Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Geometrie 1830 Zwischen PESTALOZZIs ABC der Anschauung und EUKLIDs Elementen Antonia Zeimetz – Soest, 25. September 2010 Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Historiographie als anregende Verfremdung (FÜHRER) „Einen Vorgang oder einen Charakter zu verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtenden zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.“ BERTHOLD BRECHT Über experimentelles Theater − Inhalte (z.B. 2D/3D-Geometrie) und Methoden (z.B. Selbstthätigkeit) − Schlagworte zeitgenössischer Diskussionen − Ewige Hoffnungen Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz HARNISCH (1837), S. VII Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz „Los von EUKLID“ 1837? HARNISCH (1837), S. VI Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz PESTALOZZI nach TREUTLEIN (1911), S. 17, PESTALOZZI (1803), S. 1 und S. 18 Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz DIESTERWEG über PESTALOZZIaner SCHMID: DIESTERWEG (1838), S. 217 Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Welche inhaltlichen Änderungen sind mit der Abkehr von EUKLIDs Elementen verbunden? − (Propädeutische) Raumlehre „[…]allein sie [PESTALOZZIs Schüler] fassten, meiner Meinung nach die Sache zu einseitig auf, indem die zu sehr sich auf Strich- und FlächenAnschauung beschränkten; da doch diese erst durch die KörperAnschauungen einen wahren Hintergrund erhalten.“ HARNISCH (1837), S. XXV Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz DIESTERWEG (1828 und 1843): Raumlehre oder Geometrie nach den jetzigen Anforderungen der Didaktik Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz „[D]ie Durchsetzung jener mit entwickelnden Betrachtungen, die von allgemein räumlichen Gebilden ausgehen, ist in Deutschland noch fast unbekannt […]; vereinzelte dahin zielende Versuche in Buchdarstellungen sind bei uns fast völlig unbeachtet geblieben. […] Die Zurückschiebung des Unterrichtes in Raumgeometrie gegen Ende des Schullehrganges […] ist heute noch wie vor hundert Jahren die allgemeine TREUTLEIN (1911), S. 72 Regel.“ Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Angewandte Geometrie HARNISCH (1837), S. XLVIII „Ueberhaupt habe ich mich bestrebt, […] Gesetze auf einzelne Fälle, Theorie auf Praxis folgen zu lassen, welches der alte natürliche Weg des Lebens ist. Denn die Geschichte der Mathematik zeigt es überall, dass die wichtigsten Entdeckungen bei sogenannten praktischen Versuchen gemacht wurden. Das können führt uns weit sicherer zum Wissen, als letzteres zum ersteren.“ HARNISCH (1837), S. XXVII Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Angewandte Geometrie konkret HARNISCH (1837), S. 181 f. − Die Höhe eines Gegenstands aus den Fenstern eines Hauses zu bestimmen. − Die Höhe eines Gegenstands zu bestimmen, dem man sich nur bis auf gewisse Weite nähern kann. − Die Entfernung zweier Gegenstände zu bestimmen, wenn man zu keinem kommen kann. DIESTERWEG (1843), S. 260 Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Welche Ansprüche stellt DIESTERWEG und inwieweit werden diese verwirklicht? − Mathematik als Prozess, Mathematik entdecken „Der synthetisch-syllogistischen Methode kommt es auf strengste Ableitung oder auf den Beweis an, der genetisch-organischen auf die freithätige Entdeckung der Wahrheit. Letztere ist die heuristische, und da die mathematische Wahrheit nicht äußerlich als ein fertiges Object wie Steine oder Geschichten, vorgefunden, sondern durch den Geist erzeugt wird, so steht die Forderung fest, daß der Schüler den mathematischen, also auch den geometrischen Inhalt finden solle.“ DIESTERWEG (1843), S. IV Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Welche Ansprüche stellt DIESTERWEG und inwieweit werden diese verwirklicht? − Mathematik als Prozess, Mathematik entdecken „Der synthetisch-syllogistischen Methode kommt es auf strengste Ableitung oder auf den Beweis an, der genetisch-organischen auf die freithätige Entdeckung der Wahrheit. Letztere „CAS ist die im heuristische, und da die Unterrichtsversuch Mathematikunterricht“ . mathematische Wahrheit nicht äußerlich als ein fertiges Object wie Steine Baden-Württembergischer Lehrplan gültig bis 2011: oder Geschichten, vorgefunden, sondern durch den Geist erzeugt wird, so steht die Forderung daß derbildende Schüler Funktion den mathematischen, also auch den „Um diefest, allgemein des Unterrichtsfaches geometrischen Inhalt finden solle.“ zu entfalten, möchte der vorliegende Mathematik wirksam Lehrplan dagegen die formal bestimmte Mathematik wie die S. IV DIESTERWEG (1843), anwendungs- und problemlöseorientierte Mathematik in gleicher Weise zur Geltung bringen. Unterrichtlich soll dies durch eine Akzentverschiebung weg von „Mathematik als Produkt” hin zu„Mathematik als Prozess” realisiert werden“ http://www.lehrer.uni-karlsruhe.de/~za242/casimu/ Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Vermittlung von Strategien DIESTERWEG (1838), S. 199 Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Konstruktionsaufgaben lösen vermöge der Ortslinienmethode Gegeben die Grundlinie und Höhe eines Dreiecks, sammt dem Winkel an der Spitze, das Dreieck zu konstruieren. DIESTERWEG (1843), S.282 Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Punkte werden als Schnittpunkte zweier Ortslinien gefunden. − Ortslinien werden durch das Fortlassen einer Bedingung gefunden. „n-1“-Strategie: WETH (1997) und POLYA (1949) Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Fortschritte in der Unterrichtsmethode „Der Lehrer soll nichts geben, was der Schüler finden kann. Er nennt also, wenn ein Lehrsatz zu finden ist, denselben gar nicht; er stellt nur die Bedingungen und Voraussetzungen fest und reizt in den Schülern den Trieb des Erkennenwollens. Suchen sie nun selbstthätig und finden sie die angestrebte Wahrheit, so werden sie dieselbe in Worte fassen.“ DIESTERWEG (1843), S. VI „Von passiven Aufnehmen oder gar von gedächtnismäßigen oder gedankenlosem Auswendiglernen darf nirgends auch nur eine Spur vorkommen.“ DIESTERWEG (1838), S. 195 Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz „[Wir werden] nicht wieder Kehrt machen in das traurige, leider noch nicht einmal überwundene Docententhum hinein.“ DIESTERWEG (1843), VIII http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,449250,00.html Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − „Behutsames Beweisen“ „Einem Anfänger im Denken – Jeder, welche eine Wissenschaft anfängt, ist ein Anfänger in dieser Species des Denkens – fehlt […] die intellectuelle Kraft, die logischen Feinheiten und Subtilitäten aufzufinden oder aufzufassen; der Scharfsinn entwickelt sich, wo er sich entwickelt, erst allmählig. Zuerst faßt der Lernende die Sache im Ganzen, gewissermaßen im Groben auf, und ihm scheint der Schluß oder eine Schlußreihe compact und streng, in welcher der Scharfsinnige noch Lücken und Mängel entdeckt. Uebersieht man dieß und verlangt von einem Anfänger die Schärfe und Genauigkeit im Denken und Beweisen wie von einem ausgebildeten Mathematiker, so muthet man ihm Unmögliches zu; er soll dann Dinge beweisen, an deren Gewissheit er gar nicht zweifelt, nicht zweifeln kann; man fördert nicht dadurch seinen Wahrheitssinn und die Luft zu derselben, sondern man zerstört sie .“ DIESTERWEG (1843), S. V Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Auffinden von Sätzen? DIESTERWEG (1843), S. 145 Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Schüler „entdecken“ Sätze? − Anmerkungen hierzu: „[…] vielmehr muß alles in Fragen und Aufgaben eingekleidet werden – der Schüler sucht und – findet den Lehrsatz am Ende des Suchens. Dann stellt er ihn auf und giebt die Gründe an, beweiset ihn.“ − „Man läßt zwei gerade Linien zeichnen, welche sich verlängert schneiden würden […], schneidet sie durch eine dritte gerade Linie und läßt die Schüler mit einander vergleichen.“ DIESTERWEG (1843), S. 146 Die 2. Auflage wurde Raumlehre, oder Geometrie wurde an vielen Stellen durch methodische Hinweise ergänzt. Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Beweise unterschiedlicher Strenge In jedem gleichschenkligen Dreieck sind die beiden Winkel gleich, welche den gleichen Seiten gegenüberstehen; oder: in jedem gleichschenkligen Dreieck sind die Winkel an der Grundlinie einander gleich. Auch die Winkel unter der Grundlinie, welche entstehen, wenn die beiden gleichen Schenkel über die Linie verlängert werden, sind gleich. Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Wenn , so ist und . i) wegen SWS wegen SWS d. h. die Winkel unter der Grundlinie sind einander gleich. Da 2 und 2 , folgt . d.h. die Winkel über der Grundlinie des gleichschenkligen Dreiecks sind gleich. DIESTERWEG (1843), S. 155 f. Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Lokales Ordnen „[…]Nicht systematisch zusammenhängende logisch-mathematische Folgerichtigkeit eines architektonisch ausgeführten Lehrgebäudes seiner ganzen Totalität nach, die über die Sphäre des Knaben hinausgeht, wohl aber strenge Schlußfolgerung im Einzelnen.“ DIESTERWEG nach SCHURIG, S. 491 Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz ii) Durch Errichten der Mittelsenkrechten entstehen zwei kongruente Dreiecke, somit sind die Winkel an der Grundlinie und folglich auch die Komplemente gleich. − Rückgriff auf die Anschauung − Reflexion und Legitimation anderer Argumentationsbasen Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Viele Sätze, wozu wir mühsame Beweise suchen […]sind reine Sache der Anschauung; Beweise verwirren nur, Anschauungen geben allein dabei das Grundlicht. HARNISCH (1838), S. XXV Beispiel: Paare von Stufenwinkeln an einer Doppelkreuzung sind genau dann gleich groß, wenn parallele Geraden vorliegen. Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz − Verschiedene Lösungswege Höchste Anzahl der Punkte, welche durch den Durchschnitt gerader Linien gebildet werden. a) Induktives Vorgehen 3 gerade Linien Die dritte gerade Linien durchschneidet möglicher Weise jede der beiden vorhergehenden; es entstehen also 2 Punkte mehr; dies giebt überhaupt 1 + 2 = 3 Punkte. 4 gerade Linien Die vierte Gerade Linie durchschneidet jede der 3 vorhergehenden; es entstehen also 3 Punkte mehr; dies gibt 1 + 2 + 3 = 6 Punkte. … Hieraus folgt die Regel: Um die höchste Anzahl aller möglichen Durchschnittspunkte einer gegebenen Anzahl gerader Linien zu finden, addirt man die Reihe der ganzen Zahlen von 1 an bis zu derjenigen Zahl, welche die Anzahl der Linien angiebt weniger eins. Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz b) Zählen Wären z.B. 6 gerade Linien gegeben, so könnte jede dieser 6 Linien von den fünf übrigen durchschnitten werden. Es entständen dadurch in jeder Linie 5 Punkte. Da nun die Zahl der Linien = 6 ist, so würden sechs mal 5 Punkte entstehen, aber jeder Punkt gehört zweien Linien an; deshalb ist in den 6 mal 5 Punkten jeder Punkt doppelt gezählt. Mann muß daher, um die einfache Zahl der möglichen Punkte zu finden, das Produkt 6 mal 5 durch 2 theilen. Dies giebt für 6 g.L. DIESTERWEG (1843), S. 50, 45 Aufgabenvariation: Umkehraufgabe Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Zum Schluss: Schon damals in Soest – Zeitlose Wahrheiten „Es ist bei diesem Unterricht von ungemeiner Wichtigkeit, daß der Schüler in Thätigkeit gesetzt werde. Er muß den Grund des Verfahrens, ein andres Beispiel der Anschauung, besonders aber die Auflösungsart möglichst selbst auffinden. Dies Auffinden über lasse ich ihm sehr gern, besonders wenn er über den ersten Anfang hinaus ist. Denn der Weg, welchen er dazu einschlägt, ist manchmal viel besser, als des Lehrers Weg, und wenn er das auch nicht ist, so ist er doch von dem Schüler selbst aufgefunden, und dessen Geist hat dadurch an Kraft gewonnen. Hat daher ein Schüler seinen oder meinen Weg zur Auflösung klar beschrieben, so fordere ich jedesmal die Übrigen auf, mir durch ein stilles Zeichen, etwa durch das Aufheben der Hand anzugeben, daß sie noch einen andern Weg kennen. Ist die Auflösungsart wirklich verschieden, so lasse ich sie ganz ausführlich darstellen. Aber ich lasse auch zuletzt prüfen, welcher Weg der leichtere und kürzere sei. Nach und nach treten die Schüler fast nur mit kurzen Rechnungsweisen hervor und verfallen immer seltner auf Umwege.“ EHRLICH (1831) nach BIERMANN (2010), S. 102 f. Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Literatur Andelfinger, B. (1988): Geometrie, Soest. Diesterweg (1828): Raumlehre, oder Geometrie, nach den jetzigen Anforderungen der Pädagogik für Lehrende und Lernende, Bonn. Diesterweg (1829): Anweisung zum Gebrauche des Leitfadens für den Unterricht in der Formen-, Größen-; und räumlichen Verbindungslehre, Elberfeld. Diesterweg (1838): Wegweiser für deutsche Lehrer, Essen. Diesterweg (1843): Raumlehre, oder Geometrie, nach den jetzigen Anforderungen der Pädagogik für Lehrende und Lernende, Bonn. Euklid (1933): Die Elemente I. Teil, Leipzig. Harnisch, W. (1837): Die Raumlehre oder die Messkunst, gewöhnlich Geometrie genannt, zweite Auflage, Breslau. Lietzmann, W. (1912): Stoff und Methode des Raumlehreunterrichts in Deutschland, Leipzig und Berlin (reprographischer Nachdruck: Paderborn: Ferdinand Schöningh 1985). Pestalozzi, J. H. (1803): ABC der Anschauung, oder Anschauungs-Lehre der Maßverhältnisse, Zürich und Bern. Pestalozzi, J. H. (1935): Schriften aus den Jahren 1803-1804, bearbeitet von Walter Feilchenfeld und Herbert Schönebaum, Berlin (Fotomechanischer Nachdruck). Herbsttagung 2010 AK MU&I – Geometrie 1830 – Antonia Zeimetz Schmidt, J. (1809): Die Elemente der Form und Größe (gewöhnlich Geometrie genannt), Bern 1809. Schurig, G. (1877): Geschichte der Methode der Raumlehre im deutschen Volksschulunterrichte, in: K. Kehr, Geschichte der Methodik des deutschen Volksschulunterrichtes, Gotha, S. 460-511. Treutlein, P. (1911): Der geometrische Anschauungsunterricht, Leipzig (Nachdruck). Unger, E. S. (1833): Die Geometrie des Euklid und das Wesen derselben, Erfurt. Wagemann, E.-B. (1957): Quadrat – Dreieck – Kugel, Weinheim.