermaßen: »Bei
den Sozialisten gab es zahlreiche Juden. Antirassismus und Antifaschismus gehörten zum
Fundament der sozialistischen Kultur. Ebenso tief verwurzelt ist der Antirassismus bei den
Liberalen. Juden sind bei ihnen stark vertreten, bis in die Parteispitze.« Die Katholische Partei, merkte Gotovitch an, hatte keine jüdischen Mitglieder und neigte eher zu antisemitischen Klischees. Das hinderte weite Teile nicht daran, die Judenverfolgungen in und durch
Hitler-Deutschland zu verurteilen. Der 1913 geborene Romanist Paul Delsemme, der 1932
in die gemischte Freimaurerloge »Le Droit humain« und später in den »Grand Orient de Belgique« aufgenommen wurde, hat in seinen Publikationen darauf hingewiesen, wie entsetzt
die belgischen Freimaurer reagierten, als Mussolini, Hitler und Franco an die Macht kamen.
Die Logen unterstützten aktiv die belgischen »Hilfscomités« für Flüchtlinge. Die Freie Universität Brüssel und die staatliche Universität Lüttich stellten zahlreiche Exilanten ein,
gaben Flüchtlingskindern Stipendien, erst osteuropäischen Juden, nach 1933 auch deutschen.
1937 veröffentlichte die wichtigste Studentenverbindung der Freien Universität Brüssel,
der »Cercle du Libre-Examen«, ein eindeutig antifaschistisches Manifest: »Wir sind bereit,
uns über alle ideologischen Schranken hinweg gegen all jene zu verbünden, die den Gedanken der Humanität zum Schweigen bringen und den Fortschritt behindern wollen. Wir hegen
alle dieselbe Hoffnung: Ein umfassendes, reiches Leben in Frieden und Brüderlichkeit.« Im
November 1941 beschloss die Freie Universität Brüssel, die sich weigerte, vom deutschen
Regierungskommissar ausgewählte, deutschfreundliche Professoren zu ernennen, den Lehrbetrieb einzustellen. Er ging zum Teil im Untergrund weiter, in Räumlichkeiten der Stadt
Brüssel. Andere Studenten wurden von der Universität Lüttich und der Katholischen Universität Löwen aufgenommen, die mit Brüssel solidarisch waren. Ein harter Kern Professoren und Studenten der Freien Universität, darunter zahlreiche Juden, begann mit der Organisation des bewaffneten Widerstands, zu dessen emblematischen Einheiten die »Groupe G«
zählte.
Die belgische Exilregierung in London – ganz gewiss ein Exponent der belgischen Elite,
mit intellektuellen Schwergewichten wie Camille Gutt, Paul-Emile Janson oder Paul-Henri
Spaak – verurteilte die Judenverfolgung im besetzten Heimatland, sobald sie Informationen
über die Maßnahmen bekam. Bereits im Dezember 1940 hielt sie fest, dass die deutschen
Verordnungen »gegen das Verfassungsprinzip der Gleichheit aller Belgier vor dem Gesetz
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verstoßen.« Einen Monat später dekretierte die Exilregierung: »Alle Enteignungen durch
den Feind, alle Beschlagnahmungen, Zwangsverkäufe und sonstigen Maßnahmen, die dem
Privatleben Schaden zufügen, sind null und nichtig. Wer an der Ausführung dieser unrechtmäßigen Maßnahmen des Feindes mitwirkt, wird mit einer Geldbuße von 5.000 bis 200.000
Francs und/oder Freiheitsentzug von einem bis fünf Jahre bestraft.« Im April 1942 verdeutlichte Premierminister Hubert Pierlot, ein katholischer Politiker und praktizierender Katholik, im »Jewish Bulletin« den Standpunkt der Exilregierung: »Die belgische Verfassung garantiert die Meinungs-, Religions- und Glaubensfreiheit. Darüber hinaus haben die Gesetze
und die Gepflogenheiten unseres Landes nie Bürger aufgrund ihrer Rasse diskriminiert. In
Belgien sind alle vor dem Gesetz gleich. Das galt auch, bis zur deutschen Invasion, für die
in Belgien lebenden Juden. Denn diese Prinzipien sind ewig. Dieser Krieg dient dazu, diesen Prinzipien und Gesetzen wieder ihre rechtmäßige Geltung zu verschaffen. Der Sieg der
Alliierten wird auch das Ende des Unrechts bedeuten, das den Juden derzeit zugefügt wird.«
Im Dezember 1942 rief Pierlot in einer Ansprache auf »Radio Belgique« seine Landsleute
auf, »jüdische Mitbürger zu verstecken.« Die Exilregierung, die dank des Zugriffs auf einen
Teil der Goldreserven der Nationalbank und der Uran- und Metallverkäufe aus BelgischKongo über beträchtliche Finanzmittel verfügte, schleuste über Verbindungsmänner des belgischen Staatssicherheitsdienstes insgesamt 14 Millionen Franken in die besetzte Heimat.
Damit finanzierte das »Comité de défense des Juifs« einen Teil der Unterbringung tausender jüdischer Kinder in Internaten und bei Privatleuten.
Der konservative Historiker Jacques de Launay notierte in dem Zusammenhang: »Ungefähr 30.000 Juden erfuhren, was Gastfreundschaft und Edelmut bedeuten, als belgische Familien sie versteckten. Unterstützt wurden diese echten Widerstandskämpfer vom klandestinen ‚Comité de défense des Juifs’, in dem Juden, Katholiken, Protestanten und Freidenker
zusammenarbeiteten. Sie machten zwischen 1942 und 1944 bei den Banken 48 Millionen
Francs locker. Und eine stattliche Anzahl junger Juden ging in den Untergrund und nahm am
bewaffneten Widerstand teil.« In diesem Zusammenhang hat José Gotovitch darauf hingewiesen, dass die ersten Partisanen aus den bürgerlichen Akademikerkreisen in Brüssel
stammten. Ingenieure, Physiker und Ärzte bastelten die ersten Bomben, die deutsche Einrichtungen beschädigten.
Zur Elite zählte schließlich auch Königin Elisabeth, die Witwe des 1934 tödlich verunglückten Königs Albert I. und Mutter von König Leopold III. So sehr ihr Sohn auch mit der
»Neuen Ordnung« liebäugelte, von der er sich reale Macht versprach, das humanitäre Engagement Königin Elisabeths ist über jeden Zweifel erhaben. Unter anderem überzeugte das
Königspaar seine persönlichen Freunde Albert und Elsa Einstein 1933, auf der Rückreise
aus den USA nicht nach Hamburg zu fahren, sondern in Antwerpen von Bord zu gehen und
im belgischen Exil zu bleiben. Als im Frühjahr 1939 die »St.-Louis«, die 937 jüdische
Flüchtlinge von Hamburg nach Kuba bringen sollte, aufgrund der strikten Weigerung von
Kuba, der USA und anderer amerikanischer Länder zum Geisterschiff wurde, drang Königin Elisabeth bei der belgischen Regierung auf eine Geste. Die Bereitschaft, 200 Flüchtlinge aufzunehmen, und der anschließende Einsatz der belgischen Diplomatie brachten
schließlich auch England, Frankreich und die Niederlande dazu, von ihrer restriktiven Einwanderungspolitik abzuweichen.
Ein beträchtlicher Teil der gesellschaftlichen Elite Belgiens kann also keineswegs als
fremdenfeindlich oder gar antisemitisch eingestuft werden. Auf einer ganz anderen, persönlichen und emotional gefärbten Ebene, lässt sich das auch an den Lebenserinnerungen »Une
mère russe« von Alain Bosquet ablesen. Von 1928 bis 1940 verbrachte der Sohn russisch-jü-
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discher Emigranten in Brüssel eine glückliche Jugend. An nichts anderes erinnern sich die
Emigrantenkinder, deren Lebensberichte Marion Schreiber in ihrer Dokumentation »Stille
Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz« aufgezeichnet hat.
»Es gab keinen ausgeprägten Antisemitismus« resümierte die Autorin. Nichts anderes bemerkte Heinz Kühn, langjähriger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, der seit
Herbst 1936 in Brüssel die Exil-Wochenzeitung »Freies Deutschland« herausgab, in seinen
Memoiren, »Widerstand und Emigration«. Dank der Solidarität der Bevölkerung umschrieb
Kühn Belgien sogar als »Okkupations-Paradies«. Der deutsch-jüdische Journalist Kurt Grünebaum, der mit seiner Frau Alice bereits Anfang 1933 in Brüssel eintraf und dort bald für
die sozialistische Tageszeitung »Le Peuple« arbeitete, umschrieb das Verhalten der belgischen Behörden insgesamt als »nicht immer freundlich und sehr bürokratisch.« Er betonte
allerdings auch, dass der Bürgermeister des Brüsseler Stadtbezirks ihm und seiner Frau bei
der Hochzeit alles Gute wünschte und Unterstützung zusicherte. In einem Augenblick der
Not half das Sozialamt tatsächlich.
Umgekehrt gibt es ein heikles Detail, um das manche Autoren aus Gründen politischer
Korrektheit einen weiten Bogen machen. Ein Teil der jüdischen Elite Belgiens sah die
Flüchtlinge nicht gerne. Bitter hielt Jean Améry, der Anfang 1939 in Antwerpen eintraf, in
seinem Buch »Örtlichkeiten« fest: »Er weiß nun schon manches über die Antwerpener Verhältnisse, hat vernommen, dass es sehr viele sehr reiche Diamantenhändler gibt, die in vornehmen neuen Buildings am Stadtrand wohnen. Sie sind selber der ‚Joodsen wijk’ entronnen, denn es scheint, dass der soziale Aufstieg einhergeht mit einer zumindest
oberflächlichen Ablösung der Menschen von ihrem fatalen Herkunftsgeschick. (…) Aber sie
wollen begreiflicherweise von den wenig schluckenden Schluckern gleichen ethnischen Ursprungs, gleicher Physiognomie, aber ganz ungleichen nationalen Hintergrundes so wenig
wie möglich wissen. Wer ihnen trotzdem einmal vors Gesicht kommt, der kriegt allenfalls
zu hören: So, da seid ihr in Sicherheit, Gott sei gelobt. Aber warum habt ihr eigentlich gegen
diesen Hitler keine Revolution gemacht?«
Zu keinem anderen Ergebnis kommt die Historikerin Véronique Laureys, die die Haltung
der belgischen Exilregierung in London genauestens untersucht hat: »Die assimilierten, belgischen Juden, die in London in der Armee, dem Staatssicherheitsdienst und der Exilregierung zahlreich vertreten waren, beeinflussten die Stellungnahmen der Exilregierung gegen
die Judenverfolgung in Belgien nicht. Sie hätten das aufgrund ihrer Abstammung und ihrer
Kenntnis der Tatsachen durchaus tun können. Aber alle Berichte belegen ganz eindeutig: Sie
wollten mit diesen Fremden, die weder Belgier noch assimiliert waren, etwas zu tun haben.
Sie machten sie für den Antisemitismus und für die sich daraus ergebende Bedrohung des
sozialen Status der gesellschaftlich etablierten Juden verantwortlich.«
Als »Kainsmal« hat der Historiker Maxime Steinberg, die Autorität auf dem Gebiet der
Judenverfolgung in Belgien, die Tätigkeit der sinisteren im November 1941 gegründeten
»Association des Juis en Belgique (AJB)« umschrieben, gemeinhin »Judenrat« genannt.
Ihm gehörten die wenigen noch in Belgien verbliebenen Notabeln an, darunter der Oberrabbiner. Sie betrachteten sich als Vertreter der jüdischen Interessen und erkannten nicht, dass
sie von der Militärverwaltung missbraucht wurden. Manchmal murrend oder widerstrebend,
aber letztlich immer gehorchend, erstellten sie Listen von Juden, die »in den Osten emigrierten, weil sie dort Arbeit fanden«, schickten Lebensmittelpäckchen als Reiseproviant in die
»Dossin-Kaserne« in Mechelen, das Auffanglager für die Transporte nach Auschwitz, verteilten dort, wo die Kommunalverwaltungen sich weigerten, den »Judenstern«. Trotz aller
Warnungen des »Comité de défense des Juifs« und anderer jüdischer Untergrundorganisa-
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tionen arbeitete der »Judenrat« unverdrossen mit den Deutschen zusammen. Wenige Tage
vor der Befreiung Belgiens im September 1944 notierte der Schatzmeister in seinem Tagebuch: »Ich wohne noch immer in meinem Appartement, das im Winter gut geheizt ist. Wir
essen tüchtig, Fleisch, Butter, Eier, sehr oft Torten, fast ausschließlich Weißbrot.«
Kein einziger Angehöriger des »Judenrates« wurde nach 1944 von den belgischen Militärgerichten strafrechtlich verfolgt. Auch da wollte niemand wissentlich und willentlich eine
»Pandora-Büchse« öffnen.
Summa summarum gab es in Belgien nach dem Zweiten Weltkrieg – im Unterschied zu
Frankreich – keine nennenswerten Tabus im Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Prominente Historiker haben sich, nicht zuletzt im spezialisierten »Zentrum zur historischen Erforschung des Zweiten Weltkriegs«, damit ausführlich befasst. In den 1980er Jahren popularisierte der Journalist Maurice De Wilde die Erkenntnisse mit monumentalen
Fernseh-Serien über die »Neue Ordnung«, Kollaboration, Widerstand und Repression nach
1944. Die Serien für das flämische Fernsehen BRT wurden bald vom frankophonen Sender
RTB übernommen. Bereits in den 1950er Jahren entstand im Brüsseler Stadtbezirk Anderlecht, in dem viele osteuropäische Juden gewohnt hatten und wohnen, ein großes, schlichtes
Denkmal für die »Martyrs juifs«. 1980 wurde die »Fondation Auschwitz« ins Leben gerufen und vom Staat als bildungspolitisches Organ finanziert. Seit 1995 schließlich vermittelt
das »Museum der Deportation und des Widerstands der Juden« ein ausgewogenes, anschauliches Bild der belgischen und belgo-jüdischen Geschichte. Das Museum, das wie die
Auschwitz-Stiftung hervorragende pädagogische Arbeit leistet – noch mit dem unermüdlichen Einsatz der Überlebenden –, ist in einem Flügel der ehemaligen »Dossin-Kaserne« untergebracht, dem Sammellager der Deutschen für die Transporte nach Auschwitz. Seit 1956
organisiert die »Union des déportés juifs de Belgique – Fils et filles de la déportation» alljährlich an dem Mahnmal, in Anwesenheit der höchsten Regierungsvertreter, eine Gedenkfeier für die 25.267 zwischen 1942 und 1944 Deportierten, von denen nur 1.221 das Inferno überlebten. Am 8. Mai 2007 bekamen auch die Juden, die die deutsche Besatzung und
Verfolgung dank des beherzten Einsatzes belgischer Bürger überlebten, gegenüber der Königlichen Bibliothek Brüssel ein Denkmal – das ihnen der französische Schriftsteller EricEmmanuel Schmitt bereits 2004 mit seinem Roman »Das Kind von Noah« gesetzt hatte.
Ausgewählte Literatur:
• Jean Améry, »Örtlichkeiten«, Klett-Cotta, Stuttgart 1980
• Alain Bosquet »Une mère russe«, Grasset, Paris 1978
• José Gotovitch (Hrsg.), »Les Juifs de Belgique. De l’immigration au génocide 1925-1945«, CREHSGM, Brüssel 1994
• Heinz Kühn »Widerstand und Emigration. Die Jahre 1928-1945«, Hoffmann und Campe, Hamburg 1980
• Jacques de Launay, »La vie quotidienne des Belges sous l’occupation 1940-1944«, Paul Legrain, Brüssel 1982
• Eric-Emmanuel Schmitt »Das Kind von Noah«, Ammann Verlag, Zürich 2004
• Marion Schreiber, »Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz«, Aufbau-Verlag, Berlin 2000
• Rudi van Doorslaer (Hrsg.), »Gewillig Belgie«, Meulenhoff-Manteau, Amsterdam-Antwerpen, 2007
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