Ethica Themen Institut für Religion und Frieden Thomas Schirrmacher, Edwin R. Micewski (Hg.) Ethik im Kontext individueller Verantwortung und militärischer Führung Institut für Religion und Frieden http://www.irf.ac.at IMPRESSUM Amtliche Publikation der Republik Österreich/ Bundesminister für Landesverteidigung und Sport MEDIENINHABER, HERAUSGEBER UND HERSTELLER: Republik Österreich/ Bundesminister für Landesverteidigung und Sport, BMLVS, Roßauer Lände 1, 1090 Wien REDAKTION: Christian Wagnsonner, Institut für Religion und Frieden, Stranzenberggasse 9B, 1130 Wien, Tel.: +43/1/512 32 57-23, Email: [email protected] ERSCHEINUNGSJAHR: 2012 DRUCK: BMLVS, Heeresdruckerei, Kaserne Arsenal, Objekt 12, Kelsenstraße 4, 1030 Wien ISBN: 978-3-902761-18-7 Ethica Themen Institut für Religion und Frieden Thomas Schirrmacher, Edwin R. Micewski (Hg.) Ethik im Kontext individueller Verantwortung und militärischer Führung Institut für Religion und Frieden http://www.irf.ac.at Inhalt Werner Freistetter Geleitwort 7 Thomas Schirrmacher/ Edwin R. Micewski Vorwort der Herausgeber 9 Edwin R. Micewski Zur Ontologie von Moral und Ethik und über militärische Ethik 15 Uto Meier Ethische Grenzen und moralische Wegweisungen. Verantwortung jenseits zweckrationaler Optimierung 41 Thomas Schirrmacher Ethische Bildung und ‚Innere Führung‘ in der Bundeswehr und in Streitkräften 69 Alois Bach Ethische Bildung in der Bundeswehr und das Zentrum Innere Führung 109 Edwin R. Micewski Überlegungen zur ethischen Bildung im Militär und zur Berufsethischen Bildung (BeB) im Österreichischen Bundesheer 117 Thomas Schirrmacher Zur Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) 129 Zusammenfassung und Ergebnispapiere sicherheitspolitischer Expertenrunden 161 Autorenverzeichnis 176 5 Werner Freistetter Geleitwort Diese Publikation ist ein begrüßenswerter Schritt, den Bemühungen um militärethische Bildung in Streitkräften im deutschsprachigen Raum einen weiteren Impuls zu verleihen. Es ist der Akademie für Information und Kommunikation der Deutschen Bundeswehr zu danken, sich in den vergangenen Jahren in einer Reihe von Konferenzveranstaltungen und Expertenkonferenzen mit militärethischen Fragen und deren Vermittlung in den Streitkräften beschäftigt zu haben. Das Institut für Religion und Frieden des Katholischen Militärbischofsamtes im Österreichischen Bundesheer war bei einigen dieser Veranstaltungen vertreten und freut sich, mit der Herausgabe dieser Publikation im Rahmen seiner Schriftenreihe Ethica Themen einen aktiven Beitrag zur Verbreitung der in den Konferenzen vorgetragenen und diskutierten Inhalte zu leisten. Im Gefolge der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen für die Militärorganisationen in den Mittel- und Westeuropas wurden seit der Mitte der 1990er Jahre militärethische Überlegungen in immer stärkerem Ausmaß in die Ausbildungsprozesse einbezogen und entsprechende Bildungseinrichtungen, die sich mit Fragen einer militärischen Ethik und deren Vermittlung beschäftigen, eingerichtet oder weiter ausgebaut. So spielten militärethische Überlegungen im Verlauf der Anpassung und Weiterentwicklung des Konzeptes der Inneren Führung der Deutschen Bundeswehr und in der Arbeit des Instituts für Theologie und Frieden eine bedeutende Rolle. Diese Entwicklung gipfelte in der Gründung des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften (ZEBIS), das vom Katholischen Militärbischof angeregt worden war, und der von der evangelischen Militärseelsorge ins Leben gerufenen Arbeitsgemeinschaft Ethische Bildung in den Streitkräften (AEBIS). Die Koordination der militärethischen Bildung und die Vernetzung mit in- und ausländischen Bildungseinrichtungen erfolgt durch die mittlerweile im Zentrum Innere Führung der Bundeswehr eingerichtete Zentrale Ansprechstelle für militärische Ethik-Ausbildung (ZETHA). In Österreich war es zunächst dem Institut für Human- und Sozialwissenschaften der Landesverteidigungsakademie zu danken, in engem Zusammenwirken mit dem Institut für Religion und Frieden und ausländischen Bildungseinrichtungen in internationalen Konferenzveranstaltungen Fragen der politischen und militärischen Ethik zu widmen. Mittlerweile ist an der 7 Landesverteidigungsakademie in Wien ein Steuerungskommittee für die Abstimmung der militärethischen Bildung eingerichtet worden. Neben dem Institut für Human- und Sozialwissenschaften und dem Institut für Religion und Frieden des Katholischen Militärbischofsamtes widmet sich auch das von der evangelischen Militärsuperintendentur eingerichtet Institut für militärethische Studien den Fragen und der Vermittlung militärischer Ethik. In der Schweiz wurde die Militärethik in eine der Inneren Führung der Deutschen Bundeswehr nachempfundenen Konzeption entwickelt. Die Verantwortung militärethischer Forschung und Ausbildung als auch die Koordinierung mit ausländischen Instituten wird in erster Linie von der Militärakademie an der ETH Zürich wahrgenommen. Als Leiter des Instituts für Religion und Frieden, das sich in jüngster Zeit sowohl in Enquetes als auch Publikationen vor allem speziellen Fragestellungen der Militärethik gewidmet hat, verbinde ich mit der Herausgabe der vorliegenden Publikation den Wunsch, dass diese zur weiteren Vertiefung sowohl der Beschäftigung mit Aspekten des komplexen und weitverzweigten Feldes militärischer Ethik als auch zur Intensivierung der interkonfessionellen, interdisziplinären und internationalen Zusammenarbeit beitragen möge. 8 Thomas Schirrmacher/ Edwin R. Micewski Vorwort der Herausgeber Diese Kompilation umfasst Beiträge, die von den Autoren im Rahmen von sicherheitspolitischen Expertenrunden und Veranstaltungen zu Fragen ethischer Bildung in Streitkräften ursprünglich in Österreich und Deutschland als Vorträge gehalten und nunmehr für die Veröffentlichung in Form und Inhalt erweitert bzw. angepasst wurden. Die Initiative zu einer Veranstaltungsreihe, die sich mit Wertorientierung und ethischen Aspekten von Streitkräften auseinandersetzte, ging ursprünglich von der Akademie für Information und Kommunikation (AIK) der Bundeswehr aus. In ersten Expertentagungen in den Jahren 2005 und 2006 diskutierten militärische und zivile Experten die Frage nach der Wertorientierung in der sicherheitspolitischen Kommunikation, mit dem didaktischen bzw. methodologischen Fokus auf der Umsetzung in der Ausbildung und Lehre für militärisches Einsatzpersonal. Zunächst noch auf Deutschland und die Bundeswehr beschränkt, wurden zu den weiterführenden Veranstaltungen auch Experten aus Österreich und der Schweiz eingeladen und in inhaltslogischer Weiterführung der Wertedimension die Frage der Ethik und vor allem der Militärethik in den Mittelpunkt der Beratungen gerückt. Konferenzen in Strausberg bei Berlin im Jahr 2009 als auch ein Jahr später im österreichischen St. Gilgen legten wiederum ein spezielles Augenmerk auf ethische Bildung und die Vermittlung ethischer Kompetenz in jenen Streitkräfteorganisationen, die in das Gefüge demokratisch-freiheitlicher Staats- und Gesellschaftsordnung eingebettet sind. Sachlicher Auslöser für diese Veranstaltungsreihe waren die neuen Herausforderungen, mit denen sich die Staaten Europas im Gefolge der drastischen sicherheitspolitischen Veränderungen seit den 1990er Jahren konfrontiert sahen und die eine entsprechende Betonung der Fragen von Wertorientierung und moralisch-ethischer Urteilsfähigkeit vor allem für militärische Führungskräfte erforderlich machten. Im Rahmen der strategischen und militärpolitischen Transformationsprozesse, die in den zwei Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges die Militärorganisationen mit neuen Prioritäten in der Aufgabenerfüllung hin zu internationaler Konfliktbereinigung und Friedenserhaltung führten, hatte etwa die Deutsche Bundeswehr ihr Konzept der Inneren Führung an die neuen Gegebenheiten angepasst und Rückschlüsse für ihre Informations- und Medienarbeit gezogen. Ähnliche Entwicklungen fanden in Österreich statt, wo der Beitritt zur Europäischen Union am 1. Jänner 1995 9 und die Mitwirkung an einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine Neuorientierung der Neutralitätspolitik erforderlich machte. Der nahezu gleichzeitig erfolgende Beitritt zur NATO-Partnerschaft für den Frieden brachte massive Veränderungen für das Österreichische Bundesheer mit sich, das sich sowohl organisatorisch als auch operativ an die neuen Möglichkeiten und Verpflichtungen internationaler Kooperation anzupassen hatte. Die mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung eintretende Tatsache, dass der Krieg bzw. die militärische Auseinandersetzung nun wieder „führbar“ geworden war, wie sich dies etwa in den Golfkriegen, den regionalen Unabhängigkeitskriegen am Balkan und dem Aufflammen des sich aus religiösen und ethnischen Motivationen nährenden politischen Extremismus bestätigte, rückte Fragen nach der Legitimität von Gewalthandeln und dem gerechtfertigten Einsatz staatlicher bzw. bündnisbezogener Gewaltinstrumente in den Mittelpunkt geistig-moralischer Orientierung in Politik und Militär. Insbesondere die Aussicht darauf, in Einsatzzonen mit subnationalen und irregulären Kräften konfrontiert zu werden, die sich im Wege ihrer asymmetrischen Strategien weder technologische noch rechtlich-moralische Schranken in ihrem Handeln auferlegen, machte nicht nur entsprechende Anpassungen in den Einsatzvorgaben erforderlich, sondern verlangte überdies nach verstärkter Bewusstseinsbildung von Soldaten und vor allem Offizieren in kultureller und ethischer Hinsicht. Sowohl weltweite Einsätze im Rahmen multinationaler Streitkräfteformationen als auch die potenziellen Einsatzgebiete in anderen Kulturregionen, von ethnisch-religiösem Antagonismus und häufig gewaltvoll ausgetragenen internen Spannungen geprägt, machten die Festigung der eigenen kulturellen Identität und eine entsprechende Wertorientierung für die im christlichen Kulturraum verwurzelten Soldaten unumgänglich. Eine Bewusstmachung etwa der im Deutschen Grundgesetz und in der Österreichischen Bundesverfassung verankerten Grundwerte, die ihre Wurzeln in der mittlerweile über zwei Jahrtausende währenden jüdisch-christlichen Tradition haben, sind für das Ethos eines Soldaten, der sich als Vertreter einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung versteht, ebenso unumgänglich wie seine Bindung an die ethischen Normen gerechter Kriegführung und moralisch einwandfreien soldatischen Handelns im Einsatz. In der offenen Gesellschaft, die sich unter den zeitgenössischen Bedingungen als hochtechnisierte und hochkritische Informations- und Mediengesellschaft versteht, dürfen sich jedoch Maßnahmen nachhaltiger Tragweite nicht nur ins Innere einer staatstragenden Organisation richten, sondern sind dem sozialen und politischen Umfeld gegenüber als wichtige Voraussetzung für Unterstützung und Akzeptanz, welche die Zivilbevölkerung den Streitkräften allgemein 10 und militärischen Einsätzen im Besonderen entgegen zu bringen hat, bekannt zu machen. Die Sinndimension von Werthaltungen und ethischer Ausrichtung von Soldaten und militärischem Führungspersonal steht daher in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Öffentlichkeitsarbeit der Streitkräfte und beeinflusst maßgeblich deren Informations- und Kommunikationstätigkeit. Die hier vorgelegte Publikation setzt sich daher zum Ziel, zum einen inhaltliche Information und Orientierung zu moralphilosophischen Aspekten von Ethik und Militärethik zu geben, die sowohl Lehrenden als auch Lernenden sowie an der Thematik Interessierten Anregung bieten und zur weiterführenden Betrachtung ermuntern soll; zum anderen behandelt sie Aspekte der Vermittlung von Ethik in Bildungsmaßnahmen innerhalb von Streitkräften, wobei hier neben grundsätzlichen Überlegungen zur Vermittlung von Ethik in Militärorganisationen auch konkrete Planungsmaßnahmen und Durchführungsmodelle in ihrer politisch-miltärischen Bedeutung zur Darstellung gelangen. Im ersten Abschnitt wird in zwei grundlegenden moralphilosophischen Beiträgen inhaltliche Anregung zum Verständnis von Moral, Ethik und vor allem Militärethik gegeben. Einleitend analysiert Edwin Micewski in seinem Essay zur Ontologie von Moral, Ethik und über Militärethik zunächst die Begriffe von Moral und Ethik und unterzieht drei moralphilosophische Herausforderungen – die Dichotomie von Moralität und Legalität, die Problematik rein teleologisch orientierten Handelns und die Gefahr des ethischen Relativismus – einer besonderen Kritik. Darauf aufbauend werden Ableitungen für militärische Ethik gezogen und die Parameter für die Behandlung des angewandten Ethikbereiches der Militärethik umrissen. Uto Meier rückt in seinem Beitrag über ethische Grenzen und moralische Wegweisungen die Verantwortungsdimension und die Problematik der zweckrationalen Orientierung ethischer Entscheidungen in den Vordergrund der Betrachtung. Mit Bezug auf aktuelle und historische Beispiele begründet er drei Ebenen verantwortungsethischer Entscheidung und skizziert die Grundzüge einer Elementarethik im Sinne einer naturrechtlichen Rückbesinnung auf das von Natur aus Rechte. Uto Meier beschließt seinen Essay mit einer normativ-ethischen Grenzziehung und zeigt deontologische Parameter auf, die um des Menschen willen im menschlichen Handeln nie überschritten werden sollten. Im nächsten Abschnitt widmen sich drei Beiträge der Frage von Ethikvermittlung in Streitkräften. Thomas Schirrmacher benennt in seinem Beitrag über ethische Bildung und Innere Führung in der Bundeswehr und in Streitkräften, der von Edwin Micewski mit Bezug auf Österreich und Gegebenheiten der internationalen Beziehungen ergänzt wurde, Dimensionen der Vermittlung von Ethik in militärischen Organisationen. Hier kommen vor allem Aspekte des 11 Konzeptes Innere Führung und dessen Bedeutung für den Themenbereich Militärethik zur Sprache, aber auch die Auswirkungen, die sich etwa aus dem interkulturellen Konfliktmanagement, menschenrechtsgeleiteten Interventionen, den Erfahrungen des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan oder auch den neuen asymmetrischen Kriegen für militärethische Bildung ergeben. Neben sicherheits- und verteidigungspolitischen sowie rechtlichen und organisatorischen Dimensionen wird die Rolle des christlichen Soldaten angesprochen und als dessen Leitbild die Person von Wolf Graf von Baudissin, dem Gründer des Konzeptes der Inneren Führung, gewürdigt. Im folgenden Beitrag gibt der Kommandeur des Zentrums Innere Führung der Bundeswehr, Alois Bach, einen Überblick über den Stand der ethischen Bildung in der Bundeswehr und die Aufgabe, die in der Vermittlung der militärethischen Bildung dem Zentrum für Innere Führung zukommt. Der Autor erläutert die Zielgruppen, an die sich militärische Bildung richtet, beschreibt die Orte der Vermittlung, an denen militärethische Inhalte innerhalb der Bundeswehr vermittelt werden und benennt Ziel und Zweck, aber auch die Grenzen der Militärethik. Der Beitrag von Edwin Micewski zur Berufsethischen Bildung (BeB) beschreibt die Besonderheit militärischen Führens und verweist auf die unterschiedlichen Zugänge, Gewichtungen und Schwierigkeiten, die sich in der ethischen Bildung vergleichsweise feststellen bzw. verorten lassen. Darauf aufbauend wird das Konzept zur Berufsethischen Bildung, wie es im Österreichischen Bundesheer als sozialwissenschaftliches Projekt entworfen wurde, als ein mögliches und durchaus beispielgebendes Modell für die Organisation ethischer Bildung in einer Militärorganisation vorgestellt. Ein weiterer Beitrag von Thomas Schirrmacher widmet sich einer Darstellung und Kritik der Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion, die mittlerweile in zahlreichen Erziehungsbereichen und politischen Anwendungsfeldern zur Ethikvermittlung herangezogen wird. Neben der Herausarbeitung der Schwächen der Konstanzer Methode vor allem aus christlicher Sicht wird deren spezielle Brauchbarkeit für die Vermittlung militärischer Ethik in Zweifel gezogen. Den Abschluss der Publikation bildet eine Zusammenfassung von Beratungsprotokollen und Ergebnispapieren, die im Verlauf der einleitend genannten Expertengespräche und Konferenzen erstellt worden waren. In diesen werden Gedanken zur Ethikvermittlung genannt, die von den zivilen und militärischen Experten in die Beratungen eingebracht wurden und Zukunftsperspektiven für die Weiterführung des Projektes Ethik im Kontext militärischer Führung sowohl in nationalem Rahmen wie auch im Hinblick auf staatenübergreifende Kooperation eröffnen. Die Herausgeber bedanken sich zum Schluss bei den Autoren für die Zurverfügungstellung ihrer Beiträge, beim Kommandeur der Akademie für Information und Kommunikation der Deutschen Bundeswehr, Oberst Axel 12 Hecht, für die Freigabe der Konferenz- und Tagungsunterlagen und bei Mag. Christian Wagnsonner vom Institut für Religion und Frieden für die vorzügliche redaktionelle Betreuung der Publikation. Besonderer Dank gilt auch Dr. Andreas Berns, der als damaliger Mitarbeiter der Akademie für Information und Kommunikation der Bundeswehr, gleichsam als Spiritus rector der Veranstaltungsreihe, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch entscheidende Impulse setzte. Besonders zu würdigen sind das Engagement und die Bereitschaft von Bischofsvikar Dr. Werner Freistetter, Leiter des Instituts für Religion und Frieden (IRF) des Katholischen Militärbischofsamtes im Österreichischen Bundesheer und von Generalmajor Alois Bach, dem Kommandeur des Zentrums Innere Führung (ZIF) der Deutschen Bundeswehr, die zum Gelingen dieser Publikation nicht allein durch die Verfassung eines Geleitwortes und eines Beitrages maßgeblich beigetragen haben. Während durch die Schirmherrschaft des Instituts für Religion und Frieden die Herausgabe dieser Buchpublikation im Rahmen der renommierten EthicaSchriftenreihe des IRF auf ansprechende und kostengünstige Weise möglich wurde, gewährleistet die bedeutende Rolle, die sowohl das IRF als auch das ZIF in der Ethikbildung in ihren jeweiligen Streitkräftebereichen spielen, dass diese Publikation entsprechende Verbreitung und Aufmerksamkeit genießen und hoffentlich zur weiteren Intensivierung der Beschäftigung mit Fragen militärischer Ethik im deutschsprachigen Raum beitragen wird. 13 Edwin R. Micewski Zur Ontologie von Moral und Ethik und über militärische Ethik Im größeren weltgeschichtlichen Rahmen scheinen sich Krieg und Frieden in einer zeitlosen dialektischen Konstellation gegenüberzustehen, einander kontinuierlich abzulösen und eine perenne polemologische Seinsstruktur zu bestätigen. Innerhalb dieser kommt dem Krieg, dem bewaffneten Konflikt in jeglicher Form, die Stellung des Unerwünschten und zu Verneinenden zu und der Friede wird als das anzustrebende Gute angesehen; 1 aber auch wenn der Friede stets das Ziel der Bestrebungen, vor allen Dingen auch des Krieges, sein mag, so ist er doch nicht der Normalzustand und muss, wie Immanuel Kant dies ausdrückte, immer wieder aufs Neue „gestiftet“ werden. Die Friedensstiftung, -bewahrung und -wiederherstellung bildet daher aus gutem Grund seit Augustinus das Kernelement redlicher militärischer Identität und – modern gewendet – auch militärisch gestützter und getragener Sicherheitspolitik. Viele verweigern sich jedoch dieser dichotomen Realität, beschränken sich auf den Frieden und verdrängen den Faktor Gewalt und die Potenzialität des Krieges als etwas quasi Abwegiges. Aber während die reduktive Betrachtung der Wirklichkeit dem Einzelnen vielleicht psychologische Stütze in der persönlichen Lebensbewältigung sein mag, so kann sie doch die Beschaffenheit des Seins nicht verändern. Die Hoffnung der allein auf den Frieden Bedachten, die Position der moralischen Überlegenheit einzunehmen, ist vergebens. Gegen Gewalt zu sein, um Aristoteles sinngemäß wiederzugeben, macht noch keine schöne Seele und der postmoderne Theoretiker Jean-Francois Lyotard weist darauf hin, dass die Wirklichkeit selbst der Widerstreit ist und nicht bloß das Böse in ihr. 2 Die letztlich polemologisch geprägte Wirklichkeit führte in jüngster Zeit – im Gefolge heftig umstrittener technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, aber auch nachhaltiger Veränderungen in den internationalen 1 Auf dies wird hingewiesen in Stupka, Andreas, Kriegsgeschichte und klassische kriegstheoretische Betrachtungen zur Asymmetrischen Kriegführung, in: Schröfl/Pankratz (Hrsg.), Asymmetrische Kriegführung – ein neues Phänomen der Internationalen Politik (Nomos), Baden-Baden 2003, S. 41-56. 2 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1993. 15 Beziehungen – zu einer Renaissance der praktischen Philosophie und dem allgemeinen Wunsch nach verstärkter moralischer Orientierung und Ethikberatung. So führten etwa die Entwicklungen im Bereich der Gentechnologie zur Einrichtung von Ethikkommissionen in Ärztekammern und medizinischen Fakultäten, Veruntreuungen großen Stils auf den Finanzmärkten förderten Anstrengungen im Bereich der Wirtschaftsethik und erziehungs- und medienpolitische Gremien strebten angesichts von Wertekollisionen und Richtungsstreiten verstärkte ethische Beratung an. Nicht zuletzt war diese Konjunktur des Ethischen das Resultat einer den herrschenden Gesetzeslagen rapide enteilenden Entwicklung und der sich dadurch ergebende Orientierungsbedarf im Hinblick auf sittlich gerechtfertigtes Handeln. In der Sicherheitspolitik führten die einschneidenden Veränderungen, die mit dem Ende des Kalten Krieges in den internationalen Beziehungen stattfanden – allen voran die fortschreitende Denationalisierung und Privatisierung der Politik mit dem Wirksamwerden nichtstaatlicher und subnationaler Kräfte, die ihre Anliegen mit den Mitteln und Methoden asymmetrischer Gewalt vortragen – zur Wiederbelebung der ethischen Debatte rund um Fragen der Legitimität soldatischen Gewalthandelns und die Anpassung der Theorie des Gerechten Krieges an die paradigmatisch veränderten Bedingungen internationaler Politik. Neue und veränderte Aufgabenzuordnungen bzw. -schwergewichte an Streitkräfte, weg von der klassichen Landesverteidigung hin zu internationaler Konfliktlösung und humanitären Einsätzen in multinationalen Formationen, konfrontierten die Gewaltinstrumentarien der Staaten und Bündnisse mit Herausforderungen, die vor allem die verstärkte Berücksichtigung ethisch-moralischer Gesichtspunkte in der politischen und militärischen Führungsverantwortung mit sich brachten. Die Anforderungen an Kräfte in möglichen Einsatzszenarien, vor allem für militärische Kommandanten aller Ebenen, wurden komplexer. Die aus dem klassischen Konfliktbild gewohnten klaren Zuordnungen in taktischer, operativer und strategischer Hinsicht hatten nicht länger Bestand in Einsatzspektren, in denen Entscheidungen auf taktischer Ebene, etwa durch die Anwesenheit von Medienvertretern, strategische Bedeutung erlangen können, oftmals rasch in unklaren Lagen gehandelt werden muss und die Einsatzregelungen (Rules of Engagement/ROE) nicht alle Eventualitäten und mögliche Entwicklungen im Detail im voraus reglementieren können. Rasch war klar geworden, dass der klassische, symmetrische Krieg aus ethischer Sicht einfacher zu behandeln ist, stehen sich in ihm doch reguläre Streitkräfte mit eindeutigen humanitären Mindeststandards eines gemeinsam anerkannten Kriegsvölkerrechtes gegenüber. Zudem gestattet die klare 16 Trennung und Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten sowie die Regelung militärische Einsatzabläufe innerhalb hierarchisch vorgegebener Strukturen die Bewältigung von ethischen Dilemmasituationen bzw. lässt diese gar nicht erst entstehen. Diese klassische Situation ist nun abhanden gekommen und im Sinne der beschriebenen Entwicklung sind seit einigen Jahren verstärkt Bemühungen zu verzeichnen, ethische Bildung in den Streitkräften zu strukturieren und zu systematisieren. Dabei zeigen sich erhebliche Unterschiede in den nationalen Zugängen zu dieser Thematik und auch die Versuche, internationale Projekte im Bereich der militärischen Ethik voranzutreiben, sind bisher ohne nachhaltige Auswirkungen geblieben.3 Abgesehen von politischen, kulturellen, militärinstitutionellen (aber ebenso methodologischen und durchaus auch semantischen) Differenzen, die konstruktive und produktive Zusammenarbeit erschweren, ist es natürlich der Begriff der Ethik selbst, der schwer in den Griff zu kriegen ist und diesen Bemühungen im Wege steht. Die Auffassungen über Ethik und Ethikvermittlung und die damit verbundenen Werthaltungen sind zumeist allein schon zwischen den einzelnen Lehrbeauftragten an einer Institution bzw. innerhalb einer Militärorganisation höchst unterschiedlich, welche bereits die Abstimmung ethischer Bildung innerhalb nationaler Grenzen zu einer großen Herausforderung werden lässt. Um der eigentlich metaphysischen und somit zutiefst philosophischen Natur der Ethik zu entfliehen, die wiederum langfristige und umfassende Ansätze in ihrer Vermittlung mit sich bringt, werden pragmatische Wege in der ethischen Diskurskultur eingeschlagen, die nicht nur in sich problematisch sind, sondern auch der eigentlichen Zielsetzung zuwiderlaufen. Durch methodische Reduktion des Gegenstandes auf Diskursmodelle 4 und die Behandlung von Fallbeispielen wird versucht, leicht nachvollziehbare und rezeptartige Handlungsanweisungen an die Hand zu geben, um die berufsethische 3 Als Beispiel dürfen hier die zum Großteil vom Autor dieses Beitrages initiierten und abgehaltenden Konferenzen im transatlantischen Kontext genannt werden, die in Zusammenarbeit etwa mit dem Institut für Religion und Frieden (IRF) des Österreichischen Militärbischofsamtes, mit dem US Center for Civil-Military Relations (CCMR) oder auch der internationalen Militärpädagogischen Vereinigung u.a. mit großer internationaler Beteiligung stattgefunden haben. Eine Fülle von auf diesen Konferenzen beruhenden Publikationen stellen entsprechende Materialen zur Verfügung und geben Auskunft über die kollaborativen Anstrengungen, haben aber in weiterer Folge (noch) nicht zu der angestrebten nachhaltigen Vernetzung und substanziellen Zusammenarbeit geführt, die auch für den deutschsprachigen Raum noch aussteht und zu deren Intensivierung die vorliegende Publikaton beizutragen hofft. 4 Vgl. etwa die in diesem Band enthaltene Kritik an der Konstanzer Methode der DilemmaDiskussion, S. 129-159. 17 Kompetenz ein für alle mal als erledigt abhaken zu können. Aber die Reduktion und Ausblendung der „metaphysischen Ganzheitlichkeit“, des Erfassens der Ethik als umfassendem und tiefgründigem Normwissen, mag zwar vordergründig verwertbare Resultate erbringen, allerdings nur um den Preis erheblicher qualitativer Einbußen. Ethik ist jedoch nur einer der beiden operativen Termini, die im Begriff der Militärethik enthalten sind. Das Feld einer Bereichsethik wie etwa der militärischen Ethik bedarf daher neben der Klärung des Begriffs der Ethik auch und vor allen Dingen der Erfassung des Begriffs des Militärs und der vorurteilsfreien Erkenntnis dessen, was denn die Identität des Militärischen eigentlich begründet. Das Verständnis um die professionelle Identität eines Soldaten, vor allem, was es bedeutet, militärischer Professionalist im liberaldemokratischen Umfeld zu sein, bildet eine wichtige Voraussetzung für ethische Erziehung.5 Hier sollen in erster Linie die Begriffe Moral und Ethik einer tiefgreifenden Analyse unterzogen werden, die sowohl ontologische als auch philosophisch-wissenschaftliche Aspekte behandelt, bevor dann in einem weiterführenden Abschnitt Rückschlüsse für militärische Ethik gezogen werden. Im Vordergrund der Betrachtung werden zunächst drei Aspekte stehen, die mir im Zusammenhang mit dem Verständnis von Ethik unabdingbar erscheinen und die sich mir im Verlauf meiner Beschäftigung mit ethischen Fragen sowohl als Vortragender als auch Autor als fundamental aufgedrängt haben: Zum ersten die Unterscheidung bzw. die potenzielle Kollision von Moralität und Legalität als einer unentrinnbaren Dichotomie, die im Sein des Menschen selbst angelegt ist; zum zweiten eine Kritik des Konsequenzialismus bzw. Utilitarismus als der in Politik und Gesellschaft (und durchaus auch im Militär) vorherrschenden Tendenz zu teleologischem Handeln, das sich allein auf das Resultat des Handelns konzentriert und auf die zutiefst unethische Maxime des „der Zweck heiligt die Mittel“ stützt; und zum dritten Anmerkungen zu bzw. die Verwerfung des ethischen Relativismus und der Wertbeliebigkeit und das Plädoyer für einen Minimalkonsens ethischer Werte und Prinzipien. Darauf beruhend werden dann Rückschlüsse zur Disziplin der Militärethik gezogen, die unter Berücksichtigung von in anderen Beiträgen in dieser Dokumentation dargelegten Inhalte die Parameter militärischer Ethik beschreiben und in einen Gesamtzusammenhang bringen. 5 Hiezu mehr und Näheres in meinem zweiten, in dieser Dokumentation enthaltenen Aufsatz „Überlegungen zur ethischen Bildung im Militär und zur Berufsethischen Bildung (BeB) im Österreichischen Bundesheer“. 18 Ontologische Betrachtungen zur Ethik Wird Ethik, in lebenspraktischer Absicht, als die – potenziell ins Grenzenlose zu erweitertende – Verantwortung des Einzelnen gegenüber allen, die mit ihm in sozialen und politischen Handlungsbeziehungen stehen, verstanden, so wird ersichtlich, dass Ethik in allen Bereichen und Kontexten menschlicher Existenz als ontologisch unausweichliche Perspektive ins Spiel kommt. In diesem Sinne ist Ethik bzw. die Unausweichlichkeit der ethischen Relevanz menschlichen Tuns und Handelns unmittelbar mit der menschlichen Freiheit und ihrer Kehrseite, der Verantwortung, verknüpft. Ist man Mensch, so ist man ja, wie der Philosoph Hans Jonas dies ausdrückt, zur Verantwortung begabt. Ein Talent, dem man sich nicht entziehen kann und das wesentlich die moralische Qualität des Menschseins begründet. Verantwortung wahrzunehmen ist mithin eine ontologische, also im Sein selbst angelegte, Herausforderung, die dem Menschen als Folge seiner Freiheit aufgegeben ist oder, wenn man so will, der Preis der Freiheit und gleichzeitig auch dessen unverbrüchliche Manifestation ist. Der Mensch ist also gleichermaßen frei wie auch verantwortlich oder, anders ausgedrückt, seine Freiheit liegt eben gerade in der Verantwortung. Somit ist der Sinn der Freiheit das Verantwortlichsein. Das Wissen um die eigene Verantwortlichkeit scheint eine der unmittelbarsten Grundtatsachen des menschlichen Bewusstseins zu sein. Dass wir uns unsere Handlungen ’zurechnen’ in dem Sinne, dass wir die „Täter unserer Taten“ (Arthur Schopenhauer) sind und dass unsere Handlungen von uns ’ursächlich’ ausgehen, ist gleichsam die Voraussetzung für Verantwortlichkeit. Wohl aus diesem Grund stellt Nikolai Hartmann mit Blick auf den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung fest: „Im Anspruch auf die Zurechnung liegt einer der stärksten gegebenen Hinweise auf das ethisch reale Sein der Freiheit“.6 Ist freies Handeln möglich und gegeben, dann kann Verantwortung auch nicht abgeschoben werden. Dann ist der Mensch verantwortlich vor dem, was er in seinem Gewissen wahrnimmt und als gut und richtig erkennt. So geht es aus anthropologischer und ethischer Sicht um eine verantwortete Freiheit, die nach einem „Wofür“ der Freiheit und nach einem „Wovor“ der Verantwortung fragt. Auch wenn der Mensch als Individuum sich selbst gegenüber verantwortlich ist in dem Sinne, dass er die Würde des Menschseins in sich selbst nicht verleugnen soll, so begründet seine Sozialnatur doch, dass die moralischethische Kategorie der Verantwortung vornehmlich in seinem Verhältnis zu anderen, in der humanen und sozialen Interaktion, eingefordert wird. Was 6 Nikolai Hartmann, Ethik, Berlin-Leipzig 1925, S. 665. 19 immer einer mit Bezug auf den anderen oder die anderen tut, trägt moralisch-ethische Qualität in sich und muss daher, unweigerlich, von der moralischen Kategorie der Verantwortung getragen, geleitet sein. Der Berührungspunkt zwischen den Freiheitsansprüchen der Menschen, also der Ort, an dem sich Verantwortung kristallisiert, ist die Gerechtigkeit, welche die unbedingte, sittliche Forderung schlechthin bezeichnet und sich – gemeinsam mit dem Guten – als Fundamentalbegriff der Ethik ausweist. Der Leitbegriff der neuzeitlichen Philosophie und Politik, die Freiheit, findet – im Kontext der Verantwortung – in der Gerechtigkeit ihre nähere Bestimmung und Präzisierung. Denn im Sinne Kants und des deutschen Idealismus konkurriert Freiheit als Prinzip der praktischen Vernunft nicht mit der Gerechtigkeit, ganz im Gegenteil: die Gerechtigkeit, als sittlich-politische Kategorie, erfährt durch den transzendentalen Begriff der Freiheit ihre Präzisierung und nähere Begründung. Pragmatisch gewendet: sowohl die Freiheit (und Verantwortung) des Einzelnen als auch die Freiheit (und Verantwortlichkeit) einer politisch-sozialen Ordnung verwirklichen sich in der Gerechtigkeit. Der Begriff der Gerechtigkeit erfährt ethische Fundierung und Bestärkung etwa auch in Schopenhauers Konzeption der Mitleidsethik, in der die Gerechtigkeit die erste Stufe der Moralität verkörpert, also das Minimalerfordernis für ethisches Handeln darstellt.7 Hier fühle ich mich nun veranlasst, auf die Bedeutung des Dargelegten im Hinblick auf Erziehung und Bildung zu verweisen, deren eigentlicher Sinn nämlich wesentlich darin besteht, zur Wahrnehmung von Verantwortung zu befähigen, mithin rechten Gebrauch von der eigenen Freiheit zu machen. Die Rückführung der Freiheit auf die Idee der Gerechtigkeit und die auferlegte Begrenzung, welche die Freiheit durch die moralische Forderung der Gerechtigkeit erfährt, ist von essenzieller Bedeutung, da die Fähigkeit zur Verantwortung ja auf der schöpferischen Handlungsautonomie jener Person beruht, die Verantwortung trägt. Bildung und Erziehung haben daher, in diesem umfassenden Verständnis, nicht nur die Dimensionen von Wissen und Können, sondern auch und insbesondere einen sittlichen Aspekt zu enthalten, der dazu befähigen und ermuntern soll, Verantwortung in allen Lebensbereichen recht wahrzunehmen. Damit schließt sich der Kreis und wir sind beim legitimen Anspruch einer berufsbezogenen ethischen Bildung angelangt, der wir ja in militärischer 7 Ich habe den Begriff der Gerechtigkeit und die Frage von Recht und Unrecht ausführlich analysiert in meinem Buch „Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit“ (Micewski; 1998) und dieses ethisch-moralische Fundamentalkritirium sowohl unter Berücksichtigung zeitgenössischer Ethiktheorien (Rawls, Habermas, Kohlberg) als auch transzendentalphilosophischer Ansätze (Kant, Schopenhauer) einer umfassenden Betrachtung sowohl in menschlich-individueller, kollektiv(inner) staatlicher und international-(zwischen) staatlicher Hinsicht unterzogen. 20 Hinsicht hier besonders Beachtung schenken. Nicht übersehen werden darf, dass die Frage von Moral und Ethik ja vor allem dort in den Vordergrund tritt, wo Menschen einander potenziell weh tun, Leid antun, also besonders in kriegerischen Auseinandersetzungen und in Fällen politisch-militärischer Gewaltanwendung, als den nachhaltigsten Manifestationen menschlichen Widerstreits. Dem Aspekt der sittlichen Orientierung für den Bereich politisch-militärischen Gewalthandelns im Sinne einer Militärethik, die als Bereichs- und Anwendungsethik aus einem umfassenden Verständnis normativer Ethik erfließt bzw. zu erfließen hat, sollte daher durchaus angemessene Bedeutung zukommen. Zur Ethik als philosophisch-wissenschaftlicher Disziplin Bezüglich der Ethik gilt es zunächst die termini technici der praktischen Philosophie, nämlich Ethik, Moral und Sittlichkeit, zu definieren bzw. sich darauf zu einigen, was diese im ethischen Diskurs allgemein und somit als Voraussetzung für den Diskurs in einer Bereichsethik, wie beispielsweise der Militärethik, bedeuten. Es bietet sich an, Moral als den Inbegriff für moralische Normen und Werturteile, die quasi normativ-relevante Motivationslage des Einzelnen in der Wahrnehmung seiner menschlich-sozialen Verantwortlichkeit, zu verstehen, während sich Sittlichkeit als das aufgrund des Herkommens Gewohnte auf die vorherrschenden ethischen Dispositionen eines als Ganzheit verstandenen Gemeinwesens bezieht. Der Begriff der Ethik sollte für die wissenschaftliche Erörterung moralisch und ethisch relevanter Sachverhalte und die systematische (philosophische) Reflexion über individuelle und gemeinschaftliche Motivationslagen stehen.8 Wenn Ethik in lebenspraktischer Absicht auf die sinnvolle Gestaltung menschlichen Zusammenlebens abzielt, so stellt sie als philosophisch-normative Disziplin die Frage nach den obersten Prinzipien des moralisch Guten und Rechten, welche als Richtschnur menschliches Handeln anleiten sollen. Normative Ethik sucht als Prinzipienethik nach den grundlegenden Normen menschlichen Verhaltens und strebt danach, einen Bezug zwischen Normen und Handlungen für die Umsetzung in der Praxis herzustellen. Aristoteles hebt bereits hervor, dass die Ethik als einer auf das Handeln des Menschen gerichteten praktischen Disziplin mit den theoretischen Wissenschaften gemeinsam hat, eine Höchstform des Wissens zu 8 Zur Erhellung und Festlegung der begriffstheoretischen Abklärungen in der Ethik haben die Beratungen mit DDr. Christian Stadler vom Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien maßgeblich beigetragen, die wir im Rahmen der Wissenschaftskommission des Bundesministeriums für Landesverteidigung führten. 21 sein, nämlich das ultimative Wissen für den Gegenstandsbereich „sittliches Handeln“.9 Wenn ich als den Gegenstand der normativen Ethik die Wirklichkeit erkenne, wie sie sein soll, so ist damit gleichzeitig festgestellt, dass die Ethik eine ideale Wissenschaft ist, welche das Ideale in die Wirklichkeit bringen will oder, anders ausgedrückt, danach trachet, die Handlungswirklichkeit so nahe wie möglich an das Ideal heranzuführen, dabei anerkennend, dass der Mensch im Besitz der Bedingungen der Möglichkeit ethischen Handelns ist. Ethik ist daher gutes Handeln im Modus der Theorie und unterscheidet sich als solche klar vom konkret praktizierten Ethos. Dass das Ideale aber nicht allein mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden und im Horizont des Beobachtbaren erschlossen werden kann, begründet die metaphysische, d.h. über die bloße Erscheinung der Dinge und somit über alle Erfahrung hinausreichende Natur der Ethik und bestätigt Kants Devise, dass „die Metaphysik vorangehen (muss), und ohne sie kann es überall kein Moralphilosophie geben“.10 Während Kants formales Metaphysikverständnis nicht nur gestattet, immer wieder und aufs neue Metaphysik zu treiben, so macht es auch klar, dass die Metaphysik Fragen und Probleme behandelt, welche die menschliche Vernunft nicht abweisen kann (weil sie eben aus ihrer eigenen Natur hervorgehen), auch wenn sie diese aus eigener Kraft nicht (absolut und endgültig) beantworten kann. Damit ist auch klargelegt, warum die Ethik als wissenschaftliche Disziplin in den mehr als zweitausend Jahren ihres Bestehens zu keinen endgültigen Ergebnissen kam und auch nie kommen wird: Die Frage nach der menschlichen Freiheit als Bedingung der Möglichkeit für verantwortetes Handeln verkörpert eine der drei transzendentalen und somit unabweisbaren Fragen der Metaphysik, deren Beantwortungsversuch uns unsere Vernunft sozusagen als unabweisbare Dauerbeschäftigung aufgibt, derer sie sich aber nicht durch das Auffinden einer letzten Antwort entledigen kann. Wenn Ethik also die tiefsten Gründe des Menschseins berührt und sich Begründungszusammenhänge auftun, die jenseits rein empirisch-wissenschaftlicher Zusammenhänge liegen, so ist, zumindest in meinem Verständnis, Ethik nicht ohne Verbindung zu Metaphysik, philosophischer Anthropologie, Ontologie und Epistomologie zu vermitteln. Wie soll jemand ohne Kenntnis der Unterscheidung des a priori vom a posteriori, des noumenon vom phenomenon, des analytischen vom synthetischen Urteil in der Lage sein, etwa deontologische Ethikansätze gegenüber teleologischen, wie später noch ausgeführt, verstehen und unterscheiden zu können? 9 10 Aristoteles, Metaphysik, I. Buch (A), 1-2, besonders 981b-982a. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Vorrede. 22 Ich erhebe also den Anspruch, dass ethische Handlungskompetenz in einem höheren berufsbezogenen Sinn und vor allem für militärisches Führungspersonal auf das Fundament einer komplexen ethischen Theorie zu gründen ist, welche allein es gestattet, die Kultivierung einer ethisch-moralischen Disposition zu bewerkstelligen und zu informiertem ethischen Bewusstsein zu verhelfen. Die Befolgung vorgegebener Rezepturen oder das Räsonnieren über philosophische Konzeptionen bzw. die Nachahmung historischer Beispiele führt zumeist dazu, dass das genuin und speziell Eigene jeder ethisch relevanten Situation verkannt oder zu spät erkannt wird bzw. überhaupt sowohl der Mut als auch die Fähigkeit zur eigenständigen moralischen Urteilsbildung abgeht. Die Chance auf adäquates ethisches Verhalten besteht nur dann, wenn eine entsprechende innere Disposition, gleichsam eine Inklination des Willens, anerzogen wurde, die immer wieder genährt und weiter kultiviert wird. Dies bedeutet aber nun nicht, dass jemand, der in ethischem bzw. moralphilosophischem Sinne ungebildet oder weniger gebildet ist, nicht moralisch handeln könnte. Die Intuition zum moralisch Guten und Rechten ist potenziell jedem Menschen (ein-) gegeben. Die Fähigkeit zur Unterscheidung von Recht und Unrecht, von gut und böse, scheint als ontologische Konstante mit der menschlichen Natur gegeben und leitet sich als solche nicht von äußeren Vermittlungen her. Die Einsicht, dass der Mensch nicht erst kraft rechtlicher Satzung, sondern von Natur aus ein sittlich-autonom handelndes Wesen ist, findet sich ja ursprünglich und maßgeblich bereits bei Plato. Ihm zufolge erweist sich das Wahre und Gerechte durch sich selbst als wahr und gerecht, nicht erst aufgrund heteronomer Vermittlung. Sokrates hält dies seinen sophistischen Gegenspielern vor Augen und wirft ihnen vor, sie unterstellten ein Sittlichkeitsverständnis als gäbe es „ganz und gar kein in der Seele ursprünglich gelegenes Wissen und sie setzten es hinein, als wenn sie blinden Augen Sehkraft einsetzten.11 Ich habe auch, mit Rückgriff auf Schopenhauer,12 darauf hingewiesen, dass zwischen der Grundlage und dem Grundsatz der Ethik zu unterscheiden ist. Während diese über die Voraussetzung für ethisches Verhalten handelt, beschäftigt sich jene mit den Handlungsweisen und Prinzipien, die Ethik vorschreibt bzw. welchen sie eigentlich moralischen Wert zuerkennt. Während also „Grundsätze und abstrakte Erkenntnis für einen moralischen Lebenswandel“ unentbehrlich sind, so können sie niemals die „Urquelle, oder 11 Platon, Politeia, 518b. Zu dieser Unterscheidung und zur Frage der eigentlichen Triebkraft, die zu moralischem Handeln führt, siehe das 2. Kapitel „Zur Bestimmung des ethisch-moralischen Fundamentalkriteriums“ meines Buches „Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit“ (Micewski; 1998). 12 23 erste Grundlage der Moralität bilden“.13 Grundsätze der Ethik, wie wir sie in der normativen Ethik aufzufinden und auf die lebensweltlichen Bereiche (Medizinethik, Medienethik, Militärethik, ...) zu übertragen trachten, und abstrakte Erkenntnis, wie wir sie in der ethischen Bildung zu vermitteln suchen, müssen also auf eine entsprechende Qualität des menschlichen Wollens treffen, um im Handeln verwirklicht zu werden. Diese beiden Aspekte werden zumeist nicht unterschieden bzw. ausreichend differenziert, da die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen für die Komplexität ethisch relevanten Handelns ausgeblendet oder gar nicht veranschlagt werden.14 Dieser hier geforderten Intellektualisierung der ethischen Bildung steht die pragmatische Ethos-Auffassung gegenüber, welche die abstrakte ethische Theorie zu minimalisieren und Zeit einzusparen trachtet, vor allem aber, um die Gefahr eines individuell-eigenständigen Moralurteils gar nicht aufkommen zu lassen, konkrete Rezepturen, ethische Handlungsanleitungen und Verhaltenskodices ausgibt und dem erfahrungsgestützten Zugang tugendethischer Konzeptionen folgt.15 Diese pragmatische Auffassung trachtet danach, den Gegenstandsbereich der Ethik mit nahezu absoluter Verbindlicheit zu regeln. In größerem kulturphilosophischen Sinne folgt sie dem verhängnisvollen Irrweg der politischen Moderne, die ja den Versuch der vollkommenen Ethisierung des Daseins unternommen hat, der aber dem eigentlich aporetischen Charakter der Ethik nicht gerecht wird. Das ethische Denken soll in Verbindung mit ethischen Verhaltensanweisungen und dem Recht die radikale Lösung einer allgemeinen und universalen lebenspraktischen Rezeptur bereitstellen. Damit aber wird das, was im Unterschied zum Begriff Ethik die Moralität ausmacht, nämlich das individuelle Bewusstsein persönlich-individueller Verantwortung, gleich mit ausgelöscht. Zur Dichotomie von Moralität und Legalität Die Auflösung individueller Moralität in kollektive Sittlichkeit reduziert persönliche Verantwortung auf die Befolgung von Regeln, die als für die 13 Schopenhauer, Fundament der Moral, 176 bzw. 254. Ich habe der Frage der „moralischen Motivation“ jüngst ein Essay unter dem Titel „Moral Motivation of Military Professionals – A Military-Philosophical Approach“ gewidmet, der in Kürze im Rahmen einer Buchpublikation der Universität Frankfurt erscheinen wird. Infolge der zumindest intuitiven Erkenntnis dieser Sachlage sind vor allem im anglo-amerikanischen Raum in jüngster Zeit verstärkt Versuche zu verzeichnen, die ethische Bildung militärischen Führungspersonals mit Charakterbildung zu verbinden. 15 Dieser Pragmatismus wird etwa, aber nicht nur, in Großbritannien und Australien gepflogen und versinnbildlicht sich in dem Slogan: Ethics should be „caught“ but not „taught“. 14 24 gesellschaftliche Gemeinschaft vernünftig und deren Beibehaltung als allgemein erstrebenswert angesehen wird. Das „moralische Gesetz in mir“, von dem noch Immanuel Kant gesprochen hatte, somit also die eigentliche Moralität, wurde und wird durch einen „legalen Code“ ersetzt und die „Ethik den Rechtsstrukturen“ nachgebildet, wodurch individuelle Verantwortung, lebenspraktisch gesprochen, auf die Befolgung oder das Brechen von sozial gebilligten, ethisch-legalen Regeln übersetzt und auf diese reduziert wird. Selbstverständlich ist nicht zu leugnen, dass diese Vorgehensweise durchaus erwünschte Auswirkungen auf menschliche Koexistenz haben kann und dies auch unzweifelhaft hat; es kann aber auch nicht bestritten werden, dass die bloße Unterordnung des Ichs unter existierende Normen und Gebräuche den Möglichkeiten des moralischen Selbst keineswegs gerecht wird. In den Streitkräften verdichtet sich diese Tendenz zur unentrinnbaren Gehorsamsverpflichtung, zum buchstäblichen Befolgen von militärischen Anordnungen, Ethical Codes of Conduct und Rules of Engagement, in letzter Konsequenz häufig zum Warten und Nichtstun, wenn der erforderliche Befehl ausständig ist oder verspätet eintrifft. Srebrenica und Rwanda sind nur zwei Beispiele, wo die verheerenden Folgen dieses Verständnisses in großem Stil und für die ganze Welt sichtbar wurden. Weit davon entfernt, zur Befehlsverweigerung oder zu selektivem Gehorsam zu ermuntern, geht es mir im Gegenteil darum, zur Einsicht zu verhelfen, dass verantwortliches Handeln in letzter Konsequenz nicht allein an Gesetze zu binden ist und in schwierigen Lagen oft nur erreicht werden kann, wenn das moralische Bewusstsein des Einzelnen voll zur Geltung kommt. Worauf ich hinaus will in diesem Zusammenhang ist die ontologisch bedeutsame Differenz von Moralität und Legalität, die Möglichkeit des Menschen, außer- oder vorrechtlich zu handeln. Sie ist gewiss nicht unproblematisch, vor allem in Organisationsbereichen wie den Streitkräften, wo die Funktionseffizienz häufig vom raschen und reibungslosen Vollzug erlassener Vorgaben abhängt; der Versuch der Aufhebung oder die Negierung dieses Antagonismus von Legalität und Moralität erweist sich aber als verhängnisvoll und in vielen Fällen als besonders schmerzhaft. Zum leichteren Verständnis dieser ontologischen Dichotomie sei hier schematisch eine an Immanuel Kant angelehnte Übersicht eingefügt, die von mir in Seminaren und Ethikkursen verwendet wurde und welche die kriteriellen Unterschiede von Moralität und Legalität aufzeigt und leichter fasslich macht: 25 Moralisches Recht Positives (Gesatztes) Recht Rationale Erfassung von Recht – Unrecht gerecht – ungerecht Beruht auf Prinzipien moralischen Rechts Auferlegt die Verpflichtung - zum subjektiv-innerlichen „Sollen“ - die Verwirklichung des Gerechten zur Maxime meines Handelns zu machen (darf nicht willkürlich gesatzt/kodifiziert werden) Auferlegt die Verpflichtung - einer externen Handlungsanweisung Folge zu leisten - sich gesetzeskonform zu verhalten Gegenstand individuell-subjektiver Disposition Befolgung nicht erzwingbar Kollektiv-objektive Sozialfunktion Mit dem Kriterium der Erzwingbarkeit und Vollzug des Durchsetzungsanspruchs verknüpft (Pazifizierungsfunktion) Moralität Interner Handlungsantrieb/Motivation Legalität Handlungsauswirkung/-ergebnis © Micewski 2012 Gegen die Bestrebungen der Auslöschung persönlich-individueller Verantwortung waren und sind immer wieder Versuche zu verzeichnen, die Wiedereinführung der Moralität in dem hier dargelegten Sinne zu verlangen. So stellt etwa der Philosoph Emanuel Levinas fest: „Das Ich hat immer ein Mehr an Verantwortlichkeit als alle anderen.“16 Die Moralität – oder, wenn man so will, die Letztverantwortung des Einzelnen, die er nur vor sich und seinem Gewissen haben kann – ist demnach größer als jede sittliche wie rechtliche Norm. Der Mensch ist also nicht moralisch wegen oder dank der Gesellschaft; dank ihrer ist er nur ethisch oder gesetzestreu. An dieser Stelle zeigt sich sehr eindringlich der bereits oben erwähnte Zusammenhang von theoretischem und sittlichem Urteil, oder anders, dass das theoretische Urteil dem sittlichen vorangeht. Es gibt kein Selbst ohne moralisches Selbst. Oder wiederum anders: es gibt kein Selbst vor dem moralischen Selbst – die Moral ist die erste Wirklichkeit des Selbst. Und da jede menschliche Kollektivität nur in ihren Individuen wirklich ist, kann das moralische Selbst nur Ausgangspunkt und nicht Endprodukt der Vergesellschaftung sein. Man könnte auch formulieren, dass die ethische Substanz einer menschlichen Gemeinschaft die Summe der ihr innewohnenden individuellen Moralität ist. Dasselbe gilt für den Soldaten und vor allem für den Offizier. Moralisch zu sein bedeutet mehr – nämlich im 16 Emanuel Lévinas, Ethik und Unendliches, Wien 1986, S. 75. 26 innersten Grunde völlig auf sich selbst und damit auf die eigene Freiheit verwiesen zu sein. Selbstverständlich resultieren Gefahren aus der Tendenz, auf individualmenschliche Intuition zu setzen. Andererseits aber führt die Re-Personalisierung der Moral dazu, das ethische Gewebe des Sozialen und Politischen zu verdichten. Es gibt gute Gründe, die Sicherung der menschlichen Koexistenz (wieder) dem Moralvermögen des Einzelnen anzuvertrauen und die „innerste Moralvertrautheit“17 als letzte ethische Instanz wiederzubeleben. Diese ontologisch bestehende Dichotomie ist für das Verständnis von Ethik im Kontext menschlicher Freiheit und individueller Verantwortung im Sinne freiwillig geübter Gerechtigkeit von überragender Bedeutung. Auch im Militär ist zu beachten, dass die letzlich autonome moralische Verantwortung nicht durch heteronome ethische Verpflichtungen ersetzt werden kann bzw. ersetzt werden darf. Zur teleologischen Konsequenzorientierung in der Ethik Nutzenkalkulatorische Ansätze stehen sowohl in der philosophischen Theorie der Moderne als auch in der Praxis zeitgenössischer Politik im Vordergrund des Interesses. Nicht zuletzt fördert die auf Profit- und Ertrag, individuellen Vorteil und persönliches Glücksstreben gerichtete Leistungsorientierung der (post) modern verfassten westlichen Gesellschaften jene Handlungsansätze, die ethisch-moralisches Verhalten aus der Kalkulation individuellen oder kollektiven Nutzens zu begründen suchen. Lebenserfahrung und mein persönlicher Umgang mit Offizieren bzw. meine Lehrveranstaltungen bestätigen, dass die meisten Menschen und der überwiegende Teil des militärischen Führungspersonals zur utilitaristischen Betrachtungsweise neigen; zumindest so lange, bis sie sich ernsthaft mit Ethik auseinanderzusetzen beginnen. Dies ist zunächst nur allzu verständlich, denn wer immer handelt, strebt ein bestimmtes Ziel an, das mit dem Handeln erreicht werden soll. Und ist es nicht völlig vernünftig und legitim, das Beste für sich und die einem Anvertrauten herauszuholen? Muss nicht insbesondere der militärische Führungsverantwortliche auf das Wohlergehen seiner Untergebenen bedacht sein? Natürlich muss er das und es kann niemandem verübelt werden, sein Glück und das für ihn Beste anzustreben. Dieser Ansatz beginnt erst dort problematisch und eigentlich unethisch zu werden, wo er die Maxime, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt, außer Acht zu lassen beginnt. Darf etwa das Bestreben, ein in sich ethisch einwandfreies Ziel wie 17 Zygmunt Bauman, Postmoderne Ethik, Hamburg 1995, S. 59. 27 beispielsweise ein Examen zu bestehen, den Einsatz aller Mittel – Erstehlen der Prüfungsfragen, Schwindeln, Abschreiben,– rechtfertigen? Rechtfertigt das in sich legitime Ziel, ein bestimmtes Karriereziel zu erreichen, etwa die Denunziation von Mitbewerbern? Darf ein militärischer Kommandant, um ein bestimmtes Gefecht zu gewinnen, vielleicht gar, weil ihm dies weitere Beförderung und Auszeichnung verheisst, jegliches Mittel einsetzen, gleich was dies an Menschenopfern und Leid mit sich bringt? Nicht nur die Kriegsgeschichte ist voll von Beispielen, welche die zutiefst unmenschlichen (und somit unethischen) Ergebnisse des Handelns aufzeigen, das ein gewünschtes Handlungsresultat um jeden Preis herbeizuführen beabsichtigt. Das Problem oder die Schwäche des Konsquenzialismus liegt daher nicht darin, auf das Ergebnis des Handelns gerichtet zu sein, sondern ist vielmehr in der Tendenz zu sehen, dieses Ergebnis um jeden Preis anzustreben. Diesem Ansatz fehlt ein ethisches Regulativ entlang des oben aufgezeigten Prinzips der Gerechtigkeit bzw. unterliegt ihm die Verfolgung einer missverständlichen Auffassung von Gerechtigkeit. Hängt der Wert jeder ethischen Theorie von der In-Beziehung-Setzung der beiden Hauptbegriffe der Ethik, des Rechten und Guten, ab, so scheitert der Utilitarismus daran, zunächst das Gute (hier also die bestmögliche Förderung und Befriedigung des gewünschten Ergebnisses) unabhängig vom (Ge) Rechten zu definieren, um schließlich das Rechte als das festzulegen, welches das Gute maximiert.18 Zweifellos beruhen zahlreiche ethisch ungerechtfertigte Handlungsweisen auf der Tatsache, dass viele in ihren Entscheidungen auf das unbedingte Erreichen des gewünschten Resultats versessen sind und vergessen, dass der Zweck niemals alle Mittel heiligen kann. Als Regulativ kann hier die Einsicht in die von Aristoteles aufgestellte Maxime behilflich sein, welche auffordert, die theoretische Maxime der Vernunft mit der praktischen Maxime der Weisheit zu verbinden: „Ferner kommen die menschlichen Handlungen unter dem maßgebenden Einflusse der Klugheit und der sittlichen Tugend zu stande. Die Tugend macht, daß man sich das rechte Ziel setzt, die Klugheit, daß man die rechten Mittel dazu wählt.“19 Ethische Unterweisung hat sich also unweigerlich mit der verführerischen Maxime des „Der Zweck heiligt die Mittel“ auseinanderzusetzen und das Spannungsfeld von deontologischer und teleologischer Ethik zu behandeln. Ethische Urteilsfähigkeit, als Ziel ethischer Bildung und Unterweisung, wird 18 Vgl. hiezu auch W. K. Frankenas Kritik der teleologischen Theorie in: Ethics, Englewood Cliffs 1963, vor allem S. 13f. 19 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Leipzig 1911, 1144a. 28 daher sowohl Vernunftregeln als auch situative Klugheit und praktische Weisheit veranschlagen und in jeder Situation danach trachten, die Freiheitsansprüche jedes Menschen mit dem Maßstab der ethisch Guten und Gerechten zu vereinen. Nur dadurch können die kollidierenden Ansprüche zwischen Handelnden bzw. Beteiligten in ethisch relevanten Situationen ausgesöhnt und bestmögliche Entscheidungen getroffen werden. Die Interessensabwägung und das Dilemma der lebenszugewendeten ethischen Entscheidung, oft das kleiner von zwei Übeln wählen zu müssen, hat die Denker von jeher beschäftigt. Bereits bei Aristoteles finden wir im Kontext des Notstandes bzw. der Notwehr den Gedanken der Kollision zweier Rechtsgüter, in dem entschieden werden muss „welches von zwei Dingen man wählen, und welches von zwei Übeln man ertragen soll“. 20 Hegel wird das beinahe zwei Jahrtausende später konkretisieren, in dem er in der Notfallsituation, als der ethischen Entscheidungssituation par excellence, die Erhaltung überweigender, d.h. qualitativ höherer oder quantitativ umfangreicherer Rechte, auch dann als gerechtfertigt ansieht, wenn dadurch die Rechte und Interessen anderer eingeschränkt werden. 21 Dieses der unvoreingenommenen Vernunft selbstevidente Prinzip ist für die Militärethik von besonderer Bedeutung, muss doch in Situationen militärischer Gewaltanwendung häufig beispielsweise zum Schutz von bedrohten Personen das Leben anderer aufs Spiel gesetzt bzw. in extremis sogar genommen werden. Wie noch gezeigt werden wird, besteht das Fundamentalproblem der militärischen Ethik ja darin, die Legitimität von Gewaltanwendung, die potenziell den Tod anderer wie des eigenen impliziert, ethisch zu begründen und die Grenzen und Kriterien für sittlich legitimes soldatisches Handeln aufzuzeigen. Für das in diesem Abschnitt behandelte Thema der Abwägung eigener Interessen und angestrebter Handlungsresultate mit den Ansprüchen anderer, die von diesen Handlungen betroffen sind – was die Verfolgung eigener Zwecke um jeden Preis für immer als unethische Maxime ausweist – gibt uns auch Franz Böckle eine wichtige Hilfestellung. Er betont, dass es sich bei handlungsrelevanten Entscheidungen immer wieder um eine Entscheidung zwischen Gütern und Werten handelt.22 Unter Gütern werden reale Gegebenheiten verstanden, die zwar unabhängig von unseren persönlichen Intentionen existieren, aber unserem Handeln vorgegeben und zur verantwortlichen Beachtung aufgegeben sind, wie etwa die leibliche Integrität, geistiges oder 20 21 22 Ebenda, 1110a. Dargelegt u.a. in Theodor Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, Tübingen 1965, bes. S. 84. Franz Böckle, Fundamentalmoral, München 1978, S. 259ff. 29 materielles Eigentum, aber auch institutionelle Faktoren wie Ehe, Familie, Staat. Werte hingegen sind geistig-moralische Größen, die nur „als Qualitäten des Willens als real existent“ angesehen werden können, wie etwa das subjektive Verständnis von Gerechtigkeit oder auch Treue, Solidarität, Kameradschaft. Nun stehen sich in Situationen, in denen sittliches Handeln gefordert ist, konkurrierende Güter und Werte gegenüber, die vom handelnden Subjekt eine Entscheidung fordern, welchem der kollidierenden Güter und Werte es den Vorzug einräumt. Um nun Prioritäten sinnvoll festlegen zu können und eine „Tyrannei der Werte“ (Nikolai Hartmann) zu vermeiden, schlägt Böckle vor, das Prinzip der Fundamentalität – welches demjenigen Gut den Vorzug gibt, das die notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung eines anderen ist – und das Prinzip der Dignität, welches die Werte nach ihrer jeweiligen Sinnfülle ordnet und wiederum das Fundamentalgut in einen Sinnkontext bringt, zu veranschlagen. So würde es normativ das Prinzip der Fundamentalität beispielsweise nicht gestatten, das Recht zu freiheitlicher Selbstbestimmung über das Gut, das die Voraussetzung dafür bildet, nämlich das Recht auf Leben, zu stellen; es sei denn, dass in einer konkreten Situation etwa die Verhinderung freiheitlicher Selbstbestimmung mit dem Versuch physischer Auslöschung einhergeht; was das Fundamentalgut durch die Betrachtung auf der Ebene der Dignität in einen neuen Sinnzusammenhang bringt. Ethisch relevante Urteile sind zumeist gemischte Urteile, die sich aus Tatsachen- und Werturteilen zusammensetzen und – wenn Ethik in den Kontext übergreifender Daseinsbedingungen gestellt werden soll, die sich mehr als die eigene Zweckerfüllung zum Ziel setzt – die beiden Schlüsselpositionen des Sittlichen – die Grundhaltung der Klugheit (Bedingtheit) und Pflicht (Unbedingtheit)23 – im konkreten Handeln zu verwirklichen sucht. Zum ethisch-moralischen Relativismus und Partikularismus Relativismus und Partikularismus scheinen die logische Konsequenz des zeitgenössischen Zustands der kulturellen und gesellschaftspolitischen Orientierung zu sein, die jener Denkweise nähersteht, die darauf verzichet, sowohl Wirklichkeit als auch Wertüberzeugungen einheitlich zu gestalten. Allerdings zeigt sich in ideengeschichtlicher Perspektive, dass sich die Frage nach einer universalen Ethik sowohl in der philosophischen Ethik als auch der politischen Philosophie als perennes Problem präsentiert, das sich heutzutage vor allem im Zusammenhang mit einer immer dependenter werdenden Menschheit mit besonderer Aktualität wieder stellt. 23 Wilhelm Korff, Wie kann der Mensch glücken?, München 1985, S. 10. 30 Dass die ethische Begründung bzw. der Begründungsversuch jedoch als gleichsam existenzielles Bestreben zu verstehen ist, wird in Ernst Tugendhats These deutlich: „Nur mit Bezug auf die Moral ist das Begründungsproblem eines Notwendigkeit des konkreten Lebens“. 24 Bei wissenschafltichen oder ästhetischen Urteilen könnte man das Problem ihrer Begründung als rein akademische Angelegenheit betrachten, nicht so bei ethischen, die mit konkretem lebensweltlichem Handeln zu tun haben. Ich pflichte auch P.F. Strawson bei, wenn dieser in seiner Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins zum Ausdruck bringt, dass erst der Anspruch allgemeiner Geltung, einem Interesse, einem Willen oder einer Norm die Würde moralischer Autorität verleiht.25 Robert Spaemann geht sogar einen Schritt weiter, wenn er den Gedanken zum Ausdruck bringt, dass „jede Philosophie einen praktischen und theoretischen Totalitätsanspruch stellt“, wobei „ihn nicht zu stellen“ gleichzusetzen wäre mit „nicht Philosophie zu treiben“.26 Natürlich muss hier, um Missverständnissen vorzubeugen, hinzugefügt werden, dass das intrasubjektive Streben des philosophischen Denkers nach philosophischer Wahrheitserkenntnis nicht mit der Aufforderung zu einem totalitär-dogmatischen Umgang im Menschlichen wie Politischen verwechselt oder als solcher verstanden werden darf. Es ist auch wichtig darauf hinzuweisen, dass dieser Denkansatz nicht darauf abzielt, Relativismus in allen Lebensbereichen aufzuheben oder gar ein Mikromanagement kultureller und religiöser Besonderheiten betreiben zu wollen. Worum es geht ist eine Wertübereinstimmung auf fundamentaler Ebene, um das Auffinden eines „ethischen Minimalkonsensus“, der ungeachtet individueller Wertungen und Interessen, gesellschaftlicher und religiös-weltanschaulicher Orientierung und Zugehörigkeit, von allen Menschen und menschlichen Gemeinschaften als außerempirische Form der Wirklichkeit anerkannt werden kann. Der Kernbestand eines gemeinsamen ethischen Normenverständnisses wird sich daher auf Aspekte wie die Würde der menschlichen Person, individuelle und gemeinschaftliche Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte sowie Gerechtigkeitsvorstellungen im Zusammenhang mit den sich immer wieder manifestierenden Dimensionen des Widerstreits von Interessen und deren potenziell gewaltvoller Austragung zu beschränken haben. Ethische Grundlagen, welche sich auf die politische Macht- und Gewaltkultur sowohl inner- als 24 Ernst Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 57. P.F. Strawson, Freedom and Resentment, London 1974, zitiert in: Jürgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983, S. 59. 26 Robert Spaemann, Der Streit der Philosophen, in: H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie?, Berlin 1978, S. 96. 25 31 auch zwischenstaatlich beziehen, werden als Kernelement eine Ethik enthalten müssen, die sich mit Gewaltanwendung und der Verwendung des militärischen Instrumentariums beschäftigt. Schon Plato hatte vor der Gefahr der Wertbeliebigkeit gewarnt, welche insbesondere die Demokratie bedroht. Der ethisch-moralische Relativismus bzw. Partikularismus hatte ja im antiken Griechenland in Form der Sophistik Gestalt angenommen und begonnen, die Bedeutung der staatlichen Institutionen auszuhöhlen und der individuellen Beliebigkeit anheim zu stellen. Am Ende sah Plato die Tyrannis, der niemand mehr bereit ist entgegen zu treten, um die dekadent gewordenen demokratischen Institutionen zu verteidigen.27 Es muss also auch in der Demokratie angestrebt werden, ethische Werte und normative Grundpositionen aufzufinden, die von allen Kräften der Gesellschaft auf Basis eines „sittlichen Minimalkonsenses“ akzeptiert und zum Maßstab des sozialen und politischen Verkehrs gemacht werden können. Dabei muss ein normatives Ethikmodell dem Anspruch weltlicher Gültigkeit und konsensfähiger Plausbilität genügen, mithin also lebenszugewendet sein und somit anthropologische und empirische Gesichtspunkte berücksichtigen. Umso mehr ein solcher Minimalbestand an ethischen Prinzipien beanspruchen muss, gegenüber jedem begründbar zu sein, ohne sich auf höhere Wahrheiten zu berufen, muss es zumindest dem Erfordernis genügen, unparteiisch und im Interesse aller zu sein. Im zeitgemäßen Kontext, in dem Letztbegründungsversuche von vornherein misstrauisch machen, wird die Frage, ob ein normatives System begründet ist daher eher in die Frage gewandelt, ob es gute Gründe gibt, es zu akzeptieren. Der Anspruch normativer Gültigkeit geht überdies mit der Erscheinung höchster Abstraktion einher und und entbehrt somit konkreter Inhalte. Normative Gültigkeit ist daher in erster Linie formale Gültigkeit und muss dies auch sein, da sich das normative Prinzip ja auf alle denkbaren empirischen Situationen anwenden lassen muss. Allerdings darf diese formale Gültigkeit und Inhaltsarmut keineswegs mit Inhaltsleere verwechselt oder gleichgesetzt werden, wie dies von oberflächlichen Kritikern immer wieder behauptet wird. Vielmehr handelt es sich bei diesen allgemeinen Prinzipien und Wertmustern um normative Forderungen, die einen großen, nicht nur logischen Spielraum für Interpretationen bei der inhaltlichen Bestimmung und praktischen Konkretisierung lassen. Die Suche nach normativen ethischen Prinzipien hat entschieden die Position des Relativismus und Skeptizimus zurückzuweisen, der die zeitgenössische philosophische und wissenschaftliche, aber auch politische Debatte 27 Vgl. Platon, Der Staat, besonders das Ende des 8. Buches, 557b-565c. 32 auszeichnet und zur Aufgabe der Idee von der Objektivität normativer Wertmaßstäbe zu verleiten versucht. Hier liegt die fälschliche Annahme zugrunde, dass die Pluralität von Lebensformen und der vorherrschende Partikularismus das Vorhandensein oder Zustandekommen ethischer Normen mit universellem Anspruch verunmöglicht; während es durchaus plausibel erscheint, dass sich Menschen, wenn auch unterschiedlichsten Lebensformen zugehörig, auf der Ebene höchster und universell gültiger normativer Prinzipien und Überzeugungen treffen können. Im anglo-amerikanischen Raum wurde dieses moralische Argument u. a. von Michael Walzer aufgenommen, der auf eine „Thin Morality“ verweist, die sich auf grundlegende Normen des sozialen und politischen Verkehrs bezieht und durchaus auf ein hohes Maß an globalem und kulturinvarianten Konsensus trifft. Diese Minimalmoral unterscheidet er von der „Maximal Morality“, die sich in den einzelnen Regionen und Gesellschaftssystemen in kultureller Differenzierung entwickelt.28 Diesen Überlegungen liegt also die hier thematisierte Überzeugung zugrunde, dass sich die Pluralität kultureller und politischer Lebensformen nur auf eine sekundäre Ebene von Normen und Prinzipien bezieht bzw. beziehen darf, während durchwegs auf der Primärebene grundlegender Werte und ethischer Normen die Verpflichtung zur Objektivität und zum Universalismus besteht. Relativismus oder Partikularismus kann daher niemals als ethische Theorie dienen; im Gegenteil, würde normative Ethik auf immer unmöglich machen. Aber neben den problematischen praktischen Konsequenzen bedeutet Relativismus auch eine intellektuelle Inkonsequenz. Wie Hilary Putnam herausarbeitet akzeptiert die Wissenschaft entsprechende kognitive Normen – wie etwa methodologische – bzw. setzt diese voraus, wenn sie zu allgemein gültigen Ergebnissen gelangen will, weist aber andererseits jede moralische Norm zurück, wenn es zum Gegenstandsbereich der normativen Ethik kommt.29 In einer politischen Ethik, in deren umfassenden Kontext auch die militärische Ethik ihren Platz finden muss, bringt die relativistische Haltung die eminente Gefahr mit sich, dass mit den Resultaten schwerlich gelebt werden kann. Insbesondere die ethische Legitimierung politisch-militärisch-soldatischen Handelns muss auf universal gültigen Prinzipien beruhen und eine allgemein akzeptierte Theorie des Gerechten Krieges – die sowohl politische Kriterien für die Entscheidung zur Kriegsführung als auch militärische Kriterien für das Verhalten von Soldaten und Streitkräfteformationen beinhaltet – 28 Michael Walzer, Thick and Thin: Moral Argument at Home and Abroad, University of Notre Dame Press 1994, S. 1-19. 29 Hiezu vor allem Hilary Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a. M., 1982. 33 auf die je gegebenen Bedingungen der internationalen Beziehungen und des Konflikt- bzw. Kriegsbildes adaptieren. Schlussfolgerungen und Axiome militärischer Ethik Die militärische Ethik muss konsequenterweise, als Disziplin angewandter Ethik, von der Frage der Anwendung normativ-ethischer Kriterien auf alle ethisch relevanten Herausforderungen der militärischen Lebenswelt handeln, die ja von Aspekten der täglichen Dienstpflichterfüllung bis hin zu Fragen der politisch-militärischer Gewaltanwendung in einem zivilen und politischdemokratischen Umfeld reichen. Zwei pragmatische Voraussetzungen sind als Ausgangsbasis für militärische Ethik in Betracht zu ziehen: 1. Der Zweck der Militärorganisation und die distinkte Organisations- und Aufgabenkultur des Militärs im Rahmen nationalstaatlicher und bündnis- bzw. koalitationsbezogener Politik; und 2. Die sozialen und politischen Umfeldbedingungen offener und demokratischer Gesellschaften, in denen Soldat und Streitkräfte existieren und tätig sind. Denn wie jedes Berufsfeld so wird auch das militärische geformt durch den Zweck der Organisation, die daraus entspringenden berufsbedingten, funktionellen Erfordernisse und das soziale und politische Umfeld. Der Zweck der Militärorganisation im staatlichen Gemeinwesen besteht darin, die politisch-staatlichen Interessen in der Ausnahmesituation von (bewaffneten) Konflikten – durch Management und Anwendung von Gewalt – durchzusetzen. Hier agiert das Militär als Instrument der Politik unter dem Primat der Politik als Teil des staatlichen Gewaltmonopols in erster Linie für äußere Sicherheit aber auch, unter gesetzlich streng reglementierten Bedingungen, für die Sicherheit im Inneren. Das dem „modernen“ Militär primäre „Kämpfer“-Element im Sinne von Gewaltandrohung und –anwendung wird nun im „postmodernen“ Militär durch vorwiegend friedenserhaltende und humanitären Aufgaben durch das „Beschützer“-Element ergänzt. Es ist jedoch ganz wichtig festzuhalten, dass die neuen Funktionen die alten ergänzen, jedoch nicht ersetzen.30 Aus diesem Grund müssen die Streitkräfte nach wie vor der Herausforderung gewachsen sein, ihre organisatorischen Handlungsziele unter den Bedingungen des bewaffneten Konfliktes erreichen zu können. Dies ist aber nur möglich, wenn die Erfordernisse einsatzbezogener Ausbildung – Gewöhnung an physische und psychische Belastung – sowie die Besonderheiten der 30 Barbara Schörner/Edwin R. Micewski, Streitkräfte in der Postmoderne, Österreichische Militärische Zeitschrift 3/2007, S. 271-280. 34 militärischen Lebenswelt – Disziplin, Hierarchie, Drill – weiterhin zentral Beachtung finden. Nach wie vor gilt es, zur Bewältigung der von Clauswitz angeführten Elemente des Krieges – Gefahr, Erschöpfung, Unsicherheit, Zufall31 – fähig zu sein, wozu auch gehört, dass der Soldat dieser Herausforderung auf moralisch einwandfreie Weise gerecht wird. Neben moralisch verantwortbarem Verhalten im Einsatz steht für den mit Führungsaufgaben betrauten Offizier die militärischen Ethik zusätzlich im Kontext einer speziellen Führungsverantwortung, in der es um den Aspekt der sittlichen Verantwortung des Offiziers und seine persönlich spezifische Moralität geht, die aus der ihm zustehenden Befehlsgewalt resultieren. Als weiteren Aspekt hat die Militärethik die Frage der sozialethischen Bedeutung des Militärs zu behandeln, da sich ja die spezielle und exklusive Organisationskultur des Militärischen in einem demokratiepolitischen Umfeld entfaltet, in dem die soziale (politische) Billigung des Handelns für alle Organisationsbereiche eine wichtige Bedingungen für effizientes Handeln bildet. Es ist daher leicht verständlich, dass jener Aspekt der Militärethik, der sich mit der Legitimation militärischen Handelns gegenüber dem politischen und sozialen Umfeld beschäftigt, eine große Rolle spielt. In diesem Zusammenhang besteht die große philosophische Herausforderung der Militärethik für den Soldaten, insbesondere für den Offizier und militärischen Führer, in der existenziellen Sinnfrage, die er sich im Angesicht des Todes – des eigenen wie fremden – zu stellen hat. Dem Offizier in Führungsverantwortung ist Leben anvertraut, in zweifacher Hinsicht: zum Bewahren und gegebenenfalls zum Nehmen. Ob und wann dies ethischmoralisch legitimierbar ist, steht im Zentrum all jener Fragen, denen militärethisch nachzuspüren ist und die jeder Einzelne – idealtypisch gesprochen – für sich zu beantworten hat. Soldat wie Offiziert haben zu gewärtigen, dass der tiefste Ernst und die größte Herausforderung ihrer Existenz in der Gewaltanwendung liegt, der die Tötung Anderer und der eigene Tod potenziell inhärent sind. Dabei sind zwei Aspekte von Bedeutung, die es hervorzuheben gilt. Zum einen muss diese Gewaltanwendung, obwohl sie vom Staat domestiziert, monopolisiert und legalisiert ist, doch letzlich vor dem eigenen Gewissen ethisch-moralisch verantwortet werden; zum zweiten ändert auch die quantitativ vorherrschende Faktizität der friedlichen Koexistenz des Militärischen nichts an der eigentlich metaphysischen Natur des Militärischen, die von ihrem Wesenskern her unveränderlich und eben in der Bewährung in der Ausnahmesituation eines bewaffneten Konfliktes zu sehen ist. 31 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, München 1963, S. 58ff. 35 Diese spezielle Sinnfrage ist das nachhaltigste Unterscheidungsmerkmal, das den militärischen Professionalisten von anderen Berufsausübenden trennt, und berührt die tiefsten Zusammenhänge sozialen und politischen Seins. Gleichzeitig repräsentiert diese Sinndimension aber auch die größte Diskursherausforderung für die Streitkräfte mit der Gesellschaft und begründet nachhaltige Wertambivalenzen und Inkompatibilitätsprobleme. 32 Abgesehen davon und darüber hinaus steht im Mittelpunkt militärethischer Bildung die Kultivierung einer ethisch-moralischen Disposition, eines ethischen Bewusstseins, das dem einzelnen Soldaten/Offizier die Wahrung ethisch-moralischer Prinzipien in allen Bereichen seiner Dienstpflichterfüllung, vom alltäglichen Friedensbetrieb bis zum Verhalten im Einsatz, ermöglicht. Dass militärische Ethik als Bildungsgegenstand eher mit der Förderung eines ethisch-moralischen Bewusstseins im Sinne der Vermittlung eines Orientierungsmaßstabs als mit konkreten ethischen Rezepturen und Handlungsvorschreibungen zu tun hat, liegt darin begründet, dass sich die Anlassfälle, in denen ethisches Verhalten von Soldaten und Offizieren eingefordert wird, niemals exakt vorherbestimmen lassen; vor allem nicht für die komplexen Einsatzszenarios, mit denen Streitkräfte heutzutage konfrontiert sind. Die bereits von Platon erhobene Forderung, vom „Wächter“ einen philosophischen Hang zur Bildung und die Entwicklung bzw. Schärfung seiner Urteilsfähigkeit zu fordern, die es ihm ermöglicht, nicht nur gerechtfertigt sondern auch auch gerecht zu handeln,33 erscheint daher aktueller denn je. Aber nur in einem breit angelegten Verständnis politisch-ethischer Bildung wird es möglich sein, das zu erreichen. Während Moralphilosophie und Ethik grundlegende Einsichten in den Zusammenhang von menschlich-moralischen Pflichten und deren Anwendung in unseren privaten und beruflichen Lebenswelten vermitteln, widmet sich die militärische Ethik der kompetenten Auseinandersetzung mit grundsätzlich-normativen Aspekten von Gewalt und Gewaltanwendung und deren Umsetzung in den zeitgemäßen Kontexten staatlicher und internationaler Gewaltmonopolisierung sowie den neuen Herausforderungen, die durch die Entstaatlichung, Deregulierung und Privatisierung ebenso entstehen wie durch die paradigmatischen Veränderungen im Kriegs- und Konfliktbild. 32 Zur Frage der Inkompatibilität, vor allem der normativen, vgl. Edwin R. Micewski, Werte und Militär – Werte im Militär. Die Wertethematik im Kontext von Individuum, Gesellschaft und Streitkräften, in: Hermann T. Krobath (Hg.), Werte in der Begegnung. Wertgrundlagen und Wertperspektiven ausgewählter Lebensbereiche, Würzburg 2011, S. 255-274. 33 Edwin R. Micewski, Der gebildete Soldat und Offizier – Grundlegendes zur Bildung der Führungskräfte in Streitkräften. Truppendienst 5/2001, S. 408-413 (wiederveröffentlicht in Schörner/Fleck (Hrsg.), Ein Offizier als Philosoph, a.a.O., S. 467-478. 36 Ich habe an anderer Stelle das moralische Fundament für eine Ethik der Gewaltanwendung im Rahmen einer Logik der (politischen) Gerechtigkeit gelegt und das normative Gerüst, eine normative Richtschnur für eine militärische Ethik, vorgestellt. Dabei habe ich die Frage der moralisch-sittlichen Legtimität politisch-militärischer Gewaltanwendung und soldatischen Handelns in ihren äußeren (politik- und systemabhängigen) und inneren (in der persönlichen Entscheidungsautonomie begründeten) Bedingungen abgehandelt und die drei Legitimitätsebenen der Politik, des militärischen Kollektivs und des persönlichen Gewissens eingeführt. Dieser Ansatz gestattete, ohne Bezug auf die Theorie vom Gerechten Krieg, die Parameter einer Ethik der Gewalt in ihren Bedingungen, Einschränkungen und Voraussetzungen normativ aus moralphilosophischer Analyse phänomenologisch zu begründen.34 Schlussperspektive Der unüberwindbare ethische Charakter menschlichen Daseins stellt den zur Wahrnehmung von Verantwortung Fähigen in allen Lebensbereichen vor die ständige Herausforderung, sein Handeln nach Maßstäben zu gestalten, die sinnvolle menschliche Koexistenz ermöglicht bzw. zu einer solchen beiträgt. Gesetze und Vorschriften können zwar ein bestimmtes Verhalten, zumindest dort, wo Recht und Rechtsdurchsetzung vorhanden sind bzw. zum Tragen kommen, erzwingen, aber gelebt wird Humanismus letztlich nur dort, wo er tatsächlich internalisiert ist und verstanden wird. Die Ethik als philosophisch-wissenschaftliche Disziplin setzt sich zum Ziel, Handlungsnormen aufzufinden und zu begründen, die als Richtschnur und Orientierungshilfe für tatsächliches Verhalten dienen können. Dabei werden die normativen Aspekte der Ethik gleichsam auf die einzelnen beruflichen Handlungsbereiche im Wege der angewandten Ethik übersetzt, um Hilfestellung für die speziellen Herausforderungen der beruflichen Lebenswelten zu geben. Als Erziehungs- und Bildungsdimension ist die Ethik überdies bestrebt, dem Einzelnen dabei behilflich zu sein, zu einer adäquaten innerlichmoralischen Disposition zu finden, die ihm ethisch gerechtfertigtes Handeln auch dort ermöglicht, wo keine direkten und unmittelbaren äußeren Handlungsanweisungen vorliegen. Aber abgesehen von einer diversen und in sich unabgeschlossenen Philosophiegeschichte sehen sich Moralphilosophie und Ethik mit der Herausforderung relativistischer und fragmentierender Tendenzen in der westlichen Edwin R. Micewski, Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit, a.a.O., V. Kapitel (S. 163-180). 34 37 Kultur bzw. im abendländischen Denken konfrontiert, welche das Auffinden einheitlicher Werthorizonte erschwert, wenn nicht sogar verunmöglicht. Hier ist es aber gerade der Bereich der Gewalt- und Kriegsethik, der noch am ehesten dazu angetan ist, ethischen Konsens zu ermöglichen. Die humanitären Imperative einer politisch-militärischen Ethik – Krieg als ultima ratio, Unausweichlichkeit (Notwendigkeit) und Angemessenheit (Proportionalität) der Gewaltanwendung, Diskriminierung von Kombattanten und Nichtkombattanten, der Schutz von Unschuldigen und Hilfsbedürftigen, die indiskriminierende Versorgung Verwundeter, die menschenwürdige Behandlung Gefangener ... – tragen universale und kulturinvariante Züge, die nur von Kräften des politischen Extremismus oder des schweren Verbrechertums negiert werden. Insbesondere die Komplexität der ethischen Herausforderungen für den Soldaten rückt die Notwendigkeit einer militärischen Ethik in den Vordergrund der Bildungsmaßnahmen für militärisches Führungspersonal. In der Erkenntnis, dass die Humandimension – und nicht technisch-wissenschaftliche Dimensionen – im Mittelpunkt der militärischen Führungsaufgabe steht, ist die Handlungskompetenz des Soldaten in Führungsverantwortung auf eine philosophisch-ethische Grundlage zu stützen. Die militärethische Orientierung hat daher im Mittelpunkt einer militärphilosophischen Bildung zu stehen, welche die Möglichkeiten des moralischen Selbst des Soldaten und Offiziers fördert und ihm die ständige Nährung und Kultivierung seiner ethischen Kompetenz ermöglicht. Literatur Aristoteles, Metaphysik, Stuttgart 1987 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Leipzig 1911 Bauman, Zygmunt, Postmoderne Ethik, Hamburg 1995 Böckle, F., Fundamentalmoral, München 1978 Clausewitz, Carl von, Vom Kriege, München 1963 Frankena, W. K., Ethics, Englewood Cliffs 1963 Hartmann, Nikolai, Ethik, Berlin-Leipzig 1925 Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart Korff, Wilhelm, Wie kann der Mensch glücken?, München 1985 Lenckner, Theodor, Der rechtfertigende Notstand, Tübingen 1965 Lévinas, Emanuel, Ethik und Unendliches, Wien 1986 Lyotard, J.-F., Das postmoderne Wissen, Wien 1993 Micewski, Edwin R., Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit. Zur Begründung der Gewaltproblematik im Kontext philosophischer Ethik und politischer Philosophie, Frankfurt a. M. 1998 38 Micewski, Edwin R., Werte und Militär – Werte im Militär. Die Wertethematik im Kontext von Individuum, Gesellschaft und Streitkräften, in: Hermann T. Krobath (Hg.), Werte in der Begegnung. Wertgrundlagen und Wertperspektiven ausgewählter Lebensbereiche, Würzburg 2011 Micewski, Edwin R., Der gebildete Soldat und Offizier – Grundlegendes zur Bildung der Führungskräfte in Streitkräften. Truppendienst 5/2001, S. 408-413 Platon, Politeia,Stuttgart 1982 Putnam, Hilary, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a. M., 1982. Schopenhauer, Artur, Fundament der Moral Schörner, Barbara/Micewski, Edwin R., Streitkräfte in der Postmoderne, Österreichische Militärische Zeitschrift 3/2007, Wien 2007 Schörner, Barbara/Fleck, Günther (Hrsg.), Ein Offizier als Philosoph – Schriften von Edwin Rüdiger Micewski. Kommentierter Sammelband, Frankfurt a. M. 2009 Schröfl, J./Pankratz, T. (Hrsg.), Asymmetrische Kriegführung – ein neues Phänomen der Internationalen Politik?, Baden-Baden 2003 Spaemann, Robert, Der Streit der Philosophen, in: H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie?, Berlin 1978 Strawson, P.F., Freedom and Resentment, London 1974, zitiert in: Jürgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983 Tugendhat, Ernst, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984. Walzer, Michael, Thick and Thin: Moral Argument at Home and Abroad, University of Notre Dame Press 1994 39 Uto Meier Ethische Grenzen und moralische Wegweisungen. Verantwortung jenseits zweckrationaler Optimierung Ein elementarmoralischer Zugang Es sei mit einem modernen Gedicht eröffnet, dessen Intuition interessanterweise eine sehr alte moralphilosophische Position trifft, die in dieser fundamentalethischen Reflexion ein wenig entwickelt werden soll: Die gute Sache wenn ich sehe was alles um der guten Sache willen getan wird dann denke ich manchmal es wäre vielleicht eine gute Sache wenn es überhaupt keine gute Sache mehr gäbe (Erich Fried. Aus: Lebensschatten. Gedichte. Berlin 1981) Erich Fried greift hier in einem lyrischen Sprachspiel ein zentrales Thema gegenwärtiger Verantwortungstheorien auf, die im Kern davon handeln, ob das, was wir als legitimiert ansehen und anstreben, also unser freies wie zielbestimmtes Handeln, von „letzten großen Zielen“ bestimmt sein soll, oder ob gerade in dieser äußeren Zielbestimmtheit als Letztorientierung – in der praktischen Philosophie „Konsequentialismus“ genannt – nicht selbst ein ernstes philosophisches Problem liegt. Der Verfasser gehört zu derjenigen Denktradition, die eine Begründung des Guten aus einem äußeren Zweck als problematisch erkennt, heiße dieser Zweck nun klassenlose Gesellschaft, oder Rasse oder Fortschritt oder Rendite. Wir alle kennen den Preis, den diese Denkfiguren in der Geschichte schon gekostet haben und immer noch kosten. Der Gulag, das KZ oder auch die Kinderarbeit der Millionen Kleinen, die für unsere Wohlfahrt die Teppiche, die Pflastersteine und die ach so feinen Schnäppchen produzieren, über die wir 41 uns herzlich beim Shopping erfreuen. Diese Haltung, wir müssten uns doch stets dem große Ziel unterwerfen, ist in vielen unmittelbaren ethischen Entscheidungen verborgen, die unser Leben bestimmen. Dabei ist dieses „Das-Größere-Wollen“ durchaus auch als positives ethisches Existenzial zu sehen. „Der Mensch ist dasjenige Geschöpf, das mehr will, als es kann, und mehr kann, als es soll“, schreibt der renommierte deutsche Verhaltensbiologe Wolfgang Wickler in seinem lesenswerten Band „Die Biologie der zehn Gebote“, um das bekannte anthropologische Phänomen der grundsätzlichen „Offenheit/Instinktungebundenheit“ des Menschen zu beschreiben. Dieser Essay zu einem Verantwortungsverständnis aus dem Nachdenken über Grenzen will der moralphilosophischen Frage nachgehen, woran sich heute denn eine nachhaltige Ethik orientieren sollte, die nicht ständig verschiedenen „Werte-Herrschaften“ wechselnd und abwägend wie zweckdienlich dienen will. Kurzum: An welchen Wegweisern (= Ethischen Prinzipien) sollen wir uns orientieren und welche unbedingten Grenzen (als konkrete normative Forderungen) sollen wir anerkennen, wenn wir nicht als Menschen zugunsten eines Zieles „Jenseits von Gut und Böse“, wie es Nietzsche formulierte, abdanken wollen? 1. Ein erster wissenschaftsethischer Blick: Paradigmenwechsel vom wertneutralen zum wertgebundenen Wissenschaftsverständnis Während Aristoteles (Metaphysik IV.3 und Nikomachische Ethik VI.3) noch die völlig voraussetzungslose, autonome und wertfreie Zielsetzung der Wissenschaft propagierte, die die Wahrheit – und teleologische Zielgerichtetheit – in den Dingen und Prozessen um ihrer selbst Willen sucht, und dies widerspruchsfrei und mit beschreibbar logischen Methoden (Syllogismus und Induktion), erkennt die kritische Moderne, spätestens seit dem kritischen Rationalismus eines Karl Popper (1902-1994) den positiven wie negativen Einfluß des Interesses etwa der Politik und der Wirtschaft auf die Wissenschaft: „Während wir Philosophen noch streiten, ob die Welt überhaupt existiert, geht um uns herum die Natur zu Grunde.“ Bekanntlich ist der Sitz im Leben der Differentialgeometrie die frühe Ballistik-Technologie der neuzeitlichen Artillerie, wie auch die Navigation, die Kartografie und Geodäsie (der Kolonialmächte) von der vermeintlich interesselosen Mathematik (mit) entwickelt und motiviert wurde. Die Unschuld einer wertfreien Wissenschaft ging etwa in Deutschland endgültig verloren mit der weltführenden deutschen Chemie am Anfang des 20. Jahrhunderts, als diese sich wie ein wissenschaftlicher Oberprimaner völlig den Kriegsforderungen des militaristischen Wilhelminismus unterwarf. Der 42 spätere Nobelpreisträger für Chemie, Prof. Fritz Haber, ging in die Geschichte auch als „Vater des Giftgases“ ein, das er den deutschen Militärs einsatzgerecht erfand.1 Im Frühjahr 2012 wurde des 100. Geburtstages von Wernher von Braun gedacht, der sowohl als „Vater der Mondfahrt“ Weltruhm erlangte, wie auch als willfähriger Erfinder der V2-Rakete im NS-Regime die Janusköpfigkeit des neuzeitlichen Wissenschaftlers verkörperte, der keine Grenzen in einer ausufernden Güterabwägung mehr akzeptieren konnte und wohl auch nicht wollte. Wernher von Braun und sein Protegé, General Dornberger, rechtfertigten sich nach dem Krieg immer – vor allem im Blick auf die tausenden Opfer, die allein die V2-Produktion im Konzentrationslager Dora-Mittelberg forderte – mit dem Argument: „…daß wir Raketen für militärische Zwecke entwickeln mussten, haben wir immer nur als Umweg betrachtet. Wir wussten, dass die Frühpioniere der Fliegerei in der ganzen Welt den gleichen Umweg beschreiten mussten.“ (Ruland 1969: 71). Instrumentelle Vernunft nannte Jürgen Habermas ein solches Denken einmal, denn eine instrumentalisierte Moral kann man aus der unbegrenzten Abwägung unserer Handlungsbegründungen hier unschwer identifizieren, eine Moral, die letztlich dem Prinzip huldigte, dass der Zweck die Mittel heilige. Dieser Verlust der wissenschaftlichen Unschuld führte bei Karl Popper zum Postulat einer notwendig wertgebundenen Wissenschaft, die ihre Legitimation eben nicht aus dem reinen Erkenntnisfortschritt schöpfen darf, sondern sich zum einen aus Wahrheitssuche (allerdings über die Skepsis der TheorieFalsifikation), zum anderen aber aus der Lösung von Problemen und aus der Minderung von Leid und Übel verstehen soll. Robert Oppenheimer (1904-1967), maßgeblicher Kopf im „Projekt Manhattan“ zur Entwicklung der amerikanischen Atombombe, war wahrscheinlich eine der tragischsten Figuren im Wissenschaftsbetrieb der Neuzeit, die das Problem der Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers existenziell durchleben musste. Nach dem Abwurf der beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki mit 125.000 Soforttoten und ca. 100.000 weiteren Toten in Folge schwerster Strahlenverletzungen versuchte Oppenheimer die Entwicklung der Wasserstoffbombe zu verhindern, weil er seine Mitarbeit an dieser Forschung moralisch nicht mehr verantworten konnte. Literarisch hat bekanntlich Heinar Kipphardt 1964 diese Figur in seinem Drama „In der Sache J. Robert Oppenheimer – ein szenischer Bericht“, vor allem unter verantwortungstheoretischen Fragestellungen, luzide ästhetisch verarbeitet. 1 Fritz Haber (1968-1934) erhielt den Nobelpreis 1919 für die Ammoniak-Synthese, die sowohl die Düngemittel- wie Sprengstoffherstellung revolutionierte. Vieles deutet darauf hin, dass der Freitod von Habers Frau, Clara Immerwahr, die selbst Chemikerin war, mit dem Umstand der Mithilfe ihres Gatten in der Wegbereitung zum Giftgas zu tun hat. 43 Die heutige politische Ethik ringt noch immer mit diesen Fragestellungen, ob denn und inwieweit Massenvernichtungswaffen und deren Einsatz gegen die Zivilbevölkerung moralisch vertretbar sein kann. Die Militärethik wiederum versucht Antworten auf die Frage zu finden, wieviel Kollateralschaden, wenn überhaupt, akzeptiert werden kann oder auch, ob die neue Form der „smarten Kriegführung“ etwa mittels „Targeted Killing“ ethisch vertretbar zur Reduktion von unschuldigen Opfern und Minimierung von Kollateralschäden verstanden werden kann. 2. Zweckrationalität die Zweite: Ethische Verantwortung oder ökonomischer Sachzwang? Ein anderer wesentlicher Bereich unserer Gesellschaft, in dem das Prinzip einer ausufernden „Abwägungs-Ethik“ dominiert, ist die Ökonomie. Wird die deutsche Wirtschaftselite auf ihre ethische Sensibilität befragt, so zeigt sich eine erstaunliche Diversität:2 Exakt 13% der befragten Topmanager halten den Stellenwert von Moral für unzureichend bzw. empfinden Moral als störend während ebenso 13% der Manager Moral als unabdingbare Basis für gutes Wirtschaften erachten. 31 % sprechen Moralkategorien eine große Rolle zu, während 33% Moralität als ambivalente Größe ansehen.3 Ankerbeispiel für eine klare ethikorientierte Rahmenordnung zeigt z.B. folgendes CEO-Statement bei Buß: „Die Rolle der Moral kann nicht groß genug sein. (…) Es gibt viele Unternehmer, die auch sehr moralisch handeln. Richtig bewusst unmoralisch handeln nur sehr wenige. Ethik ist ein Fach an der Uni, das eigentlich von allen gehört werden sollte. Man kann nicht genug davon reden. (..) Für mich muss der Unternehmer ein breit angelegter Humanist sein.“ (Buß 2007: 153) Der Kreis der 13% Kritiker bezweifelt hingegen eine Vereinbarkeit von Unternehmenszielen und Moralorientierung: „Die Diskussion über Moral ist für mich in erster Linie eine Feigenblattargumentation. Führungsethik-Diskussionen […] sind doch nichts anderes als der vergebliche Versuch, Moraldefizite auf der Managementebene mit Formeln zu übertünchen, die Wasser predigen, aber letztlich Wein trinken. […] Ich glaube nicht, dass ethische Grundsätze in den Chef-Positionen in irgendeiner Form verinnerlicht worden sind und […] gelebt werden.“ (Buß 2007: 160) 2 So Eugen Buß in seiner großen Untersuchung über die deutschen Wirtschaftseliten 2007: 130; 149-175. 3 Die jüngere Untersuchung von Bucksteeg (Bucksteeg 2010) zeigt eine Zunahme der Akzeptanz von moralischen Werten als Unternehmenssteuerungstools (ebd. 30). 44 In welchem Verhältnis sieht die wirtschaftliche Machtelite nun Ethik und Ökonomie bei genauerer Betrachtung? (Nur?) 25% der Spitzenmanager erachten die Entwicklung ethischer Leitlinien als erforderlich;4 und ebenso nur 25% befinden, dass Moral durch die Persönlichkeit der Führungskräfte in ihrer Vorbildfunktion abgebildet wird. Jeder fünfte Chef (19%) sieht in der Globalisierung ein Erschwernis für ethische Standards und 17% sind überzeugt dass Moral mit (markt-) wirtschaftlichen Notwendigkeiten kollidiert. (Buß 2007: 165) 5 In vielen Antworten zeigt sich die weit verbreitete Unsicherheit, dass moralische Positionen ja nur relative Größe seien: “Wenn es der kategorische Imperativ ist, denke ich, dass er natürlich eine Rolle spielt. (…) Ist das Fusionieren von Unternehmen mit Freisetzung von Mitarbeitern moralisch oder unmoralisch? Fragen Sie die Betroffenen und fragen Sie die, die es tun, und Sie kriegen sehr unterschiedliche Antworten. (…) Aber Moral ist eine sehr fließende Kategorie. Was vor zehn Jahren noch moralisch war, ist heute nicht moralisch (..).“ (Buß 2007: 166) Das Phänomen der Relativität moralischer Positionen bestimmt inzwischen erheblich deutsches ManagementDenken. Gleichwohl wird bei hohen Managern immer wieder die schwere Vereinbarkeit von ökonomischen Sachzwängen und ethisch eigentlich wünschenswerten Handlungsalternativen im Kontext vermeintlicher Sachzwänge beklagt: „Die Ohnmacht kommt fast zwangsläufig. Unter den deterministischen Rahmenbedingungen des Marktes wird man oft gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die ein anderer als unmoralisch empfindet oder als unethisch deutet.“ (ebd.) Buß‘s Untersuchung zeigt auch – durchaus irritierend –, dass die Machtelite der deutschen Wirtschaft ein hohes moralisches Ideal für ihre Rolle – oft implizit, aber durchaus spürbar – in Anspruch nimmt, jedoch nicht selten vor der unklaren Beziehung von ethischer Forderung und ökonomischen Zielen erkennbar verunsichert argumentiert. Damit ist jetzt der Ort gegeben, eine Klärung anzugehen, welches Ethos, welche ethischen Standards allenfalls klare Orientierung angesichts eines umgreifenden Relativismus geben können. Es sollen daher moralische Positionen identifiziert werden, die weder vor einem vermeintlichen Relativismus vorschnell kapitulieren, noch der Hybris einer endgültigen Klärbarkeit aller casi erliegen, wenn Entscheidungen verantwortet werden sollen. 4 Anders dagegen die Studie von Bucksteeg von 2010 (ebd. 22f): Hier fordern 71% der Führungskräfte die öffentliche Transparenz von Werteleitlinien. 5 Anders Bucksteeg 2010: 23, hier plädieren über 50% für einen Ethik-Primat im Konfliktfall zwischen Wert und Cash. 45 Die Frage stellt sich daher: Wovor müssen sich Manager wie Wissenschaftler wie Militärs – und vielleicht auch jeder Mensch, der in Sachzwängen/Systemen steht – verantworten? Aristotelisch nur vor der Wahrheitssuche? Oder nur vor dem Letztziel Rendite oder Erfolg oder dem „mission accomplished“? Oder doch auch vor den ferneren Folgen der Verwendung ihrer Erkenntnisse und Gewinnerzielungsarrangements und Kriegsfolgen? Oder sind dafür die Verwender/Konsumenten dieser Erkenntnisse/Prozesse verantwortlich zu machen? Oder gar die anordnenden Politiker oder Märkte oder die anonymen Sicherheitsarchitekturen? Auch im Alltag drängen diese Fragen: Darf man das günstige Schnäppchen erwerben, das nicht selten in ungerechten Kontexten gefertigt wurde, oder ist man der knappen Familienkasse zuerst verantwortlich? Ist ein Kurzstreckenflug in den Kurzurlaub noch verantwortlich, wenn doch das Weltklima davon beeinträchtigt wird? Darf man überhaupt dem Bankberater noch zuhören, der ein Wertpapier anbietet, dass noch ein paar Prozent mehr bietet? Kurzum: Sind wir nicht alle verstrickt in ungerechte Systeme, sind wir nicht alle (mit-) verantwortlich für die großen und kleinen Krisen der Welt und Umwelt und Nachwelt? Oder genügt es, wenn wir den Nahkreis „sauber halten“? Dispensiert gar die „große Aufgabe“ vor einer normativen Verantwortlichkeit, die unabhängig von jeweiliger Funktionsverantwortung ist? Wer lebt schon ohne Widersprüche? Auch Bischöfe fahren eine Dienst-Mercedes, der nicht zu den schöpfungsfreundlichsten Erfindungen der Welt gehört. Oder ruht diese ausufernde Verantwortlichkeitszuschreibung auch auf einer problematischen All-Verantwortlichkeit, der gegenüber wir weder verpflichtet sein können noch überhaupt verpflichtet sein sollen, weil Verantwortung unmittelbar wäre und nicht alle letzten Ziele meinen kann? Hilfreich scheint mir, sich daher zuerst einem differenzierten Verantwortungsbegriff zu stellen, der eine „Ethik jenseits der Zwecke“ andenken will, die sich als prinzipielle Leitplanke wie vor allem als normativ-unmittelbare Grenze artikulieren kann. 3. Zur Differenzierung des Verantwortungsbegriffs Traditionell wird der Verantwortungsbegriff in den neueren Debatten in einer vierstelligen Relation begriffen:6 (1) Ein Verantwortungssubjekt (Person/Firma/Institution) ist für ein (2) Verantwortungsobjekt (Handlungen aber auch Sprechakte) gegenüber einer 6 Hiezu zusammenfassend Assländer 2011. 46 (3) Verantwortungsinstanz (Gericht /Gewissen / öffentliche Meinung) vor einem (4) Normativen Hintergrund (Regelwerk als Kann- oder Soll- oder Muss-Regel, vor der Qualität einer sittlichen Beziehung, d.h. deontologischer versus teleologischer Normenbegründung) verantwortlich. Diese Verantwortung ist entweder (nach Höffe 1989) a) retrospektiv (jemand muss sich für eine Vergangene Tat verantworten), b) prospektiv (für zukünftiges Handeln) wie aber auch c) rekonziliativ (wiedergutmachend) angelegt, d.h. haftungspflichtig. Damit ist allerdings noch nicht das wesentliche Moment des zugrunde liegenden Handlungsverständnisses geklärt. Denn auch Mafia-Mitglieder „verantworten“ sich, indem sie persönlich für die einzutreibenden Schutzgelder haften und sich vor dem „Ehrenrat“ ihrer Ehrenwerten Gesellschaft – im Blick auf die gesetzten Erpressungsziele – rechtfertigen. Volkswirtschaftlich sorgt die Mafia sogar für positive Effekte, da sie „Umsätze“ generiert, die – ohne Besteuerung – den Warenfluss (aber eben auch den von Drogen und Waffen) intensiviert. Ohne die scharfe wie eben zentrale Klärung der Legitimität des normativen Hintergrundes ist also noch nicht viel für eine substanzielle ethische Betrachtung gewonnen und es bliebe bei einem problematischen Relativismus, wenn der normative Hintergrund aus seiner funktionalen Begründung (d.h. aus einem „Gut-für-etwas“) nicht befreit wird. Adolf Eichmann, der Organisator des Holocausts in Europa, hat in seinem Prozess in Jerusalem immer wieder beteuert, dass er nur Züge bereit gestellt, Personallisten erarbeitet und bei der Wannsee-Konferenz nur Protokoll geführt habe. Er selbst habe nie auch nur einem einzigen Juden ein Haar gekrümmt. Warum wurde er dennoch zu Recht verurteilt? Weil zu einem sittlichen Handlungsakt nämlich schon immer das Wissen um die Handlungsfolgen (und ihres Rechts- bzw. Unrechtscharakters) sowie der bewusste und freie Vollzug, dessen (Langzeit-)Folgen sehr wohl dem Subjekt zuzuschreiben sind, gehört. Ist Adolf Hitlers unehelicher Vater Alois Schicklgruber, der seinen Sohn regelmäßig geprügelt hat, für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich? Nein, die Folgen seiner Prügelpädagogik waren nicht vorhersehbar (wiewohl verwerflich dem Kind gegenüber), wohl aber war die Funktion der Züge nach Auschwitz klar, die Eichmann seit der Wannseekonferenz beflissen organisierte. 47 Schon Hegel hatte in seiner Rechtsphilosophie davor gewarnt, dass ein Brandstifter nicht sagen kann, seine Hand habe ja nur einen kleinen trockenen Grashalm zum Glühen gebracht. Diese grundsätzliche Erkenntnis über die Berücksichtigung der Folgen ist gerade für eine moderne Handlungsethik von besonderer Relevanz, weil wir uns im Zuge der Zunahme von erheblichen Handlungsreichweiten in der technisierten Moderne – zeitlich wie quantitativ – klar machen müssen, dass Irreversibilitäten schneller installiert werden (etwa bei einem Eingriff in die Keimbahnen), als dies in der Vormoderne je denkbar war. In dieser Hinsicht denke man an die Kernspaltungsforschung, die zum einen militärisch und zum anderen ökonomisch betrieben worden war und noch immer wird, oder an die Gentechnikforschung, die sich keineswegs unschuldig um des reinen Erkenntnisfortschrittes engagiert, bis hin zu neueren „Waffenkulturen“, wie etwa dem Cyber-War. Dasselbe gilt für die exponenzielle Zunahme von Nebenfolgen (wer dachte schon beim guten Kühlschrankkühlmittel der Fluorkohlenwasserstoffe daran, dass damit der Ozonschutz der Erde in Gefahr gerät), die in der gegenwärtigen Debatte mit dem Postulat der Nachhaltigkeit zu fassen versucht wird (Jonas 1984). Damit wird klar, dass der normative Hintergrund sowohl Handlungen in Unabhängigkeit von ihrem „Funktionsgelingen“ ethisch näher legitimieren muss, wie wir auch Abgrenzungen zu erkennen haben, die uns aufzeigen, für welche Handlungsreichweiten bzw. -folgen wir verantwortlich sind. Mithin geht es um die Kernfrage, was es denn eigentlich bedeutet, eine ethische, mithin sittliche Verantwortung zu übernehmen, wenn weder das Realisieren von Letztzielen (Rentabilität ist Ethik!) noch die Ignoranz gegenüber Folgen (Ich habe doch nur Züge organisiert!) einem Verantwortungsdenken genügen kann. Eine erste Überlegung soll daher zuerst der Frage nachgehen, ob es nicht grundsätzlich zu unterscheidende Verantwortungsreichweiten gibt, bevor bedacht wird, welche Sollensforderungen – in Alternative zu Zweckoptimierungsprogrammen – im zumindest europäischen Denken erhoben werden sollen. 4. Verantwortungsebenen als Theorie gestufter (Mit-)Verantwortung Hilfreich in dieser Fragestellung ist eine Differenzierung, welche die Wirtschaftsethik näher präzisiert hat und die hier modifiziert für den Ethik-Diskurs einer allgemeinen Ethik – exemplarisch mit Blick auf die Wissenschaft – reflektiert wird. Demzufolge lassen sich drei Verantwortungsebenen als gestufte Verantwortungsreichweiten festlegen bzw. beschreiben: a) Die verantwortungsethische Mikroebene unmittelbarer personaler Interaktion. Sie beinhaltet Elemente wie die individuelle Verantwortlichkeit in der 48 konkreten Sacharbeit, im Sinne methodischer Sorgfalt, Pflichterfüllung gegenüber den Rollenerwartungen, z.B. der unmittelbaren Gefahrenvermeidung wie auch Auftragserfüllung und umfasst damit die unmittelbare Verantwortung vor den Zielen der beruflichen wie privaten Verpflichtungen. b) Die verantwortungsethische Mesoebene als der Verantwortung gegenüber der Organisation bzw. den Organisationszielen, in der das Individuum steht bzw. an deren Erreichung es mitwirkt. Auch ein Arzt kann sich – in Forschung und im Vollzug – um die Gesundheit eines Folterkandidaten kümmern – und damit seinen Job „gut“ machen –, aber er sollte eben gar nicht in der Struktur eines die Personwürde verachtenden Regimes arbeiten oder sich wissenschaftlich vorgängig dazu engagieren. Wenn etwa klar ist, dass Forschung und wissenschaftliche Anwendung primär einem unmoralischen Ziel dienen, so ist diese wissenschaftliche Arbeit selbst als unethisch zu beurteilen. Diese Verantwortung kann als Institutionenethik begriffen werden, die den Einzelnen allerdings nur bedingt betrifft, da Individuen in der Regel ihre Rollenidentität aus den Organisationszielen und dem organisatorischen Wertekanon ableiten müssen. Aus ethischer Sicht hat jeder Verantwortungsträger die Ziele und Verfahren der Organisation, in der er tätig ist, grundsätzlich ständig kritisch (mit-) zu reflektieren. c) Die verantwortungsethische Makroebene, die sich auf die grundsätzlichen Fragen der Fern- und Langzeitwirkung von Wissenschaft und Politik konzentriert. Diese Makroebene der Verantwortung ist daher als moralphilosophische Reflexion der (philosophischen, politischen, wissenschaftlichen, finanziellen ...) Rahmenbedingungen zu verstehen, unter denen etwa Wissenschaft und andere Betätigungsfelder sich bestimmten Themenbereichen widmen (Kernphysik oder Armutsbekämpfung? Wirtschaftswissenschaft als Lehre von Gewinnmaximierung oder Gemeinwohlmaximierung etc.). Letztlich geht es hier aber auch darum, durch Berücksichtigung ethischer Gesichtspunkte erforderliche Ressourcen und budgetäre Allokationen zu generieren, da ohne entsprechende Ressourcen heutzutage weder in Politik noch Wissenschaft für bedeutend erachtete Ziele verfolgt werden können. Zur Rechtfertigung der Ressourcenzuweisungen im Sinne ihrer legitimen Verwendung werden überdies auch ethische Begründungen immer wichtiger. Diesen Verantwortungsebenen entsprechend gelten unterschiedliche Verantwortungsgrade, die sich situativ für den Wissenschaftler, Politiker, Militär, Wirtschaftstreibenden etc. ergeben. So kann etwa der Doktorand zumeist nicht wissen, ob seine Ergebnisse eventuell á la longue missbraucht werden; der Ordinarius hingegen muss sich schon intensiver fragen, welche Forschungsziele er anstreben kann, wem und wie seine Forschung dient und dienlich ist; und die Politiker wie die Scientific Communitiy müssen sich im 49 öffentlichen Diskurs fragen bzw. Antwort geben, vor welchem Menschenbild und vor welchen Wertpräferenzen sie geleitet sind, wenn sie Milliarden in bestimmte Richtungen lenken oder Milliarden ausschließen. In der Ökonomie etwa werden erhebliche Finanz- und Personalressourcen dem zumeist kaum kritisch reflektierten Ziel einer betriebswirtschaftlichen Gewinnmaximierungsprinzip untergeordnet, das – wie die gegenwärtigen Finanzkrisen zeigen – hoch kontraproduktiv sein kann. Was die optimierte Effizienz betriebswirtschaftlichen Handelns z.B. an sozialen und ökologischen „Nebenwirkungen“ beinhaltet, bleibt in Missachtung der makroethischen Verantwortungsebene zumeist ausgeblendet und wird erst langsam als eigener wirtschaftswissenschaftlicher Topos ins Blickfeld genommen. Nur zögernd wird Wirtschaftsethik auch in der Öffentlichkeit diskutiert und der Frage nachgegangen, ob „mehr“ immer auch ein menschliches „Besser“ bedeutet und ob nicht die Kategorie von Gerechtigkeit verstärkt in einem sinnstiftenden wirtschaftswissenschaftlichen Ansatz zu berücksichtigen sein muss. Die Medizinethik, die sich aufgrund des unmittelbaren Nahverhältnisses zu Leben und Gesundheit des Menschen in vielerlei Hinsicht – vorausschauend wie interdisziplinär vernetzt – Grenzen auferlegt hat bzw. bemüht ist, ethisch vertretbare Grenzen zu ziehen, sieht sich in den genannten verantwortungsethischen Ebenen besonders gefordert. Gen-Technologie und die Möglichkeiten moderner Medizin- und Pharmatechnik lassen im Kontext weltumspannender Herausforderungen die Interdependenz von Mikro-, Meso- und Makrobene für Mediziner wie Wissenschaftler zur großen ethischen Herausforderung werden. 5. Ethik als elementar-essenzialistische Reflexion: Das Gute als Erinnerung an die „Natur einer Sache“ Mit zwei Statements der bereits oben zitierten deutschen Topmanager soll dieser Abschnitt eingeleitet und eine Klärung angegangen werden: “Ich hege großen Zweifel, ob man immer gleich mit den großen moralischen Hämmern kommen kann. Jeder muß letztlich seine Grenzwerte selbst bestimmen.“ (Buß 2007: 162) Und: “Wenn die Wirtschaftlichkeit es erfordert, dann muß man auch zu ‚unmoralischen Mitteln‘ greifen.“ (Buß 2007: 161) Hier soll für einen moralphilosophischen Ansatz geworben werden, der diese fast vergessene Überzeugung wieder erinnern will, dass „das Gute das ist, was der Wirklichkeit gerecht wird.“ 7 – in alter Terminologie das Thomasische „Agere sequitur esse“ (Das Handeln folgt dem Sein). Ethik wäre so zuerst „Wirklichkeitsaufmerksamkeit“ (Spaemann) und keine wie 7 So Spaemann 1982: 91. 50 auch immer geartete Zweckoptimierung und/oder utilitaristische Zielrealisierung. Auch die neuere Ethnologie belegt, dass die bewusste Lüge in Vertrauensbeziehungen, der Verrat einer legitimen Sache, der Diebstahl rechtmäßig erworbenen Eigentums, die ungeregelte Sexualität, die Parteilichkeit des Richters und vor allem die Tötung von Unschuldigen in allen Kulturen und auch in allen gesellschaftlichen Teilbereichen klar geächtet ist.8 Ein Elementar-Essentialismus begründet daher eine Norm nicht mit Nutzenoptimierung, sondern mit der Verpflichtung aus dem Wesen einer Sache/Beziehung: Es liegt eben z.B. im Wesen des Richters, dass er unabhängig Recht spricht, es liegt im Wesen der Kommunikation, dass sie wahrheitsapproximativ angelegt ist, und es liegt auch im Wesen der Oiko-Nomia, dass zuerst die Lebensgrundlagen erwirtschaftet werden, und zwar für alle, und nicht Vermögensbildung oder gar Gewinnoptimierung um ihrer selbst willen schon sinnvoll ist.9 Daher kann Ethik nicht ein Ziel von mehreren etwa in der Unternehmenspolitik sein, sondern sie ist der Maßstab, nachdem die Unternehmenspolitik geordnet werden muss. Ethik „ist nichts anderes, als die richtige, die wirklichkeitsgemäße Ordnung der Sachgesichtspunkte.“ 10, so Robert Spaemann. 8 Vgl. Johannes Brantl, Verbindende Moral. Theologische Ethik und kulturvergleichende Humanethologie. Freiburg i. Br. 2001, hier: Kapitel 3.2: Mögliche moralische Universalien im Licht kulturenvergleichender Verhaltensforschung, Seiten 126-142. Brantl nennt hier vier kategoriale universal-normative Felder, die allen Kulturen gemeinsam wären: a) Verpflichtungen innerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen (Inzestverbot, Exogamie-Gebot, Loyalität innerhalb der Familie, Reziprozität der Fürsorge zwischen Eltern und Kindern); b) In-Group-Regeln wie Gewaltverbot, Fürsorge für Arme und Benachteiligte; c) Strenge Unterlassungsnormen wie Mordächtung – in der In-Group(!) – Respekt vor den Toten, Verbindlichkeit des Versprechens; d) universelle „ökonomische“ Forderungen wie Recht auf Eigentum, Verbot des Diebstahls. Brantl entwickelt daraus einen interessanten „Ethologischen Dekalog“ (Seiten 128-141), der eine begründete Nähe zum biblischen Dekalog erlaubt. Zum Problem der Dichotomie von normativem Kosmopolitismus der Religionen bzw. ihrer institutionalistischen Ausgrenzungsmacht in einem reflexivem Fundamentalismus vgl. Ulrich Beck, Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen. 2008, hier besonders Kapitel VI: Frieden statt Wahrheit, S. 207-249. 9 Zur aristotelischen Oiko-Nomia und ihrer Kritik am Erwerb um des Erwerbes wegen (= Chrematistik) vgl. Aßländer 2011b: 28-31, Eine sehr interessante – wenngleich nicht vollständige – Zusammenstellung wesentlicher interkultureller ethischer Universalien stellte der amerikanische Literaturwissenschaftler C.S. Lewis schon 1943 vor: C.S. Lewis (2003, im engl. Original Oxford 1943): 91-103. Dass dieser essentialistische Ansatz auch wirtschaftsethisch spannende Erschließungen zeitigt, zeigt die neuere Kritik nach den vergessenen „wesentlichen“ Aufgaben der Banken. So auch Hans-Werner Sinn (Sinn 2010: Kapitel 4 Warum Wall Street zum Spielkasino wurde. S. 108-138). 10 Spaemann 1982: 89. 51 Es ist schlichtweg ein widersprüchliches Verständnis von Ethik (jedenfalls in abendländischer Tradition), dass moralische Werte in manchen Unternehmensleitbildern als ein Wert neben anderen präferiert werden; sozusagen neben den Leistungswerten, neben den sozialen Werten und neben den Kommunikationswerten möge man auch noch ethische Werte beachten11. Daher muss das Prädikat „gut“ als „funktional gut“ (für die Gesundheit, für den Umsatz, für das Unternehmenswachstum) gänzlich von einem unbedingten „ethisch gut“ unterschieden werden. Es kann durchaus umsatzgefährdende Kontexte geben, die ethisch geboten sind, man denke nur an den Gammelfleischskandal oder Kinderpornographie, wo der Marktaustritt aus ethischer Sicht verlangt werden darf, auch wenn er ökonomisch nachteilig für die Shareholder ist. Man beachte im Übrigen auch die schulpolitisch eminente Sprengkraft, wenn man alle Verantwortlichkeitsüberlegungen nur an die Fächer „Ethik“ oder „Religionslehre“ delegieren wollte. Nein, Ethik – als reflektierte Moralphilosophie – muss Teil eines umfassenden pädagogischen Auftrages sein, das Normative – in allen Fächern – zu bedenken. Zuvor muss allerdings dem zweiten gewichtigen Einwand aus einem deutschen Unternehmensvorstand entgegnet werden, der den Traum der höheren Ziele als den eigentlichen Maßstab des Guten träumt: Um der Wirtschaftlichkeit wegen, dürfe man auch das Unmoralische tun, so hörten wir von diesem Vorstand. 6. Der Utilitarismus und die entmenschlichte „Totalität des Ganzen“ Der utilitaristischen Position eines aus der Volkwirtschaftslehre kommenden Moralansatzes wie etwa bei Jeremy Bantham und John Stuart Mill hängt sein „Sitz im Leben“ noch an: Es geht um Optimierung, um das „größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl“, wie die allseits akzeptierte Ethik-Formel lautet: “Diejenige Handlung bzw. Handlungsregel ist moralisch richtig, deren Folgen für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind.“ (Höffe 2003: 11) Hier müssen aber Einwände um des Menschen willen formuliert werden. Das Wohlergehen, der Nutzen aller, ist eine abstrakte Verantwortungsinstanz, derer wir gegenüber meinen, rechenschaftspflichtig zu sein. Damit ist ein (lange tradiertes) personales Gegenüber durch ein Abstraktum ersetzt, dem wir nun ein allgemeines Optimieren schulden. Es wurde aber deutlich gemacht, dass die Optimierungsstrategie, das Opfern bzw. die Verzweckung 11 Tendenziell etwa bei Wieland 2006 zu beobachten, vgl. das Schaubild S. 8. 52 einiger Menschen nicht verhindern kann, ja diese sogar fördert, ist doch am Ende die Bilanz eines Nutzens für die Mehrzahl oft höher. 12 Wahrscheinlich beruht die derzeitige Konjunktur des Verantwortungsbegriffes auch auf seiner klandestinen Konnotation, dass Moralität etwas ganz persönliches ist, denn VerANTWORTung ist ja eine Kategorie des „Face-to-face“, ein Gegenbegriff zu den anonymen Mächten (und Märkten), die alle gerne unsere Überzeugung und unser Gewissen kaufen und gewinnen und anpassen wollen. Verantwortung wird so zu einem Begriff des menschlichen Dazugehörens, eines Klar-Werdens durch das Im-Gespräch-Sein. Ebenso bedenkenswert ist jedoch der kritische Einwand, wer welchen Nutzen denn für erstrebenswert hält und ob überhaupt eine Kategorie wie Gerechtigkeit in einem alles bestimmenden Nützlichkeitsdenken Platz haben soll. Wer hat sozusagen die „Nutzendefinitionshoheit“ im utilitaristischen Denken, in dem das sittliche Gewissen einer instrumentellen Vernunft ausgeliefert wird? Um mit einem Beispiel zu argumentieren: Wenn die Kosten für die Rettung der drei Monate verschütteten chilenischen Bergleute im letzten Jahr höher gewesen wären (was sie wohl auch waren), als die Kosten für eine entsprechende Anzahl von neuen Plätzen in der Intensiv-Medizin, warum sollte man den Zugang zum Kupferschacht nicht besser zubetonieren? Wenn man in den utilitaristischen Ethik-Ansatz nicht andere Prinzipien mit einzieht, kann er – aus sich heraus – seine Aporien nicht lösen.13 Die Antwort eines Elementaressenzialismus auf das o.g. Dilemma heißt: Weil wir mit diesen Bergleuten eine sittliche Beziehung haben, ihnen gegenüber als Menschen Verantwortung haben, aber auch, weil wir eine (Arbeits-)Beziehung miteinander eingegangen sind und aus dieser organisatorische Verantwortlichkeit resultiert; deshalb lässt Euch Eure Firma nicht im Stich, Ihr gehört zu uns und die Kosten eurer Rettung können eben kein (erstes) Kriterium sein. Ja, es muss kritisch hinterfragt werden, ob eine utilitaristische Ethik nicht überhaupt den Kern aller Sittlichkeit aufhebt (wenn sie radikal nur ihre anonyme Optimierungsfunktion erfüllt), weil ja immer ein größerer Nutzen (die klassenlose Gesellschaft, die rassenreine Gesellschaft 14, die Reinigung vom 12 Spaemann 2001: Über die Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik, 193-212. Zum impliziten Opferverständnis in der Verfügungsphilosophie der Moderne vgl. René Girard / Gianni Vattimo, Christentum und Relativismus. Freiburg 2008. 14 Es sollte sehr ernst genommen werden, dass die treibende „Ethik“ der Eliten des Holocaust, die das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes bildeten, d.h. die „Ethik“ der Einsatzgruppenleiter der Mordgruppen im Osten, der KZ-Lagerleiter, der Waffen-SS-Generäle eben durch eine konsequentialistische Ethik bestimmt war, wie Michael Wildt stringent aufgewiesen hat: „Allein der Erfolg zählte und rechtfertigte zugleich Handeln wie die Idee. Die Tat legitimierte sich 13 53 Glaubensirrtum, die Maximalrendite, der Wohlstand für die Mehrheit, der Fortschritt, usw. usf.) denkbar ist, um dessentwillen kleinere Übel hinzunehmen sind (in der Regel die Rechte der Ohnmächtigeren 15). Am deutlichsten war dies in jüngster Zeit an den Heuschrecken-Hedgefonds erkennbar, die – meist, nicht immer – für die Rendite-Steigerung nahezu alles tun unter völliger Ignoranz, ob sie gegen den Beschäftigten nicht auch eine unmittelbare Verantwortung tragen, die eben nicht dem Gewinnmaximierungsziel geopfert werden darf. Es scheint mir ferner im Utilitarismus eine Anmaßung zu sein, über den besten Gesamtzustand der fernen Welt Aussagen machen zu wollen16. War nicht einst die Atomkraft die Zauberformel auf den Energiehunger der Welt? Asbest das Isolationsmittel schlechthin? Die autogerechte Stadt die Lösung unserer Mobilitätsansprüche? Wenn der Zweck die Mittel heiligt, muss man nur genügend große Ziele definieren, und alles ist erlaubt. John Rawls musste in seiner Theorie der Gerechtigkeit erst einmal das Prinzip Fairness neu einführen, um das gerechtigkeitsignorante Maximierungspostulat des Utilitarismus zu überwinden17. Bekanntlich ist – um wieder einen wirtschaftsethischen Debattenbeitrag heranzuziehen – die Steigerung des BIP noch lange keine Gewähr, dass der erwirtschaftete Mehrwert durch akzeptierte Anerkennungsurteile gerecht verteilt worden ist,18 geschweige denn, dass Wohlstandsmehrung auf alleiniger Basis des BIP-Wachstums das Wohlfühlen der Menschen steigert. Das arme Königreich Bhutan belehrt in diesen Tagen die reiche westliche Welt, dass wir vielleicht über ein Bruttoinlandsglücksbefinden stärker nachdenken sollten, da dies keineswegs mit den BIP-Wachstumsindikatoren korreliert.19 selbst. Was die Weltanschauung dieser Generation auszeichnete, waren nicht so sehr spezifische politische Inhalte als vielmehr eine bestimmte Struktur politischen Denkens. Politik zielte immer auf Unbedingtheit, auf das Ganze, durfte weder einer regulierenden Norm noch irgendeinem Moralgesetz unterworfen sein.“ Wildt 2008, 854. 15 Man denke an das Schicksal der indigenen Bevölkerung in Südamerika, durch deren Vertreibung erhebliche Bodenschätze gefördert werden und wurden, durch die ohne Frage einer größtmöglichen Zahl ein größerer Nutzen zugekommen ist. Doch blieb und bleibt dies Unrecht, weil die Zusage für indigene Lebensräume ethische Priorität genießt. Im Übrigen argumentierten in der Geschichte alle gewaltverliebten Anarchisten, dass um der späteren Gerechtigkeit willen gerne die derzeitig Besitzenden geopfert werden dürfen. 16 Zur systematischen Kritik des Utilitarismus als Optimierungsstrategie vgl. Spaemann 2001: Über die Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik. In : Spaemann 2001: 193-212. 17 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975. 18 Zur Abkehr von einem reinen Preis-Markt, der keine ethischen Verteilungsfragen als Gerechtigkeitsfragen mehr zu läßt vgl. Rademacher 2007: Die zentrale Rolle eines weltweiten Ausgleiches: die Equity-Frage, In : Rademacher 2002: 78-81. 19 Vgl. Klein, Stefan, Die Glücksformel. Oder wie die guten Gefühle entstehen. Gütersloh 2008. 54 So bleibt, wenn nicht andere ethische Prinzipien den Utilitarismus mitbestimmen, dieser eine letztlich instrumentelle Optimierungsstrategie, die durchaus (meist technischen) Nutzen stiften, wohl kaum aber ethische Orientierung geben kann, sondern das eigentlich Ethische letztlich den Technikern ausliefert. Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, dass wirtschaftliche Entscheidungen, die schließlich auch das Überleben und einen höchst menschenfreundlichen Wohlstand garantieren, nicht auch mit dem Mittel kluger Güterabwägung gefunden werden müssten; es geht hier nur um die Klärung dessen, was sicher keine ethische nachhaltige Grundlage allein schafft, und natürlich wie und wovor ethisches Handeln sich verantworten muss. Ob der o.g. Vorstand ein Techniker war, ist nicht überliefert, aber er liefert sich mit seinen Worten einer VerANTWORTung aus, die keine Antwort mehr geben muss, weil das Gegenüber nur ein kaltes „Mehr“ ist, dessen Grenzen im Infinitesimalen verschwimmen. 7. Elementarethik als „Verantwortung vor der Natur der Sache“ und als „Verantwortung vor Personen“ Mit einem kleinen Rückgriff auf die Stoa soll nun erhellt werden, welche Ethik hier als „Grenzen-Ethik“ vorgestellt wird, ohne gleich einem funktionalen Reduktionismus zu erliegen. Marcus Tullius Cicero differenzierte die Verbindlichkeitshöhe der ethischen Handlungsverpflichtungen im dritten Kapitel seines Werkes „De officiis“20 mit drei bzw. vier Begriffen: MORES sind die normativen Tatsächlichkeiten, also das, was üblich ist. Dies ist zuerst einmal zu respektieren, aber dieser – heute würde man sagen – Normativität des Faktischen kommt noch keine eigentliche ethische Verbindlichkeit zu. Als zweite Ebene spricht Cicero von den LEGES, den in freier Rede und Debatte ausgehandelten Rechten einer Republik, denen bereits hoher Grad an Verbindlichkeit zukommt. Gegen diesen Rechtspositivismus setzt aber Cicero nun das HONESTUM (das Ehrenhafte), dem eigentlich unsere freie Selbstbeschränkung wie Selbstbindung gilt. Dabei grenzt Cicero das HONESTUM explizit von einem vereinzelten UTILE (Nützlichen), ab, weil das, was honestum (ehrenvoll) ist, um seiner selbst willen getan wird, ein wahres „utile“ sich aber erst aus dieser Verbindlichkeit des Honestum (Schröer 2005: 337) legitimiert. Marcus Tullius Cicero, De Officiis – Vom Pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Heinz Gunermann. Stuttgart 1889, 1984. 20 55 Dabei bestimmt sich dieses Honestum aus der „Natur der Sache“. Dieser Gedanke eines „von Natur aus Rechten“, also die Tradition des Naturrechtes, ist in der Moderne und Postmoderne in den Hintergrund gerückt, aber nie ganz verschwunden21. Freilich kann hier nicht mehr an die Tradition einer gleichsamen Metaverfassung angeknüpft werden, die über allem positiven Recht stünde, aber eine Erinnerung daran, was „aus sich heraus“ unbedingt verbindlich sei, scheint doch hinter aller neokonstruktivistischen Verfügungsdeutung nicht ganz verschwunden. Exemplarisch: Es ist aus der Sache heraus geboten, dass der Rolle bzw. Verantwortung eines Richters die Unparteilichkeit zukommt, mögen auch parteiliche Urteile schneller, billiger oder sogar rentabler sein. Versprechen werden überall als verbindliche Zusagen begriffen, denn das ist ihr Wesen. Man kann nicht sagen, ich habe statt meiner Zusage etwas Besseres, Rentableres, Gesünderes oder Angenehmeres vorgezogen. Das freie – eben nicht erzwingbare – Versprechen ist eben die aus der Mitte der Freiheit kommende Präferenz für ein Gegenüber. Deswegen hat der Arzt zu heilen und darf seine Identität nicht aus der denkbaren Verpflichtung der Kostensenkung oder Forschungsförderung oder Verhöroptimierung oder anderem „Sachfremden“ begreifen.22 Wer wirtschaftliche Verantwortung trägt sollte sinnvolle Güter und Dienstleistungen bereit stellen, die menschendienlich sind, durchaus auch für den Produzenten in Gestalt einer sinnvollen Rendite, die aber nicht – worauf schon Joseph Schumpeter hinweist – die Gelingensbedingungen guter Märkte zerstören. Auf diese Verantwortung scheint mir u. a. die in den USA aufgekommene Occupy Wall Street-Bewegung hinweisen zu wollen. Philosophisch verkürzt: Die Sachforderung aus dem Wesen der sittlichen Beziehung definiert das „unbedingt Gute“ und keine der jeweiligen sittlichen Sachfordernisse kann eine totalitäre Hierarchie beanspruchen, wie sich in einem – leider zu unbekannten – totalitätskritischen Narrativ des Thomas von Aquin sehr schön zeigt:23 „Jeder muss seinen eigenen sittlichen Forderungen nachkommen. Gewissen hieß das einmal, dass wir keine ethische Weltformel haben, aus der alles ableitbar ist.“ Dass sich die Gegenwart doch stärker auf eine kommunikative Evidenz von Sach-Sittlichkeit einläßt und als Grenze immer zuerst und vor allem mit dem 21 Neuerdings wieder Spaemann 1994: Die Aktualität de Naturrechtes, In: Ders., Philosophische Essays, 60-78. 22 Das Arzt-Patientenverhältnis ist eben die sittliche Beziehung, aus der heraus klar sein muss, dass der Arzt meine Gesundheit, die Linderung meines Leidens wollen muss. Begibt er sich dieser Verpflichtung, ist er kein Arzt mehr. 23 Vgl. unten Seite 58. 56 Würdebegriff (und seinen Ausformulierungen in den Menschenrechten) argumentiert, erfährt derzeit keine kleine Renaissance.24 Im Bereich der ethischen wie auch interessanterweise ökonomischen Diskurse wird daher weniger die berühmte „unbekannte Hand“ eines Adam Smith, als vielmehr das „Würde-Werte-Wort“ Kants zitiert, das als Autorität und Instanz nicht mehr in Frage gestellt wird. Diesbezüglich führt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS BA 77) aus:25 „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Dennoch – es bleibt die Einsicht, dass die meisten Entscheidungen im Leben güterabwägend getroffen werden müssen, mithin das „funktional Gute“ unseren Alltag wie unsere beruflichen Entscheidungsfelder bestimmt (Colgate oder Elmex, Bahn oder Auto, Elektroauto oder Minimalverbrenner); dies auch in wirtschafts- und unternehmensethischen wie alltagsethischen Fragestellungen einer Konsumentenverantwortung. Es wurde klar, dass wenn auch selbstredend dem abwägenden Vernunfturteil die meisten Entscheidungsfelder belassen sind, sich dennoch wenige Lebenssegmente festmachen lassen, die dieser von Kant erkannten kategorischen Grenze einer unbedingten Sollensforderung einen klaren normativen Ort zuweisen. 8. Ethik der Güterabwägung als Nutzenmaximierung. Traditionen moralischer „No-go-areas“ im abendländischen Denken Der Verfassungsstaat und die Begrenzung von Mehrheitsgültigkeiten Bereits mit dem Beginn des modernen Verfassungsstaates haben sich die westlichen Gesellschaften sukzessive einer demokratischen Güterabwägungsbegrenzung unterworfen. Nicht mehr alle politischen und gesetzgeberischen Ziele einer Regierung und ihrer Mehrheit sind legitimiert. Von der Magna Charta von 1215 über den Habeas Corpus Act von 1679 bis hin zur Virginia Bill of Rights von 1776 und den in weiterer Folge ausgeweiteten Grundrechten der Bill of Rights der USA von 1789, die allesamt dann letztlich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) führten, hat die westliche Verfassungsentwicklung einige Fundamentalrechte nicht nur der Willkür absolutistischer Herrscher abgetrotzt, 24 25 von Pagano 1987 bis Küng 2010. Bowie, Norman E., Business Ethics. A Kantian Perspective, Malden 1999. 57 sondern auch der Mehrheitsmacht des demokratischen Parlaments entzogen26. Dahinter steht die naturrechtliche Überzeugung, dass einige essenzielle Dinge im Leben, hier die dem Menschen als Menschen zukommende unveräußerlichen Grundrechte27, nicht mehr – auch nicht über demokratische Mehrheiten – in ihrem Gehalt verändert werden dürfen, nicht mehr den schwankenden Mehrheitsbescheiden und ihren Abwägungsdiskursen ausgeliefert sein dürfen. Die westlichen Verfassungsdemokratien tradieren hier nicht nur die – im Übrigen erheblich aus dem jüdisch-christlichen Denken kommenden – Personschutz-Normen28 etwa des Dekaloges, sondern bewahren sich eine Skepsis gegenüber dem korrumpierbaren Diskurs, der vor der Gefahr einer utilitaristischen Instrumentalisierung nicht gefeit ist. 29 So kann man sagen, dass in der Struktur der „unveränderlichen Grundrechte bzw. Menschenrechte“ die Erinnerung bewahrt und sanktioniert wird, den Diskurs über die wesentlichen Grundnormen nicht ständig offen zu halten: Vieles ist abzuwägen – manches nie! Kein Feldherrnhügel in Sicht: Thomas von Aquins Kritik an der Möglichkeit einer letztgültigen Güterabwägung In einer leider zu wenig diskutierten Stelle 30 erzählt der Kirchenlehrer Thomas von Aquin ein – wie man heute sagen würde – ethisches Dilemma: Die Häscher des Königs verfolgen einen Rechtsbrecher, der sich bei seiner Frau versteckt. Für unsere modernen „totalen“ Lösungsansprüche differenziert Thomas hier die Verantwortlichkeiten erstaunlich irritierend: Was soll die Frau tun? Sie ist – nach Thomas – für das private Wohl ihres Mannes verantwortlich und muss ihn vor Schaden bewahren. Was sollen 26 Norbert Brieskorn, Menschenrechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung, Stuttgart 1997. 27 Matthias Koenig, Menschenrechte, Frankfurt/Main, 2001, S. 9. 28 Zur Herkunft der Menschenrechte vgl. auch: Konrad Hilpert, Menschenrechte und Theologie. Forschungsbeiträge zur ethischen Dimension der Menschenrechte. Freiburg 2001, hier Kap. 3, 5987. 29 Dies zeigt sich unter anderem auch darin, dass etwa die amerikanischen Verfassungsväter die Rechtssubjekte ihrer „Bill of rights“ für lange Zeit weder in den Indianern noch in den afroamerikanischen Sklaven und Sklavennachkommen sehen konnten. Hier spielten nicht selten (plantagen-)ökonomische Überlegungen, neben rassistischen Ideologien, eine maßgebliche Rolle in der – wortwörtlich nun zu nehmenden – Güter-Ab-Wägung der Rechte der indigenen wie afrikanischen „Ware Mensch“. 30 Summa theologica I-II, quaestio 19, articulus 10, zitiert nach Robert Spaemann, Die schlechte Lehre vom guten Zweck. in: Robert Spaemann. Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart 2001, 391-400, hier: 399f. 58 die Staatsanwälte tun? Sie müssen dem Recht (dem öffentlichen Wohl) zur Geltung verhelfen. Und nun kommt die entscheidende Frage: Welche Entscheidung hat eine höhere Verpflichtung? Über welche Kriterien verfügen wir, um zu klären, was das letztlich beste Handeln ist? Die Antwort des Kirchenlehrers: Das weiß nur Gott allein. Hier wird ein moralischer Totalitätsanspruch in Frage gestellt, der vermeintlich zu wissen glaubt, was das letzte Beste für alle ist. Thomas bleibt hier bescheiden. Da sich die ethische Verpflichtung aus konkreten sittlichen Verhältnissen ergibt, sollen wir nicht wissen wollen, was am Ende für alle gut ist. Das weiß nur Gott allein. Die aus einem Grundvertrauen an das gute Sein gefallene Moderne kann das wohl nicht mehr, geht aber auch nicht in das schweigende Ertragen des Nicht-Lösen-Müssens, sondern sucht verbissen, das Paradox zu klären, aufzulösen, letztlich zu nivellieren.31 Auch von Thomas von Aquin könnte man hier lernen: Vieles ist abzuwägen, manches nie. Denn vielleicht liegt ja das Geheimnis einer menschengemäßen „Lösung“ eben darin, die Spannung auszuhalten, dass es keine kurzfristige Gesamtlösung gibt, die uns den Endzweck aller Dinge verrät, sondern dass sich langfristig die Gegensätze „aufheben“. Oder mit den Worten eines totalitätskritischen Gegenwartsautors: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“.32 9. Die Erinnerung an das, was immer destruktiv ist – Die Lehre von den Intrinsece Mala – Oder: Wo der Zweck die Mittel nie heiligt Mit dieser kritischen Erinnerung des Kirchenlehrers Thomas von Aquin, dass eine güterabwägende Nutzenmaximierung durchaus auch ihre Grenze haben muss, kann nun eine ethische Tradition bedacht werden, die weniger davon ausgeht, sittliche Stimmigkeit über die Klärung dessen zu finden ist, was positiv zu tun ist, sondern die bescheidener reflektiert, was ganz sicher zu unterlassen ist, um Leben nicht zu verunmöglichen. Hier äußerst sich eine ethische Erfahrung, die sich weniger darum bemüht, was den Menschen zu seinem Glück verhilft (was natürlich auch eine genuine Aufgabe 31 Es wäre eine gute Aufgabe, kulturkritisch einmal nachzufragen, warum wir in vielen Lebensbereichen vermeintliche und wirkliche Paradoxa nicht mehr aushalten, warum immer glatte Lösungen, warum das Problem beseitigt, der Widerspruch aufgelöst werden muss, warum letztlich „die Totale“ unser Denken bestimmt. 32 Martin Walser im Interview: „Reichtum macht unabhängig. Aber auch hässlich.“ In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.09.2007, Nr. 36/ Seite 38. Das Zitat gehört zu Walsers Lebensmaximen und wird von ihm häufigst zitiert und ist auch in seinen Romanen zu finden. 59 der Ethik als Lehre vom guten Leben ist33), als vielmehr bedenkt, was zu unterlassen ist, damit Leben zu seiner Bestimmung kommen kann. In der Ethik wie in der Rechtsphilosophie hat traditionell das Unterlassungsgebot („Du sollst nicht morden!“) ein stärkeres Gewicht 34, denn es ist schwieriger zu sagen, wie ein Mensch sein Glück finden, in Freundschaft mit sich selbst (Eudaimonia) leben, ja sein Lebensziel verwirklichen soll. Handlungsgebote leiden in der Regel darunter, dass wir nicht wissen können, was letztlich für den anderen gut ist, auch wenn „unterlassene Hilfeleistung“ durchaus kontextualisierbar ist. Handlungsverbote lassen sich hingegen – in allen Kulturen – gut definieren, daher das dominierende „Du sollst nicht …“ in fast allen kulturellen Normationskatalogen. So hat sich in der Geschichte des westlichen Denkens und der geprüften wie gelebten Überzeugung ein Kanon von unbedingten Unterlassungen herauskristallisiert35, der auch heute noch Orientierung geben kann, wenn die Wahrheit über die Unverzwecklichkeit der Person vorausgesetzt wird. Dabei greift diese lange Tradition der „In-sich-Schlechten-Handlungen“36 (intrinsece mala oder auch malum ex genere) diejenigen Verantwortungsbeziehungen auf, die uns zu Menschen als Menschen machen, wo wir Person werden: Leib- und Leben(srecht), die authentische Kommunikation, die personale Sexualität, die Integrität des Personkerns und unser Verhältnis zu einem letzten Sinngrund des Seins. Die historische Entwicklung nun in einem kleinen Abriss als Überblick: a) Schon bei Aristoteles findet sich in der Nikomachischen Ethik eine Argumentation, die einigen Handlungen die Qualität des „In-sich-Schlechten“ zuspricht, das auch nicht durch einen guten Zweck saniert werden kann. Dazu zählen Ehebruch, Diebstahl, Mord: „Alle diese Dinge werden getadelt, weil sie in sich selbst schlecht sind und nicht ihr Übermaß oder ihr Mangel. Man kann bei ihnen also niemals das Rechte treffen, sondern immer nur sich verfehlen.“37 Beispielhaft Otfried Höffe, Lebenskunst und Moral – oder macht Tugend glücklich?, München 2007. 34 Unterlassungsgebote sind auch heute noch strafbewerter als Handlungsgebote. Vgl. dazu: Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf. Freiburg i.Br. 2007, hier Zweiter Teil, I, 3.2d: Handeln und Unterlassen oder Handeln durch Tun und Handeln durch Nicht tun, 490-498. 35 Zum geschichtlichen Überblick vgl.: Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996, hier Kapitel IV, 4.1 (Die negativen Verbote des Naturrechtes) und 4.2 (Die in sich schlechten Handlungen), Seiten 200-232. 36 vor allem Summa theologiae II-II, 66,7. vgl. dazu weiter Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, a.a.O. 200-232. 37 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Zweites Buch, 1107, 10-14. Dtv-Ausgabe, München, 3. Aufl. 1998, 141. 33 60 b) Thomas von Aquin betont in Weiterführung der bereits von Aristoteles benannten Intrinsece Mala, dass Handlungen wie die bewußte Lüge, der Mord als die Tötung Unschuldiger, Ehebruch als die Missachtung des Treueanspruchs in einer „gültigen“ Ehe, aber auch Diebstahl38 und Glaubensabfall39, aber auch Gotteslästerung40 immer und unter Absehung vermeintlich guter Konsequenzen in sich schlecht, d.h. auch nicht zu einem guten Zweck rechtfertigbar sind. Hier greift Thomas ein Denken des Hl .Augustinus auf, der diese Kritik an einer Instrumentalisierungsethik schon in der alten Kirche vertritt: Der Zweck heiligt nicht die Mittel!41 c) Das II. Vatikanische Konzil weitet dann die Lehre von den Intrinsece Mala aus und benennt, im Kontext der Menschenrechtsgefährdungen einer entfesselten Moderne, diejenigen Unterlassungspflichten, die unter keinen Umständen mit der Personwürde des Menschen vereinbar sind. Unter dem Rahmen, dass ein Gläubiger vor allem in den Bedrängten die Präsenz Christi sehen sollte, wird ein Kanon von In-sich-Schlechten-Handlungen vorgestellt, der im 20. Jahrhundert historisch leider durch „höherwertige Ziele“ de facto immer wieder rechtfertigbar gedacht wurde: „Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art von Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.“ (Gaudium et spes 27) 42 38 Hier verweisen die Kommentatoren zu Recht auch auf einige Inkonsistenzen des Aquinaten, da er an anderer Stelle den Mundraub rechtfertigt. Vgl. Schockenhoff, Naturrecht und Würde, 204. Dass Thomas, etwa in der naturrechtlichen Würdigung der Frau schwer irrte, ist ein anderes Thema des Dominikaners aus Aquin. 39 Vgl die Belegstellen zu Thoams bei Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, a.a.O. 398. 40 Gewohnheitsmäßige Gotteslästerung ist nach Thomas »die Sprache der Hölle« und ein Zeichen der Verwerfung: S. th.II-II quaestio 13 art. 4, vgl. dazu: Bernhard Häring, Das Gesetz Christi, Band II, Freiburg 1963. 41 Augustinus schreibt in Contra mendacium: VII, 18: „Wer würde im Blick auf die Handlungen, die durch sich selbst Sünden sind, wie Diebstahl, Unzucht, Gotteslästerung, zu behaupten wagen, sie wären, wenn sie aus guten Gründen vollbracht, nicht mehr Sünden oder, eine noch sinnlosere Schlußfolgerung, sie wären gerechtfertigte Sünden?“. Vgl. PL 40, 528; Sehr differenziert dazu Schockenhoff, Grundlegung, 453f. 42 Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes), Nr. 27. 61 Die weite Reihung vieler depersonalisierter Handlungen kann in der Unbedingtheitsforderung nach Achtung der Würde der Person zusammengefasst werden, die eben in ihrer leiblichen, seelischen und ökonomischen Dimension vom Konzil als unbedingt zu achtende und auch definierbare Größe gesehen wird. d) In der Enzyklika „Veritatis splendor“ von Papst Johannes Paul II aus dem Jahre 1993 wird die o.g. genannte Lehre von den Handlungen, die durch ihre innere Struktur so kontrapersonal sind, dass mit ihnen nichts Gutes entstehen kann43, bestätigt und – vor allem mit Blick auf ihre moralphilosophische Grundlage, den Konsequenzialismus – kritisch fundiert: „Darum können die Umstände oder die Absichten niemals einen bereits in sich durch sein Objekt sittenlosen Akt in einen ‚subjektiv’ sittlichen oder als Wahl vertretbaren Akt verwandeln.“44 Und die Erfahrung lehrt, dass wir erschaudern, wenn von einem Menschen gesagt wird, er ist zu allem fähig. Eine tiefe Intuition bezüglich der letztlichen Amoralität bzw. Unmoralität seines Handeln lässt uns erfassen, dass hier einer keine Grenzen mehr anerkennen will und um der „guten“ Ziele zu jedem Opfer – vor allem anderer – bereit ist. 10. Stop-Schilder für die Gegenwart: Unbedingte Grenzen um des Menschen willen Abschließend soll nun versucht werden, die moralphilosophische Diskussion zu den Intrinsece Mala der Gegenwart mit ihren historischen Wurzeln, die sich deontologisch und eben nicht auf teleologische Weise einigen sittlichen Grenzen nähert, zu verknüpfen und zu resümieren. Denn es lassen sich, nicht allein aus historischer Sicht, „unbedingte Grenzen um der Würde des Menschen willen“ 45 identifizieren, die uns behilflich sein können, die folgenden „Stopschilder“ auszumachen, die aus dem Denken einer an der Unverzweckbarkeit der Person festhaltenden Ethik kommen und die unter Verantwortung immer eine unmittelbare Verantwortung versteht, die sich „aus der Natur der Sache/Beziehung“ ergibt und die einem Rekurs auf die guten späteren Ziele und Zwecke skeptisch gegenüber steht. 43 Johannes Paul II, Enzyklika Veritatis splendor, Der Glanz der Wahrheit. Stein am Rhein 1993, Kap. IV.: Die sittliche Handlung. Die Enzyklika greift hier ein Wort des Apostels Paulus im Römerbrief (Röm 3,8) auf, das sinngemäß meint: „Man darf nicht Böses tun, damit Gutes entsteht.“ 44 Veritatis splendor Nr. 81. 45 So bei Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, a.a.O. Zweiter Tiel (Normtheorie), Kap I, 2.5 (Begründung durch folgenunabhängige Handlungsmerkmale), Seiten 397-422; auch Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, 209-232, Robert Spaemann, Moralische Grundbegriffe, München 2006 u.ö. Vgl. auch Küng 2010, Kap VII, Für die Menschheit ein Ethos der Menschlichkeit, Seiten 239-287. 62 - Zum Gut des Lebens Es ist unbedingt und in sich schlecht, einen unschuldigen Menschen mit Absicht zu töten. Keine Notlage – auch nicht in Abwägung des Lebensschutzes anderer – rechtfertigt die Auslöschung eines Menschen, denn sein Lebensrecht gilt unbedingt. - Zum Gut der Integrität des sittlich-autonomen Menschen Es ist in sich verwerflich, einen Menschen zu foltern, denn damit zerbricht man den Personkern eines Menschen, macht ihn zum Ding, das kein Subjekt mehr ist. Und dies in Unabhängigkeit von (rechtlicher oder moralischer) Schuldhaftigkeit. - Zum Gut der kommunikativen Identität Es ist in sich schlecht, in Vertrauensbeziehungen den Anspruch auf Wahrheit im Gegenüber zu missachten und – in bewusster und abgewogener Zusage – ein Versprechen nicht zu halten. Denn aus der Natur eines Versprechens folgt, dass es einzuhalten ist. Und ohne gegenseitige Anerkennung eines Wahrhaftigkeitsanspruchs kann niemand auch nur argumentieren und jegliche Dialoggemeinschaft wird per se verunmöglicht. - Zum Gut der Leib-Seele-Einheit in der Sexualität Es ist in sich widersprüchlich, die freie Hingabe der Körper zu funktionalisieren und zu instrumentalisieren, denn dies bedeutet Verlust und Verletzung des anderen, der in der Liebe bedingungslose Akzeptanz erwarten darf. - Zum Gut der grundsätzlichen Bejahtheit in der Wirklichkeit Es ist sinngefährdend, wenn der Sinn von Sein und das Sein von Sinn grundsätzlich bestritten wird. Auch atheistische Lebens-Begründungen gehen von der Voraussetzung aus – im Zuspruch wie im Widerspruch -, dass das Leben gewollt ist. Dieses Recht auf grundsätzliche Erwünschtheit von Dasein und Sein darf nicht negiert werden. Oder normativ zusammengefasst: - Zum Gut des Lebens: Nie Lebensrecht in Frage stellen! - Zum Gut der Integrität des Menschen: Niemand zerbrechen! - Zum Gut der kommunikativen Identität: Nie Versprechen brechen! - Zum Gut der Leib-Seele-Einheit in der Sexualität: Niemals Missbrauch! - Zum Gut des sinnvollen Seins: Nie alles für sinnlos erklären! 63 Mit diesen Erinnerungen an unbedingte Grenzen für unser ethisches Handeln ist natürlich nicht geklärt, wie im Einzelnen etwa die Integrität des Personkerns verletzt wird, was ein bewusst eingegangenes Versprechen ist, ob jede Form von AIDS-Prävention wirklich schon „instrumentalisierte Sexualität“ ist, oder ob der Mindestlohn eine notwendige Konsequenz aus dem Verzwecklichungsverbot des Kantischen Kategorischen Imperativs sein kann. Aber es ist vielleicht deutlich geworden, in welchem Korridor eine Abwägungsethik sich bewegen darf, und wo das Leitmotiv greifen muss: Vieles ist abzuwägen, manches nie! Mit dieser Erinnerung an die Leitplanken einer „Begrenzungs-Ethik“ soll hier keineswegs das gute Handeln in seinem sinnstiftenden und wirklichkeitserschließenden Charakter voll bestimmt und umrissen sein, es sollte nur in einer bescheideneren Denkbewegung erhellt werden, was Sinnstiftung und Wirklichkeitserschließung auf jeden Fall verunmöglicht. Was eine ethische Orientierung jenseits dessen, was das Personsein verunmöglicht, bleiben kann, sei als Prinzipienethik resümierend an das Ende dieser Begrenzungsgrenzen-Ethik, gleichsam als positive Leitplanke gegenüber den absoluten Stop-Schildern des in sich Menschenfeindlichen, gestellt. In Modifikation eines unternehmensethischen Rasters von Michael A. Pagano für verantwortliches Handeln soll diese „moralische Checkliste“ in der Folge kurz vorgestellt werden. 11. Das Herzstück positiver Verantwortung: Ethische Prinzipien für Verantwortungsentscheidungen In einem letzen Gedankenschritt sollen ethische Positionen der abendländischen Tradition summarisch vorgestellt werden, die einer Orientierungsethik ein distinktives Fundament verleihen können. Wie bereits angedeutet, können für ethische Sollensforderungen unterschiedliche Verpflichtungsgrade (Kann-, Soll-, und Muss-Normativitäten) angegeben werden, was mit der erwähnten Tatsache zu tun hat, dass es in der Betrachtung eines gelingenden Lebens schwieriger ist, das Gelingen zu prognostizieren als das zu benennen, was mit Sicherheit gutes Leben verunmöglicht. Wenn hier ein Kriterienkatalog für eine Verantwortungsethik angerissen sein soll, dann vor allem unter dem Aspekt einer operationablen ethischen Orientierung. Wer Handeln ethisch eingrenzen will, sollte sich daher folgenden Prinzipien stellen, die eine vernunftgebundene Ethik für ein gelingendes Leben nur schwer hintergehen kann: 64 Der Meier-Pagano-Filter für eine menschengemäße Ethik: Wegweiser zum Guten: Legalitätsprinzip Kategorischer Imperativ Unparteilichkeitsfilter Ist mein Handeln gesetzeskonform? (in einer funktionierenden Demokratie! ) Ist mein Handeln verallgemeinerbar? Wird dadurch ein Mensch ge- oder missbraucht? Was würde mein bester Freund sagen, der keine Aktien im Spiel hat? (J. Rawls!) (I. Kant + GG Art. 1) Öffentlichkeitstest Könnte ich mein Handeln im Fernsehen öffentlich vertreten? (J. Habermas!) Goldene Regel Kann ich die Folgen meines Tuns für mich selbst wollen? (Jesus/Buddha/Mohammed und alle Religionen) Ökolog. Imperativ Verantwortung als Sinngemäßheit Werden die Freiheitsgrade der Kinder/ Enkelkinder reduziert? (H. Jonas!) Utilitarismus in Güterabwägung Eschatologisches Sinnprinzip Wird mein Handeln in Abwägung aller Folgen mehr Nutzen als Schaden für Viele bringen? (J. St. Mill / J. Bentham) Wenn ich meine letzte Stunde mir vorstelle: Hat mein Handeln dann Bestand? (I.v. Loyola) Wer diese ethischen Leitplanken in seinem Handeln berücksichtigt und für den Einzelfall abwägt, wird schwerlich noch Grenzen überschreiten, die uns als Menschen gesetzt sind. Literatur: Assländer, Michael (2011): Grundlagen der Wirtschafts- und Unternehmensethik. Marburg Bird, Kai (2009): J. Robert Oppenheimer, die Biographie. Propyläenverlag Berlin Brieskorn, Norbert SJ: (1997), Menschenrechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung. Kohlhammer, Stuttgart Bucksteeg, Mathias / Hattendorf, Kai (2010): Führungskräftebefragung 2010. In: http://www.wertekommission.de/content/pdf/kampagne/Fuehrungskraeftebefragung_2010.pdf Brantl, Johannes (2001): Verbindende Moral. Theologische Ethik und kulturvergleichende Humanethologie. Freiburg i. Br. Bowie, Norman E. (1999): Business Ethics. A Kantian Perspective. Malden Buss, Eugen (2007): Die deutschen Spitzenmanager. Wie sie wurden, was sie sind. Herkunft, Wertvorstellungen, Erfolgsregeln. Oldenburg Girard, René / Gianni Vattimo (2008), Christentum und Relativismus. Freiburg Habermas, Jürgen (1983): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt 65 Heuermann, Hartmut (2000): Wissenschaftskritik. Konzepte Positionen Probleme, Tübingen und Basel Höffe, Otfried (1989): Schulden die Menschen einander Verantwortung? Skizze einer fundamentalethischen Legitimation. In: Lampe, Ernst-Joachim (Hg.), Verantwortlichkeit und Recht. Opladen 13 – 35 Höffe, Otfried (2002): Lexikon der Ethik. 6. neubearbeitete Auflage. München Höffe, Otfried (2003): Einführung in die utilitaristische Ethik. Tübingen 3. Auflage Höffe, Otfried (2007): Lebenskunst und Moral – oder macht Tugend glücklich? München Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt Klein, Stefan (2008): Die Glücksformel. Oder wie die guten Gefühle entstehen. Gütersloh Koenig, Matthias (2001): Menschenrechte. Frankfurt/Main Küng, Hans (2010): Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht. München/Zürich Lewis, C.S. (5. Aufl. 2003): Die Abschaffung des Menschen. Einsiedeln (engl. Original: The abolition of man. Oxford 1943) Meier, Uto (2010): Vieles ist abzuwägen, manches nie. In: Uto Meier und Bernhard Sill, Führungs.Macht.Sinn. Ethos und Ethik für Entscheider in Gesellschaft, Wirtschaft und Kirche. Regensburg, Seiten 313-328 Neufeldt, Michael J.(2009): Wernher von Braun. Visionär des Weltraums – Ingenieur des Krieges. Berlin Pagano, M. Anthony (1987): Criteria for Ethical Decision Making in Managerial Situations. A paper presented at the Academy of Management Meetings New Orleans, LA August 1987 Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. Ruland, Bernd (2. Aufl. 1969): Wernher von Braun. Mein Leben für die Raumfahrt. Offenburg Russel, Bertrand (3. Aufl. 2011): Philosophie des Abendlandes. Zürich Schockenhoff, Eberhard (1996): Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt. Mainz Schockenhoff, Eberhard (2000): Zur Lüge verdammt? Politik, Medien, Medizin, Justiz, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit. Freiburg Schockenhoff, Eberhard (2007): Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf. Freiburg i.Br. Schröer, Christian (2005): Verantwortung – Profil eines komplexen Begriffes. In: Uto Meier / Bernhard Sill (Hg): Zwischen Gewissen und Gewinn. Werteorientierte Personalführung und Organisationsentwicklung. Regenburg, 333-345 Sinn, Hans-Werner (2010): Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist. Berlin Spaemann, Robert (2008): Moralische Grundbegriffe. München Spaemann, Robert (1994): Philosophische Essays. Stuttgart Spaemann, Robert (2001): Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart Spaemann, Robert (2011): Nach uns die Kernschmelze. Hybris im atomaren Zeitalter. Stuttgart Wickler, Wolfgang (1971 u.ö.): Die Biologie der zehn Gebote. München 66 Wieland, Josef (2006): Gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen. In: Unternehmensethik im Spannungsfeld der Kulturen und Religionen. Stuttgart, S. 2-10 Wildt, Michael (2. Aufl. 2008): Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg (= Habilitationsschrift 2001 Universität Hannover). Erste Auflage 2003 67 Thomas Schirrmacher Ethische Bildung und ‚Innere Führung‘ in der Bundeswehr und in Streitkräften In meinem Buch ‚Hitlers Kriegsreligion‘1 wird untersucht, wie Hitler religiöse Argumente gebraucht, um zu verkündigen, dass Krieg der Normalzustand sei und Frieden höchstens ein vorübergehender Waffenstillstand, um neue Kräfte für den nächsten Krieg zu sammeln; denn Fortschritte erziele die Welt nur im Krieg. Wie anders das Deutschland, das aus den Trümmern erwuchs, die Hitler zurückließ. Frieden ist jetzt der zu erhaltende Normalzustand, der Zustand, in dem sich der Einzelne wie das ganze Land entfalten kann; Krieg die bittere und leider bisweilen unvermeidliche Ausnahme, niemals aber zu suchen oder zu glorifizieren. Doch so lange unsere Welt ohne Gewalt und ohne Krieg nicht auskommt, so lange werden Armeen auch in friedlichen Ländern nötig sein, um sich selbst zu schützen oder auch, um für die Opfer von Kriegen, Terror und massenhaften Menschenrechtsverletzungen einzutreten. „Die vier großen Krisenräume der Welt sind: Naher und Mittlerer Osten, der Balkan, der Kaukasus und Zentralafrika“2. Laut dem Heidelberger Institut für Konfliktforschung hat im Jahr 2008 die Zahl der hochgewaltsamen Konflikte stark und die Zahl der Kriege von 6 auf 9 zugenommen.3 Die Frage, wie man auf solche Art Gewalt angemessen reagiert, ist so aktuell wie eh und je. Der Radikalpazifismus empfiehlt, gar nicht zu reagieren, weil Gewalt, um Gewalttäter aufzuhalten, ethisch genauso verwerflich sei wie die Gewalt des Gewalttäters selbst. Ein Christ könne niemals Soldat sein und niemals eine Armee, auch keine reine Verteidigungsarmee, befürworten. Ganz anders Jesus, der selbst über den Vorwurf, er verwechsele seine geistliche Mission mit der Aufgabe des Staates oder wolle politische Gewalt säen, erhaben ist, aber Soldaten (damals zugleich Polizisten), die 1 2 3 Thomas Schirrmacher, 2 Bde. Bonn: VKW, 2007. Michael Wolffsohn. Weltkonflikte der Gegenwart. Neuried: ars et unitas, 2008. S. 29. Heidelberg Institute for Conflict. Conflict Barometer 2008. Heidelberg: HIIK, 2009. 69 seiner Friedensbotschaft folgen wollten, nicht aufforderte, ihren Beruf aufzugeben. In Lukas 3,12-14 heißt es: „Es kamen auch die Zöllner, um sich taufen zu lassen, und sprachen zu ihm: Meister, was sollen denn wir tun? Er sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist! Da fragten ihn auch die Soldaten und sprachen: Was sollen denn wir tun? Und er sprach zu ihnen: Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold!“ Hier findet sich weder eine grundsätzliche Ablehnung einer Armee und Polizei (diese Aufgaben gehörten damals bekanntlich noch zusammen)4, noch ein grundsätzlicher Freibrief für Armee oder militärische Macht, sondern eine Ethik des Soldaten und der Armee. Gerechtigkeit (etwa durch Vermeidung von Hass, Rassismus oder Korruption) und Vermeidung unnötiger Gewalt (etwa durch Eroberung, Folter oder Vergewaltigung) bestimmt auch das Soldatenhandwerk. „Die in der theologischen Ethik beheimatete Lehre vom gerechten Krieg steht sachlich zwischen der Lehre vom Heiligen, also von Gott gewollten Krieg, und einem radikalen christlichen Pazifismus. Ihr Ziel liegt nicht in einer kritiklosen Bejahung der Gewaltanwendung, sondern in ihrer kritischen Begrenzung. Zur Lehre vom gerechten Krieg passt deshalb keine religiös motivierte Kriegsbejahung oder gar Kriegsbegeisterung. Sie hat etwas eigentümlich Säkulares und Nüchternes an sich. Von der Lehre vom gerechten Krieg aus lässt sich aber auch kein generelles ‚Nein‘ zu jedem nur denkbaren Krieg begründen. Krieg ist weder notwendig, wie in der bellizistischen Philosophie, noch begrüßenswert, wie im Konzept des Heiligen Krieges. Aber er ist auch nicht ausgeschlossen, wie im radikalen Pazifismus; er ist vielmehr (leider Gottes) möglich. Die Lehre vom gerechten Krieg behauptet somit die grundsätzliche Kontingenz und damit die Vermeidbarkeit, aber auch die Führbarkeit des Krieges.“ 5 4 Die Konstabulisierung des Militärs durchlebt in unserer Zeit eine bedeutsame Renaissance. Die nach Ende des Kalten Krieges sich ergebenden neuen Sicherheitsherausforderungen, welche die Streitkräfte von der klassischen Aufgabe der Landesverteidigung zur internationalen Friedensschlichtung in zivil-militärischen Kontexten geführt haben, zeigen dies deutlich auf. Dazu näher: E. R. Micewski/ B. Schörner. Streitkräfte in der Postmoderne, in: Österreichische Militärische Zeitschrift 3/2007, S. 271-280; und E. R. Micewski. Der gebildete Soldat und Offizier – Grundlegendes zur Bildung der Führungskräfte in Streitkräften, Truppendienst 5/2001, S. 408-413 (wiederveröffentlicht in Schörner/Fleck (Hrsg.), Ein Offizier als Philosoph – Schriften von Edwin Rüdiger Micewski. Kommentierter Sammelband, Frankfurt a. M . 2009, S. 467-478. 5 Wolfgang Huber. „Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik“. Zeitschrift für Evangelische Ethik 49 (2005) 113 -130; hier zitiert nach der ursprünglichen Fassung Wolfgang Huber. „ Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? – Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik (1)“. Rede vom 28.4.2004 in Potsdam. http://www.ekd.de/vortraege/huber/040428_huber_friedensethik.html. 70 Die Kriterien des ‚gerechten Krieges‘ in Kurzfassung6 Ius ad bellum: gerechter Grund legitime Autorität gerechte Absicht letztes Mittel begründete Hoffnung auf Erfolg.7 Ius in bello: Unterscheidung von Kombattanten und Nicht-Kombattanten Verhältnismäßigkeit der Mittel8 Beispiel Totenkopfaffäre bei uns – Folterskandale bei anderen Die Bundeswehr kam kürzlich moralisch ins Gerede durch die berüchtigte Totenschädel-Affäre in Afghanistan, als sich Bundeswehrsoldaten mit einem gefundenen Schädel fotografieren ließen. Wird hier die Ethik von der BildZeitung gemacht, die scheinheilig die Bilder empört veröffentlichte, dadurch aber die Affäre erst zu einer machte? Besteht nicht die Gefahr, dass die Journalisten per Empörung bestimmen, was Ethik ist und was nicht (was in anderen Bereichen der Gesellschaft ja sowieso schon so ist) und in dem Presserummel eine gediegene ethische Diskussion innerhalb und außerhalb der Bundeswehr, was denn ethisch und interkulturell falsch gelaufen ist, eigentlich verhindert? So dümmlich die Fotos der Soldaten waren: Die wahren ethischen Probleme in Afghanistan sind woanders zu suchen. Und die wichtigste Lehre daraus, nämlich weiteres und verstärktes Augenmerk auf kulturelle Sensibilisierung der Bundeswehrangehörigen für die jeweiligen Einsatzgebiete zu legen, hat die Bundeswehr ja gezogen. Könnte so etwas wie die Folteraffären amerikanischer Soldaten und Soldatinnen im Irak auch in der Bundeswehr passieren? Die einen sagen stolz: Nein. Kriege sind aber nie ein Sonntagsspaziergang. Wie einzelne Soldaten unter extremem Druck reagieren, kann man ebenso wenig vorhersagen, wie S. dazu Edwin R. Micewski. „Ethics and Politics“. S. 1-17 in: ders. u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001. S. 7-8. 7 Formulierung nach Ines-Jacqueline Werkner. „Soldat und Religion“. S. 287-307 in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005 in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005. S. 302. 8 Formulierung nach ebd. Vgl. ausführlicher Thomas Schirrmacher. Ethik. Bd. 6. Hamburg/Nürnberg: RVB/VTR, 20094. S. 172-205 – Auszüge im Anhang. 6 71 die Folgen, wenn man monatelang mit Äußerungen von Gewalt, Tod und Verwundung sowie Gefahr für das eigene Leben konfrontiert ist. Zum einen können solche Dinge nur verhindert bzw. minimiert werden, wenn man Soldaten gründlich auf ihre Einsätze vorbereitet, wozu auch die Vermittlung von Ethik und ethischem Verhalten gehört; sowohl in Form von Wertevermittlung und Grundsatzentscheidungen als auch in ‚Sandkastenspielen‘, das heißt praktischer Behandlung konkreter ethischer Konfliktfälle.9 Nur wenn man offen darüber spricht, welche typisch negativen Reaktionen sich in und nach Kampfsituationen, gerade auch gegenüber dem unterlegenen Feind, einstellen können, hat man überhaupt eine Chance, ausuferndes Verhalten zu unterbinden. Zum anderen kann man nur etwas bewirken, wenn man nüchtern bleibt und mit dem Schlimmsten rechnet. Als Christ wäre zu sagen: Der Mensch hat eine Neigung zum Bösen, zur Sünde, und insbesondere in bzw. nach Situationen höchster Gefahr und Stressbelastung kann sich dies in Einzelfällen auf ungerechtfertigte Weise entladen. Wird das nüchtern gesehen und nicht unnötig dramatisiert, so kann man vorbeugen und Vorsorge treffen, dass es nicht vorkommt; wenn es aber passiert, wie man damit angemessen umgeht. Wer aber blauäugig meint, der Mensch sei nur gut und werde solch schreckliche Dinge sicher nicht tun, wird umso mehr von den tatsächlichen Ereignissen überwältigt sein. Mehr denn je durchdrungen von ethischen Themen Gehen wir schlaglichtartig weitere Herausforderungen durch, die ein tragendes ethisches Gesamtkonzept wie die ‚Innere Führung‘ und eine ethische Diskussion innerhalb und außerhalb der Bundeswehr heute noch nötiger als früher machen. Die erwähnte Totenschädelaffäre zeigt: Der Rechtfertigungsdruck gegenüber den Medien und die Angreifbarkeit durch die Medien hat enorm zugenommen. Insgesamt wird heute überhaupt mehr denn je mit Hinweis auf Moral und moralische Entrüstung Krieg geführt. Jeder versucht sich moralisch ins Recht zu setzen. Für den Anspruch der Bundeswehr darf das aber nicht nur eine propagandistische Maßnahme sein, sondern immer auch der Wunsch und der Versuch, die moralischen Ansprüche so weit wie nur irgend möglich mit der Realität in Deckung zu bringen. 9 Zur Methodik ethischer Urteilsbildung in Fallstudien vgl. Friedensethik im Einsatz. a. a. O. S. 357-362. 72 Seit dem Einsatz im Kosovo 1999 und in Afghanistan seit 2001 ist die Bundeswehr erstmals tatsächlich eine Armee im Kampfeinsatz, erstmals mit ‚Gefallenen‘. Vorher war sie „nur so etwas wie Deutschlands beste Katastrophenhilfe“10. 7.000 deutsche Soldaten waren 2008 im Ausland im Einsatz,11 heute sind es sogar um 200 Soldaten mehr. Dies rückt Fragen militärischer Ethik wieder in den Vordergrund des Interesses. Mit Verwundung, Sterben und Tod wird heute ganz anders umgegangen als in vergangenen Jahrhunderten.12 Zum einen wird der Gedanke daran sehr stark verdrängt, zum anderen wird das Sterben von Militärangehörigen, so hat es zumindest in Deutschland den Anschein, meist nicht mehr als Opfer angesehen. Das führt zu neuen Herausforderungen, natürlich nicht nur, aber eben auch ethischer Natur. Die Rolle der Familien der Soldaten ist heute längst nicht mehr die selbstverständlicher Opferbereitschaft, sondern muss ethisch neu bedacht werden.13 Die psychische Belastung der Soldaten im Einsatz spielt heute eine viel größere Rolle in Vorbereitung, Diagnose und Behandlung, und bringt eigene ethische Fragen mit sich.14 Die Zahl der Bundeswehrangehörigen, die aus Kampfgebieten mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) zurückkehren, steigt rasant.15 Michael Wolffsohn. „Dichter, Denker und Soldaten“. Die WELT vom 3.4.2009, auch unter www.welt.de. 11 Innere Führung. 2008. a. a. O. S. 4. 12 Ulrike Beckmann. „Verwundung und Tod – Ursachen und Folgen traumatischer Erfahrungen“. S. 334-343 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062. Aber auch Edwin R. Micewski. Tod und Tabu – Das Ethos des Soldaten und die Todesfrage, in: Ethica. Jahrbuch des Instituts für Religion und Frieden. Wien 2002, S. 95-99 (wiederveröffentlicht in Schörner/Fleck (Hrsg.), Ein Offizier als Philosoph, a.a.O. S. 151-157. 13 Georg-Maria Meyer. „Soldatenfamilien“. S. 551-561 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062; Gerhard Kümmel (Hg.). Diener zweier Herren: Soldaten zwischen Bundeswehr und Familie. Lang: Frankfurt, 2005; Maren Tomforde. Einsatzbedingte Trennung. Forschungsbericht 78. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2006, Download unter www.sowi.bundeswehr.de. Man beachte dazu auch die Kooperation des Zentralinstitut für Ehe und Familie in der Gesellschaft der Katholischen Universität Eichstätt mit dem Katholischen Militärbischofsamt, www.ku-eichstaett/Forschungseinr/ZFG/Home.de. 14 Michael Feller, Claudia A. Stade. „Physische und psychische Belastungen im Einsatz“. S. 323333 in: 333 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062 und Trauma Friedensethik im Einsatz. a. a. O. 283-285. 15 Vgl. Rainer M. Schubmann u. a. Psychosoziale Extrembelastungen bei Auslandseinsätzen (Januar 2000 – März 2007). Möhnesee-Körbecke: Klinik Möhnesee, 2007, unter http://www.dbkg.de/upload/content/MOE/Bundeswehrbericht_2007_0321.pdf. Vgl. auch den sehr kritischen, wenn auch etwas einseitigen Bericht eines längjährigen Offiziers im Einsatz im Kosovo und Afgha10 73 Die Aufnahme von Frauen im Militär in allen Positionen und Rängen führt zu neuen ethischen Fragestellungen.16 Gleichzeitig bringen die jungen Rekruten nicht unbedingt ein höheres Maß an ethischer Bildung aus Familie, Schule oder Kirche mit, schon gar nicht eine, die auf einem breiten Konsens beruht. Michael Wolffsohn hat darauf verwiesen, dass die Bundeswehr zusehends eine „Unterschichtenarmee“17 wird und darüber hinaus im aktiven Einsatz heute eher Kämpfertypen als Bildungsbürger braucht. „Die Ent-Intellektualisierung der Bundeswehr wird deshalb eher zu- als abnehmen.“18 Angesichts der jüngsten Anpassungen in den Curricula der Offiziersaus- und fortbildung scheint sich der Trend aber umgekehrt zu haben. Human- und geisteswissenschaftliche Inhalte werden verstärkt berücksichtigt und auch der ethischen Bildung wird zusehends mehr Augenmerk geschenkt, was sich etwa in der Einrichtung des Zentrums für ethische Bildung der Bundeswehr oder dem Institut für militärethische Studien des Österreichischen Bundesheeres, das in der evangelischen Superintendentur eingerichtet wurde, dokumentiert. Dass die Bemühungen aus der Sicht des Ethikers noch immer nicht ausreichend sind und eine stärkere denkerische Durchdringung komplizierter ethischer Sachverhalte erfolgen sollte, muss aber gleichzeitg festgehalten werden. Zudem nimmt die Bundeswehr zunehmend nicht jüdisch-christlich sozialisierte Angehörige, sondern Areligiöse oder Angehörige ethnischer und/oder religiöser Minderheiten auf, was eine einheitliche ethisch-moralische Orientierung weiter erschwert.19 Die Bundeswehr ist zunehmend in anderen Ländern zur Durchführung und Überwachung von humanitären Einsätzen, Wahlen oder Verträgen befasst, nistan Andreas Timmermann-Levanas. Die reden – wir sterben. Frankfurt: Campus, 2010. 16 Gerhard Kümmel. „Frauen im Militär“. S. 51-60 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062; ähnl. Gerhard Kümmel. „Frauen im Militär“. S. 114-135 in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005. 17 Michael Wolffsohn. „Die Bundeswehr ist eine Unterschichtenarmee“. Die WELT vom 22.8.2009, als „Die Bundeswehr – Legenden und Tatsachen“ unter http://debatte.welt.de/kommentare/150218/die+bundeswehr+legenden+und+tatsachen. 18 Vgl. Heiko Biehl. „Kampfmoral und Einsatzmotivation“. S. 268-286 in: Nina Leonhard, InesJacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005; Nina Leonhard, Heiko Biehl. „Soldat: Beruf oder Berufung?“. S. 242-286 in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005. 19 Paul Klein. „Nationale, ethnische und religiöse Minderheiten in der Bundeswehr“. S. 72-80 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062. 74 nimmt also zunehmend Polizeifunktion in Einsatzgebieten wahr, was zahlreiche ethische Fragen aufwirft. Die zunehmende Privatisierung von Sicherheit wirft eigene ethische Fragestellungen auf.20 Die Evangelische Kirche wendet sich u. a. zu Recht massiv gegen eine „Erosion des staatlichen Gewaltmonopols durch Privatisierung von Sicherheitsaufgaben“21 und auch bei der Bundeswehr zeigt sich diesbezüglich eine klare Einstellung. Allerdings sind ethische Herausforderungen im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit zivilen Sicherheitskräften in Einsatzgebieten zu behandeln. Ethische Fragen stehen auch im Zentrum anderer Grundsatzdebatten, wie etwa die nach dem Einsatz der Bundeswehr im Inneren,22 also der Polizeifunktion einer Armee, einem Wunsch, den die Bundeswehr ihrer Stärke in ABCAbwehr, Luftaufklärung, Luftabwehr, Lufttransport, Fernmeldefähigkeit, Pionierfähigkeit im Katastrophenfall und den Fähigkeiten der Marine zum Schutz von Häfen und Schiffen verdankt.23 Interkulturelles Konfliktmanagement Johannes Varwick schreibt in seinem Artikel „NATO: Auf dem Weg zum Weltpolizisten?“24, dass die NATO eine Zwitterstellung zwischen „Verteidigungsbündnis“ und „Instrument internationaler Krisenbeherrschung“ 25 habe. Im Rahmen des neuen strategischen Konzepts „Out-of-Area“ der NATO arbeiteten in Afghanistan nicht weniger als 20 Nicht-NATO-Mitglieder, die im Rahmen der NATO Partnerschaft für den Frieden (PfP) die Interoperabilität mit der NATO herstellten, zusammen. 26 Damit ergibt sich die Herausforderung von Interkulturalität zum einen auf die Bedingungen im Einsatzraum, S. Maria Meyer. „Söldner GmbH? – Zur Problematik privater Militärdienstleistungsunternehmen“. S. 506-517 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062. 21 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen: Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 20072. S. 106 (Nr. 167), www.ekd.de/download/ekd_friedensdenkschrift.pdf. 22 Siehe Wilhelm Knelangen. „Einsatz der Bundeswehr im Innern“. S. 112-124: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062. 23 Auflistung nach ebd. S. 116-117. 24 Johannes Varwick. „NATO: Auf dem Weg zum Weltpolizisten?“. Aus Politik und Zeitgeschichte 15-16/2009 (6.4.2009): 3-9. 25 Ebd. S. 8. 26 Ebd. S. 7. Vgl. auch Olaf Theiler. „Die ‚Neue NATO’ – Eine Allianz im Wandel“. S. 238-249 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062. 20 75 zum anderen auf die Zusammenarbeit in multikulturell zusammengesetzten Streitkräfteformationen. Krieg hatte und hat schon immer auch etwas mit dem Verhältnis zu anderen Kulturen zu tun, wird aber nun im Kontext internationaler Friedenssicherung und Konfliktbereinigung zu einem weitaus komplexeren Gegenstandesbereich. Bei einem gerechten Krieg und in Friedensmissionen wird ein faires Verhältnis zu anderen Kulturen zu einem besonders zentralen Thema. Die jüngsten Beteiligungen von Bundeswehrangehörigen an internationalen Einsätzen belegen, dass auch die Bundeswehr auf eine „Begegnung mit fremden Kulturen“27 vorbereitet sein muss. Die Begegnung mit anderen Kulturen hat aber nicht nur den Aspekt interkultureller Kommunikation, sondern immer auch einen zentralen ethischen Aspekt zu berücksichtigen. Auch die multinationalen Einsätze bringen ethische Probleme mit sich, 28 müssen doch Truppen verschiedener Nationen und aus verschiedenen Kulturbereichen gemeinsam mit in den Einsatzzonen Heimischen, die oft selbst verschiedenen Völkern, Stammesgruppen und sozialen Schichten angehören, zusammen arbeiten. Die etwa mancherorts viel belächelte Taschenkarte für Bundeswehrangehörige in Afghanistan29 hatte ja nie die Aufgabe, hochkomplizierte Zusammenhänge billig zu vereinfachen, sondern wollte nur die Möglichkeit schaffen, sich schnell immer wieder ethische und interkulturelle Grundsätze des Bundeswehreinsatzes in Erinnerung zu rufen. Auch für die Bundeswehr selbst ist es eine gute Übung, ihre ethischen Grundsätze in wenigen Prinzipien zusammenzufassen, die in langatmigen Erklärungen und Dokumenten nicht immer leicht zu finden oder nachzuvollziehen sind, schon gar nicht im praktischen Einsatz, der immer mit Zeitdruck und der Notwendigkeit zu schnellen Entscheidungen verbunden ist. Literatur Interkulturelles Konfliktmanagement „Lebensweise verstehen: Interkulturelle Handlungskompetenz ...“. http://www.y-punkt.de/portal/a/ypunkt/archiv/2007?yw_contentURL=/01DB131000000001/W26Z4JRN81 1INFODE/content.jsp (aus Y-Das Magazin der Bundeswehr) 27 Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 34-37 (Abschnittsüberschrift). Sven Bernhard Gareis. „Multinationalität als europäische Herausforderung“. S. 360-373 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062; Sven Bernhard Gareis. „Militärische Multinationalität“. S. 157175 in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005. 29 Taschenkarte: Druckschrift Einsatz Nr. 03: Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Grundsätzen – Grundsätze. Bundesministerium der Verteidigung, 2008. 28 76 Andreas Berns, Roland Wöhrle-Chon. „Interkulturelles Konfliktmanagement“. S. 350358 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissen2 schaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006 Paul Ertl, Jodok Troy (Hg.). Der Feind – Darstellung und Transformation eines Kulturbegriffes. Bd. 2: Ausgewählte Bereiche der Feindkonzeption. Wien: Landesverteidigungsakademie, 2007 Sven Bernhard Gareis. „Multinationalität als europäische Herausforderung“. S. 360-373 in: ders., Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für 2 Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006 , insgesamt S. 350-434 Sven Bernhard Gareis. „Militärische Multinationalität“. S. 157-175 in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005 Jörg Keller. „Interkulturelle Kompetenz auf dem Prüfstein: die Auslandeinsätze der Bundeswehr“. S. 161-194 in: Ludwig Krysl (Hg.). Interkulturelle Kompetenz – Voraussetzung für erfolgreiche Aufgabenerfüllung postmoderner Streitkräfte. Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 18/2007. Wien: LVAk, 2007 Ludwig Krysl (Hg.). Interkulturelle Kompetenz – Voraussetzung für erfolgreiche Aufgabenerfüllung postmoderner Streitkräfte. Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 18/2007. Wien: LVAk, 2007 Jörg Keller. „Interkulturelle Kompetenz auf dem Prüfstein: die Auslandeinsätze der Bundeswehr“. S. 161-194 in: Ludwig Krysl (Hg.). Interkulturelle Kompetenz – Voraussetzung für erfolgreiche Aufgabenerfüllung postmoderner Streitkräfte. Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 18/2007. Wien: LVAk, 2007 Paul Klein. „Nationale, ethnische und religiöse Minderheiten in der Bundeswehr“. S. 7280 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissen2 schaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006 Andreas Th. Müller. „Der Feindbegriff im Völkerrecht“. S. 119-146 in: Paul Ertl, Jodok Troy (Hg.). Der Feind – Darstellung und Transformation eines Kulturbegriffes. Band 2. Wien: Landesvereinigungsakademie, 2007 Vgl. auch Thomas Schirrmacher. Rassismus: Alte Vorurteile und neue Erkenntnisse: SCM Hänssler, 2009 Thomas Schirrmacher. Multikulturelle Gesellschaft. Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2007 Menschenrechtsgeleitete Intervention Aus den 1990er Jahren heraus entwickelte sich eine neuartige Form der bewaffneten Auseinandersetzung, „die menschenrechtsgeleitete Intervention“30 oder ‚humanitäre Intervention‘ die den miles protector gefragt sein lässt, Christian Stadler. „Internationales Recht – Völkerrecht und humanitäre Intervention“. S. 19-34 in: Edwin R. Micewski u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001. S. 26, vgl. dazu den ganzen Beitrag und Heinz-Gerhard Justenhoven, HansGeorg Ehrhart (Hg.). Intervention im Kongo: Eine kritische Analyse der Befriedungspolitik von UN 30 77 den Friedensstifter, Konfliktmediator, Helfer.31 „Bewaffneter Sozialarbeiter?“32, fragt Christian Walther, und Wilfried von Bredow diskutiert die Verquickung von „Kämpfer und Sozialarbeiter“33 in einer Person. Die frühere „klare Trennlinie zwischen dem Militär und zivilen Organisationen wird mehr und mehr durchlöchert“, etwa durch humanitäre Hilfeleistungen, dazu Polizeiaufgaben im Zivilleben (nicht nur beim Aufgreifen von Kriegsverbrechern) oder durch die Aufstellung und Schulung von Polizeiformationen und andere Serviceleistungen beim Aufbau ziviler Strukturen.34 Offiziere in Afghanistan müssen zudem Geschick in Diplomatie und hohe Flexibilität angesichts unklarer Verbündeter und der Sprachprobleme haben. Es gibt dabei eine breite internationale Diskussion, inwieweit eine Intervention überhaupt humanitär sein kann und vor allem, unter welchen Voraussetzungen sie möglich ist, wenn es kein Mandat des UN-Sicherheitsrates gibt.35 An Auslandseinsätzen im Sinne von Friedensmissionen waren etwa – wie dem Weißbuch 2006 beispielsweise zu entnehmen ist – weltweit etwa 200.000 Soldaten beteiligt.36 All das erfordert nicht weniger, sondern mehr Ethik und ethisches Nachdenken. Hier wird Ethik zur Begründung von Einsätzen der Bundeswehr (und anderer Armeen) herangezogen, vor allem deshalb, weil das Völkerrecht die neuen Herausforderungen noch nicht verarbeitet hat und klare rechtliche Richtlinien (noch) ausständig sind. Die politische Diskussion trägt daher verständlicherweise immer stärker ethische Züge, muss doch die Legitimation der von der Politik beschlossenen Einsätze vorrangig auch ethisch erfolgen. Allein deshalb hat die ethische Diskussion nicht nur zugelassen, sondern gefördert zu werden, innerhalb der Politik, der Bundeswehr, unter Fachleuten, aber auch gesamtgesellschaftlich. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12.7.1994 über die Zulässigkeit von Bundeswehreinsätzen außerhalb des NATO-Territoriums und anderer Fragen war einerseits die Voraussetzung dafür, dass sich der Charakter der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Armee der und EU. Beiträge zur Friedensethik 42. Stuttgart: Kohlhammer, 2008. 31 So ebd. 32 Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 19-20. 33 Wilfried von Bredow. „Kämpfer und Sozialarbeiter“. S. 314-321 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062. 34 Bes. ebd. S. 318. 35 Eine Zusammenfassung der Kriterien gibt nach Darstellung der Diskussion Dieter Baumann. Militärethik. a. a. O. S. 376-378; ähnlich Peter Fonk. Frieden schaffen auch mit Waffen? a. a. O. S. 52-53. 36 Vgl. die Auflistung der Beteiligung bis 2008 in Wilfried von Bredow. Militär und Demokratie in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2008. S. 233-234, zu 232-247. 78 Beteiligung an ‚Friedensmissionen‘ und aktiven Kampfeinsätzen entwickelte und dass die Bundeswehr andererseits zu einer ‚Parlamentsarmee‘ wurde, entschied doch das Gericht, dass der Bundestag jeden einzelnen Einsatz der Bundeswehr beschließen müsse.37 Dieser Umbruch bringt die oben bereits angesprochenen ethischen Herausforderungen mit sich und insbesondere die Vorgabe ’der parlamentarischen Beschlüsse bedeutet auch längerfristige und durchaus auch verstärkt ethische Betrachtungen. Literatur Humanitäre Intervention – Kämpfer und Sozialarbeiter? Dieter Baumann. Militärethik: Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven. Theologie und Frieden 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2007 Gerhard Beestermöller (Hg.). Die humanitäre Intervention – Imperativ der Menschenrechtsidee? Rechtsethische Reflexionen am Beispiel des Kosovo-Krieges. Theologie und Frieden 24. Stuttgart: Kohlhammer, 2003 Peter Fonk. Frieden schaffen – auch mit Waffen? Theologisch-ethische Überlegungen zum Einsatz militärischer Gewalt angesichts des internationalen Terrorismus und der Irak-Politik. Beiträge zur Friedensethik 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2003 Heinz-Gerhard Justenhoven, Hans-Georg Ehrhart (Hg.). Intervention im Kongo: Eine kritische Analyse der Befriedungspolitik von UN und EU. Beiträge zur Friedensethik 42. Stuttgart: Kohlhammer, 2008 Edwin R. Micewski, Ethics and Politics – Some Thoughts on the History of Ideas and Today’s Challenges, S. 1-17, in: Edwin R. Micewski u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001 Christian Stadler. „Internationales Recht – Völkerrecht und humanitäre Intervention“. S. 19-34 in: Edwin R. Micewski u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001. S. 26. Wilfried von Bredow. „Kämpfer und Sozialarbeiter“. S. 314-321 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für So2 zialwissenschaften: Wiesbaden, 2006 Afghanistan Der einstige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus (Dieter) Naumann, bekanntlich der höchstdekorierte deutsche Soldat seit dem 2. Weltkrieg, äußert sich sehr kritisch zum Umgang der Regierung und des Parlaments mit multilateralen Einsätzen der Bundeswehr. „Der Afghanistan-Einsatz ist zum Musterfall 37 S. dazu Wilfried von Bredow. Militär und Demokratie in Deutschland. a. a. O. S. 121-124. Hans Born. „Demokratische Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik“. S. 125-134 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006 2 stellt die Kompliziertheit der Fragestellung gut dar. 79 strukturierten Politikversagens geworden.“ 38 Sind die von Naumann angesprochenen „Ausrüstungsmängel“ in Afghanistan nicht auch ein durchaus moralisches Versagen der Politik, den Streitkräften die zur Auftragserfüllung notwendigen Mittel zur Vefügung zu stellen? In seinem Aufsatz „Scheitern an der ganzen Front: das Versagen deutscher Politik torpediert die Auslandseinsätze der Bundeswehr“ hat Naumann seine Kritik über Afghanistan hinaus auf alle Einsätze der Bundeswehr ausgeweitet. 39 Ähnlich hat Michael Wolffsohn von der Hochschule der Bundeswehr kritisiert, die Bundeswehr habe grundsätzlich keine ausgereifte Strategie, wie der Libanoneinsatz von 2006/2007, die Mission im Kongo 2006 und die Piratenbekämpfung vor Somalia und Afghanistan zeigten. 40 Inwieweit diese Kritik zutrifft oder allenfalls überzogen ist, kann nur schwer beurteilt werden. Jedenfalls lässt die Diskussion schon erkennen, dass hier über tagespolitische Fragen oder Wahlkampfthemen hinausreichend, auch ethische Dimensionen verstärkt im Diskurs berücksichtigt werden müssen. Literatur Afghanistan Eric Chauvistré. Wir Gutkrieger: Warum die Bundeswehr im Ausland scheitern wird. Frankfurt a. M.: Camous, 2009 Stefan Kornelius. Der unerklärte Krieg: Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan. Hamburg: edition Körber Stiftung, 2009 Klaus Naumann. Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Hamburger Edition: Hamburg, 2008 Klaus Naumann. „Scheitern an der ganzen Front: das Versagen deutscher Politik torpediert die Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Internationale Politik 63 (2008) 9: 82-89 „Neue Kriege“ In den zwei Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges hat sich ein Kriegstypus herauskristallisiert, den es zwar in der Geschichte, wenn auch in abgeschwächter Form, immer schon gegeben hat und der so alt wie der Krieg selbst ist, der sich aber im weltweiten Maßstab nach vorne schiebt. Dieser neue, asymmetrische Krieg 41 ist eine Mischung aus klassischer 38 Klaus Naumann. Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Hamburger Edition: Hamburg, 2008. S. 8-47. 39 Klaus Naumann. „Scheitern an der ganzen Front: das Versagen deutscher Politik torpediert die Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Internationale Politik 63 (2008) 9: 82-89. 40 Michael Wolffsohn. „Die Bundeswehr ist eine Unterschichtenarmee“. Die WELT vom 22.8.2009, als „Die Bundeswehr – Legenden und Tatsachen“ unter http://debatte.welt.de/kommentare/150218/die+bundeswehr+legenden+und+tatsachen. 41 Counterinsurgency. FM 3-24/MCWP 3-33.5. December 2006. Headquarters of the Army: Wash- 80 Kriegsführung, organisiertem Verbrechen, Bürgerkrieg und massenhafter Verletzung von Menschenrechten. 42 Der Wiener Philosophieprofessor Rudolf Burger erkennt drei vorrangige Gründe, die für diese asymmetrische Entwicklungen in der Kriegführung verantwortlich sind, nämlich die Entstaatlichung, Denationalisierung und Retheologisierung der Politik. 43 Dabei beabsichtigt der politische Charakter der neuen Asymmetrie das Unterlaufen der Staatlichkeit und zielt unter Umgehung symmetrischer militärischer Konfrontation darauf ab, die rund um die regulären Streitkräfte bestehende soziale und politische Ordnung auszuhöhlen. Festeht, wie Micewski feststellt, dass sich als wesentlicher Aspekt in der neuen Kriegsführung ergibt, dass die „technologisch-materielle Asymmetrie durch die Ausnutzung moralischer Asymmetrien begleitet und verstärkt wird“.44 Mit dem „Verzicht auf Moralität“ (E. Micewski) stellt sich der asymmetrisch Kriegführende außerhalb jeglicher rechtlicher und moralischer Norm des Völkerrechtes und politisch-militärischer Ethik und treibt somit die Entgrenzung des Krieges weiter voran. Während etwa in der Lehre vom gerechten Krieg im ‚ius in bello‘ die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten eine zentrale Rolle spielt, wird diese Unterscheidung von irregulären Kräften oft bewusst missachtet oder aufgehoben. Zivilisten werden als Geiseln, Kinder zur Täuschung von Soldaten verwendet, Kombattanten werden äußerlich bewusst und absichtlich nicht von Nichtkombattanten unterscheidbar gemacht. Die ethisch-moralischen Herausforderungen, die daraus für reguläre Streitkräfteformationen resultieren, sind eminent, ist doch der reguläre und einem Kriegsvölkerrecht verpflichtete Soldat dazu „verurteilt“, dem „Inhumanen auf eine Weise zu begegnen, in der er sich selbst des Humanen niemals entledigen darf.45 Für die Ethik ist der neue Kriegstypus eine besondere Herausforderung, weil der überwiegende Teil unseres modernen Kriegsrechts und unsere ethischen Überlegungen nach wie vor auf klassische zwischenstaatliche Kriege ausgerichtet ist.46 Literatur Neue Kriege & Asymmetrie Gustav Däniker. Wende Golfkrieg: Vom Wesen und Gebrauch künftiger Streitkräfte. Frankfurt: Report Verlag, 1992 ington, 2006. www.fas.org/irp/doddir/army/fm3-24.pdf. S. 1-1. 42 Vgl. Klaus Ebeling. Militär und Ethik. a. a. O. S. 36-37. 43 Rudolf Burger. Retheologisierung der Politik und weltpolitische Konfliktkonstellationen. Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie Wien 1/2004: Wien: LVAk, 2004. 21. S. S. 16, auch unter www.bmlv.gv.at/pdf_pool/publikationen/08_kwd_burger.pdf. 44 Micewski (2004). S. 35. 45 Ebd. S. 40. 46 So bes. ebd. S. 7-5. 81 Peter Fonk. Frieden schaffen – auch mit Waffen? Theologisch-ethische Überlegungen zum Einsatz militärischer Gewalt angesichts des internationalen Terrorismus und der Irak-Politik. Beiträge zur Friedensethik 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2003 Edwin R. Micewski, Moralphilosophische Überlegungen zur Legitimität von asymmetrischer Kriegführung. In: Schröfl, Josef/Pankratz, Thomas (Hrsg.). Asymmetrische Kriegführung – ein neues Phänomen der Internationalen Politik? Baden-Baden: Nomos 2004. S. 31-40 Herfried Münkler. „Neues vom Chamäleon Krieg“. Aus Politik und Zeitgeschichte 57 (2007) 16/17: 3-9 Counterinsurgency. FM 3-24/MCWP 3-33.5. December 2006. Headquarters of the Army: Washington, 2006. www.fas.org/irp/doddir/army/fm3-24.pdf 3 Herfried Münkler. Die neuen Kriege. Reinbek: Rowohlt, 2002 August Pradetto. „Neue Kriege“. S. 214-225 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: 2 Wiesbaden, 2006 C. René Padilla, Lindy Scott. Terrorismus und der Krieg im Irak: Christen aus Lateinamerika melden sich zu Wort. Weltmission heute 57. Hamburg: Evangelisches Missionswerk in Deutschland, 2005 ‚Innere Führung‘ und Militärethik Als Folge des Dritten Reiches und der Schrecken des Zweiten Weltkrieges war es kein Wunder, dass die Deutsche Bundeswehr das Konzept der Inneren Führung erarbeitet und in den Streitkräften verankert hat. Der Natur der Sache und den Erfordernissen gemäß konzentrierte sich die Innere Führung weniger auf Überlegungen einer Militärethik, als vielmehr auf demokratiepolitische Wertvermittlung, die Menschenwürde berücksichtigende Ausbildungs- und Führungsmethoden und die Einbindung und Integration der Bundeswehr und ihrer Soldaten in die Gesellschaft. Wilfried von Bredow bezeichnet die ‚Innere Führung‘, wie dies in der gleichnamigen Dienstvorschrift 10/1 des Verteidigungsministeriums von 2008 zum Ausdruck kommt, als das Markenzeichen der Bundeswehr. 47 Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Walter Schneiderhahn, fügt hinzu, dass „keine andere westliche Nation ...über ein ähnlich umfassendes Konzept zur Harmonisierung des Spannungsverhältnisses zwischen Soldat und Demokratie“ 48 verfügt wie die Bundeswehr. Schneiderhan wehrt sich dagegen, das Bild vom Soldaten auf das Bild vom Kämpfer zu reduzieren. Nicht zuletzt durch die Innere Führung verfügt die Bundeswehr auch über den moralisch stabilen Soldaten, der Werte hat und mit Courage für diese 47 Wilfried von Bredow. Militär und Demokratie in Deutschland. a. a. O. S. 124; vgl. zur Inneren Führung insgesamt S. 124-144. 48 Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 7. 82 Werte eintritt. Aus diesem Grund steht die Innere Führung nicht zur Disposition sondern muss von jedem Angehörigen der Bundeswehr gelebt werden und das Handeln der deutschen Soldaten bestimmen. Nach über 40 Dienstjahren ist sich Schneiderhan in einem Punkt absolut sicher: „Ohne Innere Führung hätten wir eine andere Bundeswehr. Denn das Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Freiheit und militärischer Ordnung existiere nun einmal.“49 Die Evangelische Kirche in Deutschland schreibt in einer ausführlichen Stellungnahme zum Konzept der Inneren Führung: „Das ethisch, historisch und rechtlich begründete Konzept der Inneren Führung ist in den vergangenen fünfzig Jahren zum Markenzeichen der deutschen Streitkräfte geworden. Das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform, der Primat der Politik, der Grundrechtsschutz, die Gewissensfreiheit, die Bestimmung des Verhältnisses von Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht, die Integration der Streitkräfte in die demokratische Ordnung, eine an der Menschenwürde orientierte Ausgestaltung des Dienstes sowie zeitgemäße Menschenführung – all dies ist in der Bundeswehr weitgehend verwirklicht. Gleichwohl machen die in den jährlichen Berichten des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages wiedergegebenen Verfehlungen – auch von Vorgesetzten – die Notwendigkeit ständigen Einübens der Grundsätze der Inneren Führung und der Überwachung ihrer Befolgung durch konsequente Dienstaufsicht deutlich. Unter den neuen Bedingungen multinationaler Einsätze und des damit einhergehenden Strebens nach »Interoperabilität«, also der Befähigung zu militärischem Zusammenwirken, dürfen auch angesichts unterschiedlicher Wehrrechtssysteme die Prinzipien der Inneren Führung nicht preisgegeben, relativiert oder nivelliert werden. Vielmehr sollten sie auch für multinationale Streitkräfte als wegweisend betrachtet und vertreten werden. Ein Aspekt der Inneren Führung, der angesichts der Auslandseinsätze Gewicht gewinnt, ist die Fürsorge, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Betreuung der Familien am Standort, Betreuung von Soldaten nach Einsätzen, besonders solchen mit sehr belastenden Erlebnissen und Erfahrungen, Versorgung von verletzten und insbesondere von dauerhaft versehrten Soldaten. Die Soldatenseelsorge leistet einen entscheidenden Beitrag dazu, dass Soldaten und ihre Angehörigen in schwierigen und angefochtenen Lebenssituationen kompetente und qualifizierte Begleitung und Unterstützung erfahren.“50 49 http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLd4w3tHQ0BMmB2KaepvqREIYlTMzQzQ8iBlbo65Gfm6oflJKq760foF-QGxpR7uioCADHLUXm/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfQV8xOUEx?yw_contentURL=%2F01DB131000000001 %2FW26YEJ3C829INFODE%2Fcontent.jsp (1.3.2009). 50 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen: Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 20072. S. 198 (Nr. 154), www.ekd.de/download/ekd_friedensdenkschrift.pdf. 83 Das Bundesverteidigungsministerium vermeldete in jüngerer Zeit mit Stolz, dass das Konzept der Inneren Führung immer weiter als Anhalt für andere Streitkräfteorganisationen um sich greift: „Ein weltweit gefragtes Erfolgsmodell: Die Innere Führung ist ein Markenzeichen der Bundeswehr. Während seiner Südamerikareise im Juli führte der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wolfgang Schneiderhan, ein ausführliches Gespräch mit Argentiniens Verteidigungsministerin Nilda Celia Garré und Generalstabschef Jorge Alberto Chevallier über die einzigartige Konzeption der Inneren Führung. Die Konzeption der Inneren Führung bringt die Freiheitsprinzipien des demokratischen Rechtsstaates mit den Ordnungs- und Funktionsprinzipien der Streitkräfte zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrages in Einklang. Sie ist mehr denn je unverwechselbares Markenzeichen der deutschen Streitkräfte. Die bisherigen deutschen Erfahrungen, Gesellschaft und Militär zusammenzuführen, stoßen auch in anderen Staaten auf ein starkes Interesse. ... Diesem Bedarf entsprechend wurde die im Januar diesen Jahres erlassene und den aktuellen Entwicklungen, insbesondere der Einsatzrealität angepasste Neufassung der Zentralen Dienstvorschrift Innere Führung (ZDv 10/1) nun in die französische, englische, russische und auch spanische Sprache übersetzt. Damit kann sie auch der breiten Masse der Soldaten ausländischer Streitkräfte, so auch den interessierten Argentiniern, verfügbar gemacht werden.“ 51 Die Sozialwissenschaftlerin Angelika Dörfler-Dierken nennt kurz und bündig folgende drei Hauptelemente des Konzeptes der Inneren Führung: 1. Gewissengeleitetes Individuum; 2. Verantwortlicher Gehorsam; 3. Konfliktund friedensfähige Mitmenschlichkeit.52 In jüngerer Zeit mehren sich jedoch auch kritische Stimmen, welche die Gefahr sehen, dass die Innere Führung bei zivilen Mitarbeitern des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr, bei einigen Offizieren im Zentrum Innere Führung in Koblenz, in den theologischen Instituten der Bundeswehrhochschulen sowie in Akademien und Sonntagsreden gefangen zu bleiben und weniger den Alltag der Bundeswehr zu bestimmen droht. So stellte der Wehrbeauftragte Reinhold Robbe große Defizite bei der Inneren Führung und beim Rechts- und Wertebewusstsein von Ausbildern und Rekruten fest und das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr kam im Projekt ‚Ethische Fundamente der Inneren Führung‘53 zu einem insgesamt negativen Ergebnis: Zwar gilt, dass die „Die Konzeption der Inneren Führung ... die Bundeswehr demokratie- und bündniskonform gemacht [hat]“54, aber sie „schon recht früh „Ein weltweit gefragtes Erfolgsmodell“. http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/kcxml/04 Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung: Baudissins Leitgedanken. Berichte 77. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2005. S. 39. 53 Klaus Ebeling, Anja Seiffert, Rainer Senger. Ethische Fundamente der Inneren Führung. SOWIArbeitspapier 132. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2002. 54 Ebd. S. 38. 51 52 84 zu einer eher innerbetrieblichen Führungsphilosophie – zu Lasten des Politischen“55 wurde; und das sei bis in die Gegenwart so geblieben. Und Angelika Dörfler-Dierken konstatiert eine emotionale Barriere der Bundeswehr gegen einen „Beitrag zur Legitimation der eigenen Existenz“56. Wenn auch nicht im Vordergrund der Inneren Führung, so kommt mit dem Hinweis auf den Wehrbeauftragten und den Lebenskundlichen Unterricht57 die Sorge um das Seelenheil des Soldaten auf und verweist auf den durchaus auch berufsethischen Charakter der Seelsorge, die immer wieder auch moralische Aspekte der dienstlichen Pflichterfüllung berührt. Die Dienstvorschrift 10/4 (104) äußert sich dementsprechend wie folgt: „Der Lebenskundliche Unterricht ist ein Ort freier und vertrauensvoller Aussprache und lebt von der engagierten Mitarbeit der Soldatinnen und Soldaten. Er ist kein Religionsunterricht und auch keine Form der Religionsausübung im Sinne von § 36 des Soldatengesetzes, sondern eine berufsethische Qualifizierungsmaßnahme und damit verpflichtend. Er wird in der Regel von Militärseelsorgerinnen und Militärseelsorgern und im Bedarfsfall auch von anderen berufsethisch besonders qualifizierten Lehrkräften erteilt.“ Unter den übrigen Staaten der westlichen Welt – mit Ausnahme Österreichs – die sich nach dem Zweiten Weltkrieg ja durchaus auf der Seite der Sieger befanden und nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert waren, eine noch ganz junge totalitäre Vergangenheit bewältigen zu müssen, beschränkten sich die zivil-militärischen bzw. politisch-militärischen Beziehungen, deren adäquate Regelung ja die Grundmotivation für die Konzeption der Inneren Führung war, großteils auf rechtliche Aspekte und allenfalls die Verbesserung der Medienarbeit. Hier wie dort standen Fragen einer militärischen Ethik jedoch nicht im Vordergrund, beruhte die Konstellation der bipolaren Weltordnung doch in ethischer Hinsicht auf einem allgemein anerkannten Kriegsvölkerrecht, dessen Bestimmungen in Unterrichten und Schulungen vermittelt wurde und auf dessen Vermittlung sich militärethische Bildung wesentlich beschränkte. Österreich, wo man sich nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Wiedererlangung der Souveränität in einer ähnlichen Lage – wenn auch als immerwährend Neutraler ohne dem Erfordernis nach Bündnistauglichkeit – befand, nahm sich an der Inneren Führung ein Beispiel und entwickelte in ähnlicher Absicht das Konzept der Geistigen Landesverteidigung als einem wesentlichen und grundlegenden Teilbereich des strategischen Konzepts der Umfassenden Landesverteidigung. Aber auch hier standen weniger Aspekte einer ethischen Bildung 55 Ebd. S. 39. Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 39. 57 Vgl. zum lebenskundlichen Unterricht Friedensethik im Einsatz: Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009. S. 345-3567. Im Österreichischen Bundesheer gibt es denselben Unterricht unter derselben Bezeichnung. 56 85 im Vordergrund als vielmehr das Bemühen, Bürger in Uniform zu schaffen, deren Bewusstsein und Auftreten keinen Zweifel an ihrer demokratiepolitischen Gesinnung aufkommen ließ und welche es dem Österreichischen Bundesheer ermöglichte, sich adäquat in die Gesellschaft zu integrieren. Im Gegensatz zu Deutschland nicht einer Militärallianz zugehörig, sondern aus freien Stücken immerwährend neutral und damit ganz eindeutig auf eine rein defensive Landesverteidigung im Rahmen des völkerrechtlichen Neutralitätsstatus reduziert, gewährleistete die Neutralität für die Jahrzehnte des Kalten Krieges ein relativ hohes Maß an gesellschaftlicher Zustimmung zum Bundesheer und zur Landesverteidigung sowie stabile zivil-militärische Beziehungen. All dies änderte sich jedoch mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch jener Weltordnung, die für etwa 40 Jahre den Ausbruch größerer militärischer Konflikte nicht zuletzt durch die Strategie der nuklearen Abschreckung verhindert hatte. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der Auflösung des Warschauer Paktes, dem Entstehen einer Vielzahl neuer Staaten, konnten sich nationalistische, religiöse und ethnisch motivierte Strömungen – etwa am Balkan, in Osteuropa, im Nahen und Mittleren Osten – entladen, die lange geschwelt hatten, aber doch durch die bipolare Machtkonstellation unter Kontrolle gehalten worden waren. Im Zuge des ersten Golfkrieges und der humanitären Interventionen der 1990er Jahre wurde plötzlich der dringende Wunsch nach ethischer Orientierung im Politischen wie Militärischen laut, da sich sowohl politische Entscheidungsgremien als auch militärisches Führungspersonal mit Herausforderungen konfrontiert sahen, die neue und brisante ethische Fragestellungen mit sich brachten. Diese verdichteten sich, als die oben bereits erwähnte asymmetrische Kriegführung immer mehr um sich griff und subnationale und irreguläre Kräfte ihre politischen Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen trachteten. Abgesehen davon war es aber das Begehren der jungen demokratischen Staaten Ost- und Südosteuropas, sich aus Sicherheitsgründen dem westlichen Verteidigungsbündnis der NATO und vorwiegend aus wirtschftlichen Gründen der Europäischen Union anzunäheren, das zu einer Renaissance moralischethischer Orientierung und der Verbreitung von Konzepten führte, die sich stark an Konzepte wie das der Inneren Führung anlehnten. Eine der ersten sichtbaren Manifestationen dieser Trends war der im Dezember 1994 von der ‚Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa‘ (OSZE) gebilligte ‚Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit‘. Dieser verpflichtet die Teilnehmerstaaten auf Minimalstandards zur Integration der Streitkräfte in den demokratischen Staat, zur Streitkräftekontrolle, zur Gewährleistung einer die Grundrechte schützenden Rechtsstellung der Soldaten und Soldatinnen sowie zur Sicherstellung der persönlichen Verantwortung aller Angehörigen der Streitkräfte für ihre Handlungen und benennt 86 klar die Aufgabe der Politik, die Weiterentwicklung und Konkretisierung der in diesem Kodex vereinbarten Normen tatkräftig voranzutreiben. 58 Mit Beginn der 1990er Jahre setzten also in einzelnen Streitkräften, vor allem aber mit bzw. nach Gründung der NATO-Partnerschaft für den Frieden, auch erste staatenübergreifende und internationale Anstrengungen zur Behandlung von politisch-militärischen und ethischen Themenstellungen der internationalen Beziehungen und Militärethik ein. Als Beispiel sind hier etwa die Bemühungen des US-Amerikanischen Centers for Civil-Military Relations (CCMR) festzustellen, in Bildungsveranstaltungen vor allem in Ost- und Südosteuropa Aspekte der politisch-militärischen Beziehungen wie etwa die demokratische Kontrolle von Streitkräften, Öffentlichkeitsund Medienarbeit, Gestaltung des inneren Dienstbetriebes in den Militärorganisationen und die Integration des Militärs in die neuen, offenen Gesellschaften zu behandeln. Im deutschsprachigen Raum war es die österreichische Landesverteidigungsakademie, die u. a. in eine Kooperation mit dem CCMR eingebunden, ab dem Jahr 2000 einen Schwerpunkt zur „Militärischen Ethik“ (Military Ethics) setzte und damit auf die steigende Bedeutung ethischer Kompetenz für Führungskräfte reagierte. Nach ersten internationalen Veranstaltungen zu Themenstellungen der zivil-militärischen Beziehungen wurde im Jahr 2000 mit dem im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden angebotenen Civil-Military Relations Seminar IV „Ethics and International Politics“ (Buchpublikation, Literas Verlag Wien) begonnen, die Frage von Ethik und Politik und die moralphilosophisch relevanten Aspekte des Einsatzes politisch-militärischer Gewalt zu behandeln und den Führungskräften in einem internationalen Umfeld zugänglich zu machen. Mit dem im Jahr 2002 abgehaltenen Civil-Military Relations Seminar VI „Military Ethics I“ wurde dann eine Transformation der ethischen Reflexion von der Makro- auf die Mikroebene angewandter militärischer Ethik durchgeführt, die mit dem im November 2004 mit dem siebenten Seminar in der Reihe zum Thema „Military Ethics II – (Military) Leadership in a Postmodern Age“ fortgesetzt wurde. Ungeachtet dieser Veranstaltungen und darauf beruhender Publikationen blieb aber der gewünschte Breiteneffekt aus und die Frage der Militärethik wurde nach wie vor nur von einer Minderheit interessierter Akademiker und Offiziere behandelt. Wenn auch die Versuche, militärethische Inhalte verstärkt in den Curricula der Offiziersaus- und -fortbildung unterzubringen, gewisser Erfolg beschieden war und entsprechende Anpassungen vorgenommen wurden, so kann doch zum jetzigen Zeitpunkt nicht von einer 58 Ebd. S. 17. 87 systematisierten, koordinierten und zielgerichteten militärethischen Bildung in den Streitkräften gesprochen werden. Klaus Ebeling bringt dies mit Bezug auf die Bundeswehr auf den Punkt, indem er die Diskussionslage in Deutschland in dieser Hinsicht als „defizitär“ bezeichnet. Zwar gäbe es hier und dort „bedenkenswerte Überlegungen“, aber von einem „etablierten militärethischen Diskurs“ kann nicht gesprochen werden“.59. Michael Wolffsohn konstatiert ein grundsätzliches Desinteresse der Gesellschaft an der Bundeswehr,60 was auch dazu führt, dass die Gesellschaft ethische Fragen in Bezug auf die Bundeswehr kaum noch diskutiert oder wenn, dann höchstens im Rahmen parteipolitischer Debatten und Vorgaben. Genauer gilt: Die Bundeswehr wird heute von der Bevölkerung erstaunlich breit akzeptiert61 – zusammen mit und nach der Polizei belegt sie die ersten beiden Plätze (90 bzw. 88%) –, ohne dass sich daraus ein Interesse für Detailfragen ergeben würde. Das stärkt die Rolle der Medien als Stichwortgeber für Entrüstung und Begeisterung. Bundeswehrnahe und bundesheernahe Institute, die sich mit Militärethik beschäftigen (Auswahl) http://vzlbs2.gbv.de/DB=55/LNG=DU/ Größte Bibliothek zum Thema des Instituts für Theologie und Frieden Lehrstuhl Evangelische Theologie, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg: Prof. Ewald Stübinger mit Mitarbeiterin Prof. Angelika Dörfler-Dierken, früher Prof. Christian Walther, http://www.hsu-hh.de/theevs/ Lehrstuhl Katholische Theologie, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg, Prof. Thomas Hoppe, http://www2.hsu-hh.de/thekat/index.html Institut für Theologie und Ethik der Universität der Bundeswehr in München, Prof. Thomas Bohrmann (katholisch) und Lehrstuhlvertretung (evangelisch), früher: Gottfried Küenzlen, https://www.unibw.de/theologie/ Besonders ebd.: Forschungsstelle Militärische Berufsethik, https://www.unibw.de/theologie/berufsethik Institut für Theologie und Frieden, Hamburg (Träger: Katholische Militärseelsorge), Prof. Heinz-Gerhard Justenhoven und Prof. Gerhard Beestermöller, http://www.ithf.de/ 59 Klaus Ebeling. Militär und Ethik. a. a. O. S. 9. Michael Wolffsohn. „Dichter, Denker und Soldaten“. Die WELT vom 3.4.2009. S. 7, auch http://debatte.welt.de/kommentare/121378/dichter+denker+und+soldaten. 61 S. Thomas Bulmahn. „Das sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbild in Deutschland“. S. 135-148 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062; Paul Klein. „Die Integration der Bundeswehr in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland“. S. 268-283 in: Thomas Jäger u. a. (Hg.). Sicherheit und Freiheit: Festschrift für Wilfried von Bredow. Forum Innere Führung 22. Baden-Baden: Nomos, 2004. 60 88 Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg, Prof. Ernst-Christoph Meier, Prof. Dr. Angelika Dörfler-Dierken, Klaus Ebeling, www.sowi.bundeswehr.de Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation, Strausberg, Andreas Berns, Roland Wöhrle-Chon, www.aik-bundeswehr.de (Österreich), Institut für Human- und Sozialwissenschaften an der Landesverteidigungsakademie Wien, http://www.bmlv.gv.at/ lvak/ihsw.shtml (Österreich) http://www.irf.ac.at/ Institut für Religion und Frieden der Katholischen Militärseelsorge Österreichs (Österreich) Ev. Militärseelsorge http://www.bmlv.gv.at/organisation/beitraege/mil_seelsorge/evang_ms/index.shtml (Österreich) Institut für militärethische Studien, IMS/Evangelische Superintendentur, Roßauer Lände 1, 1090 Wien. Außerdem: http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de/ und dann „Ethik“ in die Suche eingeben. Beispiel für Grundlagenwerke aus dem Bereich dieser Institutionen: Edwin R. Micewski. Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit. Zur Begründung der Gewaltproblematik im Kontext philosophischer Ethik und politischer Philosophie. Studien zur Verteidigungspolitik, Militärwissenschaft und Sicherheitspolitik. Frankfurt: Peter Lang Verlag, 1998. Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden: Versuch einer Ethik für Soldaten der Bundeswehr. Miles Verlag: Berlin, 2006 Klaus Ebeling. Militär und Ethik. Kohlhammer: Stuttgart, 2006 (Schweiz) Dieter Baumann. Militärethik: Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven. Theologie und Frieden 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2007 Keine gemeinsame Ethik mehr? Ein zentrales Problem sowohl für die Ethik der inneren Führung als auch militärethischer Bemühung allgemein ist, dass es so etwas wie eine verbindliche Ethik eigentlich nicht mehr gibt und dort, wo sie diskutiert wird, sich ein unübersehbares Heer von Institutionen, Positionen und Ansprüchen, die zumeist weniger inhaltlich diskutiert als vielmehr von Lobbys transportiert werden, findet:62 Formal wird Deutschland vom Grundgesetz und der von diesem vorgegebenen freiheitlich-demokratischen und an die Menschrechte gebundenen Grundordnung zusammen gehalten, auch wenn seiner Begründung und Interpretation aus dem Weg gegangen wird; ein Vorgang, der sich auch bezüglich der Inneren Führung konstatieren lässt. 62 So auch Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 14. 89 Der katholische Militärbischof Walter Mixa etwa beobachtet, dass die meisten Soldaten gar keine Gewissensentscheidung und damit Übernahme persönliche Verantwortung wollen. 63 Nach seiner Ansicht reagieren sie wie normale Angestellte, welche die ethischen Entscheidungen der Firmenleitung überlassen und diese einfach brav umsetzen oder gar unterlaufen. Klaus Ebeling hat darauf verwiesen, dass „Ethik als Krisenmanagement“64 nicht ein „abgeschlossenes Spezialwissen über Werte und Normen“65 ist, das autoritativ vermittelt werden könnte, sondern insbesondere auch „ethische Erwägungskompetenz“66 bedeutet. Thomas Bohrmann hebt in seinen Gedanken zur Ethikausbildung in der Bundeswehr besonders den Aspekt des Bedeutungsverlustes der klassischen Autoritäten für Wertbildung hervor und weist auf die Schwierigkeiten, aber auch die Notwendigkeit hin, ein allen Soldaten gemeinsames Berufsethos zu entwickeln: „Da die klassischen Moralinstanzen wie Familie, Schule und Kirche an Bedeutung verlieren, wird die Tradierung von Moral auch für die nachfolgenden Soldatengenerationen immer schwieriger. Eine verpflichtende Ethikausbildung für alle Dienstgradgruppen könnte unter den veränderten sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Bedingungen dabei helfen, ein neues soldatisches Berufsethos zu vermitteln und damit eine nachhaltige militärische Berufsethik zu institutionalisieren. Bislang werden ethische Themen in den deutschen Streitkräften nur vereinzelt und losgelöst von einem einheitlichen Ausbildungsprogramm behandelt. An den beiden Universitäten der Bundeswehr in Hamburg und München wird das Fach Ethik im Rahmen unterschiedlicher Studiengänge zwar angeboten und unterrichtet, doch damit kann nur ein sehr geringer Anteil der studierenden Offiziere erreicht werden. Das Gleiche gilt für die berufsethischen Anteile, die in anderen Bundeswehrinstitutionen zur Sprache kommen (z. B. Führungsakademie, Offiziersschulen, Truppenschulen, Zentrum Innere Führung). Militärische Berufsethik müsste aber umfassend für alle Dienstgradgruppen gelehrt werden. Dabei könnte die Militärseelsorge in der Wertevermittlung ein möglicher und wichtiger Ort sein. Angesichts der fehlenden Kirchenbindung vieler Soldatinnen und Soldaten durch den gesellschaftlichen Säkularisierungsprozess sollte eine berufsethische Ausbildung jedoch auch unabhängig von religiösen und konfessionellen Bindungen angeboten werden. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die christlichen Werte und die für Europa so zentralen christlich-abendländischen Traditionselemente nicht gebührend zur Sprache kommen dürfen. Ganz im Gegenteil: Unsere ethischen Prinzipien sind ohne das jüdisch-christliche Fundament nicht zu verstehen. Erst vor dem Hintergrund des christlichen, biblisch begründeten Walter Mixa. „Christliches Menschenbild und Innere Führung“. Militärseelsorge, Dokumentation 39/40 (2001/02): 9-23. 64 Klaus Ebeling. Militär und Ethik. a. a. O. S. 10-12 (Überschrift). 65 Ebd. S. 11. 66 Ebd. S. 12. 63 90 Menschenbildes können Soldatinnen und Soldaten moralische Überzeugungen der westlichen Welt verstehen und letztlich auch andere kulturelle Positionen begreifen. Das heißt: Nur wenn die eigenen Wurzeln bekannt sind, kann das Fremde eingeordnet und verstanden werden! Ein ausreichendes Wissen über die Herkunftsreligion und ihr spezifisches Ethos ist insbesondere im gegenwärtigen interkulturellen und interreligiösen Dialog unverzichtbar.“ 67 Literatur zur Inneren Führung Soldaten als Diener des Friedens: Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr. 29.11.2005. Die deutschen Bischöfe 82. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2005: Stellungnahme zur Inneren Führung Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung: Baudissins Leitgedanken. Berichte 77. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2005 Klaus Ebeling, Anja Seiffert, Rainer Senger. Ethische Fundamente der Inneren Führung. SOWI-Arbeitspapier 132. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2002 Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008 Jürgen Groß. „Innere Führung rangiert vor militärischer Effizienz“. S. 159-163 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008 Jürgen Rose. „Vision ‚Zivilisierung des Militärs’: Thesen zur Inneren Führung“. S. 141158 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008 Hans-Günther Fröhling. „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt! – Brauchen wir eine neue innere Führung?“. S. 124-133 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008 Wolf Graf von Baudissin. „Gedanken zur Inneren Führung“. S. 85-87 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008 (Original 1978) Angelika Dörfler-Dierken. „Die Bedeutung des Jahres 1968 für die Innere Führung“. S. 65-84 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008 Jürgen Groß. „Einführung“. S. 7-25 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008 Rudolf Hamann. „Abschied vom Staatsbürger in Uniform: Fünf Thesen zum Verfall der Inneren Führung“. S. 29-46 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008 Klaus Naumann. „Innere Führung im beschleunigten Wandel“. Militär und Sozialwissenschaften 40 (2007): 101-104 67 Thomas Bohrmann. Ethikausbildung in der Bundeswehr: warum und wie, in: Kompass. Soldat in Welt und Kirche 6/2008, 3-6, hier nach http://www.katholische-militaerseelsorge.de/fileadmin/kms/kompass/2008/06/kompass200806_03/index.htm. 91 Weiterführende Aspekte von Innerer Führung und militärethischer Orientierung Wehrbeauftragter Der Wehrbeauftragte, ursprünglich nach schwedischem Vorbild entworfen, soll die Grundrechte der Soldaten schützen und die Innere Führung sicherstellen beziehungsweise überwachen. Das „Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages“ von 1956 wurde übrigens bis heute nur unwesentlich verändert.68 Mittlerweile ist es in allen namhaften Militärorganisationen der freien westlichen Welt üblich geworden, weisungsungebundene Wehrbeauftragte einzusetzen, um die Transparenz des Militärs gegenüber der Gesellschaft zu gewährleisten und durch Offenlegung von Missständen und Vorfällen des Kasernenalltags über den öffentlichen Diskurs rasch Verbesserungen herbeizuführen. In Deutschland geschieht dies vor allem Dank des Jahresberichtes des Wehrbeauftragten, in dem alle namhaften Vorfälle, Vorkommnisse und Beobachtungen aufgezeigt werden und der eben auch die ‚dunkle‘ Seite der Bundeswehr aufzeigt. Militärseelsorge Während die Evangelische Kirche in Deutschland die Militärseelsorge als ihre eigene Idee ansah, gehörte sie für Wolf Graf von Baudissin von Anbeginn der Bundeswehr zum Konzept der Inneren Führung. Abgesehen von Gottesdiensten und der seelsorgerischen Betreuung einzelner Soldaten oder Soldatengruppen hatte sich die Tradition entwickelt, dass Militärseelsorger im Rahmen von Lebenskundlichen Unterrichten (LKU) auch ethische bzw. militärethische Fragen und Gesichtspunkte berühren. Während diese Unterweisungen ursprünglich auf christlicher Grundlage beruhten, so koppelt die neue Zentralen Dienstvorschrift zur Inneren Führung den LKU offiziell von christlichen Voraussetzungen ab, schreibt ihn aber zugleich noch immer als verbindlich fest. In Deutschland wie in Österreich steht die Seelsorge im Militär unter kirchlicher und nicht militärischer Aufsicht, während für die Organisation und Gestaltung des lebenskundlichen Unterrichts und ethischer Unterweisung die 68 S. zur Geschichte Wilfried von Bredow. Militär und Demokratie in Deutschland. a. a. O. S. 138141. 92 militärischen Befehlsstrukturen verantwortlich sind.69 Aus diesem Grund wurde etwa in Österreich zur Gestaltung, vor allem aber zur Gesamtkoordinierung der berufsethischen Bildung (BeB) ein Steuerungskomitee an der höchsten Bildungsstätte, der Landesverteidigungsakademie in Wien, eingerichtet, in welches neben Vertretern der relevanten militärischen Dienststellen auch Vertreter des katholischen Militärordinariates und der evangelischen Superintendentur geladen wurden. Grundsätzlich trifft die nach Konfessionen geordnete und ablaufende Militärseelsorge in allen Streitkräften auf große Zustimmung, wenn sie auch verständlicherweise von Soldaten, die unmittelbar im Einsatz stehen, als besonders wichtig erachtet wird. So ergab etwa mit Bezug auf die Bundeswehr eine vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr durchgeführte Befragung der Soldaten im Feldlager Rajlovac in Bosnien bei 89% der Soldaten eine Zustimmung zur Militärseelsorge, während diese nur von 1% abgelehnt wurde und 10% dazu keine Meinung hatten. Nach Rückkehr erneut befragt sank die Zustimmung leicht auf 82% ab, die Ablehnungsrate blieb gleich und 17% hatten keine Meinung. Erwähnenswert ist auch, dass unter den Konfessionslosen im Lager 69% der Militärseelsorge zustimmten, während 29% keine Meinung hatten und die Anlehnungsrate nur unwesentlich höher war. Literatur Militärseelsorge http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de/ Literatur und Weblinks zur Militärseelsorge: http://www.katholische-militaerseelsorge.de/fileadmin/kms/jubilaeum/infothek/infothek.htm Martin Bock. Religion im Militär: Soldatenseelsorge im internationalen Vergleich. Straußberg: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, 1993, andere Ausgabe: München: Olzog, 1994 Angelika Dörfler-Dierken. Zur Entstehung der Militärseelsorge und zur Aufgabe der Militärgeistlichen in der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2008 Friedensethik im Einsatz: Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009 Horst Scheffler. „‚Gott ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit‘: Baudissin und die evangelische Militärseelsorge“. S. 69-79 in: Rudolf J. Schlaffer, Wolfgang Schmidt (Hg.). Wolf Graf von Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Oldenbourg: München, 2007 Horst Scheffler. „Militärseelsorge“. S. 190-200 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: 2 Wiesbaden, 2006 69 Vgl. zur sehr unterschiedlichen Lage in allen wichtigeren Ländern weltweit: Martin Bock. Religion im Militär. a. a. O., darin S. 235-236 zu den deutschsprachigen Ländern. 93 Joachim Simon. „Militärseelsorge im Auslandseinsatz“. S. 344-349 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für So2 zialwissenschaften: Wiesbaden, 2006 Dokumentation zur Katholischen und Evangelischen Militärseelsorge. Evangelisches 7 Kirchenamt für die Bundeswehr & Katholisches Militärbischofsamt: Bonn, 2002 Angelika Dörfler-Dierken. „Militär und Religion“. S. 539-550 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwis2 senschaften: Wiesbaden, 2006 Ines-Jacqueline Werkner. „Soldat und Religion“. S. 287-307 in: Nina Leonhard, InesJacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005 Gehorsamsverweigerung Es ist wohl dem Nachdenken über die nationalsozialistische Vergangenheit zu verdanken, dass es nun zum Recht der Bundeswehrangehörigen gehört, aus schweren Gewissensgründen den Gehorsam verweigern zu dürfen. Dieses Widerstandsrecht in das Deutsche Grundgesetz aufgenommen und ihm damit Verfassungrang gegeben zu haben, ist weltweit einzigartig.70 Allerdings sind innerhalb der Wehrgesetzgebung in den meisten Ländern mittlerweile Bestimmungen eingführt worden, die dem einzelnen Soldaten das Nichtbefolgen von rechtswidrigen Befehlen und Anordnungen zur Pflicht machen.71 Die Katholische Bischofskonferenz pflichtet dem bei: „Die Gehorsamspflicht endet dort, wo rechtswidrige Handlungen befohlen werden.“ 72 Im Hinblick auf die Umsetzung dieser Bestimmung in die alltägliche Praxis der Inneren Führung drückt der Kommandeur des Zentrums Innere Führung dies so aus: „Jeder Soldat soll überzeugt sein, dass sein Auftrag – politisch gewollt, – militärisch leistbar sowie – rechtlich und ethisch begründet ist.“73 Das Bundesverwaltungsgericht Leipzig hat im Jahr 2005 die Gehorsamsweigerung aus Gewissensgründen des Piloten Major Florian Pfaff, der den Aufgezeigt von: Harald Seidel. „Lehren aus der Geschichte: Ausstrahlung des Widerstands auf die Wehrgesetzgebung“. Informationen für die Truppe 2/2004: 18-35. 71 Vgl. Wehrpflicht- und Soldatenrecht. Beck-Texte im dtv. München: dtv, 200530. 72 Soldaten als Diener des Friedens: Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr. 29.11.2005. Die deutschen Bischöfe 82. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2005. S. 8. 73 Alois Bach. „Kommandeur Zentrum Innere Führung zu aktuellen Aspekten der Inneren Führung“. Auftrag 271, Sept 2008, S. 5-10, nach ww.kath-soldaten.de/html/aktuelle_aspekte_der_inneren_f.html, S. 6. 70 94 Einsatz von Tornados im Irak-Krieg als nicht vom Grundgesetz legitimiert ansah, als rechtmäßig erkannt und festgestellt: „Das Grundgesetz normiert eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte.“74 Das Bundesverwaltungsgericht hat aber auch sehr weise darauf hingewiesen, dass ein inflationärer Gebrauch der Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen nicht zu erwarten steht, da dies für den einzelnen Soldaten bei leichtfertigem Gebrauch mit großen Gefahren verbunden ist und Befürchtungen, die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte könnte durch den Gewissenparagrafen bedroht sein, klar zurückgewiesen: „Dies macht im Übrigen deutlich, dass die Geltendmachung eines Gewissenskonflikts und die Berufung auf Art. 4 Abs. 1 GG für Soldaten in der Regel alles andere als einfach sind und demzufolge ein „Massenverschleiß“ des Gewissens nicht zu erwarten steht. Der einzelne, individuell handelnde Soldat befindet sich in einem solchen Konfliktfalle ohnehin regelmäßig in der Gefahr, sich im Kameradenkreis zu isolieren, zum Außenseiter abgestempelt zu werden oder sonst auf Ablehnung in seinen beruflichen Sozialbeziehungen zu stoßen. In einem wegen Ungehorsam eingeleiteten Strafverfahren droht ihm darüber hinaus, zu einer Kriminalstrafe verurteilt sowie daneben noch in einem gerichtlichen Disziplinarverfahren mit einer empfindlichen Disziplinarmaßnahme belegt zu werden und in der Konsequenz für seinen weiteren beruflichen Lebensweg bei Beförderungen, Verwendungsentscheidungen oder sonstigen Fördermaßnahmen erhebliche Nachteile hinnehmen zu müssen.”75 Es steht daher nicht zu erwarten, dass etwa bei einem Einsatz- oder Schießbefehl in jedem Panzer zunächst alle Soldaten und Offiziere eine Diskussionsrunde einlegen und dadurch – im Extremfall – diskutierende Soldaten schuld daran sind, dass die Demokratie überrannt wird oder auch im kleineren Konflikt zu verteidigende Zivilisten oder Soldaten direkt zu Schaden kommen. Es ist aber doch im Hinblick auf die klassische Theorie vom Gerechten Krieg bemerkenswert, dass hier einem einzelnen Soldaten die Gewissensentscheidung nicht nur für Vorgänge innerhalb seiner militärischen Formation – also innerhalb des Jus in bello – sondern auch für das Jus ad bellum, das Recht zum Kriege, das üblicherweise der politischen Führung allein obliegt, zuerkannt wurde. Im Fall Pfaff wurde die Situation politisch noch brisanter dadurch, dass seine Gewissensentscheidung mit der Auffassung der Opposition im Bundestag identisch war. Dies zeigt überdies auf – was üblicherweise weder in Politik noch Gesellschaft bewusst ist – dass bedeutende Entscheidungen im Rahmen 74 Urteil des 2. Wehrsenats des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.6.2005: BVerwG 2 WD 12.04, Leipzig 2005, S. 112, http://www.bundesverwaltungsgericht.de/media/archive/3059.pdf. 75 Ebenda, S. 118. 95 der Sicherheits- und Verteidigungpolitik eines Staates auf einem breiten Parteien- und Gesellschaftskonsens beruhen und nicht parteipolitisch gefärbt sein sollten. Jedenfalls ist der Fall Pfaff eindringlicher Beleg dafür, dass die Aspekte einer Dienst- und Militärethik dringend zu diskutieren und zu behandeln sind, denn dort, wo es um echte Gewissensbindung geht, da geht es ja auch immer um das „gebildete Gewissen“, das allein zu wirklich fundierter Gewissensentscheidung befähigt. Aber so unglücklich der Fall Pfaff in gewisser Hinsicht verlaufen sein mag, das Urteil und insbesondere seine Begründung ist wegweisend, da es einerseits für Bundeswehrangehörige das Recht auf Gehorsamverweigerung aus schweren Gewissensgründen begründet, andererseits dieses auf ganz essenzielle Gründe beschränkt und Verhältnismäßigkeit verlangt. Ein Pilot beispielsweise, dem erst beim Start zum Einsatz einfällt, dass er Gewissensbedenken hat, die er bei der ersten Einsatzbesprechung nicht geäußert hat, oder dem nur irgendwie unwohl wegen des an ihn ergangen Befehls ist – im Fall Pfaff ging es immer darum, ob dem Einsatz eine völkerrechtliche oder parlamentarische Legitimation fehle –, dürfte sich kaum auf den Bundesgerichtshof berufen dürfen. Abschließend soll der zentrale Leitsatz 10c des Urteils genannt sein: „Die in Art. 65a GG gewährleistete ‚Befehls- und Kommandogewalt‘ des Bundesministers der Verteidigung sowie die davon abgeleitete Befehlsbefugnis militärischer Vorgesetzter unterliegen einem verfassungsrechtlich durch Art. 1 Abs. 3 GG besonders geschützten Grundrechts- und damit Ausübungsvorbehalt.“ Baudissin als Christ – Urheber der Inneren Führung Gewissermaßen als Vater der ‚Inneren Führung‘ wird Generalleutnant Wolf Graf von Baudissin angesehen. Es ist den ungewöhnlichen Umständen des Aufbaus der Bundeswehr zuzuschreiben, dass ein Einzelner mit seinen Überlegungen eine solche Prägung ausüben konnte, die wenig mit militärischen Leistungen zu tun hatte, aber bis heute die Bundeswehr bestimmt.76 Wolf Graf von Baudissin, der am 8.Mai 1907 in Trier geboren wurde, trat 1930 in die Reichswehr ein. Zwischen 1941 und 1947 saß Baudissin in britischer Kriegsgefangenschaft und 1955 wurde Baudissin Angestellter des neugegründeten Bundesverteidigungsministeriums (BMVg). Seine Erfahrungen aus dem 76 Für weitere Beispiele vgl. Klaus Naumann. Generale in der Demokratie: Generationsgeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite. Hamburg: Hamburger Edition, 2007. 96 Zweiten Weltkrieg und der Kriegsgefangenschaft sollten später maßgeblich zu seinen Friedensbestrebungen beitragen. Unter Beförderung zum Oberst wurde er 1956 als Berufsoffizier in die Bundeswehr aufgenommen und 1967 trat Baudissin als Generalleutnant in den einstweiligen Ruhestand. In den Jahren seiner Aktivdienstzeit wurde Baudissin zum Mitbegründer der Bundeswehr und zum Vater des Konzepts der Inneren Führung, mit dem er maßgeblich das Bild des Soldaten als Staatsbürgers in Uniform gestaltete. In diesem sieht Baudissin einen Soldaten für den Frieden, der sich dessen bewusst sein sollte, dass Streitkräfte im Kernwaffenzeitalter nur noch kriegsverhütende, allenfalls friedenswiederherstellende Funktionen haben dürfen. 1968/69 nahm Baudissin seinen ersten Lehrauftrag an der Universität Hamburg an und ab 1980 lehrte er zusätzlich an der Hochschule und späteren Universität der Bundeswehr in Hamburg, nachdem er ein Jahr zuvor vom Senat der Freien Hansestadt Hamburg zum Professor ernannt worden war. In seiner Funktion als Gründungsdirekter leitete Graf Baudissin von 1971 bis 1984 das IFSH, wo es ihm u. a. möglich war, einen wissenschaftlichen Beitrag zur Friedenssicherung, zur strategischen Stabilität und insbesondere zur Kriegsverhütung zu leisten. Im Jahr 1993 verstarb General a. D. Prof. Wolf Graf von Baudissin im Alter von 86 Jahren. 77 Der Evangelische Militärbischof fasst Baudissins Denken treffend so zusammen, „dass nicht mehr der Kampf, sondern dessen Vermeidung im Mittelpunkt der Reflexion stehen müsse“78 und dass es wegen Demokratie und Menschenrechten „eine ethische Friedenspflicht“ gebe. Angelika Dörfler-Dierken, die Baudissins Prinzipien für „noch immer zukunftsweisend“79 hält, hat die protestantischen Wurzeln von Baudissins Konzept herausgearbeitet. Im Detail belegt sie, dass Baudissin seine Prinzipien im Gespräch mit dem aus der Bekennenden Kirche hervorgegangenen Nachkriegsluthertum entwickelte.80 Eine Rolle spielen dabei vor allem das Freiheitsverständnis Luthers als Freiheitsbewusstsein, das nicht zum willenlosen Unterwerfen, sondern zum Dienen als verantwortlichem Handeln führt.81 Institut für Friedensforschung an der Uni Hamburg. „Wolf Graf von Baudissin: Soldat – Reformer – Friedensforscher“, http://www.ifsh.de/IFSH/profil/milit_baud.htm. 78 Peter Krug. „Geleitwort“. S. 9-10 in: Angelika Dörfler-Dierken (Hg.). Graf von Baudissin: Als Mensch hinter den Waffen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006. S. 10. 79 Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 7. 80 Z. B. Angelika Dörfler-Dierken. „Baudissins Konzeption der Inneren Führung und lutherische Ethik“. a. a. O. S. 64; Angelika Dörfler-Dierken. „Baudissins Konzeption der Inneren Führung und lutherische Ethik“. S. 55-68 in: Rudolf J. Schlaffer, Wolfgang Schmidt (Hg.). Wolf Graf von Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Oldenbourg: München, 2007. Diese Sicht teilt Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 55. 81 Nach ebd. S. 55-57. 77 97 Für sie beruht „Baudissins ethisches Grundverständnis“ auf den Säulen Recht – Demokratie – Frieden.82 Aber auch die reformierte Theologie schien eine zentrale Rolle in Baudissins Lebensorientierung zu spielen. Baudissin hatte gegen Ende seiner Kriegsgefangenschaft Emil Brunners „Gerechtigkeit“ gelesen und „verdankte ihm offenbar die Neuorientierung seines ganzen weiteren Lebens an der Thematik des Friedens“83. Wie Dörfler-Dierken betont, floss „die christliche Gewissheit der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen und die Ermutigung Jesu zur Vergebung“84 sowie der Maßstab des christlich geprägten Gewissens in Baudissins Denken ein. In seinem ‚Handbuch Innere Führung‘ zitiert Baudissin im letzten Kapitel „Vor der letzten Instanz“,85 in dem er über den Eid spricht, direkt die Apostelgeschichte 3,29 „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“86 Aber durchwegs macht das Handbuch von 1957 deutlich, dass das abendländische, christlich-humanistische Menschenbild in seiner lutherischen Variante für Baudissin die Basis der Inneren Führung bildet und ein leuchtendes Beispiel in den Widerständlern des 20. Juli 1944 findet.87 Literatur zu Baudissin Angelika Dörfler-Dierken (Hg.). Graf von Baudissin: Als Mensch hinter den Waffen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006 wichtige Originaldokumente von und über Baudissin, vor allem Ethik Eckart Hoffmann. „Frieden in Freiheit: Philosophische Grundmotive im politischen Denken von Wolf Graf von Baudissin“. S. 81-98 in: Rudolf J. Schlaffer, Wolfgang Schmidt (Hg.). Wolf Graf von Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Oldenbourg: München, 2007 Horst Scheffler. „‚Gott ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit‘: Baudissin und die evangelische Militärseelsorge“. S. 69-79 in: Rudolf J. Schlaffer, Wolfgang Schmidt (Hg.). Wolf Graf von Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Oldenbourg: München, 2007 82 Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 16-24. Eckart Hoffmann. „Frieden in Freiheit“. a. a. O. S. 83. 84 Peter Krug. „Geleitwort“. S. 9-10 in: Angelika Dörfler-Dierken (Hg.). Graf von Baudissin: Als Mensch hinter den Waffen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006. S. 10. 85 So fasst es Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 21 zusammen. 86 Horst Scheffler. „‚Gott ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit‘“. a. a. O. S. 70. 87 Handbuch Innere Führung. hg. vom Bundesministerium für Verteidigung (Führungsstab der Bundeswehr – B). BMVg: Bonn, 1957. S. 79-88, s. dazu Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 115 und 33-34. 83 98 Rudolf J. Schlaffer, Wolfgang Schmidt (Hg.). Wolf Graf von Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Oldenbourg: München, 2007 Klaus Ebeling, Anja Seiffert, Rainer Senger. Ethische Fundamente der Inneren Führung. SOWI-Arbeitspapier 132. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2002 Claus Frhr. von Rosen. „Staatsbürger in Uniform in Baudissins Konzeption Innere Führung“. S. 171-181 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär 2 und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006 Wolf Graf von Baudissin. Soldat für den Frieden: Entwurf für eine zeitgemäße Bundeswehr. Beiträge 1951–1969. München: Piper, 1969 (Neuauflage 1982) Wolf Graf von Baudissin. Nie wieder Sieg: Programmatische Schriften 1951-1981. hg. Cornelia Bührle, Claus von Rosen. München: Piper, 1984 Zur Friedensforschung, so wie Graf Baudissin sie verstand und betrieb, vgl. die Festschrift Dieter S. Lutz (Hg.). Im Dienst für Frieden und Sicherheit. Baden-Baden: Nomos, 1985, anlässlich der Verabschiedung von Graf Baudissin als Institutsdirektor des IFSH 1984. Christlich heute? – Zur Ausrichtung einer Militärethik Wie soll die Bundeswehr mit dem unverhohlen christlichen Grundcharakter in ihrem Markenzeichen, der Inneren Führung, umgehen? Teilt nicht die Bundeswehr die Unsicherheit der gesamten deutschen Politik, wie sie mit ihrem christlichen Erbe umgehen soll.88 In einer Zeit des Pluralismus und säkularer Bemühungen finden sich immer mehr Kritiker, die als eines der Argumente gegen die Innere Führung ihre Urheberschaft bei christlichen Denkern anführen. „Moralisch-ethische Grundsätze würden nicht mehr aus dem Christentum abgeleitet, sondern von einem jeden für sich selbst in selektiver Übernahme medialer Vorbilder frei konstruiert.“89 Hier werden aber einige wichtige Aspekte außer Acht gelassen. Zunächst die Tatsache, dass die gesamte Sozial- und Rechtskultur der westlichen Welt auf dem judeo-christlichen Erbe beruht. Inbesondere die Grundparamter der freiheitlich-demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung, inklusive der Menschenrechte, leiten sich aus diesem Erbe ab bzw. stehen mit diesem, auch und insbesondere bei philosophisch-rationaler Betrachtung, im Einklang. Weiters wird gerne vergessen, dass auch jede nichtreligiöse Ethik nicht wertneutral ist und sich einer herleitbaren Begründung nicht entziehen kann Vgl. Andreas Berns. „Christliches Ethos als Fundament für die Urteilsfähigkeit des Bundeswehrsoldaten im Einsatz: Was ist Wahrheit?“. Europäische Sicherheit (2006) 2: 21-22, im Web unter www.europaeische-sicherheit.de. 89 Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 25. 88 99 bzw. darf. Der Ethikunterricht an Berliner Schulen beispielsweise, der sich gegenüber dem Religionsunterricht als unabhängig, neutral und übergreifend sieht, ist in Wirklichkeit von der Humanistischen Union geprägt, deren Weltanschauung im Rahmen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Grundgesetzes ihren Platz in der Öffentlichkeit hat. Daher sind die Versuche zurückzuweisen – wie es in Berlin de facto geschieht – den Ethikunterricht zur Staatsweltanschauung zu erheben, was ihn vom Charakter einer verordneten Staatsreligion nicht unterscheiden würde.90 Aber auch die Vielfalt an Religionsgemeinschaften, wie sie in Gesellschaft und Bundeswehr immer deutlicher sichtbar wird, sollte keine wirklichen Schwierigkeiten aufwerfen. Denn gerade die Paramter der Inneren Führung und die durchaus auch christlich-abendländischen ethischen Grundlagen einer militärischen Ethik fußen auf Normen und Prinzipien, die sich weit über die Grenzen religiöser und säkularer Auffassungen hinaus als konsensfähig erweisen. Daraus folgert logischerweise, dass auch die liberale und demokratische Staatsordnung nicht ohne Grenzziehungen und die Limitierung von Dissent auskommen kann. Für alle, die im Rahmen der Militärseelsorge und der Inneren Führung bzw. ähnlicher Konzeptionen tätig sind oder ihren Platz finden wollen, wird ein grundlegendes Bekenntnis zu den Grundpfeilern der demokratischen Verfassung und den Elementarprinzipien einer normativen Militärethik einzufordern sein. Das Konzept der Inneren Führung und die Gewissensfreiheit für den einzelnen Soldaten darf aber auch nicht damit verwechselt werden, dass etwa die Bundeswehr oder auch andere Armeen der westlichen Welt zu Armeen für „Blumenkinder“ im Sinne der 68er Generation geworden wären. All jene Dinge, welche die 68er an ihre Fahnen geheftet hatten, werden von der Inneren Führung klar zurückgewiesen – die Abneigung gegen alle staatlichen Institutionen und die Träger staatlicher Gewalt, Wehrdienstverweigerung als Reflex oder das Misstrauen gegenüber überlieferten und angestammten Werten. Denn für die Innere Führung gilt: „Ein erstes Element ist die Bindung des Führenden an Werte“91, wenn auch nicht spezifisch religiöse, so doch um Werte rund um Demokratie, Rechtsstaat und Menschen- und Persönlichkeitsrechte. In dieser Hinsicht war es von weitreichender weltanschaulicher Tragweite, als die ehemals unerschütterlich radikalpazifistische Partei der Deutschen Grünen – nunmehr in Regierungsverantwortung und ’unter Führung von Joschka Fischer als Außenminister – plötzlich bereit war, deutsche Soldaten am Kosovokrieg mitwirken zu lassen. Unter dem Eindruck einer humanitären Siehe Schirrmacher. Säkulare Religionen. a. a. O.; ders. Marxismus – Opium für das Volk. Berneck (CH): Schwengeler, 1991. 91 Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 66. 90 100 Katastrophe, die nur mehr mit dem Einsatz von militärischen Gewaltmitteln überwunden werden konnte, ließen sich letzendlich bis dorthin radikale Militärgegner und Totalpazifisten davon überzeugen, dass ihre ursprüngliche Haltung in einer lebenszugewendeten politischen und militärischen Ethik nicht bestehen kann. Es deutet bei realistischer Einschätzung der Situation vieles darauf hin, dass ethische Bildung innerhalb von Streitkräften auch weiterhin in der Kollaboration von Vertretern der etablierten Religionsgemeinschaften im Rahmen der Seelsorge und Lebenskundlichen Unterrichte mit zivilen bzw. nicht-konfessionellen Vortragenden stattfinden wird. Sinnvoll und konstruktiv wahrgenommen sollte dies eigentlich der Qualitätssteigerung der ethischen Bildung dienlich sein und auch dazu beitragen, Spannungen und unterschiedliche Auffassungen überbrücken zu helfen. Militärische Ethik und Gerechter Krieg Während im Zentrum der militärischen Ethik die Lehre vom Gerechten Krieg bzw. deren jeweiliger Anwendung und Adaption auf die Bedingungen des Krieges und bewaffneten Konfliktes steht, so umfasst sie darüber hinaus alle ethisch relevanten Herausforderungen der militärischen Lebenswelt, die ja von Aspekten der täglichen Dienstpflichterfüllung bis hin zur Fragen der gesamten politisch-militärischen Aufgabenerfüllung reichen, inklusive der Einbindung von Soldat und Streitkräfte in ein politisch-demokratisches Umfeld.92 Wie an anderer Stelle näher ausgeführt wird, bringt die Stellung des Militärs als Instrument im staatlichen Gewaltmonopol, vor allem aber wegen der der militärischen Aufgabenerfüllung inhärenten Gewaltanwendungsfunktion, besondere ethische Herausforderungen mit sich. Das Militär muss sich daher mit der Sinnfrage wie kaum ein anderer Lebensbereich auseinandersetzen, ist man doch in der soldatischen Dienstleistung mit dem eigenen Tod ebenso wie mit dem Tod anderer konfrontiert.93 Dies trifft zwar auch für andere exklusive Berufsbereiche zu, ist aber nirgendwo so akzentuiert wie in der Militärorganisation. „Nur von Soldatinnen und Soldaten wird Tapferkeit unter Einsatz des Lebens gesetzlich gefordert.“94 92 Mit den Details einer militärischen Ethik beschäftigt sich Edwin Micewski näher in dem in dieser Publikation enthaltenen Aufsatz „Zur Ontologie von Moral und Ethik und über militärische Ethik“, S. 15-39. 93 Z. B. Edwin R. Micewski. „Ethics and Politics“. S. 1-17 in: ders. u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001. S. 2. 94 Alois Bach. „Kommandeur Zentrum Innere Führung zu aktuellen Aspekten der Inneren Führung“. Auftrag 271, Sept 2008, S. 5-10, nach ww.kath-soldaten.de/html/aktuelle_aspekte_der_ inneren_f.html, S. 8. 101 Literatur Militärethik 3 Mark R. Amstutz. International Ethics. Lanham (MD): Rowman & Littlefield, 2008 Dieter Baumann. Militärethik: Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven. Theologie und Frieden 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2007 Paul Christopher. The Ethics of War and Peace: An Introduction to Legal and Moral Issues. Englewood Cliffs (NJ): Prentice Hall, 1994 Friedensethik im Einsatz: Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009 Edwin R. Micewski. „Ethics and Politics“. S. 1-17 in: ders. u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001 Edwin R. Micewski. Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit: Zur Begründung der Gewaltproblematik im Kontext philosophischer Ethik und politischer Philosophie. Studien zur Verteidigungspädagogik, Militärwissenschaft und Sicherheitspolitik 4. Frankfurt: Peter Lang, 1998 Edwin R. Micewski u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001 Edwin R. Micewski, Hubert Annen (Hg.). Military Ethics in Professional Military Education – Revisited. Frankfurt: Peter Lang, 2005 Edwin R. Micewski, Dietmar Pfarr (Hg.). Civil-Military Aspects of Military Ethics. Bd. 2. Publication Series of the National Defense Academy Vienna 4/2005. Wien: Landesverteidigungsakademie, 2005 Brigitte Sob, Edwin R. Micewski (Hg.). Brennpunkte politischer und militärischer Ethik – eine Einführung. Bd. 1. Ideengeschichtliche Entwürfe. Wien: Bundesministerium für Landesverteidigung / Landesverteidigungsakademie, 2007 Jarmo Toiskallio (Hg.). Identity, Ethics, and Soldiership. ACIE publications 1 . Helsinki: Finnish National Defense College, o. J. (ca. 2007) Journal of Military Ethics (Routledge) seit 2002, aktuell 10 (2011) Zur Lehre vom gerechten Krieg In letzter Zeit waren Versuche festzustellen, die Lehre vom gerechten Frieden in Gerechtigkeit als Alternative zur Lehre vom gerechten Krieg zu entwickeln.95 Im deutschsprachigen Raum haben sich darum besonders die Ökumenische Bewegung aber auch einzelne Vorkämpfer, wie etwa Karl Barth, bemüht. Dass diese Bemühungen eher einen semantischen Versuch darstellen, den mit positiven Konnotationen versehenen Begriff des Friedens für eine Lehre einzusetzen, die ja von ihren Anfängen an niemals die Vorrangstellung des Friedens angezweifelt und stets den Krieg als den letzten Ausweg bezeichnete, wird klar, wenn wir uns die Genese dieser Lehre vor Augen halten. Ines-Jacqueline Werkner, Antonius Liedgehener. „Von der Lehre vom gerechten Krieg zum Konzept des gerechten Friedens?“. S. 9-22 in dies. (Hg.). Gerechter Krieg – gerechter Frieden. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2009. 95 102 So findet sich ja schon bei den ersten Vertretern des ‚gerechten Krieges‘, Ambrosius und Augustinus, dass der Frieden immer höchstes Ziel zu sein habe und ein Krieg nur dann gerecht ist, wenn er aus Friedensliebe geschieht und den Frieden zum Ziel hat.96 Auch sonst bildet der Frieden das oberste Kriterium ein Wesensmerkmal der gesamten Lehre vom gerechten Krieg!97 Peter Fonk wiederum möchte weder von der Lehre vom gerechten Krieg sprechen, da sie seines Erachtens noch zu pauschal ‚den‘ Krieg rechtfertigt, noch von der Lehre vom gerechten Frieden, da hier die unangenehme Frage nach der Gewaltanwendung zu sehr beschönigt wird, und schlägt die Formulierung „Lehre von der gerechten Verteidigung“98 vor. Offensichtlich sind jedenfalls die Unterschiede zwischen der Lehre vom gerechten Krieg und der vom gerechten Frieden nicht so gewaltig, sind doch die Kriterienkataloge sehr ähnlich, wie der folgende Abschnitt der EKDDenkschrift zeigt: „(102) Das moderne Völkerrecht hat das Konzept des gerechten Kriegs aufgehoben. Im Rahmen des Leitbilds vom gerechten Frieden hat die Lehre vom bellum iustum keinen Platz mehr. Daraus folgt aber nicht, dass auch die moralischen Prüfkriterien aufgegeben werden müssten oder dürften, die in den bellum-iustum-Lehren enthalten waren. Denn ihnen liegen Maßstäbe zugrunde, die nicht nur für den Kriegsfall Geltung beanspruchen, sondern die sich (ausgehend vom Grundgedanken individueller Notwehr oder Nothilfe) ebenso auf das Polizeirecht, die innerstaatliche Ausübung des Widerstandsrechts und einen legitimen Befreiungskampf beziehen lassen. Ihnen liegen allgemeine Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt zugrunde, die – unabhängig vom jeweiligen Anwendungskontext – wie folgt formuliert werden können: – Erlaubnisgrund: Bei schwersten, menschliches Leben und gemeinsam anerkanntes Recht bedrohenden Übergriffen eines Gewalttäters kann die Anwendung von Gegengewalt erlaubt sein, denn der Schutz des Lebens und die Stärke des gemeinsamen Rechts darf gegenüber dem »Recht des Stärkeren« nicht wehrlos bleiben. – Autorisierung: Zur Gegengewalt darf nur greifen, wer dazu legitimiert ist, im Namen verallgemeinerungsfähiger Interessen aller potenziell Betroffenen zu 96 Belege siehe bei Dieter Baumann. Militärethik. a. a. O. S. 230-231, zu Augustinus insgesamt S. 228-235. 97 Eine gute moderne Verteidigung, auch des Ausdrucks: Michael Haspel. „Zwischen Internationalem Recht und partikularer Moral? Systematische Probleme der Kriteriendiskussion der neueren Just War-Theorie“. S. 71-81 in: Ines-Jacqueline Werkner, Antonius Liedgehener (Hg.). Gerechter Krieg – gerechter Frieden. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2009. Zur breiten Diskussion verschiedener Positionen s. Ines-Jacqueline Werkner, Antonius Liedgehener (Hg.). Gerechter Krieg – gerechter Frieden. a. a. O. 98 Peter Fonk. Frieden schaffen – auch mit Waffen? Theologisch-ethische Überlegungen zum Einsatz militärischer Gewalt angesichts des internationalen Terrorismus und der Irak-Politik. Beiträge zur Friedensethik 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2003. S. 39. 103 handeln; deshalb muss der Einsatz von Gegengewalt der Herrschaft des Rechts unterworfen werden. – Richtige Absicht: Der Gewaltgebrauch ist nur zur Abwehr eines evidenten, gegenwärtigen Angriffs zulässig; er muss durch das Ziel begrenzt sein, die Bedingungen gewaltfreien Zusammenlebens (wieder-) herzustellen und muss über eine darauf bezogene Konzeption verfügen. – Äußerstes Mittel: Der Gewaltgebrauch muss als äußerstes Mittel erforderlich sein, d. h., alle wirksamen milderen Mittel der Konfliktregelung sind auszuloten. Das Kriterium des »äußersten Mittels« heißt zwar nicht notwendigerweise »zeitlich letztes«, es bedeutet aber, dass unter allen geeigneten (also wirksamen) Mitteln das jeweils gewaltärmste vorzuziehen ist. – Verhältnismäßigkeit der Folgen: Das durch den Erstgebrauch der Gewalt verursachte Übel darf nicht durch die Herbeiführung eines noch größeren Übels beantwortet werden; dabei sind politisch-institutionelle ebenso wie ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Folgen zu bedenken. – Verhältnismäßigkeit der Mittel: Das Mittel der Gewalt muss einerseits geeignet, d.h. aller Voraussicht nach hinreichend wirksam sein, um mit Aussicht auf Erfolg die Bedrohung abzuwenden oder eine Beendigung des Konflikts herbeizuführen; andererseits müssen Umfang, Dauer und Intensität der eingesetzten Mittel darauf gerichtet sein, Leid und Schaden auf das notwendige Mindestmaß zu begrenzen. – Unterscheidungsprinzip: An der Ausübung primärer Gewalt nicht direkt beteiligte Personen und Einrichtungen sind zu schonen.“ 99 Natürlich betont die Lehre vom gerechten Frieden stärker, dass Krieg mit allen Mitteln verhindern werden muss, spricht aber immer vom Frieden in Gerechtigkeit, der deswegen gegebenenfalls auch verteidigt werden muss. Ein Militärdekan schreibt: „Die Kirchen setzten in ihrer Ethik an die Stelle der Lehre vom Gerechten Krieg die Konzeption vom Gerechten Frieden. Sie unterscheidet sich nicht in der Zielsetzung von der Lehre des Gerechten Krieges. Auch diese sollte den Krieg nicht legitimieren, sondern verhindern. Das Ziel war und ist der Frieden. Das Neue an der Ethik vom Gerechten Frieden ist der eindeutige Vorrang der gewaltfreien Optionen für die Lösung von Konflikten ...“ 100 In anderen Ländern, vor allem den angelsächsischen, trifft das längst nicht für alle Kirchen zu.101 Die großen Dokumente der katholischen Kirche von 2000 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen: Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 20072. S. 68-69 (Nr. 102), www.ekd.de/download/ekd_friedensdenkschrift.pdf. 100 Horst Scheffler. „Die Lehre vom Gerechten Frieden – Friedensethik angesichts neuer Kriege: Achtzehn Thesen zum Gerechten Frieden; aufgestellt im November 2002“. http://www.predigten.de/downloads/gerechter_frieden.pdf, Thesen 4-6. 101 Ebd. S. 9-10. 99 104 und der evangelischen von 2007 erheben die Lehre vom gerechten Frieden eindrücklich zur Lehrnorm.102 Allerdings bleiben Unterschiede bei beiden bestehen, wie man sehr deutlich daran erkennen kann, dass die katholische Kirche in Deutschland die heftige Kritik der evangelischen Kirche am Afghanistaneinsatz der Bundeswehr nicht so teilt, sondern zurückhaltender und nicht abschließend formuliert. Auszüge aus Thomas Schirrmacher. ‚Ethik‘. Bd. 6103 zur Lehre vom gerechten Krieg S. 174: Schon darin wird deutlich, daß bei aller Notwendigkeit und Berechtigung bestimmter Verteidigungskriege der Frieden das eigentliche Ziel ist. Krieg kann in der Bibel immer nur als Verteidigung des wahren Friedens verstanden werden. Krieg ist immer eine vorübergehende Not-wendigkeit (die Not wendend) auf dem Weg zum endgültigen Frieden. S. 175: Eine Verherrlichung des Krieges ist daher der christlichen Gemeinde unmöglich. In seinem ausgezeichneten Buch ‚Deutsche Kriegstheologie‘ 104 hat Karl Hammer sehr schön die religiöse und vermeintlich christliche Begründung für den Krieg im deutschen Nationalismus deutlich gemacht. Die Kirche predigte Krieg und verquickte pietistische, bibelkritische, nationalistische und monarchistische Elemente zu einer Kriegstheologie, die erstaunlich systematisch war. Hier geht es nicht mehr um den Schutz von Gerechtigkeit und den Krieg als Mittel, das Böse einzudämmen, sondern der Krieg wird zum Selbstzweck, zum Ideal, zur Religion. Karl Barth hat die Gefahr treffend zusammengefaßt: „Das ist es in erster Linie, was nicht geschehen darf: der Krieg darf nicht als ein normales, ein ständiges, ein gewissermaßen wesensnotwendiges Element dessen anerkannt werden, was nach christlichem Urteil den rechten Staat, die von Gott gewollte politische Ordnung ausmacht.“105 Deswegen ist auch jede religiöse Verherrlichung des Krieges zu bekämpfen, auch wenn und gerade weil die meisten Kriege mit irgendeiner religiösen Überhöhung begründet wurden. S. 190: So schreibt Dietrich Bonhoeffer gegen die „im Weltbund zusammengeschlossenen Kirchen“106, die einen Frieden um jeden Preis verkündigten: „So wird Vgl. im Detail Dieter Baumann. Militärethik. a. a. O. S. 276-290 zu Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen: Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 20072, www.ekd.de/download/ekd_friedensdenkschrift.pdf und Gerechter Friede: 27. September 2000. Die deutsche Bischöfe 66. Bonn: Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz: 2000. 103 Insgesamt: Thomas Schirrmacher. Ethik. Bd. 6. Hamburg/Nürnberg: RVB/VTR, 20094. S. 172205 („Krieg und Frieden“). 104 Karl Hammer. Deutsche Kriegstheologie 1870-1918. dtv: München, 1974. 105 Karl Barth. Die Kirchliche Dogmatik. Studienausgabe Bd. 20: Die Lehre von der Schöpfung III,4 §§ 55-56: Das Gebot Gottes des Schöpfers 2. Teil. Theologischer Verlag: Zürich, 1993 (1951). S. 522. 106 Otto Dudzus (Hg.). Bonhoeffer Brevier. Chr. Kaiser Verlag: München, 1963. S. 110-111, zitiert 102 105 der Friede zum absoluten Ideal. Diese Auffassung ist abzulehnen; auch der Friede ist nur eine Ordnung der Erhaltung, die zerstört werden kann. Der Friede hat seine Grenze an der Wahrheit und am Recht. Dort, wo Wahrheit und Recht vergewaltigt sind, kann kein Friede bestehen.“107 S. 193: D. J. Atkinson faßt die Tradition der Lehre vom gerechten und ungerechten Krieg seit Ambrosius und Augustinus gut zusammen:108 „1. Die Tradition bietet keine Rechtfertigung für alle Kriege. Es muß eine Unterscheidung zwischen einem ‚gerechten Krieg‘ und dem Kreuzzugsmilitarismus eines ‚heiligen Krieges‘ gemacht werden. Die erklärte Absicht eines gerechten Krieges ist Friede durch die Verteidigung des Rechtes. 2. Es gibt Umstände, in denen die rechtmäßige Autorität des Staates Gewalt zur Verteidigung seiner Bürger einsetzen darf. 3. Krieg darf nur von der legalen Autorität des Staates geführt werden und es muß eine offizielle Kriegserklärung geben. 4. Das Ziel, für den der Krieg geführt wird, muß gerecht sein. 5. Die Zuflucht zum Krieg muß der allerletzte Ausweg sein. 6. Das Motiv für den Krieg muß gerecht sein. 7. Es muß eine vernünftige Hoffnung auf Erfolg geben. 8. Die guten Konsequenzen, die von der Kriegsführung zu erwarten sind, müssen die Übel, die die Kriegsführung mit sich bringt, überwiegen. 9. Gewalt darf nur gegen Bewaffnete gerichtet werden. Die Immunität der Nichtkämpfenden muß so weit wie nur irgend möglich bewahrt werden. 10. Der Krieg muß so geführt werden, daß nur ein Minimum an Kraft eingesetzt wird, um die Ziele des Krieges zu erreichen.“109 aus Dietrich Bonhoeffer. Schöpfung und Fall: Eine theologische Auslegung von Gen 1-3. Chr. Kaiser: München, 19584. S. 400. 107 Ebd. Anschließend spricht sich Bonhoeffer ebd. S. 401 für einen „Pazifismus“ in dem Sinne aus, daß die heutigen Kriege Selbstvernichtungskriege sind, die die Kirche nur verurteilen kann. Er läßt aber leider die Frage offen, wie denn dann heute Wahrheit und Gerechtigkeit verteidigt werden können. 108 Vgl. zur Geschichte der Theorie vom gerechten Krieg z. B. Heinz-Gerhard Justenhoven. Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden. Theologie und Frieden 5. J. P. Bachem: Köln, 1991; Gerhard Beestermöller. Thomas von Aquin und der gerechte Krieg: Friedensethik im theologischen Kontext der Summa Theologiae. Theologie und Frieden 4. J. P. Bachem: Köln, 1990 sowie allgemein Paulus Engelhardt. „Die Lehre vom ‚gerechten krieg‘ in der vorreformatorischen und katholischen Tradition“. S. 72-124 in: Reiner Steinweg (Hg.). Der gerechte Krieg; Christentum, Islam, Marxismus. edition suhrkamp 1017. Suhrkamp: Frankfurt, 1980. S. 72-97; Anselm Hertz. „Die Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ als ethischer Kompromiß“. a. a. O. (weitere Literatur S. 453; zu Francisco de Vitoria S. 437-440) und Helmut Weber. Spezielle Moraltheologie. Styria: Graz, 1999. S. 248-251 zur Lehre vom gerechten Krieg und S. 234-260 zum Krieg überhaupt. 109 D. J. Atkinson. „Just War Criteria“. P. R. Gilchrist. „Old Testament Ethics“. S. 215-217 in: R. K. Harrison (Hg.). Encyclopedia of Biblical and Christian Ethics. Thomas Nelson: Nashville (TN), 1987, hier S. 215-216 (vgl. ebd. S. 216 die traditionellen biblischen Argumente dafür.). Vgl. ähnliche Zusammenstellungen in John Stott. Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit ... 4 ... im sexuellen Bereich. Francke: Marburg, 1988 [Engl. 1984]. S. 17-20, in Arthur F. Holmes. „Die Theorie vom gerechten Krieg“. S. 95-113 in: Robert Clouse (Hg.). Der Christ und der Krieg: 4 Standpunkte. Verlag der Francke-Buchhandlung: Marburg, 1982, hier S. 98-99 (und den ganzen Beitrag, der allerdings kaum biblische Argumente nennt), in Anselm Hertz. „Die Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ als ethischer Kompromiß“. a. a. O. S. 442-443 und in Helmut Weber. Spezielle Moraltheologie. a. a. O. S. 250-251. 106 Zusammenfassend kann man also sagen: „Leitgedanke der Theorie vom gerechten Krieg bildet das Prinzip, daß Kriege grundsätzlich nur um des Friedens willen geführt werden dürfen.“110 S. 198: Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß Kriege praktisch immer ungezählte andere Verbrechen und unmoralische Entwicklungen mit sich bringen, von denen viele auch nach einem Krieg nicht mehr zurückzudrehen sind. Ob es die gigantischen Steuersätze sind, die nicht erst der Erste und Zweite Weltkrieg mit sich brachte, ob das organisierte Verbrechen im Rahmen des Waffenhandels 111, ob es Vergewaltigungen und sexuelles Durcheinander sind oder ob die massenhafte Zerstörung von intakten Familien ihre Folgen zeitigt, der Krieg bringt viele Übel hervor. Der Zusammenbruch der Familie in Deutschland ist ohne den 2. Weltkrieg nicht zu denken und fand seine Fortsetzung in den vielen außerehelichen Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg, zum Beispiel zwischen Besatzungssoldaten und hungrigen deutschen Frauen. Und bis in die Moderne sind Kriege immer auch Propagandafeldzüge und gigantische Lügenschlachten gewesen, wobei nicht nur die Kriegspropaganda des Nationalsozialismus gemeint ist, sondern auch etwa die westliche Propaganda im Golfkrieg gegen den Irak, den man zu Recht ‚Die Schlacht der Lügen‘ genannt hat112. Aus dem Traditionserlass Anmerkungen zur Tradition, die in Streitkräften vor allem im Gedenken an die Gefallenen in Kriegen und militärischen Konflikten, aber auch an die Beweise soldatischer Tugenden gepflogen werden, scheinen opportun, diese Untersuchung zu beschließen. Nach den „Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr“, meist kurz einfach ‚Traditionserlass‘ genannt, wird Tradition als die Überlieferung von Werten und Normen verstanden, die ein verbindendes Element zwischen den Generationen herstellt und eigene Identität sichert113 Der derzeitig gültige Erlass wurde vom damaligen SPD-Verteidigungsminister Hans Apel im Jahr 1982 erlassen und löste den ersten Erlass aus Anselm Hertz. „Die Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ als ethischer Kompromiß“. a. a. O. S. 429. Vgl. die ausgezeichnete Arbeitshilfe: Päpstlicher Rat Justitia et Pax. Der internationale Waffenhandel: Eine ethische Reflektion (21. Juni 1994). Arbeitshilfen 121. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz: Bonn, 1994. 112 John R. MacArthur. Die Schlacht der Lügen: Wie die USA den Golfkrieg verkauften. dtv: München, 19931; 19933 (Engl. Second Front: Censorship and Propaganda in the Gulf War. Hill & Wang: New York, 1992); vgl. Burkhard Müller-Ullrich. Medienmärchen: Gesinnungstäter im Journalismus. Karl Blessing Verlag: 1996. S. 150-159. 113 Vgl. Heiko Biehl, Nina Leonhard. „Militär und Tradition“. S. 216-239 in: Nina Leonhard, InesJacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005. 110 111 107 dem Jahr 1965 ab.. Eine Auswahl an Bestimmungen zeigt die Schwergewichte des Erlasses auf:114 „1. Tradition ist die Überlieferung von Werten und Normen. Sie bildet sich in einem Prozeß wertorientierter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Tradition verbindet die Generationen, sichert Identität und schlägt eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft.“ „7. Alles militärische Tun muß sich an den Normen des Rechtsstaats und des Völkerrechts orientieren. Die Pflichten des Soldaten – Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Kameradschaft, Wahrhaftigkeit, Verschwiegenheit sowie beispielhaftes und fürsorgliches Verhalten der Vorgesetzten – erlangen in unserer Zeit sittlichen Rang durch die Bindung an das Grundgesetz.“ „17. In der Traditionspflege der Bundeswehr soll auf folgende Einstellungen und Verhaltensweisen besonderer Wert gelegt werden: – kritisches Bekenntnis zur deutschen Geschichte, Liebe zu Heimat und Vaterland, Orientierung nicht allein am Erfolg und den Erfolgreichen, sondern auch am Leiden der Verfolgten und Gedemütigten; – politisches Mitdenken und Mitverantworten, demokratisches Wertbewußtsein, Vorurteilslosigkeit und Toleranz, Bereitschaft und Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen des soldatischen Dienstes, Wille zum Frieden; – gewissenhafter Gehorsam und treue Pflichterfüllung im Alltag, Kameradschaft, Entschlußfreude, Wille zum Kampf, wenn es der Verteidigungsauftrag erfordert.“ „20. ... der Verzicht auf ideologische Feindbilder und auf Haßerziehung“ „22. Begegnungen im Rahmen der Traditionspflege dürfen nur mit solchen Personen oder Verbänden erfolgen, die in ihrer politischen Grundeinstellung den Werten und Zielvorstellungen unserer verfassungsmäßigen Ordnung verpflichtet sind.“ 114 Text unter http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/kcxml/04. 108 Alois Bach Ethische Bildung in der Bundeswehr und das Zentrum Innere Führung Wenn von ethischer Bildung in den Streitkräften bzw. von Ethik in der Bundeswehr die Rede ist, glauben viele, dass es vor allem darum ginge „anständig zu handeln“. Zugleich kann man die Auffassung hören, dass einem schon das sogenannte Bauchgefühl sage, was recht oder unrecht sei. So unverfänglich und ehrenwert derartige Meinungsbekundungen und Beschreibungen auch sein mögen, sind sie letzten Endes nicht ausreichend, um das notwendige geistige und seelische Rüstzeug für ethische Herausforderungen und moralische Entscheidungen bereitzuhalten. Schnell fällt einem hierzu das Sprichwort ein: Das Gegenteil von gut gemacht, ist gut gemeint. Ein kleines Gedankenexperiment kann dies veranschaulichen helfen. Gesetzt den Fall, ein medizinischer Laie muss kurzerhand entscheiden, wem von mehreren Dialysepatienten er die derzeit einzig verfügbare Spenderniere überträgt. Nach welchen Kriterien geht er vor? Nur nach dem Bauchgefühl zu handeln, reicht hier offenkundig nicht aus, ebenso wenig der Vorsatz, grundsätzlich „anständig handeln“ zu wollen. Wer wollte dies bestreiten? Mit anderen Worten: ein medizinischer Laie wäre mit einer solchen Herausforderung schlicht überfordert, zumal ohne fundierte medizinische, besser noch fachmedizinische Kenntnisse. Und auch ein intensives Blättern in einem medizinischen Wörterbuch wie dem bekannten Pschyrembel reicht eben bei weitem nicht aus, um hier sozusagen über andere Menschenleben zu entscheiden. Vor diesem skizzierten Hintergrund gilt es – auch außerhalb von Fachkreisen – zur Kenntnis zu nehmen, dass sich der Zweig der Militärethik in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum innerhalb der allgemeinen Ethik als eine Art Bereichsethik etabliert und zugleich deutlich weiterentwickelt hat. Zwar ist über ethische Fragen bereits seit Bestehen der Bundeswehr stets verantwortungsvoll und intensiv vor allem durch das Zentrum Innere Führung und die Militärseelsorge sowie später an entsprechenden Lehrstühlen an den Universitäten und Instituten der Bundeswehr reflektiert und geforscht worden, aber der Begriff Militärethik selbst ist dabei weitgehend vermieden worden. Das hatte gute Gründe; denn nicht wenige vermuteten vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, vor allem des Nationalsozialismus mit all seinen 109 fürchterlich Pervertierungen und Umwertungen von Werten, dass mit dem Begriff Militärethik wieder einer Sonderethik zur Instrumentalisierung und Ideologisierung von Soldaten das Wort geredet würde. Um solchen Befürchtungen grundsätzlich entgegenzutreten, ist noch vor Aufstellung der Bundeswehr im Jahr 1955 die offene und dynamische Konzeption der Inneren Führung in ihren wesentlichen Grundzügen als „etwas grundlegend Neues“ entwickelt und später gegen manchen verdeckten oder auch offenen Widerstand erfolgreich umgesetzt worden. Die heutige Konzeption der Inneren Führung mit ihren Grundlagen, Grundsätzen und Gestaltungsfeldern beinhaltet ethische Prinzipien und Postulate in einer Systematik und gedanklichen Dichte, welche bei näherer Betrachtung nicht nur erstaunlich ist, sondern beweist, dass diese Führungsphilosophie tatsächlich eine werte- und praxisorientierte Handlungsanweisung für den gesamten Dienst in den deutschen Streitkräften liefert. Zielgruppen Wie sich beispielsweise Medizinethik vorrangig an Mediziner oder Wirtschaftsethik an Wirtschaftsfachleute und Manager in der Industrie wendet, so ist die primäre Zielgruppe der Militärethik der Soldat bzw. die Soldatin auf allen Führungsebenen, in allen Organisationsbereichen und in jeder Phase seines militärischen Lebens. Die militärische Ethik verfolgt den Anspruch, Soldatinnen und Soldaten sowohl im militärischen Alltag zuhause als auch im Einsatz im Ausland eine echte Hilfestellung zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen zu geben. Dabei gilt es, ethische Kompetenz zu vermitteln, moralische Urteilskraft zu entwickeln, gewissensgeleiteten Gehorsam und verantwortungsvolles, eigenständiges Handeln zu fördern. Die Persönlichkeitsbildung für Soldaten, insbesondere für militärische Führer, hat eine neue Dimension erhalten, die neben dem Beherrschen des militärischen Handwerks und körperlicher Fitness vor allem moralische und politische Urteilsfähigkeit, rechtliche Handlungssicherheit, interkulturelle Kompetenz, Initiativkraft und Führungswillen erfordert. All diese Themen müssen steter Bestandteil von Führung, Ausbildung und Erziehung sein. Wer künftig als Führungskraft beispielsweise ethische Grundlagen und entsprechendes Handlungstraining im Rahmen der Persönlichkeitsbildung oder der Einsatzvorbereitung vernachlässigt, wird nicht in der Lage sein, seine Aufträge – auch und gerade im Einsatz – umfassend zu erfüllen. Sicherlich ist bei der Vermittlung ethischer Sachverhalte zu berücksichtigen, dass verschiedene Herkünfte, unterschiedliche Bildungsniveaus und divergierende Meinungsbilder als Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft es 110 erforderlich machen, für die jeweiligen Zielgruppen die richtigen Abholpunkte zu finden. Es gilt zu vermeiden, dass Über- oder Unterforderungen in der Wissensvermittlung entstehen. Erfahrungsgemäß ist dies jedoch häufig keine Frage des Dienstgrades oder der Schulbildung, sondern vielmehr eine Frage der jeweiligen Persönlichkeit und des Charakters. Ethik sollte daher auch nicht primär als „Lernfach“ begriffen und vermittelt werden. Vielmehr sollten neben den erforderlichen kognitiven Grundlagen vorrangig affektive Aspekte im Mittelpunkt stehen, um so ethische Einstellungen und wertegebundene Haltungen aufgrund eigener Einsicht entwickeln zu können. Dabei spielen persönliche Vorbilder sowie deren beispielhaftes Handeln und Verhalten eine wesentliche Rolle. Orte ethischer Vermittlung in der Bundeswehr Für eine verantwortungsvolle ethische Vermittlung für die Soldaten und Soldatinnen braucht es Freiräume. Diese werden strukturell, organisatorisch und personell durch den Dienstherrn, also die Bundeswehr selbst, bereitgestellt. Die beiden Universitäten der Bundeswehr vermitteln beispielsweise angehenden jungen Offizieren neben dem Fachstudium in einem übergreifenden Studienanteil eine akademische Grundbildung, die auch ethische Themenfelder umfasst, beginnend von der Antike bis hin zu modernen Fragestellungen und aktuellen Problemen. Diese meist trimesterübergreifenden Vorlesungen geben den Studenten einen fundierten Einblick in Fragen der ethischen Reflexion und welche Wege man in der Geschichte der Philosophie hierzu beschritten hat. An der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg können Stabsoffiziere ihre ethische Bildung gezielt und durch spezielle Forschungen vertiefen. Die Sanitätsakademie der Bundeswehr in München widmet sich darüber hinaus ethischen Fragen aus wehrmedizinischer Sicht. An den verschiedenen truppengattungsspezifischen Schulen der Bundeswehr erfolgt dies meist im Rahmen von Laufbahnlehrgängen, in der Regel vermittelt durch Militärseelsorger und Militärseelsorgerinnen beider christlichen Konfessionen. Sowohl die evangelische als auch die katholische Militärseelsorge bieten für alle Soldaten und Soldatinnen der Streitkräfte Bildung und Reflexion über den sogenannten ‚Lebenskundlichen Unterricht’ an. Dieser „ist kein Religionsunterricht (…), sondern eine berufsethische Qualifizierungsmaßnahme und damit verpflichtend“, wie es in der hierzu eigens erlassenen Zentralen Dienstvorschrift 10/4 in Nr. 104 unmissverständlich heißt. In diesem Kontext ist vom Katholischen Militärbischof im März 2010 das Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften (ZEBIS) gegründet worden. Diese Einrichtung wendet sich vor allem an Militärseelsorger und Militärseelsorgerinnen 111 sowie an Führungskräfte und alle Interessierte in der Bundeswehr zur Vertiefung ethischer Reflexion anhand aktueller Fragestellungen. Diesem Ansatz folgend ist dann auch innerhalb der Evangelischen Militärseelsorge die Arbeitsgemeinschaft Ethische Bildung in den Streitkräften (AEBIS) ins Leben gerufen worden. Das Zentrum Innere Führung ist die zentrale Einrichtung der Bundeswehr für die Konzeption, Weiterentwicklung, Lehre und Vermittlung der Führungsphilosophie der Bundeswehr. Diese Führungsphilosophie mit dem Leitbild vom ‚Staatsbürger in Uniform‘ beruht auf den Werten und Normen des Grundgesetzes. Dieses Fundament verleiht der Inneren Führung per se eine ethische Herkunft und Qualität, die sich in zahlreichen Lehrgängen, Seminaren, Tagungen, Ausbildungsinhalten, Modulen und Projekten des Zentrums Innere Führung selbstverständlich widerspiegeln. Es gibt kein Gestaltungsfeld der Inneren Führung, das nicht eine ethische Dimension oder moralische Implikation beinhaltet. Soldatisches Dienen und Handeln ist stets an ethische Begründungen und moralische Entscheidungen gebunden. Dieses Bewusstsein und Wissen wird am Zentrum Innere Führung praxisnah und handlungsorientiert nicht nur an Offiziere, sondern an militärische und zivile Führungskräfte aller Ebenen in der Bundeswehr weitervermittelt. Nicht zuletzt deshalb wurde am Zentrum Innere Führung im Auftrag des Bundesverteidigungsministeriums im Frühjahr 2010 eine Zentrale Ansprechstelle für militärische Ethik-Ausbildung (ZETHA) eingerichtet, die inzwischen eine gewisse Koordinierungsfunktion für ethische Bildung in den Streitkräften aufweisen kann. Sie hat mittlerweile einen beachtlichen Vernetzungsgrad zu in- und ausländischen Instituten gleicher Zielrichtung erreicht und betreibt intensiven Gedankenaustausch. Am Zentrum Innere Führung werden darüber hinaus einwöchige Ethikseminare, vorrangig für militärische Multiplikatoren, erfolgreich angeboten, um Sensibilisierung für ethische Handlungsfelder sowie Reflexion von Werten, Normen, Tugenden und moralischen Grundsätzen praxisorientiert zu erreichen. In diesem dargestellten Beziehungsgeflecht versteht sich das Zentrum Innere Führung mit seiner ‚ZETHA‘ als ein signifikanter Mosaikstein bezüglich der ethischen Bildung in der Bundeswehr. Was kann Militärethik leisten? Was militärische Ethik leisten kann, lässt sich an wenigen Punkten sehr gut verdeutlichen. In einer hochkomplexen Gesellschaft wie der unsrigen kann keine Institution, geschweige denn ein einzelner, alle militärethischen 112 Fragestellungen überblicken und hinreichend diskutieren. Daher ist es erforderlich, dass alle Institutionen, die mit militärethischer Bildung b eschäftigt und beauftragt sind, sich strukturell und personell vernetzen. Da anthropologische, kulturelle, didaktische, medizinische, neurologische, philosophische, psychologische, rechtliche, soziologische, technische und theologische Aspekte eine wichtige Rolle für eine solide ethische Bildung spielen, ist Interdisziplinarität nicht nur wünschenswert, sondern zwingend erforderlich. Militärethik hat zudem kompatibel mit den anderen militärischen Ausbildungsgebieten in der Truppe zu sein. Das heißt: es darf letztlich kein Widerspruch bestehen zwischen einer militärethischen Norm und einem militärisch notwendigen Ausbildungsbaustein. Dies setzt u.a. ganz praktisch voraus, dass sowohl der Militärethiker als auch der militärische Ausbilder wissen, was der andere unterrichtet. Militärische Ethik darf – wie schon erwähnt – den Aspekt der Einsatzorientierung nicht aus den Augen verlieren, wenngleich sie darauf nicht reduziert werden kann. Soldatinnen und Soldaten sollen verstehen, dass es bei militärischer Ethik um ihre Anliegen als Soldaten geht, dass Militärethik sie persönlich betrifft und Militärethik nicht ausschließlich für wissenschaftliche Experten betrieben wird. Vor diesem Hintergrund muss militärische Ethik im guten Sinne sprachlich und inhaltlich verständlich sein. Zudem darf bei Soldaten und Soldatinnen nicht der Eindruck aufkommen, dass über ethische Vermittlung eine Ideologisierung erfolge. All diese Aspekte lassen sich insbesondere für Vorgesetzte in folgenden „TFragen“ bezüglich einer militärischen Ethikausbildung bündeln: - Teleologie: Was ist Ziel und Zweck militärischer Ethikausbildung? - Taxonomie: Welche Zielgruppen, und zwar ebenengerecht, und welche Ausbildungsziele können erreicht werden? - Taktik: Wie lässt sich militärische Ethik in die militärische Ausbildung, insbesondere in Handlungstraining, integrieren? - Trennschärfe: Gibt es besondere Fragestellungen hinsichtlich einer militärischen Ethikausbildung (Stichwort: Töten und getötet werden, vgl. ZDv 10/1 Nr. 105)? - Tod/Verwundung: Welche existentiellen Fragestellungen ergeben sich für Soldaten daraus, wie gehen sie damit um (dabei auch das Stichwort: PTBS)? - Tradition: Auf welchen Traditionen kann und darf sich Militärethik in der Bundeswehr stützen? - Technik: Welchen Einfluss hat Militärtechnologie auf die Militärethik (aktuelle Stichworte: Drohnen, Minen, Scharfschützen, Streubomben, etc.)? 113 Ziel und Zweck militärischer Ethikausbildung Ziel und Zweck militärischer Ethikausbildung ist es beizutragen, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr die Grundsätze der Inneren Führung zur Richtschnur für ihr Handeln und Verhalten als ‚Staatsbürger in Uniform’ nehmen. Diese Prinzipien sind in der Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 10/1 enthalten. Diese Dienstvorschrift kann von der Homepage des Zentrums Innere Führung (auch in englischer, französischer, spanischer und russischer Übersetzung) aus dem Internet heruntergeladen werden. Soldaten haben sich im Sinne der Inneren Führung stets darum zu bemühen, ethisch gefestigt und somit auch moralisch urteilsfähig zu sein, denn sie müssen sich ethisch und moralisch in extremen militärischen Situationen bewähren. Soldaten, zumal Vorgesetzte, haben sich immer und überall vorbildlich und – wie es soldatisch heißt – ehrenhaft zu verhalten. Die Grundlage für diese werteorientierte Haltung bilden die Werte unseres Grundgesetzes, insbesondere „Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie“. Soldaten und vor allem militärische Führungskräfte, die danach leben und agieren, handeln verantwortlich und stellen für die ihnen anvertrauten Soldaten und Mitarbeiter ein Vorbild dar. Ein aktuelles Anforderungsprofil an unsere Soldatinnen und Soldaten Sicherlich ist es immer einfacher, ein anspruchsvolles Anforderungsprofil zu formulieren, als es zu leben. Dabei kann leicht die Erinnerung an manchen Anfangssatz einiger Volksmärchen geweckt werden, der da lautet: „Als das Wünschen noch geholfen hat“. Wenngleich die Differenz zwischen Theorie und Praxis besteht, so ist dennoch das aufgestellte ‚soldatische Anforderungsprofil‘ als Kompass und Zielperspektive zu verstehen. Unter dem Aspekt einer fundierten militärethischen Bildung sind die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ebenso historisch sowie politisch gebildet und informiert. Sie verfügen über ein rechtliches Grundwissen, nicht nur bezüglich des Soldatengesetzes, sondern auch im Hinblick auf das humanitäre Völkerrecht. Sie sind darüber hinaus fachlich-technisch und militärisch qualifiziert, denn fachliches militärisches Können ist lebensentscheidend. Hierzu gehört auch körperliche Fitness und Robustheit. Schließlich haben Soldaten der Bundeswehr sich ethische Kompetenz erworben und sie verfügen über moralische Urteilsfähigkeit. Gerade vor dem Hintergrund der Auslandseinsätze ist es dringend erforderlich, dass Soldatinnen und Soldaten neben fremdsprachlichen Fähigkeiten interkulturelle Kompetenz besitzen. Dies schließt 114 freilich unverzichtbare Führungsfähigkeiten auf der jeweiligen Ebene sowie kommunikative Eignung mit ein. Wem dies von vornherein als zu ideal gedacht erscheint, der möge sagen, auf welche Fähigkeit ohne Not verzichtet werden könne. Hierzu wird gern eine Geschichte erzählt, die bewusst zum Nachdenken einladen will. Weil einem Menschen der ihm aufgetragene Holzbalken auf einer Wanderung als zu schwer erschien, sägte er kurzerhand etwas davon ab. Der Erfolg war scheinbar verblüffend; er konnte viel schneller und unbeschwerter seine Wanderung fortsetzen. Zudem machte er sich insgeheim Vorwürfe, warum er nicht schon früher auf diese Idee gekommen war. Während er noch darüber nachdachte, kam er an eine tiefe Schlucht. Ein Fortkommen schien ihm zunächst unmöglich. Da fiel ihm sein scheinbar nutzlos mitgegebener Holzbalken ein. Damit könnte er doch die tiefe Schlucht überbrücken. Nur musste der Wanderer bitter feststellen, dass jetzt genau jenes Stück Holz fehlte, welches er kurze Zeit zuvor als scheinbar belastend abgesägt hatte. Wer also Ethik ausblendet, befindet sich auf diesem „Holzweg“ und wird es am Ende bitter bereuen! Literaturhinweise Hans-Christian Beck, Christian Singer (Hrsg.), Entscheiden, Führen, Verantworten. Soldatsein im 21. Jahrhundert, Berlin 2011 Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), ZDv 10/1 Innere Führung, Bonn 2008 Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr, Bonn/Potsdam 2008 Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), ZDv 10/4 Lebenskundlicher Unterricht. Selbstverantwortlich leben – Verantwortung für andere übernehmen können, Bonn 115 Edwin R. Micewski Überlegungen zur ethischen Bildung im Militär und zur Berufsethischen Bildung (BeB) im Österreichischen Bundesheer Mein persönliches Interesse an der Ethik und deren Vermittlung in Vorträgen, Unterrichten und Publikationen wurde durch jene gleichsam ethische Konjunktur gefördert, die wir in jüngster Zeit zur verstärkten Ethisierung unserer privaten wie öffentlichen Lebenswelt erleben. Im Kontext dieser Entwicklung erhielten auch Sicherheitspolitik und Streitkräfte ethische Impulse. Ich darf an die Welle der humanitären Interventionen in den 1990er Jahren erinnern, in deren Folge wir in der Philosophie der internationalen Beziehungen die Rückkehr der Lehre vom Gerechten Krieg verzeichneten, mitsamt den Versuchen, sie an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Die militärischen Gewaltinstrumentarien der Staaten und Bündnisse wurden vor allem durch das Phänomen des internationalen Terrorismus mit dem Phänomen asymmetrischer Gewalt konfrontiert. Da in asymmetrischen Konfliktszenarien nichtstaatliche Kräfte ihre politischen Zielsetzungen mit Formen der Gewalt durchzusetzen trachten, ohne die traditionellen Limitierungen von Krieg und bewaffenetem Konflikt in Zeit und Raum zu beachten, noch sich sittlichmoralische oder gar rechtliche Schranken aufzuerlegen, eröffneten sich neue ethisch-moralische Aspekte für die politisch-militärische Führungsverantwortung. Diese Bedingungen der internationalen Beziehungen im Zusammenhang mit den drastischen Veränderungen im Kriegs- und Konfliktbild haben zu einer Revitalisierung von Fragen der politischen und militärischen Ethik geführt. Es sollen hier nach Anmerkungen zum Verständnis von Ethik die Voraussetzungen und Notwendigkeiten für ethische Bildung angesprochen und vor allem die Bedeutung der Ethik im Kontext der militärischen Führungsverantwortung thematisiert werden. Danach werden einige vergleichende Fakten aus einem Forschungsprojekt zur berufsethischen Bildung in der österreichischen Offiziersaus- und fortbildung genannt und die wesentlichen Parameter dieser Konzeption vorgestellt. Sowohl in dieses von mir initiierte Forschungsprojekt als auch in die Darstellungen zu Ethik, Militärethik und der Vermittlung ethischer Bildung sind sehr stark persönliche Erfahrungen eingeflossen. Diese verdanken sich den zwei Jahrzehnten meiner akademischen Karriere im österreichischen Verteidigungsministerum in Dienstverwendungen an ihrer höchsten Bildungseinrichtung, der Landesverteidigungsakademie in Wien, als auch 117 einer Lehrtätigkeit an einer US-amerikanischen Bildungsstätte, an der ich politische und militärische Philosophie sowie (militärische) Ethik einem internationalen Studentenkreis vermitteln konnte. Persönlicher Zugang zur ethischen Bildung Ich darf meinen Zugang zur Bildung zunächst mit einer Definition des historischen Wörterbuchs für Philosophie zum Ausdruck bringen. Bildung wir hier verstanden als „ein durch Personalität, Bewusstseinserhellung und soziale Verantwortung ausgezeichneter Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins.“1 In diesem Verständnis vermittelt Bildung also vor allen Dingen zweckfreies, zusammenhängendes Wissen, trägt zur Formung des Charakters bei und ermöglicht durch das in ihr enthaltene Moment der Freiheit und denkerischen Autonomie auch und vor allem die Übernahme von Verantwortung. Wie an anderer Stelle bereits näher ausgeführt berührt die Ethik für mich die tiefsten Gründe des Menschseins und handelt deshalb von Begründungszusammenhängen, die jenseits rein empirisch-wissenschaftlicher Zusammenhänge liegen, weshalb die Notwendigkeit philosophischer Reflexion besonders in der Ethikvermittlung gefragt ist. Und da, so wie die Philosophie selbst, die Ethik kein abgeschlossenes Lehrgebäude darstellt, vermittelt der philosophische Ethiker in erster Linie keine Lehre, sondern lehrt denken und urteilen. Damit wird, zumindest in diesem Verständnis, gerade die Ethikvermittlung zu einem Gegenstandsbereich, der es gestattet, sich dem oben beschriebenen Bildungsideal anzunähern, das ja weniger in der Vermittlung konkreter Inhalte zu sehen ist, als vielmehr in der Befähigung zu selbständiger Urteilsfähigkeit. Für den Transzendentalphilosophen ist die Ethik als praktische Philosophie eine ideale Wissenschaft, die das Ideale in die Wirklichkeit bringen will, oder, anders ausgedrückt, danach trachet, die Handlungswirklichkeit so nahe wie möglich an das Ideal heranzuführen. Während der Gegenstand der Erkenntnistheorie die Wirklichkeit ist, insofern und wie sie ist; so ist der Gegenstand der Ethik die Wirklichkeit, wie sie sein soll. Ethik ist gutes Handeln im Modus der Theorie und als solche unterscheidet sie sich vom konkret praktizierten Ethos. Damit ist aber auch schon die wesentlichste methodologische Unterscheidung zwischen meinem bzw. dem kontinentaleuropäischen und dem anglosächsischen bzw. angloamerikanischen Zugang zur Ethikvermittlung aufgezeigt: während beim ersteren der 1 Historisches Wörterbuch der Philosophie (herausgegeben von Joachim Ritter), Band 1, Basel 1984, S. 92. 118 Weg verfolgt wird, generelle Einsichten in die Idee von Freiheit, Verantwortung, Gerechtigkeit, Pflicht zu vermitteln und davon ausgehend Antworten auf die Herausforderungen der militärischen Lebenswelt zu deduzieren, also gleichsam von der (normativen) Ethik zum Ethos vorzudringen, ist der der zweite Weg eher der umgekehrte; eine pragmatische Ethos-Orientierung steht im Vordergrund, wobei eine übermäßige Intellektualisierung der ethischen Bildung vermieden und abstrakte ethische Theorie minimalisiert werden soll. Dabei sieht sich der letztgenannte Weg mit der Warnung Kants konfrontiert, die Pflicht nie zur Gewohnheit werden zu lassen. Was Kant damit meint ist, dass Ethik nicht als Rezeptbuch für gelingendes Leben missverstanden werden darf. Der Handelnde soll vielmehr jede ethisch relevante Situation als speziell eigene betrachten und genuin gemäß der je gegebenen Umstände entscheiden. Routine in der Ethik, das Einüben von Prozeduren und Handlungsmodellen, birgt die Gefahr in sich, ins Inhumane zu führen und den eigentlichen Sinn ethischen Handelns und moralischer Verantwortung ad absurdum zu führen. Propädeutische Axiome für militärische Ethik Es soll hier nochmals hervorgehoben werden, dass die militärische Ethik als Disziplin angewandter Ethik von der Frage der Anwendung der moralphilosophisch-normativen obersten Prinzipien des moralisch Guten und Rechten, welche als Richtschnur für unser Handeln dienen sollen, auf die militärische Lebenswelt in all ihren Konfigurationsbereichen handelt. Insbesondere für den Offizier steht die Bereichsethik der militärischen Ethik im Kontext einer speziellen Führungsverantwortung, welche die Frage nach der Legitimität von Gewaltanwendung auf individueller und kollektiver Ebene in dem Sinne erweitert, als der Offizier nicht nur sein eigenes Leben, sondern vor allem das von ihm anvertrauten Soldaten zu verantworten hat. Auch wenn die ethische Bildung im generellen Bildungskanon nur relativ geringen – wenn auch stetig steigenden – Stellenwert einnimmt, so handelt es sich bei ihr doch – ungeachtet des methodologischen Zuganges – so ziemlich um die schwierigste Herausforderung, mit der wir uns in Bildung und Erziehung konfrontiert sehen. Dies hat u.a. mit den weitverzweigten und interdependenten Grundlagen und Zusammenhängen zu tun, die für ethisches Verständnis erforderlich sind. In meinen berufsethischen Bildungsbemühungen bin ich auf einige Fundamentalparameter gestoßen, deren Bedeutung und Angemessenheit sich im Verlauf des Lehrens und Publizierens über diese Thematik immer wieder bestätigt und 119 weiter verdichtet hat. In meinem Verständnis beeinflussen diese den bildungsethischen Diskurs nachhaltig, müssen in ihm aber auch ganz besonders beachtet und behandelt werden. Sinnfrage Bei der für diesen Kontext wohl grundlegendsten Voraussetzung handelt sich um die Tatsache, dass kaum ein Beruf philosophisch so herausfordernd ist wie der des Soldaten, insbesondere jener des Offiziers und militärischen Führers, der sich die existenzielle Sinnfrage im Angesicht des Todes – des eigenen wie fremden – zu stellen hat. Er hat zu gewärtigen, dass der tiefste Ernst und die größte Herausforderung seiner Existenz in der (zwar vom Staat monopolisierten, domestizierten, und legalisierten) aber doch Gewaltanwendung liegt, der die Tötung Anderer und der eigene Tod potenziell inhärent sind. Die quantitativ vorherrschende Faktizität der friedlichen Koexistenz des Militärischen ändert nichts an der eigentlich metaphysischen Natur des Militärischen, die von ihrem Wesenskern her unveränderlich und eben in der Bewährung in der Ausnahmesituation eines bewaffneten Konfliktes zu sehen ist. Das nachhaltigste Unterscheidungsmerkmal des militärischen Professionalisten zu anderen ist diese spezielle Sinnfrage, welche die tiefsten Zusammenhänge sozialen und politischen Seins berührt. Diese existenzielle Sinnfrage des Militärischen repräsentiert aber auch gleichzeitig die größte Diskursherausforderung für die Streitkräfte mit der Gesellschaft und begründet nachhaltige Wertambivalenzen und Inkompatibilitätsprobleme. Komplexer Bildungsbedarf Aus dieser Prämisse der militärischen Sinnfrage ist schon abzusehen, wie umfassend der Bildungsbedarf ist, wie vernetzt und komplex die ethischen Herausforderungen sind, mit denen sich der Soldat mit Führungsaufgabe konfrontiert sieht und welchen Aufwandes – zeitlich wie inhaltlich – es bedarf, ethisches Bewusstsein für die mannigfachen Herausforderungen, mit denen die militärische Lebenswelt aufwartet, zu begründen und zu fördern. Aristoteles wies uns schon darauf hin, dass man die Frage nach den Zielen des menschlichen Handelns nur beantworten kann, wenn man weiss, wie die Natur des Menschen beschaffen ist. Für das tiefgreifende Verständnis militärischer Ethik benötigt der einzelne als Voraussetzung daher die Grundlagen der Sozialphilosophie – Wesen des Menschen/Anthropologie; Wesen von Staat und Gesellschaft/Staats- und Rechtsphilosophie plus Philosophie der Internationalen Beziehungen; Wesen von Krieg und Militär/Kriegsphänomenologie und Militärphilosophie. 120 Gesellschaftliche Verfasstheit Das nächste Axiom bezieht sich auf die Tatsache, dass die moderne Gesellschaft zu einem nahezu unbegrenzten Wertrelativismus und ethischen Nihilismus tendiert. Werte- und normensetzende Institutionen wie Kirche oder staatliche Einrichtungen verlieren an Einfluss und einheitliche und übergreifende Wertsysteme sind kaum noch zu verwirklichen. Der US-amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer hat hiefür den Begriff des Unsettlement, der Entwurzelung, vorgeschlagen, um damit auf den individuellen Egosimus und Relativismus zu verweisen. Diese atomisierende Tendenz der (postmodernen) Gesellschaft wird duch MacIntyre’s Gedanken des Emotivismus ergänzt, mit dem er das Dilemma bezeichnet, das die Wertevielfalt und der Relativismus der Anschauungen erzeugt: die Urteile und Überzeugungen der Einzelnen werden zum bloßen Ausdruck persönlicher Gefühle und Präferenzen, die in sich keinen essenziellen moralischen Gehalt mehr aufweisen.2 Was immer einer denkt oder wofür er auch eintreten mag, ist von gleicher Gültigkeit, eben gleich-gültig. Diese Relativität individueller Überzeugungen übersetzt sich auch in die Politik und ihre Handlungsbereiche. Die Spielformen der Differenz und Deregulierung führen dazu, dass Ethik etwa in der Ökonomie als Behinderung aufgefasst oder zurückgewiesen wird und verursachen auch tiefgreifende Veränderungen im Verständnis von Streitkräften. Insbesondere in Europa konstatieren viele nach Wegfall der direkten und klassischen Bedrohung einen radikalen Bedeutungsverlust des Militärs im nunmehr „feindlosen Staat“ (Ulrich Beck) und hinterfragen kritisch die Existenzberechtigung von Streitkräften unter den neuen sicherheitspolitischen Umfeldbedingungen. Wie Max Weber schon sagte, brechen vor allem in einem Zustand mangelnder unmittelbarer Bedrohung von Außen die Widersprüche zwischen Militär und Demokratie besonders hervor, sodass es zu einer Neuordnung des Verhältnisses kommen muss: „Wenn der Staat das intime Verhältnis zur Gewalt verliert, dann muss sich das Politische neu öffnen“.3 Ethik und militärische Führungsverantwortung In meinem anderen, in dieser Publikation enthaltenen Aufsatz, habe ich den ontologischen Zusammenhang zwischen menschlicher Existenz, Freiheit und Verantwortung aufgezeigt und die wesentlich moralische Qualität des Menschseins hingewiesen. Verantwortung erwies sich als eine im Sein selbst angelegte, jedem Menschen aufgegebene Herausforderung. 2 3 Alasdair MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, New York 1987, S. 52-54. Max Weber, Gesammelte Politische Schriften. 5. Auflage. Stuttgart 1988, S. 396. 121 Wenn dem so ist, so ist der Ort der Verantwortung überall – in der Familie, in der Gemeinschaft, in Gesellschaft und Staat, vornehmlich im Beruf. Im Zusammenhang mit ethischer Unterweisung ist zu betonen, dass die Idee von Erziehung und Bildung überhaupt wesentlich auf dem Gedanken beruht, zur Wahrnehmung von Verantwortung zu befähigen. Nicht zuletzt daraus wird erklärlich, dass Bildung und Erziehung, in diesem umfassenden Verständnis, nicht nur die Dimensionen von Wissen und Können, sondern auch und insbesondere den sittlichen Aspekt der Tugend zu enthalten haben. Verantwortung geht also dem Führen voraus, besteht bereits vor und unabhängig davon und ist jedem aufgegeben, bevor er noch in die Position des Führens oder gar des militärischen Führens gelangt. Die besonderen Anforderungen an militärische Führung beruhen auf der speziellen Leistung, welche Streitkräfte für das politische System, dem sie angehören, zu erbringen haben und das sich, wie anderorts näher dargestellt, auf die Wahrung von Sicherheit unter den Ausnahmefällen von bewaffneten Konflikten und Bedrohungen größeren Umfanges als auch Beiträgen zu internationaler Friedensbewahrung bzw. -wiederherstellung bezieht. Mit Blick auf das militärische Führen hat der Kriegstheoretiker Clausewitz bereits darauf hingewiesen, dass dieses eher kreativen denn rein technischwissenschaftlichen Charakter trägt. „Nach alledem ergibt sich von selbst, dass es passender ist, Kriegskunst als Kriegswissenschaft zu sagen“.4 In Vorbereitung dieses Diktums von der „Kriegskunst“ heißt es, dass „Wissen zu Können“ werden muss und es daher „die geistige Reaktion, die ewig wechselnde Gestalt der Dinge macht, dass der Handelnde [...] fähig sein muss, überall und mit jedem Pulsschlag die Entscheidung aus sich selbst zu geben“.5 Nun könnte man unter Kriegskunst in einem modernen, zeitgemäßeren Verständnis die militärische Führungsfähigkeit unter den mannigfachen Bedingungen der komplexen Ausnahmesituation eines bewaffneten oder potentiell bewaffneten Konfliktes verstehen. Aber genau darum geht es. Ich erachte diese Handlungsanleitung, die uns Clausewitz für Bildung und Lehre und vor allem militärisches Führungsverständnis gegeben hat, für aktueller denn je. Weder die Fähigkeit zur Bewältigung eines klassischen noch eines modernen bewaffneten Konfliktes kann durch ein positives Lehrgebäude allein herbeigeführt oder ersetzt werden, welches dem militärisch Handelnden überall einen äußeren Anhalt, gleichsam eine technische Rezeptur, an die 4 5 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, München 1963, S. 66. Ebenda. 122 Hand gäbe. Immer wieder wird der militärisch Führer in Situationen gelangen, in denen er auf sein kreatives Talent verwiesen wird. Aus diesem Grund sollte die Theorie eher Betrachtung denn dogmatische Lehre sein und muss durch das, was im Sinne von Clausewitz als „hervorbringendes Können“ zu bezeichnen wäre, ergänzt und ermöglicht werden. Dies gilt umsomehr für die Ethik. Die Geschichte der Ethik, ihre Theorien und Modelle, die sich in der Geistesgeschichte auffinden lassen, können erlernt und reflektiert werden. Ethisches Verhalten aber, das in informiertem ethischen Bewusstsein gründet, ist und kann nicht das Ergebnis eines ständigen Räsonnierens über den Kategorischen Imperativ oder philosophischer Konzeptionen von Gerechtigkeit und Tapferkeit sein; vielmehr muss eine innere Disposition, eine Inklination des Willens, anerzogen und ständig genährt und kultiviert werden. Ethikvermittlung in Theorie und Praxis – Forschungsprojekt Berufsethische Bildung Im Sinne des hier dargestellten Zuganges zu militärethischer Bildung habe ich als seinerzeitiger Leiter des Instituts für Human- und Sozialwissenschaften an der Landesverteidigungsakademie Wien ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Thema „Berufsethische Bildung im Österreichischen Bundesheer (ÖBH)“ initiiert und durchgeführt, das hier in seinen wesentlichen Grundzügen und strukturellen Ergebnissen zur Darstellung gebracht werden soll.6 Es sollte durchaus geeignet sein, gewisse Anregungen für die Gestaltung militärethsicher Bildungsmaßnahmen zu geben als auch Rückschlüsse für zukünftige Kooperationen gestatten. Das Forschungsprojekt nahm seinen Ausgang von dem seit dem Jahr 2000 im österreichischen Verteidigungsressort verfolgten Schwerpunkt zur „Militärischen Ethik“ (Military Ethics), mit dem auf die steigende Bedeutung ethischer Kompetenz für Führungskräfte reagiert wurde. Diese Orientierung innerhalb des Ressorts war einerseits von den aktuellen Entwicklungen, andererseits von den international vorangetriebenen Bemühungen der Landesverteidigungsakademie im Bereich der ethischen Bildung ausgelöst worden. Bereits im Jahr 2000 hatten wir mit dem im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden 6 Mein besonderer Dank und meine Anerkennung gelten hier Oberst des höheren militärfachlichen Dienstes Mag. Andreas Kastberger, der sich damals, meinem Institut dienstzugeteilt, um dieses Projekt besonders bemüht gemacht hat und dem wesentlicher Anteil an der Qualität und dem Gelingen dieses Projekts zukommt. ObstdhmfD Mag. Kastberger dient als Referatsleiter für Pädagogik, Lehrgangsleiter und verantwortlicher Redakteur der akademieinternen Schriftenreihe an der Heeresunteroffiziersakademie in Enns, Oberösterreich. 123 angebotenen Civil-Military Relations Seminar IV „Ethics and International Politics“ (Buchpublikation, Literas Verlag Wien) begonnen, die Frage von Ethik und Politik und die moralphilosophisch relevanten Aspekte des Einsatzes politisch-militärischer Gewalt zu behandeln und den Führungskräften in einem internationalen Umfeld zugänglich zu machen. Mit dem im Jahr 2002 abgehaltenen Civil-Military Relations Seminar VI „Military Ethics I“ wurde dann begonnen, eine Transformation der ethischen Reflexion von der Makro- auf die Mikroebene angewandter militärischer Ethik durchzuführen, die mit dem im November 2004 mit dem siebenten Seminar in der Reihe zum Thema „Military Ethics II – (Military) Leadership in a Postmodern Age“ fortgesetzt wurde. Gleichsam parallel wurde das Forschungsprojekt zur Berufsethischen Bildung (BeB) auf interdisziplinäre Weise und unter Einbindung der beiden Hauptkonfessionen der Militärseelsorge im ÖBH vorangetrieben, mit dem Ziel, dem Bildungsangebot des ÖBH in diesem Gegenstandsbereich eine stringente und aufbauende Systematik zu verleihen. Nach Festlegung des Projektteams wurden die Curricula der Aus- und Fortbildungslehrgänge der Offiziersausbildung des ÖBH7 überprüft, wobei sich herausstellte, dass - es in der Aus- sowie Fort- und Weiterbildung für den Berufskader und die Führungskräfte des Bundesheeres in vielen (aber nicht allen!) Lehrgängen curricular verankerte Lehrveranstaltungen zum Themenfeld einer soldatischen Berufsethik gab; - es der militärischen Berufsethik einer thematischen Systematik ebenso wie einer konzertierten, operativ-taktischen Umsetzung im Gesamtzusammenhang des Bildungsmanagement für die Führungskräfte des ÖBH mangelt. Aus dieser Ist-Bestandsaufnahme ergab sich die zwingende Notwendigkeit, die Berufsethische Bildung (BeB) strukturell wie inhaltlich den komplexen Führungserfordernissen in einem internationalisierten sicherheitspolitischen Umfeld anzupassen und dem für den Berufsvollzug österreichischer Soldaten in der Zukunft immer relevanter werdenden politisch-militärethischen Bildungsaspekt mehr Kontur zu verleihen. Als nächste Ausgangsbasis für die Strukturierung der BeB wurde ein berufsethisches Qualifikationsprofil entworfen, welches 7 Dabei erfolgte eine Konzentration auf jene Lehrgänge, welche der unmittelbaren Vorbereitung auf Führungsfunktionen bzw. der Weiterbildung akademischen Personals dienen. Konkret wurden die herangezogen: der Fachhochschul-Diplomstudienlehrgang „Militärische Führung“ (Offiziersgrundausbildung an der Miilitärakademie); die Führungslehrgänge 1/ 2 und 3 (Offiziersfortbildung an der Landesverteidigungsakademie; der Intendanzlehrgang (Bildungslehrgang für Juristen); der Grundausbildungslehrgang (Bildungslehrgang für Offiziere des höheren militärfachlichen Dienstes). 124 - in einer Richtzielformulierung den ethisch-moralischen Anspruch an den Beruf des Offiziers beschreibt; und - die Grobziele für die ethische Bildung von Offizieren mit Führungsfunktionen in Abstimmung auf bereits bestehende Qualifikationserfordernisse ausformuliert. Berufsethisches Qualifikationsprofil für den Berufsoffizier Richtziel Der Offizier des Österreichischen Bundesheeres hat als Kommandant oder Stabsmitglied die mit seiner Funktion als Exekutivorgan im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols verbundene ethisch-moralische Verantwortung, in deren Mittelpunkt der Wert der Person und die Achtung der Menschenwürde stehen, wahrzunehmen. Diese Verantwortung erwächst aus der humanistischen und christlich-abendländischen Denktradition und verpflichtet den Offizier, ihr sowohl unter Friedens- als auch unter Einsatzbedingungen in jeder Beziehung und zu jeder Zeit gerecht zu werden. Das Berufsethos des Offiziers soll darüber hinaus in seinem persönlichen Verhalten und gesellschaftlichen Wirken sichtbar werden. Grobziele Das militärische Bildungswesen soll den Offizier in der Entwicklung und Herausbildung seines Berufsethos unterstützen und fördern. Die BeB trägt im Besonderen dazu bei, dem Offizier vor allem nachstehende Kompetenzen zu vermitteln: Offiziere sollen - in die Lage versetzt werden, ihr Handeln generell in einem umfassenderen Zusammenhang zu sehen; - die Fähigkeit erwerben und/oder festigen, ihr eigenes Fühlen, Denken und Handeln zu reflektieren; - einen Gesamtüberblick zu Fragen der Ethik und Moral unter besonderer Berücksichtigung der Erfordernisse des militärischen Berufsvollzugs im Europa des angehenden 21. Jahrhunderts erhalten und aktualisieren; - sich mit den wichtigsten rechtlichen und organisatorischen Bestimmungen vom Humanitären Völkerrecht bis zur Allgemeinen Dienstvorschrift auseinandersetzen und die moralischen Aspekte daraus im Berufsvollzug umsetzen; - befähigt werden, eigenständig und verantwortungsbewusst moralische Entscheidungen zu treffen und diese nachhaltig vertreten zu können; - eine klare Zielvorstellung für ihr Verhalten im beruflichen Handlungsfeld insgesamt und bei spezifischen Auftragserfüllungen im Besonderen entwickeln; - angeregt werden, die öffentliche Diskussion über einschlägige ethische Fragen zu verfolgen und gegebenenfalls auf kompetente Weise daran teilzunehmen. Als nächsten Schritt wurden moralisch-ethische Kernthemen für die Berufsethische Bildung in einer aufbauenden Systemtik erstellt (die etwa von Gewissen und Verantwortung, Freiheit, Disziplin, Treue, Gerechtigkeit bis hin zu Krieg/Frieden, Ehre, Pflicht, etc. reichen). Diese Kernthemen wurden dann den philosophisch-wissenschaftlichen Disziplinen und Kernthemen zugeordnet und 125 schließlich in Lehrveranstaltungsziele und zur Erreichung erforderliche Zeitansätze im Sinne einer Soll-Darstellung übersetzt. Das Ganze wurde ergänzt durch didaktisch-methodische und taxonomische Überlegungen, die für die gewählten Kriterien zu berücksichtigen waren bzw. sind.8 Das Projekt zur BeB berührte ausdrücklich nicht die Bestimmungen für die konfessionelle Ethikbildung im Österreichischen Bundesheer. Allerdings wurde die zu fordernde Koordinierung der philosophisch-wissenschaftlichen und religiös-konfessionellen militärethischen Bemühungen durch die Art der Zusammensetzung des Projektteams berücksichtigt. Synergieeffekte mit den Vertretern der beiden wesentlichen Konfessionen im Rahmen der Militärseelsorge wurden durch die Einbeziehung von Experten des Militärordinariats des Militärbischofsamtes und der Evangelischen Superintendentur in das Forschungsprojektteam erzielt. Für die fachliche Gesamtkoordinierung der curricular verankerten Berufsethischen Bildung in den Lehrgängen und Kursen wird die Einrichtung eines Steuerungskomitees an der Landesverteidigungsakademie als der höchsten Forschungs- und Lehreinrichtung des Österreichischen Bundesheeres vorgeschlagen. In dieses Gremium sollen alle für die Ethikbildung unmittelbar umsetzungsrelevanten Dienststellen des Bundesheeres eingebunden werden. Diese Koordinierungseinrichtung sollte - für die wissenschaftliche Fundierung der curricular verankerten Ethikschulungen und deren institutionsübergreifende Gesamtkoordinierung verantwortlich zeichnen; - als Kommunikationsforum die Abstimmung der gesamten ethischen Bildung für das (Berufs)Kaderpersonal im Bundesheer vornehmen, einschließlich laufender Aktualisierung gemäß der sich in den nationalen und internationalen Beziehungen ergebenden moralphilosophischen Fragestellungen und ethischen Herausforderungen sicherstellen; - den Einsatz des seitens der kurs- oder seminarführenden Dienststellen vorgesehenen Lehrpersonals aus fachlicher Sicht beurteilen und Empfehlungen abgeben. - über die in den standardisierten Curricula enthaltene Berufsethische Bildung hinaus spezielle Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen anregen; - die Planungen für alle weiteren Offizierslehrgänge sowie die ethische Bildung der Unteroffiziere und die Kurse und Schulungen des Milizkaders in einem weiterführenden Projekt gewährleisten. 8 Für nähere Details dazu können sich Interessenten an ObstdhmfD Mag. Andreas Kastberger unter ([email protected]) wenden. 126 Die Ergebnisse des gegenständlichen Forschungsprojektes und deren Umsetzung bis zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrages trugen dazu bei, die Aus- und Fortbildung der Offiziere des ÖBH im Bereich einer berufsbezogenen Ethik sinnvoller zu strukturieren und zu einer systematisch-aufbauenden Methodik zu verhelfen. Darüber hinaus wurde bzw. wird dadurch dem internationalen Schwergewicht der ethischen Bildung von Führungspersonal im Rahmen der Professional Military Education (PME) auch im Bildungsmanagement des Österreichischen Bundesheeres entsprochen. Abschlussbetrachtungen Eine entsprechende Organsiation der berufsethischen Bildung ist für die Herausbildung eines adäquaten ethischen Bewusstseins und einer autonomen moralisch-sittlichen Urteilsfähigkeit – als Grundlage und Voraussetzung der sozialen und menschlichen Kompetenz von militärischen Führungskräften aller Ebenen – unerlässlich. Abgesehen von der nach Innen gerichteten berufsethischen Orientierung sind unsere militärischen Lebenswelten gefordert, sich postmodernen gesellschaftspolitischen Realitäten zu stellen und ihren Wert und Nutzen sowie ihre spezifischen Ziele, Aufgaben und Organisationskulturen einem politischen und gesellschaftlichen Umfeld zu vermitteln, das potenziell dazu neigt, das Ideal einer zukünftigen staatlichen wie globalen Ordnung allein auf ökonomische und demokratische Prinzipien reduzieren zu wollen, und daher den Zielen und Aufgaben der Streitkräfte nicht immer das nötige Interesse und die erforderliche Aufmerksamkeit entgegenbringt. Ich erachte nach wie vor als vielleicht grundlegendste Diskursherausforderung zwischen Militär und Gesellschaft – ungeachtet der einschneidenden sicherheitspolitischen Veränderungen – die Kernfrage nach der Moralität und sittlichen Legitimität von militärischer Friedenssicherung. Die Forderung nach gewaltfreier Friedensgestaltung auf der einen Seite, der Einsatz politischmilitärischer Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung und zur Deeskalation von Konflikten auf der anderen birgt Inkompatibilitätsprobleme und ethische Ambivalenzen in sich, die einer Lösung bedürfen, die nur diskursiver Natur sein kann. Hier sehe ich aber eine große Chance für die Streitkräfte. Sind die Herausforderungen für die Streitkräfte in postmodernen Gesellschaften auch mannigfach, so bieten sie doch gleichzeitig außergewöhnliche Möglichkeiten, ein neues Vertrauensverhältnis zwischen Streitkräften und Gesellschaft zu begründen. 127 Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Streitkräfte neben einer inneren Selbstfindung in ihren Außenbeziehungen gegenüber Politik und Gesellschaft einen adäquaten Gebrauch von den Chancen machen, die ihnen von den neuen Bedingungen des sicherheitspolitischen und gesellschaftspolitischen Umfeldes geboten werden. 128 Thomas Schirrmacher Zur Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) 1. Darstellung Einleitung Georg Lind1 (geboren 1947) ist Psychologieprofessor an der Universität Konstanz und durch seine Beiträge zur Moralentwicklung von Kindern bis zu jungen Erwachsenen in Weiterentwicklung der Sicht Lawrence Kohlbergs und ihre praktisch-pädagogische Umsetzung durch die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) bekannt.2 „Die KMDD kann in allen Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen eingesetzt werden. Sie fand Eingang in Schulen, Hochschulen, berufliche Weiterbildung, Streitkräfte, Gefängnisse und Altersheime im In- und Ausland.“3 Die KMDD wird vor allem in weiterbildenden Schulen, aber eben auch in so unterschiedlichen Einrichtungen wie im Justizvollzug4 oder in der Sozialarbeit angewendet. In Baden-Württemberg werden Biologielehrer für das Projekt Bioethik mit der KMDD vertraut gemacht. Außerhalb Europas wurden 100 Lehrer in einem Distrikt Kolumbiens ausgebildet, das Bildungsministerium empfiehlt das Programm allen Lehrern des Landes. In Mexiko haben Universitäten ihre Ethikprofessoren in der KMDD ausbilden lassen, vor allem Medizinethiker 5. Eine polnische Universität nimmt die KMDD in ihr Ausbildungsprogramm auf.6 2007 erteilte die Bundeswehr Lind den Auftrag, ihre für Ausbildung aller Art Verantwortlichen, gleich ob Offiziere, Psychologen oder Militärgeistliche zu 1 S. www.uni-konstanz.de/ag-moral/ und de.wikipedia.org/wiki/Georg_Lind. Alle Webseiten wurden zuletzt eingesehen am 22.4.2011. 2 S. www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm. 3 http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm. 4 Vgl. Kay Hemmerling, Matthias Scharlipp, Georg Lind: Die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion für die Bildungsarbeit mit Riskiogruppen, S. 303-311 in: Klaus Mayer, Huldreich Schildknecht: Dissozialität, Delinquenz, Kriminalität: Ein Handbuch für die interdisziplinäre Arbeit, Zürich: Schulthess: 2009. 5 S. z. B. http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/pdf/Hernandez-2005_Medicine-Professionalism_short.pdf. 6 Alles nach Eigenangaben Linds. Die aktuellste Zusammenstellung fand ich in Georg Lind: Die Förderung moralisch-demokratischer Kompetenzen mit der Konstanzer Methode der DilemmaDiskussion, S. 285-301 in: Brigitte Latzko (Hg.): Moralische Entwicklung und Erziehung in Kindheit und Adoleszenz, Göttingen: Hogrefe: 2010, 288. 129 KMDD-Lehrern fortzubilden. Es war eine Diskussion im Anschluss meines Vortrages zur Ethikausbildung in der Bundeswehr in der Akademie für Kommunikation der Bundeswehr in Strausberg,7 die mich anregte, mich der Thematik einmal grundsätzlicher anzunehmen. In der Praxis sind sog. Dilemma-Stunden8 das Hauptwerkzeug der KMDD. Als optimale Länge für eine Dilemma-Stunde gibt Lind 80-100 Minuten vor. In den ersten 15 Minuten wird das Dilemma erläutert, dann folgen 15 Minuten mit Probeabstimmung und Gruppenbildung. Anschließend werden in jedem Meinungslager kleine Gruppen von 3-4 Teilnehmern gebildet, die ihre Gründe austauschen. Dann folgt 40 Minuten lang eine Plenumsdiskussion nach Erläuterung der Diskussionsregeln für das Argumente-Ping-Pong, bei dem jeder Redner den nächsten aufruft. Dann bringt jede Gruppe 10 Minuten lang ihre Argumente in eine Rangreihe. Für die Schlussabstimmung und für einige Nachfragen sind je 5 Minuten vorgesehen. Grundlagen Linds beide Hauptwerke tragen einen ähnlichen Titel. Das allgemeinere heißt ‚Moral ist lehrbar‘9, das eher wissenschaftlich Begründende heißt ‚Ist Moral lehrbar?‘10. Daneben sind einige neuere Aufsätze von Bedeutung.11 Grundlegend ist Linds Überzeugung, dass eine moralische Handlung als Ausfluss moralischer Entscheidungen nicht statisch durch die Kenntnis moralischer Positionen entsteht, sondern durch den bewussten Diskurs zwischen verschiedenen moralischen Möglichkeiten anlässlich einer konkreten Situation. „Wo wir von moralischer Urteilsfähigkeit sprechen, meinen wir daher immer eigentlich auch moralische Diskursfähigkeit.“ 12 “Sicherheitspolitische Expertenrunde der Informationsarbeit ‘Umsetzung der Ethischen Ausund Weiterbildung in der Informationsarbeit der Bundeswehr’ vom 18. bis zu 20. März 2009 an der AIK Strausberg“, s. auch http://www.bucer.eu/bq.html, dort BQ Nr. 96 = 12/2009 „Bundeswehr braucht Ethiker“. 8 Siehe die Tabelle mit dem „Ablaufschema“ in Georg Lind: Moral ist lehrbar, EGS-Texte, München: Oldenbourg, 20092, S. 83-84. 9 Lind: Moral ist lehrbar. In dieser 2. Auflage finden sich einige kleinere, aber wesentliche Änderungen der KMDD, s. 149-158. 10 Georg Lind: Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen moralpsychologischen Forschung, Berlin: Logos, 20022. 11 Die neuesten gedruckten Veröffentlichungen sind: Georg Lind (Hg.): Moral Judgements and Social Education, New Brunswick (NJ): Transaction, 2010; Lind: Förderung; Hemmerling, Scharlipp, Lind: Methode; vgl. auch Georg Lind: Gewissen lernen? Zur Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion, S. 101-112 in: Anton A. Bucher (Hg.): Moral, Religion, Politik: Psychologischpädagogische Zugänge. Berlin: Lit, 2007. 12 Lind: Moral ist lehrbar, 19 (kursiv ausgelassen). 7 130 Die Konstanzer Dilemma-Methode baut grundsätzlich auf dem moralischen Stufenentwicklungsschema von Lawrence Kohlberg13 und Moshe Blatt14 auf (auf das unten noch ausführlicher eingegangen wird), ändert dessen praktische Umsetzung aber ab. Durch die kontrollierte Konfrontation mit Dilemmasituationen von angeleiteten Gruppen entstand ein Verfahren zur vertieften Diskussion und Reflexion moralischer Konflikte. Es sind vor allem zwei Kritikpunkte an der Blatt-Kohlberg-Methode, die Lind vorbringt.15 Zum ersten geht die moralische Entwicklung nicht einfach automatisch die sechs Stufen von unten nach oben, sondern kann vor und zurück gehen.16 Zum zweiten führt die Gesprächsmethode Kohlbergs aufgrund ihres autoritativen Elements in der Bewertung und Einstufung der Beiträge nicht zu einer Entwicklung der moralischen Fähigkeiten von innen heraus,17 was Lind besser gelöst zu haben meint. Gegen die kognitive Entwicklungstheorie der Moral nach Jean Piaget und Kohlberg und die ihr entgegengesetzte Sozialisationstheorie stellt Lind daher die Bildungstheorie als dritten Weg der Erziehung.18 Nach ihr stagniert die Entwicklung des moralischen Urteilsvermögens, wenn sie nicht durch Bildung stimuliert wird. Die Bildungstheorie fußt dabei auf der kognitiven Entwicklungstheorie, ändert diese aber an entscheidenden Punkten. Die Sozialisationstheorie gilt dagegen für Lind als eindeutig widerlegt.19 13 Bes. ebd., 46-47. Moshe Blatt, Doktorand Kohlbergs, fügte zu Kohlbergs Methode den sogenannten ‚BlattEffekt‘ hinzu, vgl. Detlef Garz: Lawrence Kohlberg: Zur Einführung, Hamburg: Junius, 1996, 132-134. Neu in der Pädagogik war auch Kohlbergs und Blatts Sicht, wie sich das moralische Urteil entwickelt, wobei zwei Festlegungen zentral waren: 1. nur ein kognitiver Konflikt lässt ein Kind höherstufige Urteile entwickeln; 2. moralische Aussagen und Urteile lassen ein Kind nur dann ein höherstufiges Urteil entwicklen, wenn diese Urteile von einer höheren Stufe her kommen. 15 Siehe die bereits frühe Auseinandersetzung mit Kohlberg in: Georg Lind, Jürgen Raschert (Hg.). Moralische Urteilsfähigkeit: Eine Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg. Weinheim: Beltz, 1987. Zur Kritik Linds an Kohlberg vgl. Helga Scheibenpflug: Die höchste Stufe der Moral: Adäquate Beschreibung anhand des Stufenmodells der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg unter Weiterführung der Kritik der praktischen Vernunft Immanuel Kants, Kovač: Hamburg, 2007, 102106, 268-269, allgemein zu Kritikern Kohlbergs 87-119. 16 Lind: Förderung, 289; vgl. zu Kohlbergs Fixierung der Reihenfolge Alexander Schimmel: Die Theorie der Entwicklung des religiösen Urteils (Fritz Oser & Paul Gmünder): Darstellung und Diskussion eines multidisziplinären Ansatzes, Saarbrücken: VDM Verlag Müller, 2008, 12-13 und William Crain: Theories of Development, Englewood Cliffs (NJ): Prentice Hall, 19923, 143-144. 17 So bes. in Lind: Förderung, 286. 18 Siehe vor allem die Habilitationsschrift Georg Lind: Eine sozialpsychologische Untersuchung zur Veränderbarkeit der moralischen Urteilsfähigkeit durch Bildungsprozesse, Habilitationsschrift Katholische Universität Eichholz. Konstanz, 1992. 19 Lind: Ist Moral lehrbar?, 18-21, 251. 14 131 Lind folgt daneben eigenständig Jürgen Habermas, John Dewey und anderen Größen des Konstruktivismus sowie der kommunikativen Ethik von Habermas und der Diskursmethode von Fritz Oser20. Den Konstruktivismus sieht Lind vor allem in zweierlei Hinsicht als Vorgabe für seine Methode. 1. Lernen geschieht von innen heraus21 (Die Welt muss von jedem aktiv konstruiert werden). 2. Es gibt immer mehrere unterschiedliche Wahrnehmungen eines Dilemmas, nicht nur unterschiedliche Meinungen darüber, wie man es lösen soll.22 Lind hat die Grundlagen seiner Sicht in verschiedenen Veröffentlichungen unterschiedlich zusammengestellt und nummeriert. In ‚Ist Moral lehrbar?‘ sieht das so aus:23 1. „Die Lösung moralischer Probleme hängt tatsächlich in ähnlicher Weise von erworbenen Fähigkeiten (und nicht nur von der richtigen Einstellung oder Motivation) ab, wie die Lösung anderer Arten von Handlungsproblemen.“24 Vorsätze und Wollen allein reichen nicht aus, um moralisch zu handeln. 2. Moralische Fähigkeiten und moralische Einstellungen sind keine zwei getrennte Komponenten, sondern Aspekte derselben Sache. So kann man die kognitiven und die affektiven Aspekte des moralischen Verhaltens zwar unterscheiden, aber nicht trennen. 3. Für die Pädagogik bedeutet das, dass Lehrer und Eltern nicht einfach vor der Alternative stehen, ihren Kindern keine moralischen Vorgaben zu machen oder sie zu indoktrinieren, sondern vielmehr ihre moralische Kompetenz insgesamt fördern muss. An anderer Stelle heißt es bei Lind: „Die theoretischen Grundlagen bilden die Zwei-Aspekte-Theorie des moralischen Verhaltens und die Bildungstheorie der Moralentwicklung.“25 Dazu kommen vier praktische Grundlagen für die KMDD26: 1. Das Prinzip der „Gleichwürdigkeit“ aller an der Diskussion Beteiligten; 2. Das Prinzip des Lernens als „Konstruktion“; Fritz Oser, Moralisches Urteil in Gruppen – Soziales Handeln – Verteilungsgerechtigkeit: Stufen der interaktiven Entwicklung und ihre erzieherische Stimulation, Frankfurt: Suhrkamp, 1981; Fritz Oser, Maria Spychiger: Lernen ist schmerzhaft: Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur, Weinheim: Beltz, 2005; Roland Reichenbach, Fritz Oser (Hg.): Die Psychologisierung der Pädagogik: Übel, Notwendigkeit oder Fehldiagnose, Weinheim: Juventa, 2002; über Oser: Schimmel: Theorie. 21 Hemmerling, Scharlipp, Lind: Methode, 304. 22 Ebd., 305. 23 Georg Lind: Ist Moral lehrbar?, 11-12, 65. 24 Ebd., 11. 25 Lind: Förderung, 285. 26 Ebd., 292-294; ähnlich, aber ohne den 4. Punkt, in Lind: Moral ist lehrbar, 12-155. 20 132 3. Das Prinzip der “Affektregulation”: Moralische Affekte sind die Basis jedes moralischen Verhaltens, oft aber auch ein Hindernis für gewaltfreie, vernünftige Lösungen; 4. Das Prinzip der selbstbestimmten Kursevaluation – ständige Kontrolle der Methode. Überprüft Fast die gesamte zahlreiche Literatur zur KMDD stammt entweder von Lind selbst – beginnend mit seiner Dissertation von 198527 – oder er ist Mitautor bzw. Mitinitiator. Die Bücher und Aufsätze überschneiden sich inhaltlich sehr stark, textmäßig relativ stark. Es gibt leider kaum unabhängige Literatur über die KMDD.28 Lind zitiert vor allem Studien, an denen er beteiligt war oder die er mit initiiert hat, die allerdings seit Anfang der 1980er Jahre auch eine beeindruckende Zahl und Themenbreite umfassen. Immer verweist Lind darauf: „Die KMDD ist eine der wenigen Unterrichtsmethoden, die experimentell überprüft wurden und von der wir wissen (und nicht nur vermuten), dass sie sehr wirksam ist ...“29 Getrübt wird die Begeisterung dadurch, dass viele der Überprüfungen mit dem ebenfalls von Lind und in enger Verbindung zur KMDD-Methode entwickelten Moralischen-Urteil-Test (MUT) durchgeführt werden, also manches, was bewiesen werden soll, bereits voraussetzen. Schaut man die von Lind selbst zusammengestellten und vorgetragenen Studien durch30, so sind sie durchaus beeindruckend, aber nur selten wirklich unabhängig erstellt. Dazu gehört vor allem eine thailändische Studie. Lind schreibt dazu: „Die hohe Effektivität der Konstanzer Methode wurde inzwischen in einem sorgfältig angelegten Interventions-Experiment mit Hochschulstudenten in Thailand bestätigt, bei der die Teilnehmer nach Zufall auf die Experimental- und die Kontrollgruppe aufgeteilt wurden (Lerkiatbundit et al., 2006).“31 27 Georg Lind: Inhalt und Struktur des moralischen Urteilens: Theoretische, methodologische und empirische Untersuchung zur Urteils- und Demokratiekompetenz bei Studierenden, Diss. Universität Konstanz, 1984. neu gesetzte Online-Neuauflage, 2000. http://www.uni-konstanz.de/psychologie/ag-moral/pdf/Lind-1985_Inhalt-und-Struktur.pdf. 28 Unveröffentlicht ist Ingo Wetter: Die Frage der Messbarkeit moralischer Urteilsfähigkeit: Die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion, Vortrag an der Akademie für Information und Kommunikation der Bundesweher in Strausberg am 26.9.2006 (unveröffentlichtes Manuskript), das ich mit freundlicher Genehmigung des Verfassers verwende. 29 Lind: Moral ist lehrbar, 155 (im Anhang zur 2. Auflage, mit Belegen), auch unter http://www.unikonstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm. 30 In Grafiken zusammengestellt in Georg Lind: How Effective is the Konstanz Method of Dilemma Diskussion (KMDD)?. Powerpoint-Präsentation mit Grafiken ca. 2010. http://www.comitenorte.org.mx/ciudadania/docs/taller3/6_kmdd_effectsize.pdf. 31 Lind: Moral ist lehrbar, 155 (im Anhang zur 2. Auflage, mit Belegen), auch unter http://www.uni- 133 Bildung Lind stellt fest: „Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Befundlage eindeutig ist: Umfang und Qualität der Allgemeinbildung zeigen den stärksten Zusammenhang mit dem Niveau der moralischen Urteilsfähigkeit. Das gilt unabhängig von der Untersuchungsmethode.“32 Lind fragt dann aber, warum Menschen mit viel Bildung oft moralisch überfordert oder gar kriminell sind. Erstens, so Lind, seien moralische Anforderungen und Versuchungen bei gebildeten Menschen größer, was sie oft mit komplexeren moralischen Problemen konfrontiert. Zweitens sieht Lind einen Unterschied aufgrund der Qualität der Bildung. Er schreibt: „Natürlich fördert auch Bildung generell die moralisch-demokratischen Fähigkeiten ..., wenn auch meist im geringeren Maße als dies mit Methoden wie der KMDD möglich ist. Neue Studien zeigen aber, dass nicht jede Art von Bildung förderlich ist, sondern nur qualitativ hochwertige Bildung dazu in der Lage ist. Ein guter Indikator für die Qualität von Bildung sind die Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion, die sie den Lernenden bietet ...“ 33 Wenn auch Allgemeinbildung „die moralisch-demokratischen Fähigkeiten“ fördert, so gilt dies doch eigentlich nur für „eine qualitativ hochwertige Bildung, zu der vor allem die kontinuierlichen und balancierten Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion“ gehören.34 2. Zur Beurteilung, vor allem aus säkularer Sicht Nicht nur, sondern auch Eine Kernaussage Linds lautet: „Ein reifes moralisch-demokratisches Verhalten hängt nicht nur von den moralischen Idealen und Vorsätzen einer Person ab, sondern auch oder vor allem von ihrer Fähigkeit, diese Ideale im Alltag konsistent und differenziert anzuwenden.“ 35 Dieser Aussage kann man nur voll und ganz zustimmen. Das für mich zentrale Problem bei der KMDD ist allerdings, dass oft aus dem „nicht nur ... sondern auch“ (also Werte/Ideale einerseits und deren Anwendung andererseits) zunächst ein „vor allem“ (Anwendung) und schließlich ein ‚nur‘ wird, insofern es konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm, zu Sanguan Lerkiatbundit u. a. Impact of the Konstanz method of dilemma discussion on moral judgment in allied health students: a randomized controlled study. Journal of allied Health 35 (2006): 101-108 (bei Lind falsch zitiert). 32 Lind: Moral ist lehrbar, 121-122. 33 Lind: Förderung, 295. 34 Alles ebd., 295. 35 Lind: Moral ist lehrbar, 18. 134 eigentlich gar keine Rolle mehr spielt, welche Werte angewandt werden beziehungsweise der Gedanke fehlt, dass es grundsätzliche und unantastbare Werte und dass es Unwerte gibt. (Darauf, dass Lind in Form der Demokratie und ihrer Werte – etwa der privaten Gewaltlosigkeit – doch stark Werte voraussetzt, wird unten näher eingegangen.) Man könnte es auch anders formulieren – und hier spricht natürlich der Ethiker in mir: Bei aller Wichtigkeit, die ein Psychologe dem psychologischen Prozess der ethischen Entscheidungsbildung einräumt und von der zu lernen ist, droht die Gefahr, dass Ethik ein rein psychologischer Prozess wird, der mit juristisch, philosophisch oder theologisch begründbaren und herleitbaren Inhalten immer weniger zu tun hat. So heißt es dann: Das zentrale Problem Heranwachsender ist „der Mangel an Fähigkeit ... moralische Werte und Prinzipien im Alltag richtig anzuwenden“36. Richtig ist, dass es hier um ein großes Problem geht und die KMDD eine gute Übungsmethode darstellt. Aber das ‚zentrale‘ Problem der Heranwachsenden heute ist nicht nur, dass ihnen die Fähigkeit zur Anwendung fehlt, sondern dass sie oft gar keine bewussten und gesicherten Werte mehr zum Anwenden haben. Nun führt dann sicher die fehlende Anwendungsübung dazu, auch keine Werte mehr an- und ernstzunehmen. Und die Anwendungsübung hilft oft, den Jugendlichen ihr Manko bewusst zu machen oder verschüttete Werte neu zu entdecken oder sich erstmals überhaupt für bestimmte Werte zu interessieren und zu entscheiden. Aber wer Jugendliche zu moralisch urteilenden Bürgern in einer Demokratie erziehen will, braucht beides: Das Erklären und Herleiten von Werten und Unwerten, das Schmackhaftmachen von Werten in Gespräch und Diskussion, und dann auch das Einüben ihrer Anwendung. „Lind kritisiert, dass er die Erfahrung gemacht hat, dass viele Kinder und Jugendliche in ihrem Leben noch nie mit irgend jemandem über ihre Probleme gesprochen haben. Die Eltern geben auf Nachfrage an, mit den Gesprächswünschen der Kinder überfordert zu sein.“37 Das ist natürlich von Lind richtig beobachtet, aber auch hier geht es nicht nur (natürlich auch!) darum, dass die Eltern die Entscheidungswege nicht vermitteln oder diskutieren, sondern dass sie oft selbst nur ein schwimmendes Wertefundament haben, sich nicht trauen, ihre Werte als ‚besser‘ darzulegen oder vorhandene, vergleichsweise stabile Werte, nicht als Vorbilder vorleben. Miteinander moralische Fälle zu diskutieren, fehlt allerorten, vor allem aber auch im Elternhaus. Auch im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen sollten 36 37 Ebd., 18-19. Wetter: Messbarkeit. 135 sowohl 1. fiktive Situationen, als auch 2. reale Fälle in der Umwelt, von denen man selbst nicht betroffen ist, und 3. solche aus dem eigenen Leben diskutiert werden. Solche Diskussionen sind wichtig, damit die Kinder und Jugendliche ihren eigenen Wertekanon entwickeln und/oder den der Eltern aus eigener Anschauung und Überzeugung annehmen und auf ihre Weise umsetzen. Und solche Diskussionen können auch dann weiter hilfreich sein, wenn sich der Wertekanon der Eltern und der der Kinder auseinandergelebt haben. Ob das aber wirklich alles ist? Müssen Eltern nicht auch einen Wertekanon besitzen, erklären, herleiten, verteidigen, vorleben, aber auch im Gespräch deutlich machen, wie schwer es manchmal sein kann, ihn umzusetzen?38 Im Übrigen: Man kann auch viel Moral anwenden und einüben und weil es die falsche Moral ist, trotzdem Schaden anrichten. Um es überspitzt zu formulieren: Ein Einüben von Dilemmasituationen hätte unter SS-Angehörigen im KZ wohl kaum etwas geändert, da ein Unrechtbewusstsein weitgehend fehlte, zumal natürlich eine eigenständige Meinung bei der SS sowieso nicht vorgesehen war. Auch im Dritten Reich wurde ja viel moralisiert und moralisch ‚angewandt‘39, von den Herrschenden ebenso wie von ihren Gegnern, etwa in den USA. Wer ‚recht‘ hatte, konnte man nicht an der Menge des Moralisierens erkennen. Natürlich ist das genau das Gegenteil von dem, was Lind erreichen möchte, wie seine Parteinahme für Demokratie und Gewaltlosigkeit immer wieder deutlich machen. Aber kann man wirklich Moral erlernen, wenn man an der Diskussion über die Inhalte der Moral, wie sie Philosophie und Theologie seit Jahrhunderten führen, weitgehend vorbei geht, zumindest in der Methodenund der Zielvorgabe? Wählen wir als Beispiel direkt die Gewaltlosigkeit. Gilt sie grenzenlos? Gibt es nicht eine Ethik der Gewalt, die etwa für das Gewaltmonopol des Staates zum Schutze aller tragend ist? Kann Gewaltlosigkeit nicht auch in bestimmten Situationen unmoralisch sein?40 Müßte es nicht gerade auch Thema der Dilemmadiskussionen sein, in welchen Situationen Gewaltlosigkeit, ja sogar demokratische Abstimmungsverfahren, anderen Menschen schaden? Und kann man in Dilemmadiskussionen Gewaltlosigkeit vorgeben, wenn man diskutiert, wie man auf Gewalt reagieren soll, die einem ungefragt entgegentritt? 38 Vgl. Thomas Schirrmacher: Moderne Väter, Holzgerlingen: Hänssler, 2007. Siehe Thomas Schirrmacher: Hitlers Kriegsreligion, Bonn: VKW, 2007, Bd. 1. 40 S. dazu Edwin R. Micewski. Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit: Zur Begründung der Gewaltproblematik im Kontext philosophischer Ethik und politischer Philosophie. Studien zur Verteidigungspädagogik, Militärwissenschaft und Sicherheitspolitik 4. Frankfurt: Peter Lang, 1998 und Edwin R. Micewski. „Ethics and Politics“. S. 1-17 in: ders. u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001. 39 136 Noch ein Beispiel für die Gefahr, dass aus dem sowohl/als auch ein ‚nur‘ wird. Lind schreibt: „Der Wunsch, moralisch zu handeln, setzt also mehr voraus als moralische Ideale und Werte. Er setzt auch Fähigkeiten voraus, diese Ideale in konkreten Situationen konsistent und differenziert anzuwenden, also auch, selbst darüber nachzudenken, wie ein Dilemma gelöst werden kann, und mit anderen über die Lösung zu beraten und zu streiten. Wir nennen diese Fähigkeiten moralischdemokratische Fähigkeiten.“41 Ja, diese Fähigkeiten sind unverzichtbar, aber sie sind eben doch nur das „mehr ... als moralische Ideale“, setzen also weiterhin bestimmte moralische Ideale voraus! Die KMDD setzt doch einen Wertekanon voraus Meines Erachtens setzt die KMDD trotz aller Beteuerungen, sie setze keine bestimmte Moral voraus und sei nicht an bestimmten fixen moralischen Werten interessiert, vor allem die in einer westlichen demokratischen Gesellschaft bei fast allen intuitiv vorhandene Mischung von jüdisch-christlichen mit aufklärerisch-humanistischen Werten voraus, wie sie für viele Länder typisch ist, wenn auch nicht für alle. Funktioniert die KMDD auch bei einer Gruppe von Selbstmordattentätern, deren Werte vom Islamismus bestimmt sind? Oder führt hier die Dilemmadiskussion nicht dazu, Verbrechern zu helfen, bessere Verbrecher zu werden? (Ich lasse mich aber gerne durch weitere Studien eines Besseren belehren.) Oder anders gesagt: Die KMDD setzt viel mehr ethische Inhalte und Ideale voraus, als sie offiziell zugibt. Ihr Erfolg ist nicht nur der Methode geschuldet, sondern auch, weil sie von Lind und anderen genutzt wird, um eine friedliche, demokratische, an Menschenwürde und Recht orientierte Gesellschaft zu propagieren. Denn Lind geht es darum, die „Fähigkeit, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten durch Abwägen und vernünftigen Diskurs mit anderen zu lösen statt durch Gewalt und Machtausübung“42. Das wird etwa deutlich, wenn Lind schreibt: „Moral, Demokratie und Erziehung sind eng miteinander verbunden. Moderne Demokratien gründen auf der Vorstellung, dass das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft nicht von Königen oder Tyrannen geregelt wird, sondern von den Menschen selbst auf der Basis von moralischen Prinzipien, denen sich alle verpflichtet wissen. Demokratie ist im Kern eine moralische Institution. Umgekehrt ist die moderne Moral demokratisch. Sie ist kein willfähriges Instrument in der Hand einer herrschenden Klasse, wie dies noch in Begriffen 41 42 http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm. Hemmerling, Scharlipp, Lind: Methode, 303. 137 wie Sexualmoral, moralische Mehrheit und Doppelmoral herausklingt. Vielmehr stellen moralische Prinzipien die von allen akzeptierbare Grundlage für die Möglichkeit von gewaltfreien, verständigungsorientierten und gerechten Konfliktlösungen dar.“43 Demokratie beruht für Lind „auf moralischen Prinzipien und Verfahren, wie Konflikte zu regeln und zu entscheiden sind“44. Nun sind dies dann ja meines Erachtens genauso moralische Inhalte wie eine bestimmte Sicht von Familie oder Wirtschaft. Zudem geht es etwa im Grundgesetz gerade nicht nur um Prinzipien und Verfahren, sondern um konkrete Inhalte und Ideale, deren Schutz diese Prinzipien und Verfahren dienen, die somit kein Selbstzweck sind. Es sind die sog. ‚Ewigkeitswerte‘ des Grundgesetzes, also die selbst vom Parlament nicht änderbaren Abschnitte zur Menschenwürde und zu zentralen Menschenrechten, die das Verfahren ‚Demokratie‘ verteidigen soll und – gemäß historischer Erfahrung – auch am besten verteidigen kann. Demokratie ist kein Wert in sich, sondern der beste Weg, grundlegende Werte zu schützen, wie etwa den Minderheitenschutz, der mathematisch dem Mehrheitsprinzip widerspricht, aber eben wertemäßig über dem Mehrheitsprinzip steht.45 Bei Linds Werten finden sich nur ‚moralische Prinzipien und Verfahren‘ wie etwa „Achtung vor der Würde des Menschen, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit sowie die Freiheit der Meinung und der politischen Verantwortung u. a. m.“46 Nur: Ist das nicht bereits eine vorgegebene Moral? Soziale Gerechtigkeit ist doch kein reines Prinzip oder Verfahren, sondern zuerst ein eindeutiger Wert! Und ist nicht auch das Ziel, eigenständig von innen heraus für das Gute zu entscheiden und einzutreten, auch bereits ein Wertekanon in sich, den längst nicht alle Kulturen und Weltanschauungen teilen? Und warum soll man gerade diese Prinzipien und nicht andere, ja ihnen entgegengesetzte, vorgeben? Wo kommen sie her und wie werden sie begründet? Und: Wieso stehen sie nicht auch zur Diskussion und zur Disposition? Ja sind die Prinzipien und Verfahren nicht selbst Werte und werden damit bestimmte (und begrüßenswerte!) Werte fix vorgegeben. Warum wird nicht diskutiert, warum andere Werte nicht ebenso wert wären, vorab genannt oder eingebaut zu werden? 43 Lind: Moral ist lehrbar, 31 (mit Verweisen auf Bücher von Habermas und Kohlberg). www.uni-konstanz.de/ag_moral/moral/dildisk-d.htm. 45 Vgl. ausführlicher Thomas Schirrmacher, Ethik, Bd. 6, Hamburg: RVB, 20115. S. 56-172; Thomas Schirrmacher. Demokratie und christliche Ethik. Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu Das Parlament) 14/2009 (30.3.2009): 21-26, auch unter http://www1.bpb.de/publikationen/N6VK9L,0,Demokratie_und_christliche_Ethik.html; Christianity and Democracy. International Journal for Religious Freedom 2 (2009) 2: 73-86. 46 Lind: Moral ist lehrbar, 42. 44 138 Wählen wir ein Beispiel: Lind beruft sich auf Immanuel Kant, nachdem die Moralität einer Handlung nicht existiert, wenn sie ‚zufällig‘ mit göttlichen Geboten übereinstimmt, sondern nur, wenn sie aus guten Motiven entspringt.47 Das hat sicher eine gewisse Berechtigung, aber ist 1. für sich natürlich ein eigenes Wertesystem, das erst einmal diskutiert werden müsste, und 2. eine nur auf den Einzelnen bezogene Aussage, da aus der Sicht des Anderen die gute Handlung aus ‚schlechten‘ Motiven (er schlägt mich nicht, weil er Angst vor einer Strafe hat) besser ist, als eine schlechte Handlung aus ‚guten‘ Motiven (er schlägt mich, weil er meint, damit der Gerechtigkeit zu dienen oder einen erzieherischen Erfolg erzielen zu können). Kein fixer Wertekanon, aber Demokratie? Nun sagt Lind zwar, dass es in einer Demokratie keinen fixen Wertekanon geben könne und die KMDD nur wünsche, dass jeder seine Werte in den Diskurs mit einbringt. Und tatsächlich ist es begrüßenswert, dass die KMDD immer wieder betont, jeder Teilnehmer solle nur das vertreten, was seiner Auffassung entspricht. In guter 68er Tradition lernten wir in der Schule noch diskutieren, indem zwei Gruppen durch Abzählen gebildet wurden und man so leicht etwas verteidigen lernen sollte, was der eigenen Auffassung widersprach. „Der enge Zusammenhang von Moral, Bildung und Demokratie ...“48 ist für Lind vorgegeben: „Das Kernziel der KMDD ist es also, die moralischen Grundprinzipien der Demokratie im alltäglichen Leben (also auch im Lernprozess!) anzuwenden und dadurch die Lernenden zur Anwendung der eigenen moralischen Prinzipien motivieren und ihnen konkrete Verhaltensweisen zur Übung und Nachahmung anzubieten.“ 49 Ist das aber nicht ein klarer Wertekanon, der etwa von vielen muslimischen Führern gerade andersherum gesehen wird? Lind wird hier sehr deutlich: „Demokratie ist eine sehr anspruchsvolle moralische Idee darüber, wie Menschen ihr Zusammenleben regeln und gestalten sollen. In der Demokratie beruht die Macht nicht auf Personen (wie der König im Königreich und der Tyrann in der Diktatur), sondern auf moralischen Prinzipien und Verfahren, wie Konflikte zu regeln und zu entscheiden sind. Bestimmte Menschen (Politiker, Richter etc.) erhalten den Auftrag, sich in besonderer Weise um die Einhaltung und Interpretation dieser Prinzipien zu kümmern, aber diese Menschen müssen dafür durch direkte oder indirekte Wahl legitimiert sein. Sie können sich diese Macht nicht selbst aneignen oder von einer religiösen Instanz übertragen lassen. Recht und Ordnung in einer 47 48 49 Ebd., 34. Lind: Ist Moral lehrbar?, 265. http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm. 139 Demokratie werden auf der Grundlage universeller moralischer Prinzipien durch einen freien Diskurs aller Mitglieder einer Gesellschaft bestimmt und beruhen nicht auf Willkürentscheidungen eines Machtträgers. Konflikte werden nicht durch Macht und Gewalt, sondern durch demokratisch bestimmte Gesetze und durch den Diskurs freier Bürger zu lösen versucht.“50 Am deutlichsten wird das, wenn Lind unter Berufung auf die sechste und höchste Stufe der Moralentwicklung bei Kohlberg und internationale Studien mit seinem Moralisches-Urteil-Test, darauf verweist, dass ein weltweiter Konsens herrscht, dass sich Dilemmadiskussionen „an universalistischen Moralprinzipien orientieren“51 sollten. Indoktrination Wie Kohlberg siedelt Lind seine Methode zwischen moralischem Relativismus und moralischer Indoktrination an. Kohlberg hat aber einfach jede Vermittlung von Moral, in der ein Ergebnis von vorneherein für gut gehalten wurde, zur Indoktrination erklärt. Lind diskutiert das nirgends direkt, aber die Argumentation scheint bei ihm auf dasselbe hinauszulaufen. Hier müsste nun eine grundsätzliche Auseinandersetzung erfolgen, da es sich um eine Kernfrage der Moralpsychologie handelt, die Lind außer acht lässt. Da Kinder bei der Übernahme der Sprache, Kultur und Werte ihrer Vorfahren und Umwelt bei aller selbstständigen Auseinandersetzung damit immer auch erhebliche Elemente einfach übernehmen oder variieren, ist die Frage auch eine zentrale Frage nach der Kulturvermittlung überhaupt. Muss jeder Menschen jeden Wert gewissermaßen von Null her neu erfinden oder ist es zulässig, wenn er Werte übernimmt und allmählich zu seiner eigenen Sache macht? „Indoktrination“ ist bei Kohlberg, wenn der Inhalt der Moralerziehung und ihre Methode von der Absicht des Lehrers bestimmt sind.52 Ich behaupte, dass Kohlberg und Lind im Sinne ihrer eigenen Definition Indoktrination betreiben, denn die Werte und Ziele, die sie erreichen wollen, sind ja vorgegeben. Der Weg zur universellen Gerechtigkeit und Demokratie ist bei Lind ein subtiler, in einer pluralistischen Gesellschaft auch gangbarer und sinnvoller, aber es bleibt eine pädagogische Methode mit einem Ziel, dass nicht die beteiligten Kinder und Jugendlichen vorgeben, sondern die Pädagogen. (Diese pädagogsiche Methode wird ja sogar den KMDD 50 Ebd. Lind: Förderung, 289. 52 So in Lawrence Kohlberg: Stages of Moral Development as a Basis for Moral Education. S. 1598 in: Brenda Munsey (Hg.): Moral Development, Moral Education, and Kohlberg: Basic Issues in Philosophy, Psychology, Religion, and Education, Birmingham (AL): Religious Education Press, 1980. S. 27. 51 140 Lehrenden vorgegeben, die nur dann die KMDD unterrichten dürfen, wenn sie bestimmte Kurse belegt und die Methode übernommen haben.) Indoktrination bei Kohlberg scheint automatisch stattgefunden zu haben, wenn ein Kind moralische Werte und Entscheidungen übernimmt, die seine Erzieher teilen und gelehrt haben. Da die moralischen Sichtweisen in dieser Welt aber nicht Legion sind, endet fast jeder von uns bei Einstellungen und Entscheidungen, die andere vor ihm gehabt haben. Indoktrination liegt aber meines Erachtens nicht vor, wenn ich moralische Einstellungen und Positionen gelehrt bekomme, dann in Auseinandersetzung mit anderen Positionen diskutiere, raffiniere, in der Praxis teste und schließlich zu meiner aus mir selbst heraus gewollten Position mache. Das genau ist etwa die christliche Sicht.53 Paulus will etwa, dass wir den göttlichen Geboten (etwa den Zehn Geboten) nicht als Sklaven folgen, ja noch nicht einmal als Kinder, sondern als reife Erben aus eigenen Stücken (z. B. Gal 4,1-7). Von Jesus wird gesagt, er habe immer seinem Vater gehorcht, aber immer aus völlig freien Stücken gehandelt (Joh 10,11+17-18; Phil 2,8; Hebr 9,14). Dass ist das christliche Idealbild: Die reife Persönlichkeit, die das in Gott verkörperte Gute und Gerechte tut, nicht weil sie muss, sondern weil sie aus tiefer eigener Überzeugung will, nicht, weil sie Angst vor Strafe hat, sondern weil sie es an sich für das Beste für alle hält (z. B. Röm 13,5). Exkurs: Stufen der moralischen Entwicklung nach Kohlberg „Die Kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteils von Lawrence Kohlberg54 basiert unter anderem auf John Rawls moralphilosophischer Gerechtigkeitstheorie55 und stellt eine Weiterentwicklung von Jean Piagets Theorie der Moralentwicklung dar. Konzeptionell baut Kohlbergs Theorie auf Jean Piagets Entwicklungsmodell der kognitiven Entwicklung auf.56 Lawrence Kohlbergs Theorie der Entwicklung des Moralbewusstseins beim Menschen beruht auf seiner Dissertation (1958), ihr folgte eine beinahe 30 Jahre laufende Längsschnittstudie. 53 Die beste Darstellung zur Indoktrination ist: Elmer John Thiessen: Teaching for Commitment: Liberal Education, Indoctrination and Christian Nurture, Montreal: McGill-Queen’s University Press, 1993. 54 Vgl. zu Kohlberg grundsätzlich Brenda Munsey (Hg.): Moral Development, Moral Education, and Kohlberg: Basic Issues in Philosophy, Psychology, Religion, and Education, Birmingham (AL): Religious Education Press, 1980; Detlef Garz: Sozialpsychologische Entwicklungstheorien: Von Mead, Piaget und Kohlberg bis zur Gegenwart, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwiss., 20063, bes. S. 88-115; Garz: Kohlberg. 55 Vgl. zu John Rawls Theorie der Gerechtigkeit Dwight Boyd: The Rawls Connection. S. 185-213 in: Brenda Munsey (Hg.): Moral Development, Moral Education, and Kohlberg: Basic Issues in Philosophy, Psychology, Religion, and Education, Birmingham (AL): Religious Education Press, 1980. 56 Zu Piaget vgl. Crain: Theories, 100-133 und Garz: Entwicklungstheorien. 141 Zeit seines Lebens hat Kohlberg an seiner Theorie der moralischen Urteilsentwicklung gearbeitet und sie beständig revidiert und erweitert. Die Theorie geht davon aus, dass sich das Moralbewusstsein beim Menschen stufenweise in immer derselben Reihenfolge entwickelt, wobei nicht alle Menschen die höheren Stufen des Moralbewusstseins erreichen.“ 57 Die Stufen Kohlbergs sind philosophisch von ihm vorgegeben und dann erst im Nachhinein empirisch belegt worden, allerdings auch nur bis zur 4. oder 5. Stufe. Das hat Kohlberg selbst immer wieder deutlich gesagt.58 Kohlberg wollte aus empirisch-psychologischen und anthropologischen Daten philosophische Aussagen herleiten und Philosophie benutzen, um solche Daten zu definieren und zu interpretieren.59 Kohlberg selbst gibt an, in 50 Kulturen Stufen 1 bis 4 gefunden zu haben, die 5. Stufe aber nur im städtischen Umfeld.60 Die tatsächlich nachvollziehbaren Studien beziehen sich auf weniger Kulturen.61 Hauptbeleg dafür, dass die 5. und 6. Stufe kein Produkt westlicher Ideologien ist, waren für Kohlberg Kibbuze in Israel.62 Das ist wenig überzeugend, denn die Grundideen der Kibbuze wurden schon in Europa und von europäischen Einwanderern nach Israel entwickelt. Ulf Peltzer hat die neun moralphilosophischen Grundannahmen Kohlbergs kurz zusammengestellt63 und im Detail diskutiert und widerlegt.64 Mir geht es dabei nicht um diese Details, sondern darum, dass wir keine rein empirische Wissenschaft vor uns haben, sondern eine philosophisch-weltanschauliche Vorgabe, die dann im Rahmen eng begrenzter Vorgaben empirische Bestätigung findet. 57 http://www.d-stift.de/_Stufentheorie_des_moralischen_Verhaltens_8927,de (1.4.2011). Vgl. Lawrence Kohlberg: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1974; Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1996; Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Lebensspanne, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 2007. Eine gute Darstellung der Stufen findet sich Schimmel, Theorie, 31-34. 58 Z. B. Lawrence Kohlberg: My Personal Search for Universal Morality. Moral Education Forum 11 (1986) 1: 4-10; Deutsch: Meine persönliche Suche nach universeller Moral. S. 21-30 in: Lisa Kuhmerker, Uwe Gielen, Richard L. Hayes (Hg.): Lawrence Kohlberg, München: Kindt, 1996; Lawrence Kohlberg: Stages of Moral Development as a Basis for Moral Education. S. 15-98 in: Brenda Munsey (Hg.): Moral Development, Moral Education, and Kohlberg: Basic Issues in Philosophy, Pyschology, Religion, and Education, Birmingham (AL): Religious Education Press, 1980, 56-62, siehe auch seine Definition von Gerechtigkeit 62-66. 59 Lisa Kuhmerker, Uwe Gielen, Richard L. Hayes (Hg.): Lawrence Kohlberg, München: Kindt, 1996. S. 11 (Hg.). 60 Kohlberg, Personal Search, S. 28. Vgl. zu Taiwan Kohlberg: Stages, 62-66. 61 Siehe Garz: Kohlberg, 94-100. 62 Dazu ebd., 99-100. 63 Ulf Peltzer: Lawrence Kohlbergs Theorie des moralischen Urteilens, Beiträge zur psychologischen Forschung 10, Köln: Westdeutscher Verlag, 1986, 32-33. 64 Ebd., 32-55. 142 Lawrence Kohlbergs sechs Stufen der moralischen Entwicklung65 Niveau A: Präkonventionelles Niveau (die meisten Kinder unter 9 Jahren) Stufe 1: Die heteronome Stufe Gut ist der blinde Gehorsam gegenüber Vorschriften und gegenüber Autorität, Strafen zu vermeiden und kein körperliches Leid zu erdulden „Macht ist Recht!“ (eine den Nazis zugeschriebene Parole) Stufe 2: Die Stufe des Individualismus, des Zweck-Mittel-Denkens und des Austauschs Gut ist es, eigenen oder anderen Bedürfnissen zu dienen und im Sinne des konkreten Austauschs fair miteinander umzugehen. „Eine Hand wäscht die andere!“ (Volksweisheit) Niveau B: Konventionelles Niveau (die meisten Jugendlichen und Erwachsenen) Stufe 3: Die Stufe gegenseitiger interpersoneller Erwartungen, Beziehungen und interpersoneller Konformität Gut ist es, eine gute (nette) Rolle zu spielen, sich um andere zu kümmern, sich Partnern gegenüber loyal und zuverlässig zu verhalten und bereit zu sein, Regeln einzuhalten und Erwartungen gerecht zu werden. „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu!“ (Die Goldene Regel; vgl. Lukas-Evangelium 6,31) Stufe 4: Die Stufe des sozialen Systems und des verlorenen Gewissens Gut ist es, seine Pflichten in der Gesellschaft zu erfüllen, die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten und für die Wohlfahrt der Gesellschaft Sorge zu tragen. „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ (aus der Bekanntmachung, die am 17. 10. 1805 nach der Schlacht bei Jena an die Straßenecken Berlins angeschlagen wurde) Niveau C: Postkonventionelles Niveau (einige Erwachsene über 20 Jahre) Stufe 5: Die Stufe des Sozialvertrages oder des Nutzens für alle und der Rechte des Individuums Gut ist es, die Grundrechte zu unterstützen sowie die grundsätzlichen Werte und Verträge einer Gesellschaft, auch wenn sie mit den konkreten Regeln und Gesetzen eines gesellschaftlichen Subsystems kollidieren. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ (Art. 14 II GG) Stufe 6: Die Stufe der universalen ethischen Prinzipien Gut ist es, ethische Prinzipien als maßgebend zu betrachten, denen die ganze Menschheit folgen sollte. „Handle nur nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz wird!“ (Kants Kategorischer Imperativ) Stufen der moralischen Entwicklung nach L. Kohlberg66 6 Orientierung an universal-ethischen Prinzipien „Universelle und solidarische Sichtweise“ Moralisch richtig ist es, ethische Prinzipien zu achten, denen die ganze Menschheit folgen sollte. 65 Nach Werner Stangel, Fernuniversität Hagen, unter http://www.stangl-taller.at/arbeitsblaetter/moralischeentwicklung/KohlbergTabelle.shtml, jeweils in der Reihenfolge: Stufe – Definition – exemplarische Maxime. Vgl. insgesamt die ausgezeichnete Seite der Fernuniversität Hagen, Kurs Einführung in die Psychologie, Abschnitt „Die moralische Entwicklung“: http://www.stangl-taller.at/arbeitsblaetter/moralischeentwicklung/. Bei Kohlberg selbst: Lawrence Kohlberg: Stages, 91-96. 66 Freiheit! (L(i)eben!?, Ausgabe April2010, www.sembbsrp.de/uploads/media/Freiheit_L_i_ebenApril_2010_01.pdf. 143 5 Orientierung am Sozialvertrag „Wir alle, auch ich“ Moralisch richtig ist es, alle Interessen abzuwägen und sich so zu entscheiden, dass man im Wohl der Allgemeinheit handelt. 4 Orientierung an Autorität und Sozialordnung „Ich, du und unsere Gruppe im sozialen Verbund“ Moralisch richtig ist es, wenn Juttas Recht auf Privatsphäre geschützt und die soziale Familienordnung aufrechterhalten wird. 3 Orientierung an Eintracht und Bezugsgruppe „Ich und du und unsere Gruppe“ Die Privatsphäre des Kindes wird von den Eltern in den Blick genommen. Jedoch ist es moralisch gerechtfertigt, wenn sie sich um ihr Kind kümmern und zuverlässig ihren Pflichten als Erziehungsberechtigte nachkommen. 2 Orientierung an Zweck und Austausch (Nutzen) „Ich und der andere“ Moralisch richtig ist es, die Bedürfnisse des Kindes in den Blick zu nehmen und als Eltern ihrer Sorge gerechterweise nachzukommen. 1 Orientierung an Strafe und Gehorsam „Ich“ Als Erziehungsberechtigte haben die Eltern moralisch richtig gehandelt. Zur sechsten Stufe Lind behält im Prinzip die Stufen der moralischen Entwicklung Kohlbergs bei, auch wenn er anders als Kohlberg ein Vor und Zurück für möglich hält und die pädagogischen Mittel zum Aufstieg anders justiert. Dies wird vor allem daran deutlich, dass die 6. Stufe der Entwicklung, wenn auch fast immer unerreicht, trotzdem die zu erfüllende, ideale Vorgabe bleibt. Erstaunlicherweise fehlt bei Lind weitgehend die Diskussion um diese Stufen oder wenigstens ein Verweis auf die intensive literarische Diskussion dazu67. Insbesondere fehlt eine Diskussion über die philosophischen Grundlagen der Stufen. So schreibt Joachim Detjen: „Denn die Präskriptivität erhält die Theorie weniger dadurch, dass die jeweils nächste Entwicklungsstufe als besser zu bezeichnen ist, weil sie eine höhere kognitive Leistung ausdrückt, als vielmehr durch die analogisierende Parallelisierung der Entwicklung mit einer stufenweisen Annäherung an das, was die philosophische Ethik gebietet. Jede Diagnose einer Entwicklungsstufe unterhalb der sechsten drückt zumindest implizit eine negative Bewertung aus, denn sie 67 Vgl. als ein älteres und ein jüngeres Beispiel unter der nicht zu übersehenden Literatur zu Kohlberg: Fritz Oser, Reinhard Franke, Otfried Höffe (Hg.): Transformation und Entwicklung: Grundlagen der Moralerziehung; Frankfurt: Suhrkamp, 1986; Ulf Peltzer: Lawrence Kohlbergs Theorie des moralischen Urteilens, Beiträge zur psychologischen Forschung 10. Köln: Westdeutscher Verlag, 1986; Garz, Entwicklungstheorien, 168-176. 144 verweist auf einen moralphilosophisch defizitären Status des vorgefundenen Reflexionsniveaus ...“ 68 „Die Moralstufen 5 und 6 sind philosophische Konstrukte, und zwar stellen sie eine Rezeption von Moralphilosophien dar, die im europäisch-amerikanischen Kontext als modern gelten und im Diskurs westlicher Philosophen allgemein anerkannt sind. Man könnte zugespitzt formulieren, dass sie dem Ideengut des Rationalismus und Individualismus entspringen sowie politisch am Liberalismus orientiert sind, und Kohlberg folglich entgegenhalten, dass er für bestimmte Ideale wirbt, die kulturkreisgebunden und nicht, wie die Theorie behauptet, universell sind.“69 Auch William Crain hat nachgewiesen, dass Stufe 6 empirisch kaum von Stufe 5 zu unterscheiden ist, sondern eine philosophische Vorgabe im Gefolge von Kant und Rawls darstellt, wie es sein sollte.70 Dazu nochmals Joachim Detjen: „Kohlbergs philosophische Autoritäten für die Stufe 6 sind vor allem Immanuel Kant, John Rawls und Kurt Baier. Entscheidend für diese Stufe ist, dass hier nach universalen, für alle Menschen (die Menschheit) gültigen Prinzipien geurteilt werden muss. Kulturell Relatives darf folglich keine Rolle spielen. Diese Ausschließung macht die erwähnten Philosophen aufgrund ihres auf Verallgemeinerung von Grundsätzen und Maximen zielenden sowie auf die Festlegung eines inhaltlich Guten weitgehend verzichtenden Denkens attraktiv. Kants Autonomieforderung und kategorischer Imperativ, Rawls’ Gerechtigkeit als Ergebnis einer fairen Entscheidung unter Ungewissheitsbedingungen und Baiers auf Unparteilichkeit setzender Standpunkt der Moral erfüllen Kohlbergs Anforderungen für ein Moralurteil auf der Stufe 6. ... Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Kohlberg sogar glaubt, hiermit den pädagogischen Königsweg entdeckt zu haben. Denn er hält seinem Erziehungsansatz zugute, den Gefahren anderer Werteerziehungskonzeptionen zu entgehen, die entweder beim Wertrelativismus bzw. einem moralischen Laissez-faire stehen bleiben oder eine Indoktrinierung der Schüler mit vorgefertigten Wertüberzeugungen und eine Erziehung zu einem, wie er sagt, willkürlichen 71 ‚Bündel von Tugenden‘ vornehmen.“ Genau dies gilt auch für Lind. Auch er hält seinen Weg für eine Art goldenen Mittelweg, der eine Festlegung auf konkrete Werte ebenso vermeidet, wie 68 Joachim Detjen. Werteerziehung im Politikunterricht mit Lawrence Kohlberg? Skeptische Anmerkungen zum Einsatz eines Klassikers der Moralpsychologie in der Politischen Bildung. S. 303335 in: Gotthard Breit, Siegfried Schiele (Hg.). Werte in der politischen Bildung. Schwalbach: Wochenschau-Verlag; Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2000, hier 307-308 Text unter http://www.lpb-bw.de/publikationen/did_reihe/band22/detjen.htm und in Freiheit! (L(i)eben!? Unsere Kultur der politischen Bildung, Ausgabe April2010, www.sembbsrp.de/uploads/media/Freiheit_L_i_eben-April_2010_01.pdf. S. 2-18. 69 Detjen: Werteerziehung, 308. 70 William Crain: Theories of Development. Englewood Cliffs (NJ): Prentice Hall, 19923. S. 134153, bes. S. 140-144. 71 Detjen, Werteerziehung, 309 und 311. 145 einen Werterelativismus. Ingo Wetter hat gar das Gefühl, dass Lind meint, „einen allumfassenden Lösungsansatz für die Probleme der Menschheit gefunden“72 zu haben. Es ist aber sowohl die Frage, ob das dazugehörige philosophisch-weltanschauliche Fundament wirklich universale Gültigkeit beanspruchen kann und an sich schon ausreicht, um konkrete Wertesysteme wie das christliche, das kantische oder das alevitische an sich aus dem Rennen zu werfen, als auch die Frage, ob hier nicht einem Konstrukt nachgejagt wird, dass schon Kohlberg empirisch kaum feststellen konnte, noch andere je an konkreten Personen festgemacht haben. Ralf Gesellensetter schreibt dazu: „Es wurde bereits erwähnt, daß empirische Untersuchungen Vertreter der Stufe 6 in der Normalbevölkerung nicht nachweisen konnten. Auch der Utilitarismus ... verfolgt ein moralphilosophisches Ziel, das mit den durch Stufe 5 repräsentierten Merkmalen auskommt.“73 Gleichzeitig enthalten die Stufen der moralischen Entwicklung Kohlbergs und Linds – wenn auch durch Kant, Habermas und andere vermittelt – einen harten Kern christlich-abendländischer Auffassungen, indem Ethik überhaupt an einem Ideal festgemacht wird, das die völlig freiwillig das Gute tuende und dabei an das Wohl der gesamten Menschheit denkende Persönlichkeit als Ideal schlechthin setzt. Ersetzt man etwa bei Thomas von Aquin Gott durch ‚das Gute‘ – und immerhin hält er ja Gott für den Guten bzw. das Gute schlechthin –, erscheint bereits die Persönlichkeit, die das von Gott gegebene Gute eigenständig mit dem Verstand erkennt und freiwillig tut, nicht weil sie muss, sondern weil es gut ist. Typisch und wesentlich offensichtlicher als bei Kohlberg und Lind wird dies bei allen Autoren, die die sechste Stufe ausführlicher beschreiben oder begründen. Helga Scheibenpflug beschreibt etwa die sechste Stufe als das „Prinzip Liebe“, wenn auch von Kant und Viktor Frankl her definiert.74 Hier ist zwar Gott nicht mehr mit dem Urprinzip Liebe identisch, aber das Urprinzip wirkt wie eine göttliche Größe als letztes Ideal weiter, ohne dass es dafür eine empirische Begründung gibt. Fritz Oser hat sich kritisch mit der 6. Stufe auseinandergesetzt75 und sieht vor allem die letzten Stufen als eher philosophisch vorgegeben, denn als 72 Wetter: Messbarkeit, 4. Ralf Gesellensetter: Moralentwicklung. http://www.stangl-taller.at/arbeitsblaetter/moralischeentwicklung/Gesellensetter.shtml#f13. 74 Helga Scheibenpflug: Die höchste Stufe der Moral: Adäquate Beschreibung anhand des Stufenmodells der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg unter Weiterführung der Kritik der praktischen Vernunft Immanuel Kants, Kovač: Hamburg, 2007, 213-220. 75 Oser: Moralisches Urteil in Gruppen, 337-342. 73 146 bewiesen an. Sie sind Teil eines „Theoriesystems, das die Stufen durch philosophisch-logische Analysen der ethischen Urteile a priori konstruiert und erst anschließend durch Empirire verifiziert.“76 Am deutlichsten sieht er das in den Spekulationen Kohlbergs über eine 7. Stufe, eine Art pantheistischer Glaubensorientierung, in der universelle Prinzipien mit einer „ultimative meaning“ des Lebens verbunden werden.77 Oser schreibt: „Ich glaube nicht, daß Kohlberg mit dem Entwurf einer Stufe 7 die Lösung des Problems religiöser Implikationen im moralischen Urteil gelöst hat.“ 78 Oser sieht auch bei der Neubestimmung einer 7. Stufe bei Jürgen Habermas den Vorrang philosophischer Wünsche vor der Empirie.79 Nur anwenden, nicht ändern? Lind schreibt: „Die Förderung moralischer Urteils- und Diskursfähigkeit steht im Mittelpunkt der KMDD. Während andere Programme meist die Änderung moralischer Einstellungen, Werthaltungen und Denkweisen zum Gegenstand haben, geht es hier um Fähigkeiten im Bereich des moralisch-demokratischen Verhaltens.“80 Zum einen ist zu sagen, dass die meisten Programme nicht die Änderung und nicht die Anwendung, sondern rein die (theoretische) Vermittlung von Werten oder Anweisungen zum Inhalt haben. Die Änderung kommt nur insofern ins Spiel, als die Teilnehmer möglicherweise vorher andere Werte und Positionen vertraten, zielt aber am meisten auf solche Teilnehmer ab, die zu vielen Fragen keine wirkliche Meinung haben oder – zumindest offiziell – den gelehrten Wertekanon teilen oder eigentlich teilen müssten. Zum anderen unterschätzt Lind meines Erachtens das Potenzial der KMDD zur Änderung moralischer Einstellungen und Werte. Da viele Teilnehmer erstmals über die Konsequenzen ihrer Werte und Einstellungen nachdenken und viele Teilnehmer ihre Werte erstmals der Kritik anderer aussetzen, ändern sie sie oft auch bei dieser Gelegenheit. Das finde ich sehr positiv, nur wird dieser Effekt von der KMDD selbst kaum beschrieben oder begrüßt. Noch einmal: Das alles soll das Verdienst der KMDD nicht schmälern, darauf zu verweisen, dass das reine Kennen und Vertreten von Werten noch nicht dafür sorgt, dass man nach ihnen lebt und sie konkret anwenden kann. Ethik muss immer das Einüben von Diskussion mit sich selbst, mit anderen und mit der Gesellschaft beinhalten. 76 77 78 79 80 Ebd., 339. Ebd., 340. Ebd. Zu Habermas ebd., 342-344. www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm. 147 Lind verweist darauf, dass Experimente zeigen: Eine moralisch gute Entscheidung ist wahrscheinlicher, wenn man sich erstens auf Dilemma konzentriert und zweitens Zeit für den Diskurs hat.81 Das kann ich nur aus meiner Erfahrung bestätigen. Allerdings muss man einschränken: Erstens: Es gibt ja kaum andere Methoden der ethischen Ausbildung zum Vergleich. Zweitens setzt das ja doch voraus, dass man beurteilen kann, ob eine Entscheidung gut war oder nicht. Und drittens müssten die Experimente zur Frage ausgeweitet werden, ob die statistisch häufigere gute ethische Entscheidung auch zu einem besseren Handeln führt. Das ist natürlich unvergleichlich viel schwerer zu erforschen, wenn man sich nicht allein auf Selbsteinschätzungen der Betroffenen verlassen will und zudem wäre dazu ja auch der Vergleich zum bisherigen Leben und Verhalten der Betroffenen nötig. Aber nur die Realität ist am Ende moralisch aussagekräftig. Das Böse Warum führen moralische Ideale nicht direkt zu moralisch gutem Handeln, wie es Sokrates und Kant erhofften, fragt Lind immer wieder? Lind meint, weil moralisches Handeln durch Durchspielen möglicher Situation und durch Diskussion mit Andersdenkenden eingeübt werden muss. Ist das aber alles? War das nicht auch für Sokrates und Kant selbstverständlich, die doch so gerne diskutierten? Die Kategorie, die Lind meines Erachtens völlig außer Acht lässt, auch wenn sie seiner Aussage nicht entgegensteht, sondern sie komplementär ergänzt, ist die Frage nach dem ‚Bösen‘ beziehungsweise nach der Motivation zum Bösen. Warum lieben es manche Menschen, andere zu quälen, zu betrügen oder gar zu töten? Warum gibt es Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Rassismus oder Sklaverei? Wenn Menschen sich für etwas entscheiden, was anderen wirklich schadet, scheint die Ursache nach der KMDD immer in der fehlenden Diskursfähigkeit zu liegen oder darin, dass man in einer Minderheitensituation zu wenig Mut aufbringt, oder aber auch einfach zu träge ist. Dass Problem, dass der Mensch auch eine Motivation zum Bösen kennt, ja, dass die KMDD – wie alles in dieser Welt – in der Hand von bösen Menschen mit bösen Zielen ein Werkzeug sein könnte, um die Bosheit besser zu praktizieren, wird völlig ausgeblendet. Paulus beschreibt das Dilemma klassisch in Röm 7,18-19+21: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich 81 Lind: Moral ist lehrbar, 58. 148 will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. ... So finde ich nun das Gesetz, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt.“ Das ist nicht ein nur von Christen dargestelltes Problem, sondern beschäftigt die gesamte Philosophie- und Ethikgeschichte. Lind geht von der Annahme aus, dass kein Mensch grundsätzlich schlecht geboren wird. Moralische Grundvorstellungen beim Menschen befinden sich, unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialer Stellung, auf einem sehr ähnlichem Niveau. „Aber man muss Moral so früh wie möglich lernen. Nur über den ständigen begleiteten Lernprozess kann die Fähigkeit trainiert werden, moralische Idealvorstellungen im Alltag zu leben. Es gilt die Kluft zwischen theoretischen Vorstellungen und tatsächlichem Handeln zu überwinden.“82 3. Zur Beurteilung, vor allem aus christlicher Sicht Gemeinsamkeiten von KMDD und christlicher Ethik Fragen wir noch speziell nach dem Verhältnis der christlichen Ethik zur KMDD – das im Abschnitt 2.5. ja schon anklang, wissend, dass ihre Absicht weder eine Förderung noch eine Kritik der christlichen Ethik per se ist. Die KMDD greift zum einen zentrale Elemente der christlichen Ethik in ihrer Geschichte auf. Ja, ich möchte behaupten, dass sie nur in unserem ehemals christlichen Kulturkreis entstehen und zur vollen Entfaltung kommen konnte, was nicht bedeuten soll, sie sei nicht von jedem Menschen guten Willens nachvollziehbar. 1. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik der Gedanke, dass die Frage, wie ich wirklich entscheide und was ich wirklich tue viel wichtiger ist als die Frage, welche Werte ich theoretisch vertrete. Er geht zu Recht davon aus, dass die moralische Einstellung noch nichts darüber sage, wie man sich tatsächlich entscheidet und wie man sich tatsächlich verhält. Das aber lehrt bereits Paulus, etwa mehrfach im Römerbrief (Römer 2: Nicht die sind gerecht, die sich auf die Schrift berufen, sondern die sie tun; Römer 7: Ich will das Gute, tue es aber nicht), und erläutert Jesus mit dem Gleichnis der beiden Söhne: Der eine stimmte seinem Vater zu und tat dann nie, was der Vater wollte, der andere widersprach dem Vater, um dann aber später seine Meinung zu ändern und doch den Wunsch des Vaters zu erfüllen. Letzterer, so Jesus, hat trotz seines Widerspruchs am Ende besser gehandelt (Mt 21, 28-31). 82 Wetter: Messbarkeit, 1. 149 2. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik der Gedanke, dass Ethik eingeübt werden muss und nicht einfach darin besteht, bestimmte Werte am grünen Tisch zu kennen. Denn „die Vollkommenen“ sind nach Hebr 5,14 die, „die durch den Gebrauch geübte Sinne haben und deswegen Gutes und Böses unterscheiden können“ (ähnlich Eph 4,14). „Ethische Tugenden entstehen nicht von selbst. Sie sind vielmehr das Produkt von ständiger Übung und Gewohnheit.“83 3. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik die Bedeutung der inneren Motivation für unser moralisches Handeln und das Ziel, aus dem Gewissen heraus moralisch zu handeln und deswegen zu wissen, warum man so handelt anstatt einfach ‚gehorsam‘, angepasst und denkfaul zu sein (siehe Römer 12,1-2). Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass es ein moralisches Reifen des Kindes zum Jugendlichen und Erwachsenen gibt und das von einer reinen Übernahme von vorgegebenen Geboten hin zu einer eigenständigen, unabhängigen Entscheidung (Hebr 5,11-14; Eph 4,13-14) führt. Ein gutes Beispiel ist hier Paulus, der von Christen verlangt, dem Staat, wenn er das Böse straft und das Gute schützt, nicht aus Angst vor Strafe wie andere zu folgen (so unausweichlich der Staat ohne Strafe nicht bestehen kann), „sondern um des Gewissens willen“ (Römer 13,5). 4. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik, dass es weltweit akzeptierte universalistische Moralprinzipien gibt – siehe Linds Zitat oben. Ganz gleich, ob man eher an das katholische „Naturrecht“, das protestantische, aus der Bibel abgeleitete „Moralgesetz“ oder an grundsätzliche transzendentalphilosophischen Prinzipien nach Immanuel Kant denkt, für das christliche Abendland ist dieser Gedanke tragend und war die Voraussetzung für den Siegeszug des Menschenrechtsgedankens. Dabei wird vorausgesetzt, dass die offenbarte oder metaphysisch begründete Moral mit einer jedermann vernünftig zugänglichen und diskutierbaren Moral identisch ist.84 5. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik der Gedanke des Dilemmas, der in der Theologie jahrhundertelang unter dem Stichwort „Pflichtenkollision“ verhandelt wurde, den Lind so ausdrückt: „... wenn man in einem moralischen Dilemma feststeckt, das heißt, wenn die moralischen Prinzipien, denen man sich verpflichtet fühlt, einen in eine Zweckmühle bringen, in der man keine andere Möglichkeit hat, als zumindest eines der Prinzipien zu übertreten.“85 83 Christian Walther: Im Auftrag für Freiheit und Frieden: Versuch einer Ethik für Soldaten der Bundeswehr, Miles Verlag: Berlin, 2006. S. 77. 84 Allerdings darf ein solche universale Ethik nicht mit einer konkreten und kasuistisch-detaillierten Vorgabe wie der islamischen Scharia verwechselt werde, siehe Christine Schirrmacher: Die Scharia, Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2009. 85 www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm. 150 Thomas von Aquin und viele andere wussten, dass der Kern der Ethik die Fähigkeit ist, sich im Konfliktfall, der Pflichtenkollision, entscheiden zu können. Es ist Lind zu danken, das wieder in den Mittelpunkt gerückt zu haben. Am grünen Tisch entscheidet es sich immer einfach, weil man sich auf einen Unterschied, gewissermaßen den einen Schalter, konzentrieren kann. Es ist die komplizierte Realität, die die unerwarteten ethischen Zwickmühlen hervorbringt, wobei man vorab lernen kann, mit diesen zu rechnen und Lösungsmöglichkeiten durchzuspielen.86 6. Lind hat viele Interventionsstudien miteinander verglichen und kommt zu dem Ergebnis: Moralische Urteilsfähigkeit ist „sehr effektiv lehrbar“87. Die christliche Ethik gibt ihm hier prinzipiell recht, geht sie doch davon aus, dass Ethik grundsätzlich eine Frage der Lehre, der Erziehung, des Vorbildes und des Anwendens und Auslebens ist (z. B. Timotheus 3,14-17). Das ist das alttestamentliche Erziehungskonzept (verkörpert etwa im Buch der Sprüche), das insbesondere Paulus übernommen hat. Die Einschränkung, dass man den Hang zum Bösen nicht einfach durch Erziehung wegtherapieren kann, wurde bereits angesprochen, ändert aber nichts daran, dass ethische Entscheidungsfähigkeit nicht einfach aus dem Nichts entsteht. 7. Die christliche Ethik stimmt mit Lind überein, dass die Bildung in den westlichen Ländern sehr einseitig ist und nicht sichtbare Größen wie ethische Werte vernachlässigt. „Es ist aber vor allem die einseitige Förderung technischwirtschaftlicher Bildung, die unsere Gesellschaft instabil macht ...“88 Unterschiede von KMDD und christlicher Ethik Die KMDD weicht meines Erachtens hingegen von der Tradition der christlichen Ethik an sechs Punkten ab. Das Böse Zum einen ist es das Auslassen des Bösen als einer Macht, die uns auch dann zu unmoralischen Handlungen verleitet, wenn wir eigentlich den richtigen Weg kennen. Die KMDD folgt hier der klassischen Sicht der Aufklärung, dass die Probleme des Menschen in der fehlenden Aufklärung allein liegen und deswegen 86 Vgl. meine Darstellung der Pflichtenkollision in der Bibel und der Geschichte der christlichen Ethik in Thomas Schirrmacher: Ethik, Bd. 3, 60-76. 87 Lind: Moral ist lehrbar, 67. 88 Lind: Ist Moral lehrbar?, 261. 151 Bildung, Diskurs und vernünftige Entscheidung allein den Menschen aus seinem Unheil befreien können. Nichts von alledem will die christliche Ethik ausklammern, dennoch sieht sie es als erwiesen an, dass Menschen sich auch dann oft immer noch für das Böse entscheiden und es mehr als vernünftiger Argumente bedarf, um den Menschen von der Neigung oder gar Sucht zu befreien, sich und anderen zu schaden zuwollen. Schuld und Verantwortung Eng damit zusammen hängt, dass die KMDD die Frage der Verantwortung des eigenen Handelns nicht aufwirft und damit die Frage der Schuld unbeachtet lässt. Nun würde Lind sicher sagen, dass das gar nicht sein Thema ist und er den verschiedenen Wegen, Schuld zu definieren und mit Schuld umzugehen, demokratisch gegenüberstehe. Und wenn ein Teilnehmer der KMDD seine diesbezügliche Sicht einbringe, können er das ruhig. Nur ist es eben eine Vorentscheidung, diese Größen in die eigentliche Dilemmadiskussion gar nicht erst einzubringen. Ingo Wetter schreibt dazu: „Auch hilft die KMDD nur stark eingeschränkt beispielsweise bei der Frage nach dem Selbstschutz von Soldaten bei einem Angriff durch ‚Zivilisten‘ (z. B.: Terroristen, Frauen, Kindersoldaten). Das Dilemma ist nicht lösbar und der Soldat muss auf sich allein gestellt mit der Möglichkeit einer falschen Entscheidung rechnen. Eine Schuld ist immer möglich und darauf gilt es ihn bestmöglich vorzubereiten. Hier ist bei der KMDD kein Ansatz von Hilfestellung erkennbar, getroffene Fehlentscheidungen (Feuer auf Kindergarten/ Krankenhaus, aus dem heraus das Feuer auf den Konvoi eröffnet wird) zu verarbeiten.“ 89 Political correctness Wie wird ‚political correctness‘ verhindert? Sagen die Schüler wirklich ehrlich ihre Meinung? Oder beten sie Versatzstücke aus Medien oder Schulhofdiskussionen nach? Werden Schüler in Dilemmadiskussionen wirklich Auffassungen wie Hass auf Türken oder Homosexuelle ansprechen? Und wird der Lehrer das wirklich immer kommentarlos laufen lassen, falls keine Mitschüler heftig widersprechen? Dasselbe gilt für die Gruppendynamik. Da die KMDD nur mit eigens ausgebildeten Lehrern arbeitet, wird das sicher berücksichtigt, trotzdem dürfte die christliche Ethik die Neigung, in solchen Diskussion anderen nach dem Mund zu reden oder aber zu provozieren, größer veranschlagen, als die KMDD. 89 Wetter: Messbarkeit, 6. 152 Werteverfall „Wir leben nicht in einer Welt des ‚Werte-Verfalls‘. Vielmehr wurde noch selten so viel und so stark ‚moralisiert‘ wie heute.“90 Hier muss man sicher unterscheiden. Stellt man die Frage, ob heute Werte fehlen, ist die Antwort richtig, dass noch nie so offiziell und inoffiziell moralisiert wurde wie heute. Der Spiegel bietet wöchentlich hunderte moralinsaure Kommentare zu allem und nichts, Politiker überschlagen sich darin, ihre eigenen Vorschläge als moralisch und die der Gegner als völlig unmoralisch darzustellen, und ein Militäreinsatz ohne ethisches Begleitfeuer aus Politik, Medien und Kirchen ist heute nicht mehr denkbar. Nur ist diese Aussage banal, weil Menschen ohne Werte und ohne einen gewissen Wertekonsens nicht zusammen leben können. Wer von Werteverfall spricht, meint aber in der Regel nicht die Menge irgendwelcher Werte, sondern bestimmte Werte, die für ihn vorgegeben sind, wie zum Beispiel Ehrlichkeit oder Opferbereitschaft für Kinder und Familie. Und da gibt es natürlich immer Werte, die heute stärker als früher vorgegeben und umgesetzt werden und andere, die im Vergleich zu früher im Verfall sind. Das Ausmaß der Zwangsprostitution im Vergleich zu vor 50 Jahren hat unglaublich zugenommen und das ist ein Werteverfall.91 Zugleich geht die Gesellschaft vergleichsweise uninteressiert darüber hinweg. Fast jeder Mord wird aufgeklärt, Zwangsprostitution – die ja immer Entführung, Freiheitsberaubung, Vergewaltigung, Folter und Bildung krimineller Vereinigungen beinhaltet – interessiert die große Masse kaum. Messbarkeit? Problematisch ist aus christlicher Sicht auch der Faktor, der die KMDD etwa für die Bundeswehr, den Justizvollzug und andere staatliche Felder so interessant macht: Die Messbarkeit der Moral unabhängig davon, welche moralischen Werte jemand vertritt. Der ‚Moralische-Urteil-Test‘ (MUT), der einen „Zielwert“ ermittelt, wurde für wissenschaftliche Zwecke konzipiert, um Programme zu evaluieren, nicht zur Individualdiagnostik.92 Trotzdem wird er nun doch verwandt, um zu belegen, dass konkrete Gruppen, die die KMDD durchgeführt haben, moralische Fortschritte machen. Messbar wird die moralische Urteilsfähigkeit mittels psychologischer Tests. Innerhalb dieser wird das Diskussionsverhalten der Teilnehmer analysiert und 90 91 92 Lind: Moral ist lehrbar, 32. Dazu Thomas Schirrmacher: Menschenhandel. Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2011. Ebd., 49-52. 153 empirisch erfasst und die Art und Qualität ihrer Argumente und Gegenargumente auf bestimmte Fragestellungen erhoben. Lind vertritt die Meinung, dass moralische Urteilsfähigkeit dann einsetzt, „wenn jemand bereit ist, verwerfliche Argumente, auch wenn sie die eigene Entscheidung stützen, kritisch zu betrachten. Den Schlüssel zur Problemlösung sieht er darin, dass die Menschen grundsätzlich in der Lage sein müssen, die Qualität von Argumenten unterscheiden zu können.93 Allheilmittel? Schließlich muss aus christlicher Sicht noch der Optimismus kritisiert werden, was man mit der KMDD alles erreichen könne. Die christliche Ethik, die sich in ihren unterschiedlichen Varianten doch mit einem Wahrheitsanspruch verbindet, ist trotzdem wesentlich realistischer, was den Erfolg einer christlichen Ethikerziehung betrifft. Vergebung und Versöhnung stehen so sehr im Mittelpunkt des christlichen Glaubens, weil das Handeln gegen die eigenen Prinzipien und gegen das Gute so ‚normal‘, das heißt allgegenwärtig ist und es dann auch um die Frage gehen muss, wie der Mensch mit Gott, mit sich selbst und mit anderen wieder ins Reine kommen kann. Ingo Wetter schreibt dazu: „Bei der Beschäftigung mit der KMDD drängt sich einem das Gefühl auf, Lind hat, ausgehend von der ursprünglichen Zielgruppe in Schulen, durch kontinuierliche Entwicklung einen allumfassenden Lösungsansatz für die Probleme der Menschheit gefunden. Einem einfacher strukturierten Geist drängt sich die Frage nach einer Form von ‚Absolutheitsanspruch‘ auf, den Lind für seine Methode erheben könnte. Es ist fraglich, ob es wirklich gelingen kann, nur die Qualität des besseren Argumentes ‚gelten‘ zu lassen. Es gibt immer Fälle, in denen eine Güter-, Werteoder Interessenabwägung notwendig ist. Spätestens hier könnte die KMDD an ihre Grenzen stoßen. Absolute Werte, wie das Leben, die Menschenwürde oder Menschenrechte sind quantitativ und qualitativ nicht diskussionsfähig. Lind könnte mit der „‚Messbarkeit‘ der moralischen Urteilsfähigkeit eben diese unumstößlichen Werte – sicherlich unbeabsichtigt – in der letzten Konsequenz hinterfragbar machen. Ein weiterer Punkt ist sein Ansatz, dass die Mehrheit der Menschen die selben moralischen Grundvorstellungen hat, ohne jedoch im Einzelnen darauf einzugehen. Moralische Werte werden unter anderem sehr stark religiös geprägt.“ 94 4. Exkurs: Sollte man die KMDD in der philosophischen und theologischen Ethikausbildung einsetzen? Als Methode ist KMDD sehr gut und angesichts des de-facto-Pluralismus in unserer Umwelt unabhängig von etwaigen Unterschieden zur christlichen Sicht 93 94 Wetter: Messbarkeit, 1-2. Ebd., 4. 154 vielerorts zu empfehlen, wenn man überhaupt noch Ethik diskutieren und einbringen möchte. Wie aber sieht es aus, wenn man von einem Wertefundament aus KMDD einsetzen will oder KMDD nutzen will, um ein bestimmtes Wertefundament zu vermitteln? Zum Beispiel im Fach Ethik eines Philosophie- oder Theologiestudiums? Beginnen wir mit einer eher allgemeinen Diskussion und wenden uns erst dann wieder KMDD zu. Allgemeine Diskussion Klaus Ebeling hat darauf verwiesen, dass „Ethik als Krisenmanagement“95 nicht ein „abgeschlossenes Spezialwissen über Werte und Normen“96, das autoritativ vermittelt werden könnte, sondern gerade auch „ethische Erwägungskompetenz“97 ist. Ich würde ihm darin prinzipiell zustimmen, aber doch den Gegensatz zwischen beidem in Frage stellen, ja kann noch nicht einmal ersehen, ob er das will.98 Wo es keine grundlegenden Werte und Normen gibt, von denen die Erwägungen ausgehen – und wenn man nur über den Prozess der Entscheidung nachdenkt –, gibt es weder eine verbindliche Entscheidung noch eine, die man anderen vermitteln kann. Gerade das aber will ja die Bundeswehr. Umgekehrt ist aber richtig, dass verbindliche Werte und Normen (wie etwa die ersten Paragrafen des Grundgesetzes) für sich allein genommen alltagsuntauglich sind und die Herausforderung des Lebens nicht ist, diese Normen im entscheidenden Moment zu rezitieren, sondern in Krisen und komplizierten Lagen abwägend umzusetzen beziehungsweise unerreichbaren Idealen doch so weit wie möglich nahezukommen. Es gibt meines Erachtens eine Komplementarität der eher theoretischen Überlegungen, was denn ‚an sich‘ richtig und gut ist, und eher praktischer Einübung von Verfahren und Wegen, wie man in konkreten Konflikten zu tragfähigen Entscheidungen kommt.99 In meinem Buch ‚Führen in ethischer Verantwortung: Die drei Seiten jeder Entscheidung‘100 versuche ich, deutlich zu machen, dass in den klassischen Entwürfen der Theologie und Philosophie einander drei Seiten – normativ, situativ und existenziell – komplementär ergänzen. Sie gehen davon aus, dass 95 Klaus Ebeling: Militär, 10-12 (Überschrift). Ebd., 11. 97 Ebd., 12. 98 Ebd., 57, 65 spricht eher dagegen und für eine Komplementarität beider Aspekte. 99 Zur Methodik ethischer Urteilsbildung in Fallstudien vgl. Friedensethik im Einsatz, 357-362. 100 Thomas Schirrmacher: Führen in ethischer Verantwortung: Die drei Seiten jeder Entscheidung, Brunnen: Gießen, 20082. 96 155 dem Menschen durch Normen und Gebote vorgegeben ist, wie er zu handeln hat, der Mensch nur in der Situation erfassen kann, was das Beste ist, oder aber die ethische Entscheidung in unserem Innersten als Ringen um unsere Existenz stattfindet, so dass sie kaum von jemand anders tatsächlich nachvollzogen werden kann. Ich halte alle drei Entwürfe für unzureichend, wenn sie für sich stehen und gegen die anderen Schwerpunkte ausgespielt werden. Ich halte alle drei Entwürfe für berechtigt, wenn sie sich als wichtiges Glied in einer Gesamtentscheidung verstehen. Der normative Aspekt kommt in der Bibel in der Bedeutung der unveränderbaren Gebote Gottes zum Ausdruck.In der Ethik generell finden wir ihn am stärksten in den Grundwerten wieder. Der situative Aspekt kommt in der Bibel in der Bedeutung der Weisheit zum Ausdruck, die aufgrund von Erfahrung und der konkreten Situation abwägt. In der Ethik generell spielen hier die sogenannte Pflichtenkollision, die Situationsethik und die kulturelle Anpassung eine Rolle. Der existenzielle Aspekt kommt in der Bibel in der Bedeutung des Herzens und des Gewissens zum Ausdruck, in dessen Inneren aufgrund normativer und situativer Überlegungen die eigentliche Entscheidung fällt. In der Ethik generell wird hier vom Gewissen und von den Motiven gesprochen. Die grundlegenden Werte einer Gesellschaft können sich nicht einfach aus ihrem Konsens ergeben, zumal die Frage ist, welchen Konsens unsere Gesellschaft heute noch finden könnte. Wenn Konsens allein zählen würde, hätte man den Nationalsozialismus zumindest solange akzeptieren müssen, als er sich auf die begeisterte Zustimmung großer Teile der Bevölkerung stützen konnte. Es war jedoch gerade die Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus, dass es über dem Staat unantastbare Werte geben muss. Deswegen schuf die UNO die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deswegen schrieben 156 die Väter und Mütter des Grundgesetzes einige die Würde des Menschen betreffende Grundrechte und Grundregeln für immer und unabänderbar fest. Menschenrechte und Menschenwürde werden nicht vom Staat geschaffen oder verliehen, sondern sind dem Staat vorgegeben, da der Mensch Geschöpf Gottes ist. Diese dem Menschen bewusste unantastbare Ordnung steht über aller Macht und allen Mehrheitsverhältnissen.101 Im Grundgesetz kommt dies durch die sogenannte ‚Ewigkeitsklausel‘ zum Ausdruck: Die grundlegenden Menschenrechte in der Verfassung dürfen und können vom Parlament nicht geändert werden.Daneben beachtet das Grundgesetz auch die Situationsethik, die für die Zukunft ermöglichen soll, jeweils neu vernünftige Entscheidungen zu treffen. Am anderen Ende des Spektrums legt das Grundgesetz fest, dass jeder Bundestagsabgeordnete in seiner Entscheidung frei und nur seinem Gewissen verantwortlich ist. Dies bedeutet nicht, dass er seine privaten Wünsche und Neigungen gelten lässt, sondern im Gegenteil, dass er Werte abwägt und wohlüberlegte Entscheidungen trifft. Natürlich wird diese Entscheidung nicht im luftleeren Raum gefällt, sondern auch im Rahmen der jeweiligen Zusammensetzung von Regierung und Parteien und anderer Zwänge. Aber in letzter Konsequenz kann kein Angeordneter die Verantwortung für seine Entscheidung auf andere abwälzen, sondern muss bereit sein, die volle persönliche Verantwortung dafür zu tragen und für seine Entscheidung notfalls innerlich zu leiden oder äußere Konsequenzen auf sich zu nehmen. All das gilt insbesondere für die sogenannte Pflichtenkollision, oder Güterabwägung, eigentlich einem Begriff aus dem Strafrecht für die nicht rechtswidrige Verletzung einer Pflicht durch eine Handlung, die das einzige Mittel war, eine andere, höherrangige Rechtspflicht zu erfüllen, und zu welchen der Handelnde sich aufgrund einer Abwägung der Pflichten entschieden hat. Innerhalb der christlichen Ethik wird, besonders in der katholischen Theologie, von einer Pflichtenkollision gesprochen, wenn mehrere Gebote Gottes in einen scheinbaren Konflikt geraten. Keine Ethik kommt ohne eine Güterabwägung aus, also ohne die Sicht, dass die einzelnen Werte und Unwerte einen unterschiedlichen Rang haben und im Falle einer Pflichtenkollision der höhere Wert Vorrang hat. Am grünen Tisch kann man jedes Gebot und jeden Wert losgelöst von der Wirklichkeit diskutieren und zu schnellen Lösungen kommen. In der Wirklichkeit strömen jedoch zahlreiche Fragen auf uns ein und wir stehen grundsätzlich vor allen Werten gleichzeitig. Oft ist die Frage nicht, welchen Werten wir folgen wollen, sondern in welcher Reihenfolge wir ihnen gerecht werden. 101 S. ausführlicher Thomas Schirrmacher: Menschenrechte: Anspruch und Wirklichkeit, Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2012. 157 Fragen der Priorität setzen eine Wertehierarchie voraus, die nicht einfach beantwortet, was an sich gut und was nicht gut ist, sondern auch, was Vorrang hat. Wer keine Werte hat, hat auch nichts zum Abwägen. Aber auch wer sich für Werte einsetzt, benötigt eine Wertehierarchie und ein Bewusstsein dafür, wie man im Konfliktfall abwägt. Bestimmte Werte sind normalerweise unantastbar und damit bestimmte Handlungen zur Güterabwägung tabu. Aber andere Werte lassen sich nur durch einen Ausgleich mit anderen Werten berücksichtigen. Die Güterabwägung ist deswegen keine Verwässerung von Werten und Zielen, sondern notwendige Voraussetzung für die ganzheitliche gute Entscheidung. Übrigens muss für Belange einer militärischen Ethik besonders betont werden, dass eine Pflichtenkollision besonders problematisch ist, wenn kaum Zeit zur Verfügung steht. Gerade dafür muss es vorher „Sandkastenspiele“ geben, um sich bewusst zu machen, wie schwer manche Entscheidungen schon sind, wenn man viel Zeit hat, um zu verstehen, wie schwierig, ja oft fast unlösbar sie sind, wenn nur sehr kurze Zeit zum Reagieren zur Verfügung steht. Dies gilt um so mehr, als die Medien heute in ihrer Berichterstattung und Beurteilung dann später so tun, als hätten Militärangehörige alle Zeit der Welt oder sogar die Informationen, die im Nachhinein zur Verfügung stehen. Wenn ein Wachsoldat in Afghanistan blitzschnell entscheiden muss, ob spielende Kinder, die auf das Wachtor zukommen, ahnungslos wie Kinder sind, ablenken sollen oder als Selbstmordattentäter missbraucht werden, ist das eben etwas anderes, als wenn die Medien hinterher genau recherchieren können, wer die Kinder waren oder wie man sonst hätte reagieren können. KMDD in der philosophischen oder theologischen Ethikausbildung einsetzen? Zunächst einmal muss man für die Frage, inwiefern man KMDD etwa in der wissenschaftlichen Ausbildung einsetzen will, feststellen, dass das nur für das Prinzip gelten kann, nicht für die konkrete KMDD, die rechtlich geschützt ist und nur durch KMDD-Lehrer ausgebildet werden darf. „Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) ist beim Deutschen Patent- und Markenamt als Textmarke geschützt (Bestätigung). Sie darf nur mit schriftlicher Genehmigung des Besitzers der Marke, Prof. Georg Lind, als Werbung für Kurse, Veranstaltungen und ähnliches verwendet werden. Das Abhalten von KMDD-Stunden setzt beim Lehrer den Besitz eines gültigen KMDD-Lehrer Zertifikats voraus. KMDD-Kurse dürfen nur von zertifizierten KMDD-Trainern durchgeführt werden. Interventionsstudien, die die KMDD als Methode benutzen, dürfen nur dann behaupten, dass sie die Wirkung der 158 KMDD untersucht haben, wenn die Interventionen von einem zertifizierten KMDD-Lehrer (siehe Flyer) durchgeführt wurden und sie u.a. mit dem Moralisches Urteil-Test (MUT) gemessen wurde.“102 Wissenschaftliche Ausbildungsprogramme, die Linds Erfahrungen für die Ethikausbildung nutzbar machen wollen, müssen also entweder den offiziellen Weg gehen, ihre Ethiker zu KMDD-Lehrern auszubilden, oder aber die Grundprinzipien eigenständig aufgreifen. Unabhängig davon halte ich eine Diskussion konkreter Beispiele von Pflichtenkollisionen mit Studenten – in Anlehnung an die Prinzipien von KMDD – für eine wichtige Ergänzung der klassischen Ethikausbildung. Dafür spricht auch, dass erfahrungsgemäß unter Philosophie- und Theologiestudenten und -studentinnen (und -dozenten und -dozentinnen!) die Bandbreite der Positionen und Meinungen zu einzelnen Themen sehr breit ist, selbst dann, wenn es sich um eine theologisch prinzipiell ähnlich denkende Gruppe handelt. Erst recht gilt die Bandbreite der Meinungen bei theoretisch gleichem Wertefundament, wenn es um die Einschätzung und ‚Lösung‘ von Pflichtenkollisionen geht, also in Dilemmadiskussionen. Dass der Ethikdozent dabei anschließend die Diskussion analysiert, bewertet und seine eigene Sicht einbringt, ändert nichts daran, dass es gut ist, wenn diese unterschiedlichen Auffassungen einmal wahrgenommen, ausgesprochen und diskutiert werden. Dafür ist ein formaler Rahmen mit festen Spielregeln sehr hilfreich. 102 http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm. 159 160 Zusammenfassung und Ergebnispapiere sicherheitspolitischer Expertenrunden Uto Meier/ Anne Simon/ Ingo Wetter Werteorientierung in der sicherheitspolitischen Kommunikation – Methoden in Lehre und Ausbildung für militärisches Einsatzpersonal der Informationsarbeit (Auswertung der Expertentagung vom 26. und 27. September 2006 an der Akademie für Information und Kommunikation in Strausberg) Die Bundeswehr (Bw) befindet sich nicht nur in einem technologischen und strategischen Wandel. Sie muss ihre Soldaten nicht nur physisch und medizinisch, sondern – in völlig neuem Umfang – vor allem mental auf die Bewältigung der bevorstehenden Aufgaben vorbereiten. Dies war gemeinsame Auffassung in der Einschätzung des Transformationsprozesses. Ziel der Tagung war der Versuch, Inhalte und Methoden zur Erlangung von Werteorientierung und ethischer Urteilsfähigkeit zu klären. Dies im Rahmen einer auf veränderte sicherheitspolitische Bedingungen angepassten Neukonzeption der Inneren Führung und die hieraus abzuleitenden Konsequenzen für die Informationsarbeit der Bundeswehr. Inhaltlich wurde über verschiedene Ansätze, unter anderem zur Messbarkeit moralischer Urteilsfähigkeit am Beispiel der Konstanzer Methode zur Dilemmadiskussion (KMDD) diskutiert. Hierbei wurde intensiv hinterfragt, ob moralische Urteilsfähigkeit lernbar, anwendbar und messbar ist, beziehungsweise wo hier Grenzen liegen. Beispielsweise in der völlig offenen Frage, ob moralisch differenziert diskutierte Dilemma-Analysen auch handlungsbestimmend seien. Allgemeine Einigkeit herrschte über das Fundament der Grundwerte in der Gesellschaft und ihren Schutz. Sie sind feste Bewusstseinsgröße quasi als „Polarstern“ des faktischen und nicht nur hypothetischen Handelns. Überwiegend Einigkeit bestand über die Notwendigkeit des „PräambelPostulats“ der doppelten Verantwortung im Grundgesetz „vor Gott und den Menschen“1 als Einfluss nehmend auf die Ausbildung der Soldaten. In Deutschland sind die unbedingten Grundwerte in der Verfassung niedergeschrieben und haben ihre Verwurzelung insbesondere in jahrhundertelanger 1 Präambel S. 1, neugef. durch Art. 4 EVertr. v. 31.8.1990 BGBl. II, S.889. 161 Tradition des jüdisch-christlich geprägten Kulturraums. Der Soldat muss sich mit diesen Werten identifizieren und sie in weltweitem Einsatz und allen Situationen beherzigen und umsetzen können. Eine Auseinandersetzung mit der Ethik abendländisch jüdisch-christlicher Traditionen gehört zum „Ethos eines demokratischen Soldaten“. Im Einzel- und Einsatzfall kann und wird es durch die Besonderheiten militärischer Strukturen und dem Gehorsamsprinzip zu Güterkollisionen und ethischen Friktionen kommen. Um endgültige Entscheidungen fällen und ggf. die Konsequenzen tragen zu können, ist eine umfangreiche Vorbereitung und Festigung der Persönlichkeit des Soldaten und seiner Vorgesetzten innerhalb der gesamten Ausbildung notwendig. Diese Fähigkeit hilft nicht nur dem einzelnen Soldaten, sondern auch den Vorgesetzten. Die in Teilbereichen begonnene Modifikation der Verbindlichkeit des (Grund-)Werteverständnisses – bedingt durch den mit den starken Migrationsbewegungen der letzten 15 Jahre verbundenen intensiven kulturellen Austausch – gilt es zu berücksichtigen wie gegen zu arbeiten. Damit die politischen und militärischen Ziele erreicht werden können, müssen den Soldaten eindeutige, klare und verlässliche Handlungsvorgaben mitgegeben werden. Die politischen Entscheidungsträger sollten sich ihrer moralischen Verantwortung für die beschlossenen Einsätze bewusst sein. Eine ethische Ausbildung des Soldaten – im Sinne einer lediglich formalen Befehls-Operationalisierung – reicht nicht aus. Das zeigt sich allein am materiell-demokratischen Befehlverständnis: Jüngste Vorkommnisse zeigen, dass legitime von illegitimen Befehlen unterschieden und in „produktives ‚Befehls-Feedback’“ umgesetzt werden können müssen. Wahrung und Schutz der Menschenrechte und Menschenwürde bei einem Auslandseinsatz, insbesondere in Kontakt mit der Kultur fremder Regionen, sollten stets im Zentrum des bewussten und zu verantwortenden Handelns stehen. Neben den eigenen Wertvorstellungen müssen die Soldaten zu einer korrekten Situationsbeurteilung die Handlungen der potentiellen Gegner vor deren historischen, kulturellen, gesellschaftlichem und sozialen Hintergrund in wenigen Augenblicken richtig einzuschätzen lernen. Hierfür muss die Bw ein realitätsnahes Ausbildungsszenario entwickeln. In der Vorbereitung sind sicher viele, aber längst nicht alle auf den Soldaten im Einsatz zukommenden Situationen prognostizierbar. Daher sollten als ergänzende Schwerpunkte innerhalb einer ethischen Ausbildung, sowohl die Aneignung strukturierten und handlungsrelevanten Wissens, wie auch ein Verstehensprozess (mittels Begegnung/Rollentausch/narratives Modelllernen 162 u.v.a.) über die historische, kulturelle, gesellschaftliche und religiöse Entwicklung potentieller Einsatzräume zielführend werden. Einsätze und gemachte Erfahrungen ändern die Menschen und führen zu einem veränderten Verhaltensmuster2. Darauf muss in der begleitenden ethischen Ausbildung reagiert werden. Die „Rules of Engagement“ müssen deshalb durch die Einsatzführung immer wieder auf ihre Aktualität überprüft und angepasst werden. Die Soldaten sollten insbesondere auf die Möglichkeit einer Konfrontation unauflösbarer Dilemmata vorbereitet werden, denn manche Handlungsweisen könnten in direktem Gegensatz zu ihren Wertvorstellungen stehen, die sie bisher geprägt haben. Es sollte daher einem (Dialog-) Raum gegeben werden, innerhalb dessen die Soldaten ihre Sorgen und Nöte frei äußern können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, beispielsweise in Gestalt eines ‚forum internum’. Gerade im Dilemmafall sollten die Soldaten für die ‚situationsbedingte Schuld’ sensibilisiert, aber mit einer ‚subjektiv bezogenen Schuld’ nicht allein gelassen werden. Hierauf gilt es den Soldaten umfassend ethisch vorzubereiten. Dies ist, durch die Festlegung auf eine einzige „Methode“ (zur Erlangung moralischer Urteilsfähigkeit) für alle denkbaren Situationen, sicher nicht realisierbar. Ein einziges – sehr kognitivistisch angelegtes – Regelsystem kann eine stets allgültige Verhaltenssicherheit nicht leisten. Hier wurde klar gestellt, dass es derzeit zwar Ansätze, aber keine absolute wissenschaftliche Methode für eine „gesicherte Moralität im Einsatz“ gibt. Innerhalb der Expertenrunde wurde schnell klar, dass die Prüfung moralischer Urteilsfähigkeit durch die Klärung von moralisch unterschiedlichen Urteilsniveaus nach Professor Georg Lind und seiner Methode 3 in einem sehr friedlichen Umfeld als einzige Schulungsmethode für den Soldaten im Einsatz wenig nutzbringend, realitätsfern und auch handlungsunsicher ist, weil der Zusammenhang zwischen moralischem Urteil und entsprechender Handlungskonsistenz höchst komplex ist. Die von Lind versuchte stufentheoretische Erfassung von Wertvorstellungen in ausgewählten Dilemma-Schulungen sollte Vorgesetzten, Stäben und Gremien nicht als hinreichende und quasi ‚entschuldigende Entscheidungsgrundlage’ für „ethische Qualifizierung von Soldaten“ an die Hand gegeben werden. Es wurde im Zuge der Diskussion angemerkt, dass bei Lind sowohl eine Definition der ‚Ethik’ als auch materiale Zielvorstellungen fehlen. 2 3 Vgl die Erfahrungen und Untersuchungen innerhalb der NATO. Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion. 163 Handlungsorientierungen nur aufgrund von (kognitiv überfrachteten) ModellDiskussionen in Verantwortlichkeit zu bringen erscheint fahrlässig, wenn nicht tieferliegende emotional relevante Motivlagen angesprochen werden. Zudem wurde zu bedenken gegeben, dass Modelllösungen eine Art Sicherheit suggerieren, die im Einsatz nicht existiere und die Gefahr einer damit begründeten Delegation von Verantwortung bestehe. Es müssten vielmehr Entscheidungskompetenzen aufgebaut werden, die alle an einem Einsatz irgend beteiligten Strukturen einbeziehen. Ergänzend zur Methode nach Lind – vorausgesetzt dieses würde als eine Möglichkeit der Situationssensibilisierung (u.a. für Minderheitenpositionen) angesehen – sollten bewährte Konzepte wie Ansätze der „Themenzentrierten Interaktion“ (Ruth Cohn), die „Transaktionsanalyse“ (Eric Berne), der „Gewaltfreien Kommunikation“ (Marshall B. Rosenberg), oder der „klientenzentrierte Ansatz“ (Carl R. Rogers) geprüft werden, um handlungsrelevante Kompetenz in Beurteilung und Verständnis von komplexen Situationen aufzubauen. Aber auch scheinbar diskursferne Lernwege wie Kunst und Ästhetik sind nicht auszuschließen. Nur im Kontext persönlichkeitsbildender anderer Maßnahmen ergibt die Methode der „Entwicklung moralischer Urteilsbildung“ (nach Kohlberg, respektive Lind) Sinn. Empfehlungen 1. Voraussetzung für ein angemessenes ethisches Wirken von Kräften der Bundeswehr im Einsatz sind klare und glaubwürdige, mit den ethischen Grundsätzen der eigenen Gesellschaft (vgl. Grundgesetz) vereinbare Aufträge. Nur „einsatz-identifizierte“ Soldaten garantieren einen verantwortbaren Erfolg. 2. Hauptaugenmerk einer ethisch-sensibilisierenden (Aus-)Bildung muss die Vermittlung von und die Identifikation mit unbedingten Grundwerten des eigenen Kulturraumes (wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde und des Lebens, etwa im unbedingten Folterverbot) sein. Entscheidungsfindend berücksichtigen muss der Soldat die Lage im Einsatzgebiet und seinen militärischen Auftrag. Dabei darf eine ‚Ethik’ nicht auftragsgerecht angepasst werden. Dass heißt die (im Grundgesetz normierten Grund-)Werte stehen auch in absoluten Grenzsituationen nicht zur Disposition. 3. Dafür sind in der Ausbildung bzw. Schulung der Bundeswehr eine persönlichkeitsstärkende Didaktik und daraus resultierende Methoden zu entwickeln, die den Soldaten in die Lage versetzen sollen, innerhalb gewisser 164 Spielräume situationsgerecht eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Eine in Zusammenarbeit mit den verschieden zuständigen Einrichtungen der Bundeswehr (siehe Aufgabenverbund Innere Führung) wissenschaftlich begleitete Prüfung unterschiedlicher Ausbildungskonzepte und Schulungsmuster ist dringend geboten. Die Länderpolizeien haben seit 1949 sehr wirksame diversifizierte Ethikausbildungen entwickelt, die auch den finalisierenden Einsatz von Waffen und deren Folgen in einem ganzheitlichen Konzept ständiger Ausbildung berücksichtigen. Auch der Schatz der inzwischen überkonfessionell gewachsenen Traditionen geprüfter religiös-ethischer Normenbegründung (z.B. universell gültiges Tötungsverbot Unschuldiger, Gewalt im Dienst der Friedensermöglichung u.s.w.) sollte in diese Ausbildung integriert werden. 4. Wenn die Bundeswehr eine Vermittlung ethischer Bildung als erforderlich ansieht, müssen entsprechende Strukturen und Steuerungselemente flächendeckend und langfristig ausgerichtet aufgebaut werden. Projekte oder Veranstaltungen in Form von „Insellösungen“ wie im ZinFü, SOWI oder auch in der AIK, den begleitenden Diensten etc. sind selbst mittelfristig ineffektiv. Es ist hierfür ein Grundkonzept der ethischen Bildung, das vor- und nicht nachbereitend ausgerichtet ist, notwendig. Didaktisch müsste das vielschichtige Konzept die Kriterien der Auftrags-, Personen-, Situations-, Erfahrungsund Einsatzorientierung erfüllen. 5. Die Informationsarbeit der Bundeswehr sollte darauf ausgelegt werden, den Bürgerinnen und Bürgern die moralischen Herausforderungen der Bundeswehr, gerade im Rahmen der militärischen Auslandseinsätze, zu vergegenwärtigen und sie als Teil ihrer nach den ethischen Maximen des Grundgesetzes ausgerichteten Gesellschaft begreifen zu lassen. 6. Eine ganzheitliche ethische (Aus-)Bildung muss flächendeckend von Beginn der Laufbahn an erfolgen und sollte unmittelbar vor einem Einsatz um die im Einsatzraum gewachsenen sozialen und gesellschaftlichen Strukturen und Verhaltensmuster erweitert werden. Das veränderte Kriegsbild und die neuen Herausforderungen „asymmetrischer Kriegführung“ müssen in die Ausbildung integriert werden. 7. Die Soldaten müssen mit der Möglichkeit einer Konfrontation unauflösbarer Dilemmata vorbereitet werden. Sie können zu Handlungsweisen herausgefordert werden, die in direktem Gegensatz zu ihren Überzeugungen stehen. Wie oben erwähnt sollten neben der Lindschen KMDD beispielsweise die Ansätze der „Themenzentrierten Interaktion“ (Ruth Cohn), der „Transaktionsanalyse“ (Eric Berne), die „Gewaltfreie Kommunikation“ (Marshall B. Rosenberg) oder der „klientenzentrierte Ansatz“ (Carl R. Rogers) 165 geprüft werden. Ansätze, die es nicht scheuen, das zugrunde liegende eigene Menschenbild und seine Projektionen auf „die Anderen“ in Frage zu stellen. Die Monokultur einer einzigen Methode zur Ausbildung einer „nachhaltigen Ethik für Soldaten“ muss vermieden werden, wenn „demokratische Staatsbürger in Uniform“ unsere Rechtsordnung und legitime vitale Interessen der Bundesrepublik unter Einsatz ihres Lebens schützen sollen. Andreas Berns/ Edwin Micewski/ Ingo Wetter Umsetzung der Ethischen Aus- und Weiterbildung in der Informationsarbeit der Bundeswehr (Auswertung und Ergebnispapier der Expertentagung vom 18. bis zu 20. März 2009 an der Akademie für Information und Kommunikation in Strausberg) Diese Expertenrunde im März 2009 war bereits die vierte Tagung der AIK zum Thema Werteorientierung bzw. Ethische Bildung im Rahmen der sicherheitspolitischen Kommunikation, die seit 2005 die aktuelle Entwicklung in der Bundeswehr mit Herausbildung der Zentralen Dienstvorschriften zur Inneren Führung und zum Lebenskundlichen Unterricht (LKU) und den Dialog hierüber mit der Öffentlichkeit ‚kre-aktiv’ begleitet. Primärfokus dieser Veranstaltungen ist die Verbesserung und Effizienzsteigerung der Informationsarbeit der Bundeswehr. 1. Hintergrund und Ziele im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr Ein Bewusstsein für die unbedingte Wahrung der Menschenwürde und eine innere Orientierung an die Werte unseres Grundgesetzes besitzen in der Ausbildung der Soldaten einen hohen Stellenwert. Ethische Bildung vermittelt den Soldaten, vor allem aber den Offizieren, nicht nur eine ethischmoralische Urteilsfähigkeit angesichts existenzieller militärischer Herausforderungen wie Tod und Verwundung, sondern ermöglicht auch ein grundlegendes Verständnis zu Fragen der Menschwürde und den demokratischen Grundgesetzen des Staates. In diesem Sinne zeigt bereits die neue Zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr zur Inneren Führung (10/1) vom Januar 2008 den Bedarf auf, ethische Bildung im Rahmen der Aus- und Weiterbildung zu vermitteln. Diese Herausforderung betrifft insbesondere die Informationsarbeit der Bundeswehr und – mit Blick auf den Aufgabenverbund Innere Führung – auch 166 ihre zentrale Ausbildungsstätte AIK. Die durch die Medien- und Multiplikatorenarbeit bedingte Breitenwirkung der Öffentlichkeitsarbeit bei Berichterstattung aus Krisengebieten und bei Vorfällen in der Heimat, die zum überwiegenden Teil auch ethisch-moralische Implikationen beinhalten, trifft auf eine sensible nationale wie internationale Öffentlichkeit, die in Zeiten von Web 2.0 teilweise in Echtzeit über militärische Handlungen informiert wird und daher die Reaktionszeit der Informationsarbeit der Bundeswehr entscheidend verkürzt. Ethische (Aus-)Bildung in der Bundeswehr und gerade in der Informationsarbeit der Bundeswehr hat aus diesem Blickwinkel gesehen auch eine vorab unterstützende, qualitätssteigernde und präventive Wirkung auf (reaktive) Krisenkommunikation bzw. das Krisenmanagement der Öffentlichkeitsarbeit in der Bundeswehr. 2. Bestandsaufnahme und Bewertung aus Sicht teilnehmender Experten dieser Tagung - Aufgrund des Kenntnisstandes und der Vorbildung des Soldaten – insbesondere nach der Deutschen Einheit – sowie den einschneidenden sicherheitspolitischen Veränderungen ist ein verstärkter Bedarf an Ethischer Bildung anzunehmen. Zu berücksichtigen ist, dass die Soldaten völlig unterschiedliche Vorbildungen aufweisen und aus religiös und gesellschaftlich differenzierten Entwicklungen heraus zur Bundeswehr kommen. Eine der Folgen ist ein unterschiedliches Verständnis von Grundwerten und Dialoge über die Vorschriften und ethische Werte und -vorstellungen finden kaum statt. - Eine diesbezügliche offene Kommunikation ist in der hierarchischen Struktur der Bundeswehr nur schwer möglich und bedarf ermutigender Rahmenbedingungen, die vordringlich zu schaffen wären. - Ethische Bildung in den Streitkräften ist sehr heterogen. So gibt es unterschiedliche Ausbildungsmodule, unterschiedliche Zeitansätze und Methodologien, die überdies auf unterschiedlichen Zugängen zur Ethik bzw. zum Verständnis von Ethik beruhen. Ausbildung/ Ausbilder: Qualifizierte Kräfte sind [derzeit] im Militär Mangelware bzw. kaum vorhanden - Es wurde angemerkt, dass Ethische Bildung nicht nur im Hörsaal stattfinden sollte. Allerdings wird ethisches Handeln, das z.B. in Stations- oder Lageausbildungen einfließt, derzeit weder bewusst vermittelt noch aufgenommen. - Einsatzerfahrungen werden, falls überhaupt, nur reaktiv in die Ausbildung eingespeist. - Wollte man der Ethischen Bildung mehr Raum geben, ginge dies in der aktuellen Form zu Lasten der Ausbildung in anderen Bereichen. . 167 - Es fehlt ein durchgängiges Konzept für Ethische Bildung der Bundeswehr. Die ZDv 10/1 (Innere Führung) stellt sehr hehre und hohe Ansprüche, die ZDv 10/4 (LKU/Ethik) sei vergleichsweise überschaubar. Allerdings kann ethische Bildung nicht ausschließlich im Rahmen des LKU vermittelt werden. Ansätze, wann, wo und in welchem Umfang Ethik zu vermitteln ist, müssten dringend erarbeitet werden. 3. Empfehlungen aus Sicht teilnehmender Experten dieser Tagung - Es gilt zunächst, die Werte auf Grundlage des Grundgesetzes mit ihrem Imperativ der dualen Verantwortung vor Gott und den Menschen zu erkennen. In der Vermittlung müsse in der Bundeswehr Rücksicht auf unterschiedliche religiöse Inhalte und Wertevorstellungen gelegt bzw. diese in ihrem Verhältnis zu den christlichen und demokratischen Grundwerten des Grundgesetzes diskutiert werden. - Soldaten sollten wertegebunden selbständig handeln können Wegen der unterschiedlichen Vorbildung sollte daher eine gemeinsame Basis geschaffen werden, auf der in verpflichtenden Themenseminaren stetig vertiefende Bausteine vermittelt werden. Dies würde auch eine regelmäßige Standortbestimmung ermöglichen und dem Dienstherren gestatten, gezielt nachzusteuern, um eine Art von Handlungssicherheit in Grundsituationen zu erreichen. - Einigkeit herrscht darüber, dass ethische Kompetenz nicht per Befehl vermittelt werden kann und Vorgesetzte mit ihren Handlungen die Werte auch vorleben müssen. Abgesehen von der systematischen Vermittlung in Unterrichtseinheiten müssen Ethik und moralisches Bewusstsein auch im täglichen Umgang gelebt und erlebt und somit in der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung verinnerlicht werden. Eine ethische Grundorientierung für menschlich-soldatisches Denken und Handeln und dessen Verfestigung kann nur in einem langen Prozess erreicht werden. - Bereits zu Beginn der Ausbildung – von der Grundausbildung bis hin zu Laufbahnlehrgängen sowie solchen für besondere Verwendungen zur Menschenführung (z.B. KpFw oder Kdr-Lehrgänge) oder mit Wirkung in der Öffentlichkeit (z.B. PresseOffz oder JugendOffz) – ist die Bestimmung und Vermittlung von Grundwerten in der jeweils ebenengerechten Ausprägung wichtig, wie dies auch in den neuen ZDv 10/1 und 10/4 klar zum Ausdruck gebracht wird. - Um das Zeitbudget möglichst wenig zu beanspruchen, könnten in der gesamten Ausbildungszeit der Soldaten Abholpunkte bestimmt werden. Ethik könnte eine Art ‚roter Faden’ sein, der sich mit einem interoperativen 168 Ansatz fächerübergreifend durch sämtliche Ausbildungsabschnitte und bereiche zieht. Wissensvermittlung und Entwicklung würden durch die Stetigkeit dynamischer werden, der Lernerfolg dauerhafter. Die häufig bemühte Zeitknappheit und bereits heute überfüllte Stundenpläne ließen beinahe keine Alternative zu, als Ethik sowohl fächer- als auch abschnittsübergreifend zu vermitteln. Zur Vermittlung des Wissens gäbe es in unterschiedlichen Institutionen positive Erfahrungen mit interdisziplinär arbeitenden Teams, deren Mitglieder unterschiedliche Erfahrungshintergründe haben. Diese Option sollte auch für die Bundeswehr geprüft werden. - Soldaten im Einsatz sind besonderen Belastungen ausgesetzt und benötigen unmittelbare Ansprechpartner vor Ort wie Militärseelsorger und Truppenpsychologen, die auch in dem hier diskutierten Fachbereich entsprechend ausgebildet sein müssten (vergleiche hierzu aktuell die Tätigkeit sogenannter ‚Interkultureller Einsatzberater – IEB ’ im Rahmen der Vermittlung interkultureller Kompetenz im Einsatz). - Ein zu erarbeitendes Ausbildungsprogramm für ethische Bildung hat auch den Aspekt ethischer Komponenten in Extremsituationen zu berücksichtigen. - Wissen und Erfahrung sollten in geeigneter Form vermittelt werden. Denkbar wäre eine Art Forum, möglichst dienstgradgruppengleich, um die Kommunikation zu erleichtern. - Es ergibt sich Entwicklungsbedarf an Schnittstellen von Ausbildung und Praxis. Lehrmethoden und Vermittler haben authentisch bzw. glaubwürdig zu sein, der Ausbilder sollte militärischen Hintergrund und Erfahrungen haben sowie eine Vorbildfunktion erfüllen, wenn die Vermittlung erfolgreich sein soll. Ethik ließe sich so auch außerhalb des Unterrichts und fächerübergreifend vermitteln. Im Sinne der Glaubwürdigkeit wäre die Einbeziehung von einsatzerfahrenem Personal in die Lehrgänge wichtig. Sie könnten zentral von auf ethische Fragen und Ansätze spezialisiertem Fachpersonal auf diese Aufgabe vorbereitet werden. Ausbildungsinhalte müssten ebenengerecht aufbereitet sein und für den Soldaten verständlich und auch praxisorientiert sein. Dabei versteht sich von selbst, dass das Ausmaß von Theorie, somit die philosophische und wissenschaftliche Grundlegung von Ethik, in hohem Maße von der Ebene der Vermittlung abhängen wird. Vor allem für Offiziere ist allerdings zu fordern, dass eine umfassende theoretische Unterweisung erfolgt, welche die Basis für praktisches Verständnis und eigenständige moralisch-ethische Urteilsfähigkeit bildet. - Wichtig wäre auch, eine entsprechende Qualifierung des Ausbildungspersonals für den schwierigen Gegenstandsbereich der Ethik sicherzustellen. Um 169 Lehrerfolge zu optimieren, sollte Personal, welches in der Ethikausbildung eingesetzt wird, ein ständiges Fortbildungsangebot zur Verfügung stehen. - Voraussetzung für zielgerichtete Ethische Bildung wäre daher, Kompetenzen, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu vergeben sowie Strukturen für die Realisierung zu schaffen. Ein Konzept müsste Aspekte der Anwendbarkeit und Begründetheit berücksichtigen, um praxistauglich und damit umsetzungsfähig zu sein. In der Umsetzung könnten bereits erprobte Programme von Polizeien und Rettungsdiensten sowie von befreundeten Streitkräften auf potentielle Schnittstellen und Synergien geprüft werden.4 - Das mögliche Konzept sowie dessen Umsetzung bedürfen einer begleitenden Evaluierung mit der Bereitschaft zu rascher, undogmatischer Revision. Ethische Bildung würde generell die Kompetenz bei Soldaten, vor allem bei Offizieren, zu erhöhen, den Legitimationsdiskurs zu Fragen militärischer Gewaltanwendung und soldatischem Handeln mit dem gesellschaftlichen Umfeld zu führen. Dieser Diskurs ist eine demokratiepolitische Notwendigkeit und der Bildungsbedarf auf Seiten der Öffentlichkeit ist groß. 4. Ergebnisse der drei Arbeitsgruppen Im Rahmen der sicherheitspolitischen Expertenrunde der Informationsarbeit „Umsetzung der Ethischen Aus- und Weiterbildung in der Informationsarbeit der Bundeswehr“ vom 18. bis 20. März 2009 an der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation wurden in drei Arbeitsgruppen Vorschläge ausgearbeitet, wie Werteorientierung beziehungsweise Ethische Bildung in die einzelnen Ausbildungsabschnitte der Soldaten eingeflochten werden können. Die Ergebnisse der einzelnen Arbeitsgruppen sind in der Folge weitgehend unverändert dargestellt. Mitglieder der Arbeitsgruppen waren erfahrene Stabsoffiziere, Hochschuldozenten, Theologen, Juristen und Historiker. Es handelt sich bei den Ergebnissen der Arbeitsgruppengespräche lediglich um Anregungen zur Thematik und keineswegs um abschließende Empfehlungen, da weitere Bearbeitungen und Präzisierungen erforderlich sind, die nur in einem größeren Zeitrahmen erarbeitbar wären. Vgl. hiezu etwa den Abriss eines Konzepts zur „Berufsethischen Bildung“, wie es von einem Tagungsteilnehmer für das Österreichische Bundesheer als humanwissenschaftliches Forschungsprojekt entwickelt und in der Tagung vorgestellt wurde. 4 170 Arbeitsgruppe 1: Anregungen und Vorschläge für eine praxisorientierte Ethik in der Bundeswehr Anregungen zur Ethikausbildung a) Festlegung von Handlungsfeldern, in denen ethisch relevante Situationen vorkommen, die für die Ausbildung von Belang sind: Im Friedensbetrieb - im täglichen Dienstbetrieb: Leben der „Inneren Führung“, gelebte „Kultur“, Umgang miteinander, Umgang mit Kameraden, Vorbildfunktion - in der Ausbildung: allgemein militärische Ausbildung aller Dienstgradgruppen, sowohl einsatzvorbereitend als auch einsatznachbereitend Im Einsatz - Bewaffneter Konflikt / Peace Enforcement - Missions other than war (beispielsweise humanitäre Einsätze) Im Verhältnis zur Gesellschaft - Dienst und Familie - Umgang mit der Gesellschaft b) Festlegung ethischer Zielsetzungen für die Handlungsfelder Im Sinne des Verständnisses von Ethik als Soll-Anspruch an die Handlungswirklichkeit, die vor dem Ausbildungshintergrund für die Bereiche soldatischen und militärischen Handelns als Basis der Lernzielformulierung festzulegen bzw. zu beschreiben wären. Leitgedanken zur Ethikausbildung in der Bundeswehr Ethikausbildung sollte darauf vorbereiten, sich in den ethisch relevanten Handlungsfeldern, insbesondere in kritischen Situationen, ethisch kompetent zu verhalten. Ethisch relevant können sowohl „kritische“ Situationen, etwa im Sinne von Entscheidungssituationen im Einsatz, aber auch „unkritische“ Situationen, wie etwa Fragen im täglichen Friedensbetrieb sein. Die ethische Relevanz ergibt sich aus möglichen Konflikten und Spannungen, die zwischen den Ansprüchen verschiedener Akteure in einer konkreten Situation auftreten und die im Spannungsfeld von konkreten Handlungsbedingungen, gesetzlichen Vorgaben und ethischen Normen und Werten gelöst werden müssen. Was macht Situationen ethisch relevant? - Ungeregelte Entscheidungssituationen - keine klaren gesetzlichen Vorgaben (z.B. rechtsfreie Räume) 171 - keine klare Führungsvorgabe bzw. Befehlslage - Entscheidungsdruck Ethik ist selbstverständlich nicht nur Individualethik, sondern auch Institutionenethik. Diese sittliche Dimension der Ethik berührt die Verantwortung der Offiziere aller Befehlsebenen ebensowie die der „gelebten Inneren Führung“ in der Bundeswehr. Weitere Schritte Ethisch relevante Situationen in den Handlungsfeldern des Soldaten identifizieren. Einspielen der Situationen in alle Themenbereiche der Ethikausbildung der Bundeswehr in Schulungen/ Planübungen/ im Unterricht bzw. im alltäglichen Leben im Dienst unter Berücksichtigung verschiedener Lehrmethoden. Zu berücksichtigende Voraussetzung ist die bisher erfolgte Sozialisation der Soldaten und deren Bildungs- und Lernvermögen. Die Festlegung von Lehrund Lernzielen bedarf einer bildungspolitischen Grundsatzentscheidung, die unter Berücksichtigung normativer moralphilosophischer Prinzipien (wie Recht und Gerechtigkeit, Freiheit und Verantwortung, allgemeiner wie militärischer Tugenden), Grundwerten der Verfassung, allgemeingültigen Verhaltenskodices und anerkannten Wertvorstellungen erfolgen muss. Bei der Festlegung der Lehrziele ist es wichtig, auch auf „psychologischen Realitäten“ des Soldatseins Rücksicht zu nehmen. Das betrifft vor allem das Handeln unter Bedrohung und persönlicher Gefahr, in Ungewissheit und unter Zeitdruck. Kernfragen sind: a) Welche Kompetenzen müssen die Soldaten mitbringen bzw. sind vorhanden? b) Welche Persönlichkeitsmerkmale sind für das Verhalten in moralrelevanten Konfliktsituationen relevant? c) Weche Persönlichkeitsmerkmale lassen sich im Erwachsenenalter verändern? In Abhängigkeit von den Lehrzielen sollten dann im Weiteren a) die Orte der Ausbildung ausgewählt werden: Lehrsaal, Feldlager, Lebenskundliches Beisammensein, ... In diesem Zusammenhang bedeutend ist die Integration der Ehtikausbildung in die allgemeine militärische Ausbildung. b) die Lehrziele präzisiert werden: Was ist im philosophischen Sinn ethisch, was ist moralisch? Was ist unter ethisch kompetentem Verhalten in den verschiedenen kritischen Situationen zu verstehen? 172 c) die Methoden ausgewählt werden: z.B. Unterrichte, Diskussion, Rollenspiele, authentischer Erfahrungsberichte bzw. Behandlung von für die Praxis relevante Dilemmata. d) die Lehrenden ausgewählt bzw. bestimmt werden: Kriterium muss die Bildungskompetenz sein, die für die Realisierung der Lehre erforderlich ist. Mögliche weitere Kriterien sind: Methodik, Pädagogik, Erfahrungswissen aus authentischen Situationen und die Glaubwürdigkeit. e) Reflexion und Nachbereitung unter dem Gesichtspunkt der ethischen Entscheidung als „gesollter Realität“, die durch konkretes Handeln verwirklicht werden soll. Arbeitsgruppe 2: Empfehlungen für Evaluation und das Qualitätsmanagement der Ethischen Bildung Qualitätssicherung Anreize schaffen, beispielsweise durch besondere Berücksichtigung bei Beurteilungen nach ZDv 20/6 oder als Pflichtfach Evaluierung Wer soll die Evaluationen durchführen? Besonders geeignet erscheinen die Inspizienten der Bundeswehr, die auch jetzt schon Befragungen zu Veranstaltungen durchführen und grundsätzlich auch die Legitimation und den Erfahrungshintergrund mitbringen. Vorschlag für eine dreiphasige Evaluation: a) nach jeder Veranstaltung, b) nach Abschluss des Veranstaltungszyklus, c) regelmäßig, beispielsweise nach zwei Jahren als „Erfahrungsfeedback“ mit den Kontrollfragen: „Was hat mir die Veranstaltung für das Leben gebracht? Hat sich der Lehrinhalt praktisch bewährt?“ Umfrage zum Identifikationskoeffizienten Kann die Führungsperson die Untergebenen ‚mitnehmen’? Kann er/sie auch Sinnfragen beantworten? Die Führung muss die Widersprechenden überzeugen können“ (Timotheus-Brief). Das ZInFü verfügt über „Coachingprogramme“ bzw. sollte diese erweitern, um bei Qualifikation für ethische Schulungen Charisma und persönliche Eignung in den Vordergrund zu stellen. 173 Neue ZDv 10/4 Das BMVg bestimmt Ausbilder und Inhalte des Ethikunterrichts. Ausgearbeitete Pläne/ Kontrolle z.B. durch Wehrbeauftragten für den Unterricht als unabhängige Instanz. Mannschaften: Curriculum mit Grundkenntnissen – auch zur Vermittlung von teilweise selbstverständlichen Handlungsweisen wie „no-go-ethics“ und Festsetzen von Spielregeln in Kombination mit einem integrativen Ethikunterricht. Uffz/ Offz: weiterführendes Curriculum zur Ausbildung zum Führer als Vorbild und für höhere Ränge Unterweisung in Aspekten der strategischen Ethik. Eine Sensibilisierung für die speziellen Herausforderungen bei Befehlsgebung auf gehobener Ebene sollte erfolgen. Aufgeworfene Fragen Bildung von Zivilcourage in hierarchischen Systemen? Was könnten Anreizsysteme für konstruktive Konfliktfähigkeit sein? Arbeitsgruppe 3: Steuerung und Koordinierung der Ethischen Bildung in der Bundeswehr Grundlagen Gemäß ZDv 10/1 Gesamtverantwortung bei GenInsp; Leitungsverantwortung (Steuerung/Durchführung) bei GenBwGemAusb. Gemäß ZDv 10/4 Festlegung der Ausbildung für die AGA und für Laufbahnund Verwendungslehrgänge basierend auf dem Konzept „Individualausbildung“ sowie Erhöhung individueller Kompetenz für Auslandseinsätze mit Vor- und Nachbereitung. Aufgaben für die Umsetzung - Feststellung/Festlegung wer soll, wann, wofür, für welches Spektrum vorbereitet/ausgebildet werden - Entwicklung Curriculum mit Spezifizierung auf individuelle/ebenenbezogene Kenntnisse und Fähigkeiten - Identifizierung von bisherigen ethischen Bildungsmodulen; Verbindung mit schon vorhandenem Element in der ethischen Bildung. - Identifizierung von Lücken/Mängeln im bisherigem Spektrum und Erarbeitung von internen/externen Lösungsmöglichkeiten - Aus-/Fortbildung von Lehr-/Ausbildungspersonal/Trainern 174 - Entwicklung eines Handbuches/Ausbildungs- und Referenzhilfen - Auswahl und Aufbereitung zweckdienlicher Methoden Empfehlung Integrativer Ansatz mit Theoretikern und Praktikern in Grundausbildung und lehrgangsgebundener Aus- und Fortbildung, ergänzt durch den LKU. Umsetzung Geschätzte Vorbereitung und Umsetzung unter Nutzung schon vorhandener Institutionen und Konzepte ab Entschlussfassung zumindest ein Jahr. In der Umsetzung Verwendung von Pilotprojekten mit vergleichenden Ansätzen und dokumentierten Adaptierungen (damit könnte auch die Erprobung der ZDv 10/1 innerhalb von 3 Jahren zielgerichtet möglich sein). 175 Autorenverzeichnis Alois Bach, Brigadegeneral, Jahrgang 1951, ist Kommandeur des Zentrums Innere Führung. Zuvor war er Beauftragter für Erziehung und Ausbildung des Generalinspekteurs der Bundeswehr sowie Kommandeur einer mechanisierten Brigade und der multinationalen Brigade Süd im Kosovo. Uto Meier, Prof. Dr. theol., geb. 1955, lehrt und forscht an der an der Fakultät für Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Von 2002 bis 2012 Leiter des Masterstudienganges „Ethisches Management“; seit 2011 berufenes Mitglied im wissenschaftlichen Beirat im Zentrum für Ethische Bildung in den Streitkräften der Militärbischofsämter Deutschlands. Zahlreiche Publikationen und Vortragstätigkeiten zu Fragen eines präventiven Risikomanagements und der Implementierung von Ethik-Standards in die Funktionszwänge von Unternehmen und Institutionen. Edwin R. Micewski, Dr. phil., geb. 1953, ist Sozialphilosoph und Militärethiker. Vor seiner Ruhestandsversetzung war er Direktor des Instituts für Human- und Sozialwissenschaften an der Landesverteidigungsakademie in Wien, Vortragender an in- und ausländischen Universitäten sowie Leiter internationaler Konferenzen zu Themenstellungen der politisch-militärischen Beziehungen und politischen sowie militärischen Ethik. Autor zahlreicher deutsch- und englischsprachiger Publikationen zu Fragen der politischen Philosophie, Kulturpolitik, (militärischen) Ethik, zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Themenstellungen sowie zu militärischer Führung und Bildung. Thomas Schirrmacher, Prof., Dr. phil., Dr. theol., PhD, DD, geb. 1960, ist Ethiker und Religionssoziologe; Professor für Religionssoziologie an der Staatlichen Universität des Westens in Timisoara, Rumänien, Distinguished Professor of Global Ethics an der William Carey University, Shillong, Meghalaya, Indien, Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit (Bonn, Kapstadt, Colombo) und Sprecher für Menschenrechte der Weltweiten Evangelischen Allianz, die 600 Mio. Christen vertritt. Er ist häufig als Gutachter für den UN-Menschenrechtsrat, das EU-Parlament, den Deutschen Bundestag und andere Parlamente tätig. Seine Bücher wurden in 17 177 Sprachen übersetzt; zu den neuesten gehören Menschenrechte (2012), Menschenhandel (2011), Fundamentalismus (2010), Rassismus (2009), Die neue Unterschicht (2007) und Hitlers Kriegsreligion (2007). 178 Publikationen des Instituts für Religion und Frieden: Ethica. Jahrbuch des Instituts für Religion und Frieden 2012: Militärseelsorgliche Optionen in unterschiedlichen Wehrsystemen 2011: Seelsorger im Dienst des Friedens: 50 Jahre Militärseelsorge im Auslandseinsatz 2010: Nie allein gelassen. Verwundung – Trauma – Tod im Einsatz 2009: Säkularisierung in Europa – Herausforderungen für die Militärseelsorge 2008: Der Soldat der Zukunft – Ein Kämpfer ohne Seele? 2007: Herausforderungen der Militärseelsorge in Europa 2006: 50 Jahre Seelsorge im Österreichischen Bundesheer. Rückblick – Standort – Perspektiven 2005: Familie und Nation – Tradition und Religion. Was bestimmt heute die moralische Identität des Soldaten? 2004: Sicherheit und Friede als europäische Herausforderung. Der Beitrag christlicher Soldaten im Licht von „Pacem in Terris“ 2003: Das ethische Profil des Soldaten vor der Herausforderung einer Kultur des Friedens. Erfahrungen der Militärordinariate Mittel- und Osteuropas 2002: Internationale Einsätze 2000: Solidargemeinschaft Menschheit und humanitäre Intervention – Sicherheits- und Verteidigungspolitik als friedensstiftendes Anliegen Ethica Themen Christian WAGNSONNER/ Stefan GUGEREL (Hg.): Krieg mit der Natur? Militärische Einsätze zwischen Beherrschung des Geländes und Bewahrung der Umwelt (2012) Gerhard MARCHL/ Christian WAGNSONNER (Hg.): Westliche, universelle oder christliche Werte? Menschenrechte, Migration, Friedenspolitik im Europa des 21. Jahrhunderts (2012) Christian WAGNSONNER/ Petrus BSTEH (Hg.): Vom „christlichen Abendland“ zum „Europa der vielen Religionen“ (2012) Christian WAGNSONNER/ Stefan GUGEREL (Hg.): Militärische Kulturen (2011) Christian WAGNSONNER/ Stefan GUGEREL (Hg.): Star Trek für Auslandseinsätze? Konfliktstrategien und Lösungsansätze für reale Probleme in Science Fiction (2011) Stefan GUGEREL/ Christian WAGNSONNER (Hg.): Bio-Tötung (2011) Gerhard MARCHL (Hg.): Der Klimawandel als Gefahr für Frieden und Sicherheit (2011) Petrus BSTEH/ Werner FREISTETTER/ Astrid INGRUBER (Hg.): Die Vielfalt der Religionen im Nahen und Mittleren Osten. Dialogkultur und Konfliktpotential an den Ursprüngen (2010) Gerhard MARCHL (Hg.): Die EU auf dem Weg zur Militärmacht? (2010) Gerhard DABRINGER (Hg.): Ethical and Legal Aspects of Unmanned Systems. Interviews (2010) Werner FREISTETTER/ Christian WAGNSONNER: Friede und Militär aus christlicher Sicht I (2010) Stefan GUGEREL/ Christian WAGNSONNER (Hg.): Astronomie und Gott? (2010) Werner FREISTETTER/ Christian WAGNSONNER (Hg.): Raketen – Weltraum – Ethik (2010) Werner FREISTETTER/ Bastian Ringo PETROWSKI/ Christian WAGNSONNER: Religionen und militärische Einsätze I (2009) 179 ISBN: 978-3-902761-18-7 180