Thomas Lerch DER KLANG HISTORISCHER BLOCKFLÖTEN Ein Berechnungsverfahren zur Klangvorhersage THOMAS LERCH Erhaltene alte Musikinstrumente sind mehr als nur Zeugnisse historischer Handwerkskunst: Vor allem waren sie ja zu ihrer Zeit Werkzeuge für die Interpretation „zeitgenössischer“ Musik. Durch eine intensive Auseinandersetzung mit ihnen können wir daher wertvolle Erkenntnisse zu Fragen der historischen Aufführungspraxis, insbesondere in bezug auf die möglichen Klangvorstellungen zu unterschiedlichen Zeiten gewinnen. Aus diesem Grund ist es nur logisch, zu versuchen, historische Musikinstrumente, soweit konservatorisch vertretbar, in spielfähigem Zustand zu erhalten. Dies scheint zunächst der einfachste Weg, um zu einer Einschätzung der Klangvorlieben einer Epoche zu gelangen. Aus konservatorischen Gründen ist ein Anspielen wertvoller Museumsobjekte jedoch oftmals unmöglich1. Gerade Blasinstrumente sind dabei besonderen Belastungen ausgesetzt. Die im Atem enthaltene Feuchte sowie die Differenz zwischen Umgebungstemperatur und der Temperatur des Blasstroms belasten die Korpusmaterialien in vielfacher Art und Weise. Eine Gefährdung der Objekte ist daher nicht immer auszuschließen. Darüber hinaus spiegelt eine Klangprobe, welche von einem einzigen Musiker eingespielt wird, eher eine individuelle Auffassung wider. Auf dieser Basis ist es ausgesprochen schwer, zu vergleichbaren Ergebnissen zu gelangen, da eine ganze Reihe von subjektiven Faktoren kaum erfaßt werden kann. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob es möglich ist, anhand der geometrischen Gegebenheiten eines Instruments Aussagen über sein akustisches, musikalisch relevantes Verhalten treffen zu können. Zunächst soll diese Problematik für den Klang historischer Blockflöten erörtert werden. 1 Siehe hierzu Arbeitsgemeinschaft der Restauratoren, Fachgruppe Musikinstrumente: Empfehlungen zur Behandlung Historischer Blasinstrumente in öffentlichen Sammlungen, Nürnberg o. J. Der Klang historischer Blockflöten Die Durchsicht der in Frage kommenden Fachliteratur aus dem Bereich der musikalischen Akustik verlief enttäuschend. In der jüngeren Vergangenheit ist eine einzige umfassendere Arbeit erschienen, die sich mit der besonderen Problematik der Akustik von Blockflöten beschäftigt2. Acustica und Journal of the Acoustic Society of America enthalten in den mir zugänglichen Jahrgängen3 lediglich zwei Aufsätze, die die obengenannte Fragestellung berühren4. In einem 1940 erschienenen Aufsatz von Arndt von Lüpke5 werden im wesentlichen Klangspektren mehrerer Blockflöten wiedergegeben und grundlegende Zusammenhänge zwischen Blasdruck und erzeugter Frequenz dargestellt. Keine dieser Arbeiten gibt Hinweise auf ein Verfahren, das eine praktikable Vorhersage der akustischen Eigenschaften historischer Blockflöten ermöglicht6. Sollte die populäre Einschätzung der Blockflöte als „Kinderinstrument“ dazu geführt haben, daß Akustiker dieses Musikinstrument nicht für wert erachteten, Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung zu sein? Zur Akustik Für die folgenden Untersuchungen ist die Tatsache von entscheidender Bedeutung, daß die Holzblasinstrumente im Gegensatz zu den Blechblasinstrumenten bohrungsdominiert sind7. Das bedeutet: Es können nur Töne in Abhängigkeit zu den Resonanzeigenschaften der gekoppelten Röhre erzeugt werden. Diese Abhängigkeit stellt sich wie folgt dar: Eine beiderseits offene Röhre kann mit der Eigenfrequenz ihres Grundtones oder einem ganzzahlig Vielfachen dieser Frequenz angeregt werden. Im idealtypischen Modell entspricht 2 C. Mühle, Untersuchungen über die Resonanzeigenschaften der Blockflöte, Diss. Frankfurt 1966. 3 Acustica 12, 1962–1980, 1994; The Journal of the Acoustical Society of America 32, 1960–89, 1991. 4 W. Wogram und J. Meyer, Zur Intonation bei Blockflöten, in: Acustica 55, 1984, S. 137– 146. D. H. Lyons, Resonance frequencies of the recorder (English flute), in: The Journal of the Acoustical Society of America 70, 1981, S. 1239–1247. 5 A. v. Lüpke, Untersuchungen an Blockflöten, in: Akustische Zeitschrift 5, 1940, S. 39 ff. 6 Auch die Arbeit von John Martin (J. Martin, The Acoustics of the Recorder, Celle 1934) bietet keine realisierbaren Ansätze für die notwendigen Kalkulationen. 7 A. H. Benade, Physics of Wood Winds (1960), in: Musical Acoustics. Piano and Wind Instruments, Stroudsburg 1977 (Benchmark Papers in Acoustics 9), S. 265–273, hier S. 266. Thomas Lerch die Länge der Röhre dabei der halben Wellenlänge des ersten Teiltons. Dies setzt jedoch voraus, daß einerseits der Röhrendurchmesser ein gewisses Mindestmaß besitzt und andererseits beide Enden der Röhre den Rohrquerschnitt vollständig freigeben, so daß ein ungehinderter Austausch mit der umgebenden Atmosphäre möglich ist. Auf dieser Grundlage können theoretisch der Grundton (= 1. Teilton) sowie alle weiteren Teil- bzw. Überblastöne erzeugt werden. Die Frequenzen der einzelnen Teiltöne stehen in einfachen numerischen Verhältnissen zueinander; sie verhalten sich wie 1:2:3:4...; die Wellenlängen wie 1:1; 2:1; 3:1; 4:1... . Der Schwingungsverlauf in der Flöte besteht aus Schwingungsknoten und Schwingungsbäuchen. Grundsätzlich können Schwingungen gleichzeitig auf zwei Weisen beschrieben werden: durch die unterschiedlichen Werte des Schalldruckes bzw. der Schalldruckamplitude im Blockflötenrohr oder durch den Verlauf der Amplituden der Teilchenbewegungen. Es handelt sich um eine stehende Welle, deren Amplitudenverlauf für eine einfachere Verständlichkeit im folgenden als Kurve analog zu den im Rohr jeweils herrschenden Druck- oder Bewegungszuständen beschrieben wird. Ein Wellenberg bzw. -bauch bezeichnet hierbei den Ort größter Bewegung bzw. größter Druckschwankung, ein Knoten den Ort größter Ruhe bzw. gleichbleibenden Druckes. Wenn die Bohrungsprofile vom idealtypischen zylindrischen Rohr abweichen, entsprechen Form und Position der Wellenknoten und -bäuche nicht der Theorie. Ihre abweichende Gestalt wird von verschiedenen Faktoren beeinflußt. In den Blasinstrumenten werden stehende Wellen erzeugt: Der Generator ruft durch seine individuelle Funktionsweise einen ständigen Wechsel des im System herrschenden Druckes hervor. Dieser liegt zum Teil über und zum Teil unter dem der umgebenden Atmosphäre (siehe oben). An bestimmten Positionen im Innern des Resonators pendelt der Druck ständig zwischen Minimum und Maximum, an anderen Stellen bleibt er konstant. In Abhängigkeit zum Druckverlauf verhält sich die Teilchenbewegung im Resonator. Im Bereich der Druckknoten, also des konstanten Druckes, ist die Teilchenbewegung am größten, im Bereich der Druckbäuche gleich null. Orte großer Bewegung heißen Bewegungsbäuche, Orte des Teilchenstillstandes Bewegungsknoten. Beide Wellen sind infolge ihrer gegenseitigen Abhängigkeit um 90˚ phasenverschoben. Da an den offenen Enden der Röhre ein ungehinderter Austausch mit der Atmosphäre stattfindet, muß der Innendruck an dieser Stelle dem Druck der Umgebung entsprechen. Aus diesem Grund entsteht an den beiden Enden des Resonators jeweils ein Druckknoten. Für die Bewegungswelle des ersten Teiltones gilt daher, daß sie mit der maximalen Auslenkung bei λ8 = 0 beginnt, Der Klang historischer Blockflöten die Auslenkung der Druckwelle hingegen ist bei λ = 0 gleich null. In der Phase des Teilchenstillstandes bei λ/4 hingegen ist das Druckmaximum erreicht. Für den detaillierten Verlauf beider Wellen – und im Falle eines Klanges ebenfalls für den Verlauf der überlagerten Wellen der übrigen Teiltöne – ist der Rohrquerschnitt an den einzelnen Wellenabschnitten und somit das Bohrungsprofil von entscheidender Bedeutung. Arthur H. Benade stellt generell fest, daß bei konischen Bohrungsprofilen alle Teiltöne ihre Frequenz im Vergleich zum zylindrischen Rohr erhöhen, wobei die Auswirkung auf den ersten Teilton am stärksten ausgeprägt ist. Für umgekehrt konische Profile kann eine generelle Frequenzsenkung, ebenfalls mit größter Veränderung des Grundtones, festgestellt werden9. Da die verschiedenen Naturtöne unterschiedliche, teilweise sogar entgegengesetzte Schwingungszustände an gleichen Orten aufweisen, wirken sich Bohrungsveränderungen im Prinzip in unterschiedlicher Intensität und Richtung auf die Frequenz und die Amplituden der einzelnen Überblastöne aus. Dies kann dazu führen, daß die verschiedenen Überblastöne nicht mehr in einem ganzzahligen Verhältnis zueinander stehen. Diese einfachen Voraussetzungen sind die Grundlage für die Gestaltung von Bohrungen unterschiedlicher Blasinstrumente. Aufgrund der differenzierten Anforderungen an die Blockflöte entwickelten sich allerdings Bohrungsprofile, deren Gestaltungsprinzipien nicht ohne weiteres zu überblicken sind. Von ähnlich einschneidender Bedeutung für die Frequenz der erzeugten Schwingung sind der Einlaß- und der Auslaßquerschnitt der Bohrung. Eine Verringerung einer oder auch beider Öffnungen verursacht ebenfalls eine Frequenzabsenkung, da die Verbindung – und somit auch der Austausch – mit der äußeren Atmosphäre mehr oder weniger stark eingeschränkt sein kann und ein vollständiger Druckausgleich zwischen Röhre und Umgebung so unter Umständen nicht mehr stattfindet. Bereits seit den Forschungsarbeiten des Engländers Lord Rayleigh vor über 100 Jahren10 sind die wesentlichen Grundzüge für die Gestaltung von Bohrungsprofilen bekannt. Arthur H. Benade führt diese in seinem Standardwerk Fundamentals of Musical Acoustics detaillierter aus: A localized enlargement of the cross section of an aircolumn (a) lowers the natural frequency of any mode having a large pressure amplitude (and therefore small flow) at the 8 λ = Wellenlänge 9 A. H. Benade, Physics of Wood Winds, a. a. O., S. 270. 10 Siehe J. W. S. Rayleigh, The Theory of Sound, Vol. II, London 1878. Thomas Lerch position of the enlargement, and (b) raises the natural frequency of any mode having a pressure mode (and therefore large flow) at the position of the enlargement11. Wie aus Arthur H. Benades Aussage klar zu ersehen ist, haben Querschnittsveränderungen der Bohrung je nach Position und Größenordnung unterschiedliche Wirkung auf die Stimmung des Instruments. Doch nicht nur die Stimmung der verschiedenen Teiltöne wird unterschiedlich, teilweise gleichzeitig gegensätzlich beeinflußt. Auch das Klangspektrum, welches durch die außerhalb der Instrumentenröhre gemessene Schalldrücke der einzelnen Teiltöne definiert ist, verändert sich, je nach Lage und Abmessung von Bohrungsmanipulationen. Da sich die Bohrungsprofile von Blockflöten verschiedener Epochen deutlich voneinander unterscheiden, liegt es nahe, auf unterschiedliche Klangspektren zu schließen. Doch welcher Art waren diese Unterschiede? Versuchsaufbau und -ergebnisse Um die Einflüsse der Bohrungsgestaltung messen zu können, wurde eine Versuchsreihe durchgeführt. Der Versuchsaufbau sah wie folgt aus: Eine Blockflöte wird durch einen Windmotor angeblasen, um reproduzierbare und vor allem konstante Voraussetzungen zu gewährleisten. Der für das Anblasen relevante Winddruck wird vor dem Eintritt in den Windkanal mit einer Windwaage kontrolliert und mit Hilfe einer elektronischen Drehzahlsteuerung des Windmotors auf einem konstanten Niveau gehalten. Ein ellipsoider Fremdkörper mit den Ausmaßen d:12,5 mm; l:16,5 mm wird durch die Bohrung geführt, so daß sich am Ort des Fremdkörperschwerpunktes eine Verringerung der Querschnittsfläche um ca. 41 % ergibt. Gleichzeitig werden die akustischen Veränderungen mit Hilfe eines Gerätes zur Messung akustischer Spektren (FFT-Analyse) dargestellt und protokolliert. Die verwendete Blockflöte besaß eine zylindrische Bohrung und wurde für diesen speziellen Zweck angefertigt. Die Maße: DBL dbbl Aufschnitt H Aufschnitt B d unten Tonhöhe e'[Hz] SL 11 34,3 19,0 4,0 11,9 19,0 329,5 468,5 = Außendurchmesser am oberen Aufschnittende = Innendurchmesser am oberen Aufschnittende = Aufschnitthöhe = Aufschnittbreite = Bohrungsdurchmesser am unteren Flötenende = Grundton / 1. Teilton = klingende Länge A. H. Benade, Fundamentals of Musical Acoustics, New York 1976, S. 474 ff. Der Klang historischer Blockflöten Der Verzicht auf einen anblasenden Menschen geschieht nicht in der illusorischen Annahme, objektive Ergebnisse erzielen zu können. Da für die Ermittlung der Einflüsse von Bohrungsveränderungen auf das Spektrum jedoch eine große Anzahl von Messungen durchgeführt werden muß, ist ein konstanter Anblasdruck unabdingbar. Dies kann von einem Flötisten nicht über den erforderlichen langen Zeitraum und mit ausreichender Wiederholgenauigkeit geleistet werden. Ausschlaggebend für die Tauglichkeit des Versuchsaufbaus ist nicht die Schaffung von Verhältnissen, die die Abläufe während des Musizierens imitieren, sondern die erzielbare Vergleichbarkeit der Messungen untereinander. Bei den in der oben dargestellten Versuchsreihe durchgeführten Querschnittsverringerungen verhält sich der Schalldruck des Grundtones, also des 1. Teiltones, im wesentlichen neutral; er schwankt nur um maximal 3,3 db (72,1 db–75,4 db) und kann als nahezu konstant betrachtet werden. Bedeutender sind hingegen die Veränderungen des Schalldruckes der Teiltöne 2 und 3: Für den 2. Teilton konnte eine maximale Schalldruckspanne in Höhe von 21,7 db (48 db–69,7 db) und für den 3. Teilton 9,7 db (60 db–69,7 db) gemessen werden. Das Verhältnis der einzelnen Teiltöne zueinander veränderte sich abhängig von Ort und Größe der Querschnittsverringerung in der Schallröhre. Eine besondere Bedeutung gewinnt diese Beobachtung dadurch, daß derartige Schalldruckveränderungen zu einem wesentlich anderen Klangcharakter des auf dem 1. Teilton aufbauenden Spektrums führen. Während der in einer unveränderten zylindrischen Flötenröhre erzeugte Klang, bezogen auf den 1. bis 3. Teilton, die Struktur [– 1. TT 72,7 db, 2. TT 53,8 db, 3. TT 69,6 db –] aufweist, führen Querschnittsverringerungen bei 12 % SL zu den Spektren – 1. TT 72,7 db, 2. TT 69,7 db, 3. TT 61 db – und bei 48 % SL – 1. TT 72,1 db, 2. TT 48,3 db, 3. TT 69,1 db –. Hieraus läßt sich ablesen, daß es sich dabei um sehr verschiedene, fast sogar „gegensätzliche“ Klangeindrücke handelt. Grundsätzlich können dabei zwei Extreme unterschieden werden: I. dominanter 1. Teilton mit starkem 2. Teilton und schwächerem 3. Teilton (im folgenden oktavialer Klang genannt); II. dominanter 1. Teilton mit starkem 3. Teilton und schwächerem 2. Teilton (duodezimaler Klang12). Für den Aufbau und die Zusammensetzung eines Klangspektrums ist eine Vielzahl instrumentenbautechnischer Details verantwortlich. Neben den bisher für die verwendeten Korrekturen erwähnten Faktoren spielen in diesem Zusammenhang unter anderem die relative Weite des Flötenrohres (Verhältnis des Innendurchmessers zur klingenden Länge), das Längsprofil und der Querschnitt des Windkanals – besonders des Windkanalausgangs – sowie der An- 12 Vergleiche S. Kolberg, Figurazione II. Eine Einführung in die Blockflötenbautechnik, Oslo 1987, S. 12 ff. Thomas Lerch blasdruck eine entscheidende Rolle. Eine rechnerische Erfassung der Schalldruckveränderungen in Abhängigkeit zum Querschnittverlauf einer Flötenbohrung ist nur unter Berücksichtigung dieser weiteren Variablen möglich. Diese sind jedoch bei historischen Instrumenten nur selten meßbar13. Es soll daher für die Beurteilung des Klangverhaltens phänomenologisch vorgegangen werden. Das heißt, die Untersuchung wird sich ausschließlich mit dem Bohrungsprofil der Blockflöte beschäftigen. Durch die Beschränkung der durchgeführten Analysen auf die Flötenröhre werden zwar einzelne klangprägende Faktoren außer acht gelassen, so daß eine abschließende Beurteilung des Klangspektrums nicht möglich ist; da die Röhre bei den bohrungsdominierten Blasinstrumenten jedoch einen entscheidenden Einfluß auf das akustische Verhalten ausübt, können zumindest Tendenzen im Klangverhalten aufgezeigt werden. Überprüft man das akustische Verhalten des verwendeten Versuchsmodells in bezug auf fortlaufende partielle Querschnittsverringerungen, vom unteren Röhrenende ausgehend, so ergibt sich das folgende Diagramm: Grafik 1: Spektrum 13 Für die genaue Erfassung des Windkanalprofils sind noch keine hinreichend genauen und praktikablen Meßmethoden bekannt. Die Vorgänge vor allem an den Abrißkanten des Windkanalausgangs sind noch vollständig unerforscht. Der Klang historischer Blockflöten Die unbeeinflußte zylindrische Blockflöte als Ausgangssituation erzeugt ein Klangspektrum duodezimaler Ausprägung, wobei der 1. Teilton den höchsten Schalldruckwert aufweist, der 3. Teilton jedoch nur wenig schwächer ist. Der 2. Teilton zeigt einen deutlich niedrigeren Schalldruck, dieser liegt bei etwa 2/3 des 1. Teiltones. Ähnliche Spektren mit teilweise noch stärker ausgeprägtem duodezimalen Charakter können mit Verengungen im Bereich zwischen 35 % SL und 75 % SL erzeugt werden. Hierbei sinken die Schalldruckwerte des 3. Teiltones unter die des unbeeinflußten Klangspektrums ab: Verengung bei 35 % SL = 63,5 db; bei 48 % SL = 69,1 db; bei 75 % SL = 64,2 db. Vom unteren Röhrenende ausgehend bis hin zu 35 % SL, ergeben Querschnittsverringerungen eine Steigerung des Schalldruckes für den 2. Teilton bei gleichzeitiger Senkung der Intensität des 3. Teiltones. Das Maximum dieser Auswirkung liegt bei 12 % SL. Davor und dahinter steigen die Werte kontinuierlich an bzw. fallen ab. Erst bei Verengungen oberhalb von 35 % SL wird der „neutrale“ Ausgangsschalldruck des 2. Teiltones (gemessen ohne Beeinflussung) unterschritten. In diesem genannten Bereich kann durch gezielte Bohrungsmanipulationen ein oktavialer Klang erzwungen werden. Das Klangbild des 2. und 3. Teiltones ist diesen Beobachtungen zufolge in den genannten Bereichen im Prinzip gegenläufig14. Oberhalb 70 % SL nähert sich der 2. Teilton immer weiter dem 3. Teilton an, so daß von 79 % SL an trotz Schwankungen der Schalldruckwerte ein neutrales Klangbild mit starkem Grundton und zwei gleichwertigen Obertönen erreicht werden kann. Die Auswirkungen der Querschnittsverringerungen in der Flötenröhre können leicht beurteilt werden, wenn man die Differenz der Schalldruckwerte zwischen dem 2. und dem 3. Teilton betrachtet. Darüber hinaus ist eine Zerlegung des Blockflötenkopfes, wie sie für eine detaillierte Untersuchung des Windkanals unumgänglich wäre, nicht ohne Risiken für viele alte Instrumente. Daher wurde im Rahmen der durchgeführten Studie von derartigen Maßnahmen abgesehen. 14 Ausgangswert 2. TT 53,8 db 3. TT 69,6 db Maximum 12 % SL/69,65 db 48 % SL/69,1 db Minimum 46 % SL/47,95 db 11 % SL/60,05 db Thomas Lerch Grafik 2: Teiltöne 2 – 3 Entstehen durch die Subtraktion der Schalldruckwerte (2. Teilton – 3. Teilton) positive Werte, so dominiert der 2. Oberton – ein oktaviales Klangbild liegt vor. Umgekehrt zeigen negative Werte ein duodezimales Klangbild an. Der Graph dieser Rechenoperation kann sehr einfach durch drei Geraden mit unterschiedlicher Steigung definiert werden. Diese Berechnungen lassen sich relativ problemlos auf vorgefundene historische Mensuren übertragen, und es können so Kurven für das zu erwartende Verhalten der Teiltöne 2 und 3 zueinander aufgestellt werden. Diese Kurven des Klangverhaltens, im folgenden kurz K-Kurven genannt, können dazu herangezogen werden, Blockflöten tendenziell im Hinblick auf ein vom Instrumentenmacher intendiertes Klangbild hin zu beurteilen. Das entwickelte Berechnungsverfahren Aus den oben angeführten Experimenten konnte geschlossen werden, daß die K-Kurve sich aus drei Geraden mit unterschiedlicher Steigung zusammensetzt. Vom unteren Bohrungsausgang betrachtet, verläuft die K-Kurve wie folgt: Die erste Gerade beginnt bei einem negativen Wert und steigt zu einem Der Klang historischer Blockflöten positiven Maximum, die zweite Gerade weist von dort ein Gefälle zum negativen Minimum auf, die dritte Gerade steigt wieder zu positiven Werten an. Der ersten Geraden können die Meßpunkte der Bohrung von 0–11,74 % SL zugeordnet werden, der zweiten die von 11,74–48,03 % SL und der dritten diejenigen von 48,03–97,12 % SL. Der Abstand zwischen Maximum und Minimum wurde mit dem Wert 1 angesetzt. Umgerechnet lag der Startwert der ersten Geraden, den vorausgegangenen Messungen zufolge, bei -0,314. Das darauffolgende Maximum lag bei 0,295. Die daraus resultierende Steigung beträgt 0,0519 Punkte pro hundertstel SL. Vom Maximum ausgehend, werden zum Erreichen des Minimums 36,29 % SL benötigt, so daß sich hieraus eine Steigung von 0,0276 Punkten je hundertstel SL errechnet. Die letzte Gerade beginnt beim Minimum -0,705 und besitzt eine Steigung von 0,0161. Mittels dieser Geraden kann der Einfluß von Bohrungsveränderungen an jedem Punkt der Schallröhre in seiner Tendenz berechnet werden. Die Gestalt des Klangspektrums hängt jedoch ebenso wie das Stimmungsverhalten der Teiltöne nicht nur vom Ort, sondern vor allem auch von der Größe der Querschnittveränderung ab. Aus diesem Grund wird das Klangverhalten für jeden Meßpunkt der Bohrung berechnet, indem der Grad der Bohrungsveränderung, dvrel, mit dem jeweils gültigen Wert der K-Kurve multipliziert wird. In diesem Fall ergibt die Summe aller dieser Werte eine Größe, die zur Beurteilung des Instruments herangezogen werden kann und im folgenden K-Wert genannt wird. (a x x + S) x dvrel 15 Wenn der K-Wert ein positives Vorzeichen aufweist, überwiegt die Verstärkung des 2. Teiltones (oktavialer Klang), bei einem negativen Vorzeichen ist die schalldruckverstärkende Wirkung für den 3. Teilton stärker, so daß dieser dominiert (duodezimaler Klang). Die vorliegenden Ergebnisse legen es nahe, bei K-Werten < -0,5 K eindeutig vom duodezimalen Klangbild zu sprechen. Für K-Werte > -0,5 K wird im folgenden der Begriff „oktaviale Tendenz“ angewandt; Instrumente mit K > 0 erzeugen einen eindeutig oktavialen Klang. 15 a = Steigung; x = Ort [% SL]; S = Startwert Für x = 0–11,74 % SL: a = 0,0519; S = -0,314; für x = 11,74–48,03 % SL: a = -0,0276; S = 0,295; für x = 48,03–97,12 % SL: a = 0,0161; S = -0,705. Thomas Lerch Die Anwendung der theoretischen Klangvorhersage Um den praktischen Nutzen dieser Methode zu demonstrieren, sollen im folgenden ausgewählte Blockflöten des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz beschrieben und deren Klangwerte verglichen werden16. Abb. 1: Tenorblockflöten, „HD“, vor 1634 Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Inv.-Nr. 659 und 660 (Foto: Jürgen Liepe) 16 Eine ausführliche Darstellung der Möglichkeiten zur Berechnung von Klang- und Stimmungswerten findet sich in: T. Lerch, Vergleichende Untersuchung von Bohrungsprofilen historischer Blockflöten des Barock, Berlin 1996. Dort werden über 60 Blockflöten eingehend analysiert und deren Bedeutung für die musikalische Entwicklung erläutert. Der Klang historischer Blockflöten Zu den ältesten erhaltenen Instrumenten des Staatlichen Instituts für Musikforschung gehört das mit „HD“ signierte Blockflötenpaar, Akzessionsnr. 659 und 660, aus der St. Wenzelskirche in Naumburg17. Diese beiden Tenorinstrumente sind aus Ahorn und wurden vor 1658 hergestellt. Die Bohrung der Blockflöte Nr. 660 weist typische Merkmale vorbarocker Holzblasinstrumente auf. Sie ist in ihrer Gestaltung durchaus mit den Instrumenten Hieronimus Franziskus Kynsekers vergleichbar18. Derartige Bohrungsmensuren bestehen im wesentlichen aus einer Kombination von wenigen zylindrischen Röhrenabschnitten. Grafik 3: SIM 660 Besondere Bedeutung gewinnt dieses Instrumentenpaar jedoch durch die Tatsache, daß hier nebeneinander zwei wesentlich unterschiedliche Mensurkonzeptionen und somit auch Klangvorstellungen realisiert wurden. Die zugehöri- 17 D. Krickeberg, Die alte Musikinstrumentensammlung der Naumburger St. Wenzelskirche im Spiegel ihrer Verzeichnisse, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1977, Kassel 1978, S. 7–30. 18 Vergleiche hierzu E. Nickel, Der Holzblasinstrumentenbau in der Freien Reichsstadt Nürnberg, München 1971 (= Schriften zur Musik, Bd. 8), S. 187 ff. Thomas Lerch ge zweite Blockflöte, Nr. 659, stammt vermutlich ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert und trägt neben der Signatur „HD“ einen Stempel in Form eines dreiblättrigen Kleeblattes mit nach links gebogenem Stiel. Im Gegensatz zu Nr. 660 ist die Bohrung dieser Blockflöte geprägt durch einen unregelmäßigen umgekehrten Konus, dessen Minimum sich ungefähr beim siebten Tonloch befindet und der sich am unteren Bohrungsausgang wieder erweitert. Grafik 4: SIM 659 Die Betrachtung der errechneten K-Werte ist erwartungsgemäß aufschlußreich: Nr. 660 -0,37 K Nr. 659 -0,61 K Während die Blockflöte 660 einen oktavial geprägten Klangeindruck hervorruft, ist das Spektrum von Nr. 659 eindeutig duodezimal. Es stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser klanglichen Gestaltung. Wenn auch nicht sicherzustellen ist, daß beide Instrumente zur gleichen Zeit entstanden sind, so dürfte zumindest die Fertigstellung beider Blockflöten nicht allzuweit auseinander liegen19. In jedem Fall sind sie als Instrumentenpaar gedacht. Es drängt sich die Annahme auf, daß hier bereits eine Arbeitsteilung in ein „erstes“ und „zweites“ Instrument vorliegt. Während eine Der Klang historischer Blockflöten Flöte die Begleitung übernimmt, wird der anderen die führende Stimme zugewiesen. In dieser Zusammenstellung zeichnen sich bereits erste Ansätze der musikalischen Auffassung des 18. Jahrhunderts ab. Aus dem Ensemble lösen sich Instrumente heraus, die aufgrund ihrer neuen Aufgabe als Soloinstrumente ein neues Klangideal erfordern. Dies spiegelt sich in deutlicher Weise im Klangcharakter der beiden Blockflöten wider. Das „solistisch“ orientierte Instrument zeigt eine duodezimale Tendenz, während der Klang der zweiten Flöte, Nr. 660, eher oktavialen Charakter besitzt20. In diesem Zusammenhang macht auch die bauliche Gestaltung der Flöte für die zweite Stimme Sinn: Das Labium der Blockflöte Nr. 660 ist auf der Rückseite angeordnet. Die Schallabstrahlung erfolgt somit zumindest teilweise nicht in Richtung des Zuhörers, sondern wird auf den Spieler gelenkt, wo durch die Kleidung gedämpft nur eine unvollständige Reflexion erfolgt. Um die Klangdaten dieser beiden Instrumente im historischen Zusammenhang beurteilen zu können, soll im folgenden der K-Wert einer Blockflöte Johann Christoph Denners, der als radikaler Wegbereiter des barocken Klangideals betrachtet werden muß, erläutert werden. Denner wurde 1655 in Leipzig geboren und kam 1666 mit seinen Eltern nach Nürnberg. Dort erwarb er 1697 das Meisterrecht. Bei dem obengenannten Instrument handelt es sich um die elfenbeinerne Altblockflöte, die heute die Akzessionsnummer 5428 trägt. Diese Blockflöte befand sich früher im Besitz von F. J. Giesbert aus Neuwied und wurde 1987 über einen Zwischenhändler (der eine unsachgemäße Reparatur des Labiums veranlaßte) vom Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung erworben. Die Zuschreibung des Instruments bezieht sich auf ein bei Ekkehart Nickel (siehe unten) beschriebenes Schlingenmonogramm und ein auf das Kopfstück graviertes „D“, welches unter Umständen als Werkstattzeichen interpretiert werden kann21. Letzteres ist heute vollständig verschwunden (unter Umständen im Zusammenhang mit jener 19 Siehe hierzu D. Krickeberg, Die alte Musikinstrumentensammlung der Naumburger St. Wenzelskirche im Spiegel ihrer Verzeichnisse, a. a. O., S. 7 ff. M. Kirnbauer und D. Krickeberg, Untersuchungen an Nürnberger Blockflöten der Zeit zwischen 1650 und 1750, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1987, Nürnberg 1987, S. 245 ff. 20 Diese Arbeitsteilung läßt sich auch bei anderen frühen Blockflötenpaaren beobachten. Die beiden mit „Hasenohren“ signierten Blockflöten des Museo Civico, Bologna (Nr. 1768 und 1815) sind mit unterschiedlich weiten Mensuren erhalten, was ebenfalls auf verschiedene klangliche Intentionen schließen läßt. (Freundliche Mitteilung von Rainer Weber, Bayerbach) 21 Vergleiche M. Kirnbauer, Überlegungen zu den Meisterzeichen Nürnberger „Holzblasinstrumentenmacher“ im 17. und 18. Jahrhundert, in: Tibia 1992, 1. Heft, S. 9 ff. Thomas Lerch oben erwähnten Reparatur). Die wenigen Überreste des Schlingenmonogramms sind nur noch mit Mühe zu erkennen. Demnach muß diese Blockflöte nach 1697 angefertigt worden sein. Darüber hinaus schreibt Nickel: Frappierend ist die formale Übereinstimmung des Fußstücks mit dem ebenfalls unsignierten Fußstück einer in derselben Sammlung befindlichen elfenbeinernen Flöte von J. B. Gahn. Das Fußstück des Gahn-Instruments ist lediglich etwas schlanker und kürzer gehalten als das des Denner-Instruments (...); die drechslerische Gestaltung aber ist dieselbe. Es kann kein Zweifel bestehen, daß diese beiden Teile einer (sic!) Werkstatt entstammen22. Der Zweifel an der Urheberschaft des Fußstücks wird durch mehrere Details untermauert. Einerseits ist die Bohrung des Fußstücks nahezu vollständig zylindrisch, und zweitens ist das Kleinfingerloch so ungünstig angeordnet, daß es vermutlich zu Intonationszwecken bis ins Herz erweitert und darüber hinaus sogar der Zapfen des Mittelstücks ausgeschnitten werden mußte, um die Funktion des Tonloches zu gewährleisten. Dies sind Indizien, die sich nicht mit der perfektionistischen Arbeitsweise Johann Christoph Denners, wie sie bei anderen Instrumenten aus seiner Werkstatt zu beobachten ist, in Einklang bringen lassen. Abb. 2: Altblockflöte von Johann Christoph Denner, Nürnberg, um 1700 Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Inv.-Nr. 5428 (Foto: Jürgen Liepe) 22 E. Nickel, Der Holzblasinstrumentenbau in der Freien Reichsstadt Nürnberg, a. a. O., S. 218 f. Der Klang historischer Blockflöten Ein Vergleich mit drei weiteren Altblockflöten von Johann Christoph Denner ergab aufgrund vielfältiger technischer Details, daß es sich bei dem Fuß in jedem Fall um eine jüngere Ergänzung handeln muß23. Der K-Wert für diese Blockflöte liegt bei -0,93. Das Klangspektrum dieses Instruments geht damit in seiner duodezimalen Gestaltung weit über die beiden obengenannten Tenorblockflöten hinaus. Gleichzeitig muß darauf hingewiesen werden, daß dieser K-Wert im Vergleich zu anderen untersuchten Blockflöten eher zurückhaltend erscheint. In Anbetracht des nicht zugehörigen Fußstücks ist daher durchaus eine noch radikalere Absicht in Fragen der Klanggestaltung für Johann Christoph Denner wahrscheinlich. Wie verhalten sich andere Holzblasinstrumentenbauer im 18. Jahrhundert? Johann Wilhelm Oberlender (*1681 in Nürnberg, †1763)24 war ebenfalls ein repräsentativer Vertreter des deutschen Holzblasinstrumentenbaus im 18. Jahrhundert. Seine Instrumente genossen ebenso wie die Johann Christoph Denners einen hervorragenden Ruf weit über die Grenzen Nürnbergs hinaus. Und so ist es nicht verwunderlich, daß auch aus der Werkstatt Oberlenders zahlreiche, handwerklich sehr anspruchsvoll gearbeitete Blockflöten erhalten sind. Im Besitz des Musikinstrumenten-Museums des Staatlichen Instituts für Musikforschung befindet sich eine Altblockflöte aus Elfenbein (Nr. 5341). Obwohl das Instrument sehr schlank gearbeitet ist, sind die Proportionen für Oberlenders Schaffen nicht ungewöhnlich. Lediglich das Aufschnittmaß ist ausgesprochen klein (11,5 mm Breite, 3,5 mm Höhe), und der Anteil der Fußbohrung an der Gesamtmensur ist etwas geringer ausgefallen als bei vergleichbaren Instrumenten. Die im Mittelstück etwas enger angelegte Bohrung erklärt unter Umständen den kleinen Aufschnitt und deutet auf ein eher zartes Instrument hin. In der Tat manifestiert sich dies in der ausgeprägt duodezimalen Klanggestaltung mit dem K-Wert von -1,14. Derartige Klangspektren haben ein sehr prägnantes Timbre und erhalten ihre Tragfähigkeit in erster Linie durch die Reibung zwischen erstem und drittem Teilton und nicht so sehr durch Lautstärke. Wie verhielt es sich mit barocken Blockflöten außerhalb des deutschen Sprachraumes? Besondere Bedeutung gewinnen die Instrumente Peter Bressans durch seine Verbindung zu Frankreich. Er wurde 1663 in Frankreich unter dem Namen 23 Siehe T. Lerch, Vergleichende Untersuchung von Bohrungsprofilen historischer Blockflöten des Barock, a. a. O., S. 130 ff. 24 Zur Familie Oberlender gehörten vermutlich mehrere Instrumentenmacher. Daher ist die Zuschreibung der Objekte zu den einzelnen Familienmitgliedern nicht unproblematisch. Siehe hierzu M. Kirnbauer, Überlegungen zu den Meisterzeichen Nürnberger „Holzblasinstrumentenmacher“ im 17. und 18. Jahrhundert, a. a. O., S. 18. Thomas Lerch Pierre Jaillard geboren und wanderte 1683 nach England aus, wo er 1731 starb. Nach Maurice Byrne25 absolvierte Peter Bressan seine Lehrzeit unter dem gleichen Meister wie Jean-Jacques Rippert, der später nahezu zeitgleich mit Hotteterre le Romain in Paris arbeitete. Da auch bekannt ist, daß Johann Christoph Denner zumindest indirekt französischen Einflüssen ausgesetzt war26, soll untersucht werden, inwieweit sich diese Einflüsse in der Klanggestaltung der Instrumente der selbständigen Instrumentenmacher widerspiegeln bzw. wie sich die Instrumente voneinander unterscheiden lassen. Im Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung ist eine Altblockflöte von Peter Bressan erhalten. Sie ist aus Buchsbaum und verfügt über eine vierteilige Elfenbeingarnitur, das heißt Korpusabschnitte an Kopf und Fuß wurden mit gedrechselten Elfenbeinmanschetten versehen. Das Instrument trägt die Akzessionsnummer 2801. Ihr K-Wert ist mit -0,72 deutlich größer als der bei der Elfenbeinblockflöte Johann Christoph Denners festgestellte Wert. Auch der ebenfalls in Nürnberg arbeitende Oberlender hat offensichtlich bei seiner im Musikinstrumenten-Museum erhaltenen Flöte einen niedrigeren K-Wert bevorzugt. Bereits diese wenigen Beispiele verdeutlichen, daß die auf der Basis der vorgefundenen geometrischen Gegebenheiten erhaltener Blockflöten errechneten Klangdaten durchaus eine Hilfe für die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem historischen Instrumentenbau darstellen. Betrachtet man die errechneten Daten der Instrumente im Rahmen größerer Untersuchungen, so können durchaus regionale und zeitlich begrenzte Strömungen beobachtet und gegeneinander abgegrenzt werden. So ergibt sich unter der Berücksichtigung weiterer Instrumente27 das folgende Bild: Die Veränderungen in der Musik des Hochbarock beschränken sich demzufolge nicht auf die rein musikalischen Stilmittel, sondern spiegeln sich offensichtlich auch in den erhaltenen Klangwerkzeugen wider. Auch wenn in Klangfragen in Abhängigkeit vom jeweiligen Instrumentenmacher und vom Herstellungsort Unterschiede zu verzeichnen sind, kann dennoch eindeutig festgestellt werden, daß nahezu ausschließlich Blockflöten mit duodezimalem Klangcharakter für die Kunstmusik des 18. Jahrhunderts Verwendung fanden. 25 M. Byrne, Pierre Jaillard, Peter Bressan, in: Galpin Society Journal 36, 1983, S. 2 ff. 26 Siehe T. Lerch, Vergleichende Untersuchung von Bohrungsprofilen historischer Blockflöten des Barock, a. a. O., S. 83 ff. Aus J. C. Denners Gesuch um die Verleihung des Meisterrechts an den Rat der Stadt Nürnberg geht unter anderem hervor, daß ihm die „neuen“ Flöten aus Frankreich bekannt waren. Vergleiche hierzu E. Nickel, Der Holzblasinstrumentenbau in der Freien Reichsstadt Nürnberg, a. a. O., S. 200 ff. 27 Siehe hierzu T. Lerch, Vergleichende Untersuchung von Bohrungsprofilen historischer Blockflöten des Barock, a. a. O., S. 83 ff. Der Klang historischer Blockflöten Dieser spannungsreiche Klang kam scheinbar den besonderen Anforderungen der Musiker und Komponisten in hohem Maß entgegen. In diesem Zusammenhang muß gefragt werden, ob entweder die Komponisten die Instrumentenmacher zu neuen Entwicklungen herausforderten oder ob der Instrumentenbau zunächst die Voraussetzungen für eine andere Kompositionsweise lieferte. Natürlich lassen sich derartige Fragestellungen nicht endgültig und eindeutig beantworten. Bezeichnend ist jedoch, daß Instrumentenmacher, die an gravierenden Veränderungen beteiligt waren, immer auch als hervorragende Musiker bekannt waren28. Die Betrachtung der Geschichte der Instrumentenbautechnik legt daher den Schluß nahe, daß sich die technische und die musikalische Entwicklung in ständiger Wechselwirkung gegenseitig befruchtet haben. Johann Christoph Denner kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung der barocken Blockflöte zu. Er war ebenso wie die Mitglieder der Familie Hotteterre29 nicht nur Instrumentenmacher, sondern auch ausübender Musiker und Musikpädagoge, dessen Fähigkeiten über die Grenzen Nürnbergs hinaus anerkannt waren30. Aus diesem Grund waren ihm die „aktuellen“ Kompositionen seiner Zeit – soweit möglich – und die daraus erwachsenden musikalischen Anforderungen an die Blockflöte bekannt. Mit den Blockflöten des „alten“ Typs der Instrumentenmacher vorangegangener Generationen sah sich Johann Christoph Denner während seiner Lehrzeit konfrontiert. Während seiner Jugend lernte er mit großer Wahrscheinlichkeit die Praxis des mehrchörigen Musizierens, wie sie ja zu dieser Zeit zum Beispiel durch die Kompositionen von Heinrich Schütz (1585–1672) belegt ist, ausgiebig kennen. Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts erlebte er dann die Entwicklung des konzertierenden Stils. Dieser musikalische Umbruch prägte den Beginn seiner beruflichen Laufbahn. Johann Christoph Denner konnte, basierend auf der langjährigen Instrumentenbaupraxis Nürnberger Holzblasinstrumentenmacher und angeregt durch die „französischen“ Instrumente, die 28 Man betrachte zum Beispiel die Biographie Theobald Boehms, der unter anderem zwischen 1820 und 1832 als Flötist am Hoftheater in München tätig und als reisender Flötenvirtuose unterwegs war. Siehe hierzu M. H. Schmid, Die Revolution der Flöte – Theobald Boehm 1794 bis 1881, Tutzing 1981, S. 11 ff. Ebenso: K. Ventzke, Die Boehmflöte. Werdegang eines Musikinstruments, Frankfurt am Main 1966. 29 Siehe hierzu Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, Kassel Basel 1957, S. 783 ff., und T. Lerch, Vergleichende Untersuchung von Bohrungsprofilen historischer Blockflöten des Barock, a. a. O., S. 16. 30 E. Nickel, Der Holzblasinstrumentenbau in der Freien Reichsstadt Nürnberg, a. a. O., S. 193, S. 203 ff. und S. 449. Thomas Lerch sich verändernden Anforderungen, wie er sie in seiner Praxis als Musiker erlebte, in die Weiterentwicklung des barocken Blockflötentyps umsetzen. Bezeichnend für Johann Christoph Denner ist die Radikalität in Klangfragen, welche sich auch in der obengenannten Blockflöte widerspiegelt. Alle seine erhaltenen Instrumente manifestieren gleichsam einen Gegenpol zu den Holzblasinstrumenten der vorangegangenen Epoche. Das aktive Teilhaben an den Veränderungen der Musizierpraxis – sowohl in bezug auf die Kompositionen als auch auf die instrumentalen Voraussetzungen – und die Vorreiterrolle als Entwickler von Instrumenten mag zu dieser Radikalität geführt haben. In diesem Sinne wird die Nürnberger Tradition auch durch die Werkstatt Oberlender fortgeführt. Auch deren erhaltene Blockflöten zeichnen sich durch überdurchschnittlich duodezimale K-Werte aus, wie auch bei dem in diesem Aufsatz berücksichtigten Instrument unschwer zu erkennen ist. Abb. 3: Altblockflöte von Johann Wilhelm Oberlender d. Ä., Nürnberg vor 1763 Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Inv.-Nr. 5341 (Foto: Jürgen Liepe) Der Klang historischer Blockflöten Einen Gegenpol bilden die Instrumente Peter Bressans. Er gilt als der Begründer des englischen Blockflötenbaus31. Die Tatsache, daß Peter Bressan unter dem gleichen Meister wie Jean-Jacques Rippert arbeitete, gewinnt im Zusammenhang mit den durchschnittlichen K-Werten (-0,78) aller von mir unter- Abb. 4: Altblockflöte von Peter Bressan, London vor 1731 Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Inv.-Nr. 2801 (Foto: Jürgen Liepe) 31 E. Halfpenny, Biographical Notices of the early English Woodwind-making School, in: Galpin Society Journal 12, 1959, S. 44 ff. Siehe auch M. Byrne, Peter Bressan, in: The New Grove Dictionary of Musical Instruments, Bd. 1, London 1984, S. 269 f.; M. Byrne, Pierre Jaillard, Peter Bressan, a. a. O., S. 2 ff.; F. von Huene, Peter Bressan, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, London 1980, S. 263 f. Thomas Lerch suchten Bressan-Blockflöten32 an Bedeutung. Im Vergleich zu anderen Holzblasinstrumentenmachern seiner Zeit weisen Bressans Instrumente den am wenigsten ausgeprägten duodezimalen Klang auf. In Kenntnis der Herkunft Peter Bressans und unter Beachtung des Klangcharakters seiner Blockflöten drängt sich die Vermutung auf, daß die Grundlagen für die Entwicklung des barocken Blockflötentyps weiter zurückliegen, als bisher angenommen. Nicht die Familie Hotteterre, sondern jener unbekannte Meister, der unter anderem Peter Bressan und Jean-Jacques Rippert ausgebildet hat, könnte wesentliche Elemente dieses Instruments kreiert oder seine Schüler zumindest zu der Weiterentwicklung der Blockflöte angeregt haben. Jean-Jacques Rippert brachte seine Kenntnisse dann mit nach Paris und wirkte selbst stilbildend. In jedem Fall können bei der Betrachtung des erhaltenen Blockflöteninstrumentariums des Hochbarock zwei Richtungen beobachtet werden: einerseits die der in direkter Linie aus Frankreich stammenden oder dort wirkenden Instrumentenmacher, andererseits die der durch Johann Christoph Denner geprägten „Nürnberger Schule“. Der ersten Gruppe sind die Instrumente Hotteterres und Bressans zuzurechnen, die zweite Gruppe bildet den Gegenpol mit stark duodezimal orientierten Instrumenten, wie sie unter anderem von Johann Christoph Denner und der Werkstatt Oberlender erhalten sind. Fazit Nicht nur die theoretische Auseinandersetzung mit dem Holzblasinstrumentenbau hat gezeigt, daß die Entwicklung einer Methode zur Klangvorhersage sinnvoll ist. Auch oder gerade die Museumspraxis beweist die Notwendigkeit eines derartigen Berechnungsverfahrens. Besonders Holzblasinstrumente tragen Spuren des Gebrauchs, die eine weitere Verwendung – und sei es nur für ein kurzes Anspielen – zu einem unwägbaren Risiko machen. Mit der Klangvorhersage entfällt nun zumindest in der musikwissenschaftlichen Diskussion die Notwendigkeit für eine „Güterabwägung“, die in der Vergangenheit oft genug zuungunsten der Instrumente entschieden wurde. Darüber hinaus können nun auch unspielbare Instrumente analysiert und deren Daten gesammelt werden. Diese Datensammlungen können wertvolle Erkenntnisse für die Einordnung von bisher anonymen Instrumenten liefern33. 32 T. Lerch, Vergleichende Untersuchung von Bohrungsprofilen historischer Blockflöten des Barock, a. a. O., S. 106 ff und S. 237 ff. 33 So ist zum Beispiel eine ganze Reihe von Instrumenten Johann Benedikt Gahns unsigniert. Diese konnten bisher nur aufgrund äußerer Merkmale zugeschrieben werden. Die Klangdaten sowie die Analysen der Bohrungsgeometrie ermöglichen es nun, diese Zuschreibungen zweifelsfrei zu bestätigen. Siehe T. Lerch, ebenda, S. 146 ff. und 237 ff. Der Klang historischer Blockflöten Eine Übertragung des hier dargestellten Verfahrens auf andere Holzblasinstrumente dürfte ohne nennenswerte Schwierigkeiten möglich sein. Die Frage nach dem Klang der erhaltenen Instrumente kann damit in der Theorie beantwortet werden. Daß dies dem Musiker und Musikliebhaber nicht die sinnliche Erfahrung ersetzen kann, steht außer Frage. Im Bewußtsein der Einmaligkeit unserer erhaltenen historischen Tonwerkzeuge ist es unumgänglich, einen wirklich verantwortungsbewußten Umgang mit ihnen einzufordern. Literatur Arbeitsgemeinschaft der Restauratoren (AdR), Fachgruppe Musikinstrumente: Empfehlungen zur Behandlung Historischer Blasinstrumente in öffentlichen Sammlungen, Nürnberg o. J. A. H. Benade, Fundamentals of Musical Acoustics, New York 1976. On Woodwind Instrument Bores (1959), in: E. L. Kent (Hrsg.), Musical Acoustics, Vol. III, Stroudsburg 1977. Physics of Wood Winds (1960), in: Musical Acoustics. Piano and Wind Instruments, Stroudsburg 1977 (Benchmark Papers in Acoustics. 9). M. Byrne, Peter Bressan, in: The New Grove Dictionary of Musical Instruments, Bd. 1, London 1984. Pierre Jaillard, Peter Bressan, in: Galpin Society Journal XXXVI, 1983. M. 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