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Ethica Themen
Institut für Religion und Frieden
Thomas Schirrmacher,
Edwin R. Micewski (Hg.)
Ethik im Kontext individueller Verantwortung
und militärischer Führung
Institut für Religion und Frieden
http://www.irf.ac.at
IMPRESSUM
Amtliche Publikation der Republik Österreich/ Bundesminister für
Landesverteidigung und Sport
MEDIENINHABER, HERAUSGEBER UND HERSTELLER:
Republik Österreich/ Bundesminister für Landesverteidigung und Sport,
BMLVS, Roßauer Lände 1, 1090 Wien
REDAKTION:
Christian Wagnsonner, Institut für Religion und Frieden,
Stranzenberggasse 9B, 1130 Wien, Tel.: +43/1/512 32 57-23, Email:
[email protected]
ERSCHEINUNGSJAHR:
2012
DRUCK:
BMLVS, Heeresdruckerei, Kaserne Arsenal, Objekt 12, Kelsenstraße 4,
1030 Wien
ISBN: 978-3-902761-18-7
Ethica Themen
Institut für Religion und Frieden
Thomas Schirrmacher,
Edwin R. Micewski (Hg.)
Ethik im Kontext individueller Verantwortung
und militärischer Führung
Institut für Religion und Frieden
http://www.irf.ac.at
Inhalt
Werner Freistetter
Geleitwort
7
Thomas Schirrmacher/ Edwin R. Micewski
Vorwort der Herausgeber
9
Edwin R. Micewski
Zur Ontologie von Moral und Ethik und über militärische Ethik
15
Uto Meier
Ethische Grenzen und moralische Wegweisungen.
Verantwortung jenseits zweckrationaler Optimierung
41
Thomas Schirrmacher
Ethische Bildung und ‚Innere Führung‘ in der Bundeswehr
und in Streitkräften
69
Alois Bach
Ethische Bildung in der Bundeswehr und das Zentrum Innere Führung
109
Edwin R. Micewski
Überlegungen zur ethischen Bildung im Militär und zur Berufsethischen
Bildung (BeB) im Österreichischen Bundesheer
117
Thomas Schirrmacher
Zur Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD)
129
Zusammenfassung und Ergebnispapiere sicherheitspolitischer
Expertenrunden
161
Autorenverzeichnis
176
5
Werner Freistetter
Geleitwort
Diese Publikation ist ein begrüßenswerter Schritt, den Bemühungen um militärethische Bildung in Streitkräften im deutschsprachigen Raum einen weiteren Impuls zu verleihen.
Es ist der Akademie für Information und Kommunikation der Deutschen Bundeswehr zu danken, sich in den vergangenen Jahren in einer Reihe von
Konferenzveranstaltungen und Expertenkonferenzen mit militärethischen Fragen und deren Vermittlung in den Streitkräften beschäftigt zu haben. Das Institut für Religion und Frieden des Katholischen Militärbischofsamtes im Österreichischen Bundesheer war bei einigen dieser Veranstaltungen vertreten
und freut sich, mit der Herausgabe dieser Publikation im Rahmen seiner
Schriftenreihe Ethica Themen einen aktiven Beitrag zur Verbreitung der in
den Konferenzen vorgetragenen und diskutierten Inhalte zu leisten.
Im Gefolge der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen für die Militärorganisationen in den Mittel- und Westeuropas wurden seit der Mitte der
1990er Jahre militärethische Überlegungen in immer stärkerem Ausmaß in die
Ausbildungsprozesse einbezogen und entsprechende Bildungseinrichtungen,
die sich mit Fragen einer militärischen Ethik und deren Vermittlung beschäftigen, eingerichtet oder weiter ausgebaut. So spielten militärethische Überlegungen im Verlauf der Anpassung und Weiterentwicklung des Konzeptes der
Inneren Führung der Deutschen Bundeswehr und in der Arbeit des Instituts für
Theologie und Frieden eine bedeutende Rolle. Diese Entwicklung gipfelte in
der Gründung des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften (ZEBIS),
das vom Katholischen Militärbischof angeregt worden war, und der von der
evangelischen Militärseelsorge ins Leben gerufenen Arbeitsgemeinschaft Ethische Bildung in den Streitkräften (AEBIS). Die Koordination der militärethischen Bildung und die Vernetzung mit in- und ausländischen Bildungseinrichtungen erfolgt durch die mittlerweile im Zentrum Innere Führung der Bundeswehr eingerichtete Zentrale Ansprechstelle für militärische Ethik-Ausbildung
(ZETHA).
In Österreich war es zunächst dem Institut für Human- und Sozialwissenschaften der Landesverteidigungsakademie zu danken, in engem Zusammenwirken mit dem Institut für Religion und Frieden und ausländischen
Bildungseinrichtungen in internationalen Konferenzveranstaltungen Fragen
der politischen und militärischen Ethik zu widmen. Mittlerweile ist an der
7
Landesverteidigungsakademie in Wien ein Steuerungskommittee für die Abstimmung der militärethischen Bildung eingerichtet worden. Neben dem Institut für Human- und Sozialwissenschaften und dem Institut für Religion und
Frieden des Katholischen Militärbischofsamtes widmet sich auch das von
der evangelischen Militärsuperintendentur eingerichtet Institut für militärethische Studien den Fragen und der Vermittlung militärischer Ethik. In der
Schweiz wurde die Militärethik in eine der Inneren Führung der Deutschen
Bundeswehr nachempfundenen Konzeption entwickelt. Die Verantwortung
militärethischer Forschung und Ausbildung als auch die Koordinierung mit
ausländischen Instituten wird in erster Linie von der Militärakademie an der
ETH Zürich wahrgenommen.
Als Leiter des Instituts für Religion und Frieden, das sich in jüngster Zeit
sowohl in Enquetes als auch Publikationen vor allem speziellen Fragestellungen der Militärethik gewidmet hat, verbinde ich mit der Herausgabe der
vorliegenden Publikation den Wunsch, dass diese zur weiteren Vertiefung
sowohl der Beschäftigung mit Aspekten des komplexen und weitverzweigten
Feldes militärischer Ethik als auch zur Intensivierung der interkonfessionellen, interdisziplinären und internationalen Zusammenarbeit beitragen möge.
8
Thomas Schirrmacher/ Edwin R. Micewski
Vorwort der Herausgeber
Diese Kompilation umfasst Beiträge, die von den Autoren im Rahmen von
sicherheitspolitischen Expertenrunden und Veranstaltungen zu Fragen ethischer Bildung in Streitkräften ursprünglich in Österreich und Deutschland als
Vorträge gehalten und nunmehr für die Veröffentlichung in Form und Inhalt
erweitert bzw. angepasst wurden.
Die Initiative zu einer Veranstaltungsreihe, die sich mit Wertorientierung und
ethischen Aspekten von Streitkräften auseinandersetzte, ging ursprünglich von
der Akademie für Information und Kommunikation (AIK) der Bundeswehr aus.
In ersten Expertentagungen in den Jahren 2005 und 2006 diskutierten militärische und zivile Experten die Frage nach der Wertorientierung in der sicherheitspolitischen Kommunikation, mit dem didaktischen bzw. methodologischen
Fokus auf der Umsetzung in der Ausbildung und Lehre für militärisches
Einsatzpersonal. Zunächst noch auf Deutschland und die Bundeswehr beschränkt, wurden zu den weiterführenden Veranstaltungen auch Experten aus
Österreich und der Schweiz eingeladen und in inhaltslogischer Weiterführung
der Wertedimension die Frage der Ethik und vor allem der Militärethik in den
Mittelpunkt der Beratungen gerückt. Konferenzen in Strausberg bei Berlin im
Jahr 2009 als auch ein Jahr später im österreichischen St. Gilgen legten wiederum ein spezielles Augenmerk auf ethische Bildung und die Vermittlung
ethischer Kompetenz in jenen Streitkräfteorganisationen, die in das Gefüge
demokratisch-freiheitlicher Staats- und Gesellschaftsordnung eingebettet sind.
Sachlicher Auslöser für diese Veranstaltungsreihe waren die neuen Herausforderungen, mit denen sich die Staaten Europas im Gefolge der drastischen
sicherheitspolitischen Veränderungen seit den 1990er Jahren konfrontiert sahen und die eine entsprechende Betonung der Fragen von Wertorientierung
und moralisch-ethischer Urteilsfähigkeit vor allem für militärische Führungskräfte erforderlich machten. Im Rahmen der strategischen und militärpolitischen Transformationsprozesse, die in den zwei Jahrzehnten seit Ende des
Kalten Krieges die Militärorganisationen mit neuen Prioritäten in der Aufgabenerfüllung hin zu internationaler Konfliktbereinigung und Friedenserhaltung
führten, hatte etwa die Deutsche Bundeswehr ihr Konzept der Inneren Führung an die neuen Gegebenheiten angepasst und Rückschlüsse für ihre Informations- und Medienarbeit gezogen. Ähnliche Entwicklungen fanden in
Österreich statt, wo der Beitritt zur Europäischen Union am 1. Jänner 1995
9
und die Mitwirkung an einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine
Neuorientierung der Neutralitätspolitik erforderlich machte. Der nahezu gleichzeitig erfolgende Beitritt zur NATO-Partnerschaft für den Frieden brachte massive Veränderungen für das Österreichische Bundesheer mit sich, das sich
sowohl organisatorisch als auch operativ an die neuen Möglichkeiten und
Verpflichtungen internationaler Kooperation anzupassen hatte.
Die mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung eintretende Tatsache, dass der Krieg bzw. die militärische Auseinandersetzung nun wieder
„führbar“ geworden war, wie sich dies etwa in den Golfkriegen, den regionalen
Unabhängigkeitskriegen am Balkan und dem Aufflammen des sich aus religiösen und ethnischen Motivationen nährenden politischen Extremismus bestätigte, rückte Fragen nach der Legitimität von Gewalthandeln und dem gerechtfertigten Einsatz staatlicher bzw. bündnisbezogener Gewaltinstrumente in den
Mittelpunkt geistig-moralischer Orientierung in Politik und Militär. Insbesondere
die Aussicht darauf, in Einsatzzonen mit subnationalen und irregulären Kräften
konfrontiert zu werden, die sich im Wege ihrer asymmetrischen Strategien
weder technologische noch rechtlich-moralische Schranken in ihrem Handeln
auferlegen, machte nicht nur entsprechende Anpassungen in den Einsatzvorgaben erforderlich, sondern verlangte überdies nach verstärkter Bewusstseinsbildung von Soldaten und vor allem Offizieren in kultureller und ethischer
Hinsicht.
Sowohl weltweite Einsätze im Rahmen multinationaler Streitkräfteformationen
als auch die potenziellen Einsatzgebiete in anderen Kulturregionen, von ethnisch-religiösem Antagonismus und häufig gewaltvoll ausgetragenen internen
Spannungen geprägt, machten die Festigung der eigenen kulturellen Identität
und eine entsprechende Wertorientierung für die im christlichen Kulturraum
verwurzelten Soldaten unumgänglich. Eine Bewusstmachung etwa der im
Deutschen Grundgesetz und in der Österreichischen Bundesverfassung verankerten Grundwerte, die ihre Wurzeln in der mittlerweile über zwei Jahrtausende währenden jüdisch-christlichen Tradition haben, sind für das Ethos
eines Soldaten, der sich als Vertreter einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung versteht, ebenso unumgänglich wie seine Bindung an die ethischen
Normen gerechter Kriegführung und moralisch einwandfreien soldatischen
Handelns im Einsatz.
In der offenen Gesellschaft, die sich unter den zeitgenössischen Bedingungen
als hochtechnisierte und hochkritische Informations- und Mediengesellschaft
versteht, dürfen sich jedoch Maßnahmen nachhaltiger Tragweite nicht nur ins
Innere einer staatstragenden Organisation richten, sondern sind dem sozialen
und politischen Umfeld gegenüber als wichtige Voraussetzung für Unterstützung und Akzeptanz, welche die Zivilbevölkerung den Streitkräften allgemein
10
und militärischen Einsätzen im Besonderen entgegen zu bringen hat, bekannt
zu machen. Die Sinndimension von Werthaltungen und ethischer Ausrichtung
von Soldaten und militärischem Führungspersonal steht daher in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Öffentlichkeitsarbeit der Streitkräfte und
beeinflusst maßgeblich deren Informations- und Kommunikationstätigkeit.
Die hier vorgelegte Publikation setzt sich daher zum Ziel, zum einen inhaltliche
Information und Orientierung zu moralphilosophischen Aspekten von Ethik und
Militärethik zu geben, die sowohl Lehrenden als auch Lernenden sowie an der
Thematik Interessierten Anregung bieten und zur weiterführenden Betrachtung
ermuntern soll; zum anderen behandelt sie Aspekte der Vermittlung von Ethik
in Bildungsmaßnahmen innerhalb von Streitkräften, wobei hier neben grundsätzlichen Überlegungen zur Vermittlung von Ethik in Militärorganisationen
auch konkrete Planungsmaßnahmen und Durchführungsmodelle in ihrer politisch-miltärischen Bedeutung zur Darstellung gelangen.
Im ersten Abschnitt wird in zwei grundlegenden moralphilosophischen Beiträgen inhaltliche Anregung zum Verständnis von Moral, Ethik und vor allem
Militärethik gegeben. Einleitend analysiert Edwin Micewski in seinem Essay
zur Ontologie von Moral, Ethik und über Militärethik zunächst die Begriffe von
Moral und Ethik und unterzieht drei moralphilosophische Herausforderungen –
die Dichotomie von Moralität und Legalität, die Problematik rein teleologisch
orientierten Handelns und die Gefahr des ethischen Relativismus – einer besonderen Kritik. Darauf aufbauend werden Ableitungen für militärische Ethik
gezogen und die Parameter für die Behandlung des angewandten Ethikbereiches der Militärethik umrissen. Uto Meier rückt in seinem Beitrag über ethische
Grenzen und moralische Wegweisungen die Verantwortungsdimension und
die Problematik der zweckrationalen Orientierung ethischer Entscheidungen in
den Vordergrund der Betrachtung. Mit Bezug auf aktuelle und historische
Beispiele begründet er drei Ebenen verantwortungsethischer Entscheidung
und skizziert die Grundzüge einer Elementarethik im Sinne einer naturrechtlichen Rückbesinnung auf das von Natur aus Rechte. Uto Meier beschließt
seinen Essay mit einer normativ-ethischen Grenzziehung und zeigt deontologische Parameter auf, die um des Menschen willen im menschlichen Handeln
nie überschritten werden sollten.
Im nächsten Abschnitt widmen sich drei Beiträge der Frage von Ethikvermittlung in Streitkräften. Thomas Schirrmacher benennt in seinem Beitrag über
ethische Bildung und Innere Führung in der Bundeswehr und in Streitkräften,
der von Edwin Micewski mit Bezug auf Österreich und Gegebenheiten der
internationalen Beziehungen ergänzt wurde, Dimensionen der Vermittlung von
Ethik in militärischen Organisationen. Hier kommen vor allem Aspekte des
11
Konzeptes Innere Führung und dessen Bedeutung für den Themenbereich
Militärethik zur Sprache, aber auch die Auswirkungen, die sich etwa aus dem
interkulturellen Konfliktmanagement, menschenrechtsgeleiteten Interventionen, den Erfahrungen des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan oder auch
den neuen asymmetrischen Kriegen für militärethische Bildung ergeben. Neben sicherheits- und verteidigungspolitischen sowie rechtlichen und organisatorischen Dimensionen wird die Rolle des christlichen Soldaten angesprochen
und als dessen Leitbild die Person von Wolf Graf von Baudissin, dem Gründer
des Konzeptes der Inneren Führung, gewürdigt. Im folgenden Beitrag gibt der
Kommandeur des Zentrums Innere Führung der Bundeswehr, Alois Bach,
einen Überblick über den Stand der ethischen Bildung in der Bundeswehr und
die Aufgabe, die in der Vermittlung der militärethischen Bildung dem Zentrum
für Innere Führung zukommt. Der Autor erläutert die Zielgruppen, an die sich
militärische Bildung richtet, beschreibt die Orte der Vermittlung, an denen
militärethische Inhalte innerhalb der Bundeswehr vermittelt werden und benennt Ziel und Zweck, aber auch die Grenzen der Militärethik. Der Beitrag von
Edwin Micewski zur Berufsethischen Bildung (BeB) beschreibt die Besonderheit militärischen Führens und verweist auf die unterschiedlichen Zugänge,
Gewichtungen und Schwierigkeiten, die sich in der ethischen Bildung vergleichsweise feststellen bzw. verorten lassen. Darauf aufbauend wird das
Konzept zur Berufsethischen Bildung, wie es im Österreichischen Bundesheer
als sozialwissenschaftliches Projekt entworfen wurde, als ein mögliches und
durchaus beispielgebendes Modell für die Organisation ethischer Bildung in
einer Militärorganisation vorgestellt. Ein weiterer Beitrag von Thomas Schirrmacher widmet sich einer Darstellung und Kritik der Konstanzer Methode der
Dilemma-Diskussion, die mittlerweile in zahlreichen Erziehungsbereichen und
politischen Anwendungsfeldern zur Ethikvermittlung herangezogen wird. Neben der Herausarbeitung der Schwächen der Konstanzer Methode vor allem
aus christlicher Sicht wird deren spezielle Brauchbarkeit für die Vermittlung
militärischer Ethik in Zweifel gezogen.
Den Abschluss der Publikation bildet eine Zusammenfassung von Beratungsprotokollen und Ergebnispapieren, die im Verlauf der einleitend genannten
Expertengespräche und Konferenzen erstellt worden waren. In diesen werden
Gedanken zur Ethikvermittlung genannt, die von den zivilen und militärischen
Experten in die Beratungen eingebracht wurden und Zukunftsperspektiven für
die Weiterführung des Projektes Ethik im Kontext militärischer Führung sowohl
in nationalem Rahmen wie auch im Hinblick auf staatenübergreifende Kooperation eröffnen.
Die Herausgeber bedanken sich zum Schluss bei den Autoren für die Zurverfügungstellung ihrer Beiträge, beim Kommandeur der Akademie für Information und Kommunikation der Deutschen Bundeswehr, Oberst Axel
12
Hecht, für die Freigabe der Konferenz- und Tagungsunterlagen und bei Mag.
Christian Wagnsonner vom Institut für Religion und Frieden für die vorzügliche redaktionelle Betreuung der Publikation. Besonderer Dank gilt auch Dr.
Andreas Berns, der als damaliger Mitarbeiter der Akademie für Information
und Kommunikation der Bundeswehr, gleichsam als Spiritus rector der Veranstaltungsreihe, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch entscheidende
Impulse setzte. Besonders zu würdigen sind das Engagement und die Bereitschaft von Bischofsvikar Dr. Werner Freistetter, Leiter des Instituts für
Religion und Frieden (IRF) des Katholischen Militärbischofsamtes im Österreichischen Bundesheer und von Generalmajor Alois Bach, dem Kommandeur des Zentrums Innere Führung (ZIF) der Deutschen Bundeswehr, die
zum Gelingen dieser Publikation nicht allein durch die Verfassung eines
Geleitwortes und eines Beitrages maßgeblich beigetragen haben. Während
durch die Schirmherrschaft des Instituts für Religion und Frieden die Herausgabe dieser Buchpublikation im Rahmen der renommierten EthicaSchriftenreihe des IRF auf ansprechende und kostengünstige Weise möglich
wurde, gewährleistet die bedeutende Rolle, die sowohl das IRF als auch das
ZIF in der Ethikbildung in ihren jeweiligen Streitkräftebereichen spielen, dass
diese Publikation entsprechende Verbreitung und Aufmerksamkeit genießen
und hoffentlich zur weiteren Intensivierung der Beschäftigung mit Fragen
militärischer Ethik im deutschsprachigen Raum beitragen wird.
13
Edwin R. Micewski
Zur Ontologie von Moral und Ethik und
über militärische Ethik
Im größeren weltgeschichtlichen Rahmen scheinen sich Krieg und Frieden in
einer zeitlosen dialektischen Konstellation gegenüberzustehen, einander
kontinuierlich abzulösen und eine perenne polemologische Seinsstruktur zu
bestätigen. Innerhalb dieser kommt dem Krieg, dem bewaffneten Konflikt in
jeglicher Form, die Stellung des Unerwünschten und zu Verneinenden zu
und der Friede wird als das anzustrebende Gute angesehen; 1 aber auch
wenn der Friede stets das Ziel der Bestrebungen, vor allen Dingen auch des
Krieges, sein mag, so ist er doch nicht der Normalzustand und muss, wie
Immanuel Kant dies ausdrückte, immer wieder aufs Neue „gestiftet“ werden.
Die Friedensstiftung, -bewahrung und -wiederherstellung bildet daher aus
gutem Grund seit Augustinus das Kernelement redlicher militärischer Identität und – modern gewendet – auch militärisch gestützter und getragener
Sicherheitspolitik.
Viele verweigern sich jedoch dieser dichotomen Realität, beschränken sich
auf den Frieden und verdrängen den Faktor Gewalt und die Potenzialität des
Krieges als etwas quasi Abwegiges. Aber während die reduktive Betrachtung der Wirklichkeit dem Einzelnen vielleicht psychologische Stütze in der
persönlichen Lebensbewältigung sein mag, so kann sie doch die Beschaffenheit des Seins nicht verändern. Die Hoffnung der allein auf den Frieden
Bedachten, die Position der moralischen Überlegenheit einzunehmen, ist
vergebens. Gegen Gewalt zu sein, um Aristoteles sinngemäß wiederzugeben, macht noch keine schöne Seele und der postmoderne Theoretiker
Jean-Francois Lyotard weist darauf hin, dass die Wirklichkeit selbst der
Widerstreit ist und nicht bloß das Böse in ihr. 2
Die letztlich polemologisch geprägte Wirklichkeit führte in jüngster Zeit –
im Gefolge heftig umstrittener technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, aber auch nachhaltiger Veränderungen in den internationalen
1
Auf dies wird hingewiesen in Stupka, Andreas, Kriegsgeschichte und klassische kriegstheoretische Betrachtungen zur Asymmetrischen Kriegführung, in: Schröfl/Pankratz (Hrsg.), Asymmetrische Kriegführung – ein neues Phänomen der Internationalen Politik (Nomos), Baden-Baden 2003,
S. 41-56.
2 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1993.
15
Beziehungen – zu einer Renaissance der praktischen Philosophie und
dem allgemeinen Wunsch nach verstärkter moralischer Orientierung und
Ethikberatung. So führten etwa die Entwicklungen im Bereich der Gentechnologie zur Einrichtung von Ethikkommissionen in Ärztekammern und
medizinischen Fakultäten, Veruntreuungen großen Stils auf den Finanzmärkten förderten Anstrengungen im Bereich der Wirtschaftsethik und
erziehungs- und medienpolitische Gremien strebten angesichts von Wertekollisionen und Richtungsstreiten verstärkte ethische Beratung an. Nicht
zuletzt war diese Konjunktur des Ethischen das Resultat einer den herrschenden Gesetzeslagen rapide enteilenden Entwicklung und der sich
dadurch ergebende Orientierungsbedarf im Hinblick auf sittlich gerechtfertigtes Handeln.
In der Sicherheitspolitik führten die einschneidenden Veränderungen, die mit
dem Ende des Kalten Krieges in den internationalen Beziehungen stattfanden – allen voran die fortschreitende Denationalisierung und Privatisierung
der Politik mit dem Wirksamwerden nichtstaatlicher und subnationaler Kräfte, die ihre Anliegen mit den Mitteln und Methoden asymmetrischer Gewalt
vortragen – zur Wiederbelebung der ethischen Debatte rund um Fragen der
Legitimität soldatischen Gewalthandelns und die Anpassung der Theorie des
Gerechten Krieges an die paradigmatisch veränderten Bedingungen internationaler Politik.
Neue und veränderte Aufgabenzuordnungen bzw. -schwergewichte an
Streitkräfte, weg von der klassichen Landesverteidigung hin zu internationaler Konfliktlösung und humanitären Einsätzen in multinationalen Formationen, konfrontierten die Gewaltinstrumentarien der Staaten und Bündnisse
mit Herausforderungen, die vor allem die verstärkte Berücksichtigung
ethisch-moralischer Gesichtspunkte in der politischen und militärischen Führungsverantwortung mit sich brachten. Die Anforderungen an Kräfte in möglichen Einsatzszenarien, vor allem für militärische Kommandanten aller Ebenen, wurden komplexer. Die aus dem klassischen Konfliktbild gewohnten
klaren Zuordnungen in taktischer, operativer und strategischer Hinsicht hatten nicht länger Bestand in Einsatzspektren, in denen Entscheidungen auf
taktischer Ebene, etwa durch die Anwesenheit von Medienvertretern, strategische Bedeutung erlangen können, oftmals rasch in unklaren Lagen gehandelt werden muss und die Einsatzregelungen (Rules of Engagement/ROE) nicht alle Eventualitäten und mögliche Entwicklungen im Detail
im voraus reglementieren können.
Rasch war klar geworden, dass der klassische, symmetrische Krieg aus
ethischer Sicht einfacher zu behandeln ist, stehen sich in ihm doch reguläre
Streitkräfte mit eindeutigen humanitären Mindeststandards eines gemeinsam anerkannten Kriegsvölkerrechtes gegenüber. Zudem gestattet die klare
16
Trennung und Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten
sowie die Regelung militärische Einsatzabläufe innerhalb hierarchisch vorgegebener Strukturen die Bewältigung von ethischen Dilemmasituationen
bzw. lässt diese gar nicht erst entstehen.
Diese klassische Situation ist nun abhanden gekommen und im Sinne der
beschriebenen Entwicklung sind seit einigen Jahren verstärkt Bemühungen
zu verzeichnen, ethische Bildung in den Streitkräften zu strukturieren und zu
systematisieren. Dabei zeigen sich erhebliche Unterschiede in den nationalen Zugängen zu dieser Thematik und auch die Versuche, internationale
Projekte im Bereich der militärischen Ethik voranzutreiben, sind bisher ohne
nachhaltige Auswirkungen geblieben.3
Abgesehen von politischen, kulturellen, militärinstitutionellen (aber ebenso
methodologischen und durchaus auch semantischen) Differenzen, die konstruktive und produktive Zusammenarbeit erschweren, ist es natürlich der
Begriff der Ethik selbst, der schwer in den Griff zu kriegen ist und diesen
Bemühungen im Wege steht. Die Auffassungen über Ethik und Ethikvermittlung und die damit verbundenen Werthaltungen sind zumeist allein schon
zwischen den einzelnen Lehrbeauftragten an einer Institution bzw. innerhalb
einer Militärorganisation höchst unterschiedlich, welche bereits die Abstimmung ethischer Bildung innerhalb nationaler Grenzen zu einer großen Herausforderung werden lässt.
Um der eigentlich metaphysischen und somit zutiefst philosophischen Natur
der Ethik zu entfliehen, die wiederum langfristige und umfassende Ansätze
in ihrer Vermittlung mit sich bringt, werden pragmatische Wege in der ethischen Diskurskultur eingeschlagen, die nicht nur in sich problematisch sind,
sondern auch der eigentlichen Zielsetzung zuwiderlaufen. Durch methodische Reduktion des Gegenstandes auf Diskursmodelle 4 und die Behandlung von Fallbeispielen wird versucht, leicht nachvollziehbare und rezeptartige Handlungsanweisungen an die Hand zu geben, um die berufsethische
3
Als Beispiel dürfen hier die zum Großteil vom Autor dieses Beitrages initiierten und abgehaltenden Konferenzen im transatlantischen Kontext genannt werden, die in Zusammenarbeit etwa
mit dem Institut für Religion und Frieden (IRF) des Österreichischen Militärbischofsamtes, mit
dem US Center for Civil-Military Relations (CCMR) oder auch der internationalen Militärpädagogischen Vereinigung u.a. mit großer internationaler Beteiligung stattgefunden haben. Eine Fülle
von auf diesen Konferenzen beruhenden Publikationen stellen entsprechende Materialen zur
Verfügung und geben Auskunft über die kollaborativen Anstrengungen, haben aber in weiterer
Folge (noch) nicht zu der angestrebten nachhaltigen Vernetzung und substanziellen Zusammenarbeit geführt, die auch für den deutschsprachigen Raum noch aussteht und zu deren
Intensivierung die vorliegende Publikaton beizutragen hofft.
4 Vgl. etwa die in diesem Band enthaltene Kritik an der Konstanzer Methode der DilemmaDiskussion, S. 129-159.
17
Kompetenz ein für alle mal als erledigt abhaken zu können. Aber die Reduktion und Ausblendung der „metaphysischen Ganzheitlichkeit“, des Erfassens der Ethik als umfassendem und tiefgründigem Normwissen, mag
zwar vordergründig verwertbare Resultate erbringen, allerdings nur um den
Preis erheblicher qualitativer Einbußen.
Ethik ist jedoch nur einer der beiden operativen Termini, die im Begriff der
Militärethik enthalten sind. Das Feld einer Bereichsethik wie etwa der militärischen Ethik bedarf daher neben der Klärung des Begriffs der Ethik auch
und vor allen Dingen der Erfassung des Begriffs des Militärs und der vorurteilsfreien Erkenntnis dessen, was denn die Identität des Militärischen eigentlich begründet. Das Verständnis um die professionelle Identität eines
Soldaten, vor allem, was es bedeutet, militärischer Professionalist im liberaldemokratischen Umfeld zu sein, bildet eine wichtige Voraussetzung für ethische Erziehung.5
Hier sollen in erster Linie die Begriffe Moral und Ethik einer tiefgreifenden
Analyse unterzogen werden, die sowohl ontologische als auch philosophisch-wissenschaftliche Aspekte behandelt, bevor dann in einem weiterführenden Abschnitt Rückschlüsse für militärische Ethik gezogen werden.
Im Vordergrund der Betrachtung werden zunächst drei Aspekte stehen, die
mir im Zusammenhang mit dem Verständnis von Ethik unabdingbar erscheinen und die sich mir im Verlauf meiner Beschäftigung mit ethischen
Fragen sowohl als Vortragender als auch Autor als fundamental aufgedrängt haben: Zum ersten die Unterscheidung bzw. die potenzielle Kollision
von Moralität und Legalität als einer unentrinnbaren Dichotomie, die im Sein
des Menschen selbst angelegt ist; zum zweiten eine Kritik des Konsequenzialismus bzw. Utilitarismus als der in Politik und Gesellschaft (und durchaus auch im Militär) vorherrschenden Tendenz zu teleologischem Handeln,
das sich allein auf das Resultat des Handelns konzentriert und auf die zutiefst unethische Maxime des „der Zweck heiligt die Mittel“ stützt; und zum
dritten Anmerkungen zu bzw. die Verwerfung des ethischen Relativismus
und der Wertbeliebigkeit und das Plädoyer für einen Minimalkonsens ethischer Werte und Prinzipien. Darauf beruhend werden dann Rückschlüsse
zur Disziplin der Militärethik gezogen, die unter Berücksichtigung von in
anderen Beiträgen in dieser Dokumentation dargelegten Inhalte die Parameter militärischer Ethik beschreiben und in einen Gesamtzusammenhang
bringen.
5
Hiezu mehr und Näheres in meinem zweiten, in dieser Dokumentation enthaltenen Aufsatz
„Überlegungen zur ethischen Bildung im Militär und zur Berufsethischen Bildung (BeB) im Österreichischen Bundesheer“.
18
Ontologische Betrachtungen zur Ethik
Wird Ethik, in lebenspraktischer Absicht, als die – potenziell ins Grenzenlose
zu erweitertende – Verantwortung des Einzelnen gegenüber allen, die mit
ihm in sozialen und politischen Handlungsbeziehungen stehen, verstanden,
so wird ersichtlich, dass Ethik in allen Bereichen und Kontexten menschlicher Existenz als ontologisch unausweichliche Perspektive ins Spiel kommt.
In diesem Sinne ist Ethik bzw. die Unausweichlichkeit der ethischen Relevanz menschlichen Tuns und Handelns unmittelbar mit der menschlichen
Freiheit und ihrer Kehrseite, der Verantwortung, verknüpft.
Ist man Mensch, so ist man ja, wie der Philosoph Hans Jonas dies ausdrückt, zur Verantwortung begabt. Ein Talent, dem man sich nicht entziehen
kann und das wesentlich die moralische Qualität des Menschseins begründet. Verantwortung wahrzunehmen ist mithin eine ontologische, also im Sein
selbst angelegte, Herausforderung, die dem Menschen als Folge seiner
Freiheit aufgegeben ist oder, wenn man so will, der Preis der Freiheit und
gleichzeitig auch dessen unverbrüchliche Manifestation ist. Der Mensch ist
also gleichermaßen frei wie auch verantwortlich oder, anders ausgedrückt,
seine Freiheit liegt eben gerade in der Verantwortung. Somit ist der Sinn der
Freiheit das Verantwortlichsein.
Das Wissen um die eigene Verantwortlichkeit scheint eine der unmittelbarsten Grundtatsachen des menschlichen Bewusstseins zu sein. Dass wir uns
unsere Handlungen ’zurechnen’ in dem Sinne, dass wir die „Täter unserer
Taten“ (Arthur Schopenhauer) sind und dass unsere Handlungen von uns
’ursächlich’ ausgehen, ist gleichsam die Voraussetzung für Verantwortlichkeit. Wohl aus diesem Grund stellt Nikolai Hartmann mit Blick auf den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung fest: „Im Anspruch auf die
Zurechnung liegt einer der stärksten gegebenen Hinweise auf das ethisch
reale Sein der Freiheit“.6 Ist freies Handeln möglich und gegeben, dann kann
Verantwortung auch nicht abgeschoben werden. Dann ist der Mensch verantwortlich vor dem, was er in seinem Gewissen wahrnimmt und als gut und
richtig erkennt. So geht es aus anthropologischer und ethischer Sicht um
eine verantwortete Freiheit, die nach einem „Wofür“ der Freiheit und nach
einem „Wovor“ der Verantwortung fragt.
Auch wenn der Mensch als Individuum sich selbst gegenüber verantwortlich
ist in dem Sinne, dass er die Würde des Menschseins in sich selbst nicht
verleugnen soll, so begründet seine Sozialnatur doch, dass die moralischethische Kategorie der Verantwortung vornehmlich in seinem Verhältnis zu
anderen, in der humanen und sozialen Interaktion, eingefordert wird. Was
6
Nikolai Hartmann, Ethik, Berlin-Leipzig 1925, S. 665.
19
immer einer mit Bezug auf den anderen oder die anderen tut, trägt moralisch-ethische Qualität in sich und muss daher, unweigerlich, von der moralischen Kategorie der Verantwortung getragen, geleitet sein.
Der Berührungspunkt zwischen den Freiheitsansprüchen der Menschen,
also der Ort, an dem sich Verantwortung kristallisiert, ist die Gerechtigkeit,
welche die unbedingte, sittliche Forderung schlechthin bezeichnet und sich –
gemeinsam mit dem Guten – als Fundamentalbegriff der Ethik ausweist. Der
Leitbegriff der neuzeitlichen Philosophie und Politik, die Freiheit, findet – im
Kontext der Verantwortung – in der Gerechtigkeit ihre nähere Bestimmung
und Präzisierung. Denn im Sinne Kants und des deutschen Idealismus konkurriert Freiheit als Prinzip der praktischen Vernunft nicht mit der Gerechtigkeit, ganz im Gegenteil: die Gerechtigkeit, als sittlich-politische Kategorie,
erfährt durch den transzendentalen Begriff der Freiheit ihre Präzisierung und
nähere Begründung. Pragmatisch gewendet: sowohl die Freiheit (und Verantwortung) des Einzelnen als auch die Freiheit (und Verantwortlichkeit)
einer politisch-sozialen Ordnung verwirklichen sich in der Gerechtigkeit. Der
Begriff der Gerechtigkeit erfährt ethische Fundierung und Bestärkung etwa
auch in Schopenhauers Konzeption der Mitleidsethik, in der die Gerechtigkeit die erste Stufe der Moralität verkörpert, also das Minimalerfordernis für
ethisches Handeln darstellt.7
Hier fühle ich mich nun veranlasst, auf die Bedeutung des Dargelegten im
Hinblick auf Erziehung und Bildung zu verweisen, deren eigentlicher Sinn
nämlich wesentlich darin besteht, zur Wahrnehmung von Verantwortung zu
befähigen, mithin rechten Gebrauch von der eigenen Freiheit zu machen.
Die Rückführung der Freiheit auf die Idee der Gerechtigkeit und die auferlegte Begrenzung, welche die Freiheit durch die moralische Forderung der
Gerechtigkeit erfährt, ist von essenzieller Bedeutung, da die Fähigkeit zur
Verantwortung ja auf der schöpferischen Handlungsautonomie jener Person
beruht, die Verantwortung trägt. Bildung und Erziehung haben daher, in
diesem umfassenden Verständnis, nicht nur die Dimensionen von Wissen
und Können, sondern auch und insbesondere einen sittlichen Aspekt zu
enthalten, der dazu befähigen und ermuntern soll, Verantwortung in allen
Lebensbereichen recht wahrzunehmen.
Damit schließt sich der Kreis und wir sind beim legitimen Anspruch einer
berufsbezogenen ethischen Bildung angelangt, der wir ja in militärischer
7
Ich habe den Begriff der Gerechtigkeit und die Frage von Recht und Unrecht ausführlich analysiert in meinem Buch „Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit“ (Micewski; 1998) und
dieses ethisch-moralische Fundamentalkritirium sowohl unter Berücksichtigung zeitgenössischer
Ethiktheorien (Rawls, Habermas, Kohlberg) als auch transzendentalphilosophischer Ansätze (Kant,
Schopenhauer) einer umfassenden Betrachtung sowohl in menschlich-individueller, kollektiv(inner) staatlicher und international-(zwischen) staatlicher Hinsicht unterzogen.
20
Hinsicht hier besonders Beachtung schenken. Nicht übersehen werden darf,
dass die Frage von Moral und Ethik ja vor allem dort in den Vordergrund tritt,
wo Menschen einander potenziell weh tun, Leid antun, also besonders in
kriegerischen Auseinandersetzungen und in Fällen politisch-militärischer
Gewaltanwendung, als den nachhaltigsten Manifestationen menschlichen
Widerstreits. Dem Aspekt der sittlichen Orientierung für den Bereich politisch-militärischen Gewalthandelns im Sinne einer Militärethik, die als Bereichs- und Anwendungsethik aus einem umfassenden Verständnis normativer Ethik erfließt bzw. zu erfließen hat, sollte daher durchaus angemessene
Bedeutung zukommen.
Zur Ethik als philosophisch-wissenschaftlicher Disziplin
Bezüglich der Ethik gilt es zunächst die termini technici der praktischen Philosophie, nämlich Ethik, Moral und Sittlichkeit, zu definieren bzw. sich darauf
zu einigen, was diese im ethischen Diskurs allgemein und somit als Voraussetzung für den Diskurs in einer Bereichsethik, wie beispielsweise der Militärethik, bedeuten. Es bietet sich an, Moral als den Inbegriff für moralische
Normen und Werturteile, die quasi normativ-relevante Motivationslage des
Einzelnen in der Wahrnehmung seiner menschlich-sozialen Verantwortlichkeit, zu verstehen, während sich Sittlichkeit als das aufgrund des Herkommens Gewohnte auf die vorherrschenden ethischen Dispositionen eines als
Ganzheit verstandenen Gemeinwesens bezieht. Der Begriff der Ethik sollte
für die wissenschaftliche Erörterung moralisch und ethisch relevanter Sachverhalte und die systematische (philosophische) Reflexion über individuelle
und gemeinschaftliche Motivationslagen stehen.8
Wenn Ethik in lebenspraktischer Absicht auf die sinnvolle Gestaltung
menschlichen Zusammenlebens abzielt, so stellt sie als philosophisch-normative Disziplin die Frage nach den obersten Prinzipien des moralisch
Guten und Rechten, welche als Richtschnur menschliches Handeln anleiten sollen. Normative Ethik sucht als Prinzipienethik nach den grundlegenden Normen menschlichen Verhaltens und strebt danach, einen Bezug
zwischen Normen und Handlungen für die Umsetzung in der Praxis herzustellen. Aristoteles hebt bereits hervor, dass die Ethik als einer auf das
Handeln des Menschen gerichteten praktischen Disziplin mit den theoretischen Wissenschaften gemeinsam hat, eine Höchstform des Wissens zu
8
Zur Erhellung und Festlegung der begriffstheoretischen Abklärungen in der Ethik haben die
Beratungen mit DDr. Christian Stadler vom Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien
maßgeblich beigetragen, die wir im Rahmen der Wissenschaftskommission des Bundesministeriums für Landesverteidigung führten.
21
sein, nämlich das ultimative Wissen für den Gegenstandsbereich „sittliches
Handeln“.9
Wenn ich als den Gegenstand der normativen Ethik die Wirklichkeit erkenne,
wie sie sein soll, so ist damit gleichzeitig festgestellt, dass die Ethik eine
ideale Wissenschaft ist, welche das Ideale in die Wirklichkeit bringen will
oder, anders ausgedrückt, danach trachet, die Handlungswirklichkeit so nahe wie möglich an das Ideal heranzuführen, dabei anerkennend, dass der
Mensch im Besitz der Bedingungen der Möglichkeit ethischen Handelns ist.
Ethik ist daher gutes Handeln im Modus der Theorie und unterscheidet sich
als solche klar vom konkret praktizierten Ethos.
Dass das Ideale aber nicht allein mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden und im Horizont des Beobachtbaren erschlossen werden kann, begründet die metaphysische, d.h. über die bloße Erscheinung der Dinge und somit
über alle Erfahrung hinausreichende Natur der Ethik und bestätigt Kants
Devise, dass „die Metaphysik vorangehen (muss), und ohne sie kann es
überall kein Moralphilosophie geben“.10
Während Kants formales Metaphysikverständnis nicht nur gestattet, immer
wieder und aufs neue Metaphysik zu treiben, so macht es auch klar, dass
die Metaphysik Fragen und Probleme behandelt, welche die menschliche
Vernunft nicht abweisen kann (weil sie eben aus ihrer eigenen Natur hervorgehen), auch wenn sie diese aus eigener Kraft nicht (absolut und endgültig)
beantworten kann. Damit ist auch klargelegt, warum die Ethik als wissenschaftliche Disziplin in den mehr als zweitausend Jahren ihres Bestehens zu
keinen endgültigen Ergebnissen kam und auch nie kommen wird: Die Frage
nach der menschlichen Freiheit als Bedingung der Möglichkeit für verantwortetes Handeln verkörpert eine der drei transzendentalen und somit unabweisbaren Fragen der Metaphysik, deren Beantwortungsversuch uns unsere
Vernunft sozusagen als unabweisbare Dauerbeschäftigung aufgibt, derer sie
sich aber nicht durch das Auffinden einer letzten Antwort entledigen kann.
Wenn Ethik also die tiefsten Gründe des Menschseins berührt und sich Begründungszusammenhänge auftun, die jenseits rein empirisch-wissenschaftlicher Zusammenhänge liegen, so ist, zumindest in meinem Verständnis, Ethik
nicht ohne Verbindung zu Metaphysik, philosophischer Anthropologie, Ontologie und Epistomologie zu vermitteln. Wie soll jemand ohne Kenntnis der Unterscheidung des a priori vom a posteriori, des noumenon vom phenomenon,
des analytischen vom synthetischen Urteil in der Lage sein, etwa deontologische Ethikansätze gegenüber teleologischen, wie später noch ausgeführt, verstehen und unterscheiden zu können?
9
10
Aristoteles, Metaphysik, I. Buch (A), 1-2, besonders 981b-982a.
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Vorrede.
22
Ich erhebe also den Anspruch, dass ethische Handlungskompetenz in einem
höheren berufsbezogenen Sinn und vor allem für militärisches Führungspersonal auf das Fundament einer komplexen ethischen Theorie zu gründen ist,
welche allein es gestattet, die Kultivierung einer ethisch-moralischen Disposition zu bewerkstelligen und zu informiertem ethischen Bewusstsein zu
verhelfen. Die Befolgung vorgegebener Rezepturen oder das Räsonnieren
über philosophische Konzeptionen bzw. die Nachahmung historischer Beispiele führt zumeist dazu, dass das genuin und speziell Eigene jeder ethisch
relevanten Situation verkannt oder zu spät erkannt wird bzw. überhaupt
sowohl der Mut als auch die Fähigkeit zur eigenständigen moralischen Urteilsbildung abgeht. Die Chance auf adäquates ethisches Verhalten besteht
nur dann, wenn eine entsprechende innere Disposition, gleichsam eine
Inklination des Willens, anerzogen wurde, die immer wieder genährt und
weiter kultiviert wird.
Dies bedeutet aber nun nicht, dass jemand, der in ethischem bzw. moralphilosophischem Sinne ungebildet oder weniger gebildet ist, nicht moralisch
handeln könnte. Die Intuition zum moralisch Guten und Rechten ist potenziell jedem Menschen (ein-) gegeben. Die Fähigkeit zur Unterscheidung von
Recht und Unrecht, von gut und böse, scheint als ontologische Konstante
mit der menschlichen Natur gegeben und leitet sich als solche nicht von
äußeren Vermittlungen her. Die Einsicht, dass der Mensch nicht erst kraft
rechtlicher Satzung, sondern von Natur aus ein sittlich-autonom handelndes
Wesen ist, findet sich ja ursprünglich und maßgeblich bereits bei Plato. Ihm
zufolge erweist sich das Wahre und Gerechte durch sich selbst als wahr und
gerecht, nicht erst aufgrund heteronomer Vermittlung. Sokrates hält dies
seinen sophistischen Gegenspielern vor Augen und wirft ihnen vor, sie unterstellten ein Sittlichkeitsverständnis als gäbe es „ganz und gar kein in der
Seele ursprünglich gelegenes Wissen und sie setzten es hinein, als wenn
sie blinden Augen Sehkraft einsetzten.11
Ich habe auch, mit Rückgriff auf Schopenhauer,12 darauf hingewiesen, dass
zwischen der Grundlage und dem Grundsatz der Ethik zu unterscheiden ist.
Während diese über die Voraussetzung für ethisches Verhalten handelt,
beschäftigt sich jene mit den Handlungsweisen und Prinzipien, die Ethik
vorschreibt bzw. welchen sie eigentlich moralischen Wert zuerkennt. Während also „Grundsätze und abstrakte Erkenntnis für einen moralischen Lebenswandel“ unentbehrlich sind, so können sie niemals die „Urquelle, oder
11
Platon, Politeia, 518b.
Zu dieser Unterscheidung und zur Frage der eigentlichen Triebkraft, die zu moralischem Handeln führt, siehe das 2. Kapitel „Zur Bestimmung des ethisch-moralischen Fundamentalkriteriums“
meines Buches „Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit“ (Micewski; 1998).
12
23
erste Grundlage der Moralität bilden“.13 Grundsätze der Ethik, wie wir sie in
der normativen Ethik aufzufinden und auf die lebensweltlichen Bereiche
(Medizinethik, Medienethik, Militärethik, ...) zu übertragen trachten, und
abstrakte Erkenntnis, wie wir sie in der ethischen Bildung zu vermitteln suchen, müssen also auf eine entsprechende Qualität des menschlichen Wollens treffen, um im Handeln verwirklicht zu werden. Diese beiden Aspekte
werden zumeist nicht unterschieden bzw. ausreichend differenziert, da die
erkenntnistheoretischen Voraussetzungen für die Komplexität ethisch relevanten Handelns ausgeblendet oder gar nicht veranschlagt werden.14
Dieser hier geforderten Intellektualisierung der ethischen Bildung steht die
pragmatische Ethos-Auffassung gegenüber, welche die abstrakte ethische
Theorie zu minimalisieren und Zeit einzusparen trachtet, vor allem aber, um
die Gefahr eines individuell-eigenständigen Moralurteils gar nicht aufkommen
zu lassen, konkrete Rezepturen, ethische Handlungsanleitungen und Verhaltenskodices ausgibt und dem erfahrungsgestützten Zugang tugendethischer
Konzeptionen folgt.15
Diese pragmatische Auffassung trachtet danach, den Gegenstandsbereich
der Ethik mit nahezu absoluter Verbindlicheit zu regeln. In größerem kulturphilosophischen Sinne folgt sie dem verhängnisvollen Irrweg der politischen
Moderne, die ja den Versuch der vollkommenen Ethisierung des Daseins
unternommen hat, der aber dem eigentlich aporetischen Charakter der Ethik
nicht gerecht wird. Das ethische Denken soll in Verbindung mit ethischen
Verhaltensanweisungen und dem Recht die radikale Lösung einer allgemeinen und universalen lebenspraktischen Rezeptur bereitstellen. Damit aber
wird das, was im Unterschied zum Begriff Ethik die Moralität ausmacht,
nämlich das individuelle Bewusstsein persönlich-individueller Verantwortung,
gleich mit ausgelöscht.
Zur Dichotomie von Moralität und Legalität
Die Auflösung individueller Moralität in kollektive Sittlichkeit reduziert persönliche Verantwortung auf die Befolgung von Regeln, die als für die
13
Schopenhauer, Fundament der Moral, 176 bzw. 254.
Ich habe der Frage der „moralischen Motivation“ jüngst ein Essay unter dem Titel „Moral Motivation of Military Professionals – A Military-Philosophical Approach“ gewidmet, der in Kürze im Rahmen einer Buchpublikation der Universität Frankfurt erscheinen wird. Infolge der zumindest intuitiven Erkenntnis dieser Sachlage sind vor allem im anglo-amerikanischen Raum in jüngster Zeit
verstärkt Versuche zu verzeichnen, die ethische Bildung militärischen Führungspersonals mit
Charakterbildung zu verbinden.
15 Dieser Pragmatismus wird etwa, aber nicht nur, in Großbritannien und Australien gepflogen und
versinnbildlicht sich in dem Slogan: Ethics should be „caught“ but not „taught“.
14
24
gesellschaftliche Gemeinschaft vernünftig und deren Beibehaltung als allgemein erstrebenswert angesehen wird. Das „moralische Gesetz in mir“,
von dem noch Immanuel Kant gesprochen hatte, somit also die eigentliche
Moralität, wurde und wird durch einen „legalen Code“ ersetzt und die „Ethik
den Rechtsstrukturen“ nachgebildet, wodurch individuelle Verantwortung,
lebenspraktisch gesprochen, auf die Befolgung oder das Brechen von
sozial gebilligten, ethisch-legalen Regeln übersetzt und auf diese reduziert
wird.
Selbstverständlich ist nicht zu leugnen, dass diese Vorgehensweise
durchaus erwünschte Auswirkungen auf menschliche Koexistenz haben
kann und dies auch unzweifelhaft hat; es kann aber auch nicht bestritten
werden, dass die bloße Unterordnung des Ichs unter existierende Normen
und Gebräuche den Möglichkeiten des moralischen Selbst keineswegs
gerecht wird.
In den Streitkräften verdichtet sich diese Tendenz zur unentrinnbaren Gehorsamsverpflichtung, zum buchstäblichen Befolgen von militärischen Anordnungen, Ethical Codes of Conduct und Rules of Engagement, in letzter
Konsequenz häufig zum Warten und Nichtstun, wenn der erforderliche Befehl ausständig ist oder verspätet eintrifft. Srebrenica und Rwanda sind nur
zwei Beispiele, wo die verheerenden Folgen dieses Verständnisses in großem Stil und für die ganze Welt sichtbar wurden. Weit davon entfernt, zur
Befehlsverweigerung oder zu selektivem Gehorsam zu ermuntern, geht es
mir im Gegenteil darum, zur Einsicht zu verhelfen, dass verantwortliches
Handeln in letzter Konsequenz nicht allein an Gesetze zu binden ist und in
schwierigen Lagen oft nur erreicht werden kann, wenn das moralische Bewusstsein des Einzelnen voll zur Geltung kommt.
Worauf ich hinaus will in diesem Zusammenhang ist die ontologisch bedeutsame Differenz von Moralität und Legalität, die Möglichkeit des Menschen, außer- oder vorrechtlich zu handeln. Sie ist gewiss nicht unproblematisch, vor allem in Organisationsbereichen wie den Streitkräften, wo die
Funktionseffizienz häufig vom raschen und reibungslosen Vollzug erlassener Vorgaben abhängt; der Versuch der Aufhebung oder die Negierung
dieses Antagonismus von Legalität und Moralität erweist sich aber als
verhängnisvoll und in vielen Fällen als besonders schmerzhaft.
Zum leichteren Verständnis dieser ontologischen Dichotomie sei hier
schematisch eine an Immanuel Kant angelehnte Übersicht eingefügt, die
von mir in Seminaren und Ethikkursen verwendet wurde und welche die
kriteriellen Unterschiede von Moralität und Legalität aufzeigt und leichter
fasslich macht:
25
Moralisches Recht
Positives (Gesatztes) Recht
Rationale Erfassung von
Recht – Unrecht
gerecht – ungerecht
Beruht auf Prinzipien
moralischen Rechts
Auferlegt die Verpflichtung
- zum subjektiv-innerlichen „Sollen“
- die Verwirklichung des Gerechten
zur Maxime meines Handelns zu
machen
(darf nicht willkürlich gesatzt/kodifiziert werden)
Auferlegt die Verpflichtung
- einer externen Handlungsanweisung Folge zu leisten
- sich gesetzeskonform zu verhalten
Gegenstand individuell-subjektiver
Disposition
Befolgung nicht erzwingbar
Kollektiv-objektive Sozialfunktion
Mit dem Kriterium der Erzwingbarkeit und
Vollzug des Durchsetzungsanspruchs
verknüpft (Pazifizierungsfunktion)
Moralität
Interner Handlungsantrieb/Motivation
Legalität
Handlungsauswirkung/-ergebnis
© Micewski 2012
Gegen die Bestrebungen der Auslöschung persönlich-individueller Verantwortung waren und sind immer wieder Versuche zu verzeichnen, die Wiedereinführung der Moralität in dem hier dargelegten Sinne zu verlangen. So
stellt etwa der Philosoph Emanuel Levinas fest: „Das Ich hat immer ein Mehr
an Verantwortlichkeit als alle anderen.“16
Die Moralität – oder, wenn man so will, die Letztverantwortung des Einzelnen, die er nur vor sich und seinem Gewissen haben kann – ist demnach
größer als jede sittliche wie rechtliche Norm. Der Mensch ist also nicht
moralisch wegen oder dank der Gesellschaft; dank ihrer ist er nur ethisch
oder gesetzestreu. An dieser Stelle zeigt sich sehr eindringlich der bereits
oben erwähnte Zusammenhang von theoretischem und sittlichem Urteil,
oder anders, dass das theoretische Urteil dem sittlichen vorangeht. Es gibt
kein Selbst ohne moralisches Selbst. Oder wiederum anders: es gibt kein
Selbst vor dem moralischen Selbst – die Moral ist die erste Wirklichkeit des
Selbst. Und da jede menschliche Kollektivität nur in ihren Individuen wirklich
ist, kann das moralische Selbst nur Ausgangspunkt und nicht Endprodukt
der Vergesellschaftung sein. Man könnte auch formulieren, dass die ethische Substanz einer menschlichen Gemeinschaft die Summe der ihr innewohnenden individuellen Moralität ist. Dasselbe gilt für den Soldaten und
vor allem für den Offizier. Moralisch zu sein bedeutet mehr – nämlich im
16
Emanuel Lévinas, Ethik und Unendliches, Wien 1986, S. 75.
26
innersten Grunde völlig auf sich selbst und damit auf die eigene Freiheit
verwiesen zu sein.
Selbstverständlich resultieren Gefahren aus der Tendenz, auf individualmenschliche Intuition zu setzen. Andererseits aber führt die Re-Personalisierung der Moral dazu, das ethische Gewebe des Sozialen und Politischen
zu verdichten. Es gibt gute Gründe, die Sicherung der menschlichen Koexistenz (wieder) dem Moralvermögen des Einzelnen anzuvertrauen und die
„innerste Moralvertrautheit“17 als letzte ethische Instanz wiederzubeleben.
Diese ontologisch bestehende Dichotomie ist für das Verständnis von Ethik
im Kontext menschlicher Freiheit und individueller Verantwortung im Sinne
freiwillig geübter Gerechtigkeit von überragender Bedeutung. Auch im Militär
ist zu beachten, dass die letzlich autonome moralische Verantwortung nicht
durch heteronome ethische Verpflichtungen ersetzt werden kann bzw. ersetzt werden darf.
Zur teleologischen Konsequenzorientierung in der Ethik
Nutzenkalkulatorische Ansätze stehen sowohl in der philosophischen Theorie der Moderne als auch in der Praxis zeitgenössischer Politik im Vordergrund des Interesses. Nicht zuletzt fördert die auf Profit- und Ertrag, individuellen Vorteil und persönliches Glücksstreben gerichtete Leistungsorientierung der (post) modern verfassten westlichen Gesellschaften jene Handlungsansätze, die ethisch-moralisches Verhalten aus der Kalkulation individuellen oder kollektiven Nutzens zu begründen suchen.
Lebenserfahrung und mein persönlicher Umgang mit Offizieren bzw. meine
Lehrveranstaltungen bestätigen, dass die meisten Menschen und der überwiegende Teil des militärischen Führungspersonals zur utilitaristischen Betrachtungsweise neigen; zumindest so lange, bis sie sich ernsthaft mit Ethik
auseinanderzusetzen beginnen. Dies ist zunächst nur allzu verständlich, denn
wer immer handelt, strebt ein bestimmtes Ziel an, das mit dem Handeln erreicht werden soll. Und ist es nicht völlig vernünftig und legitim, das Beste für
sich und die einem Anvertrauten herauszuholen? Muss nicht insbesondere
der militärische Führungsverantwortliche auf das Wohlergehen seiner Untergebenen bedacht sein? Natürlich muss er das und es kann niemandem
verübelt werden, sein Glück und das für ihn Beste anzustreben. Dieser Ansatz beginnt erst dort problematisch und eigentlich unethisch zu werden, wo
er die Maxime, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligt, außer Acht zu lassen
beginnt. Darf etwa das Bestreben, ein in sich ethisch einwandfreies Ziel wie
17
Zygmunt Bauman, Postmoderne Ethik, Hamburg 1995, S. 59.
27
beispielsweise ein Examen zu bestehen, den Einsatz aller Mittel – Erstehlen
der Prüfungsfragen, Schwindeln, Abschreiben,– rechtfertigen? Rechtfertigt
das in sich legitime Ziel, ein bestimmtes Karriereziel zu erreichen, etwa die
Denunziation von Mitbewerbern? Darf ein militärischer Kommandant, um ein
bestimmtes Gefecht zu gewinnen, vielleicht gar, weil ihm dies weitere Beförderung und Auszeichnung verheisst, jegliches Mittel einsetzen, gleich was
dies an Menschenopfern und Leid mit sich bringt? Nicht nur die Kriegsgeschichte ist voll von Beispielen, welche die zutiefst unmenschlichen (und
somit unethischen) Ergebnisse des Handelns aufzeigen, das ein gewünschtes Handlungsresultat um jeden Preis herbeizuführen beabsichtigt.
Das Problem oder die Schwäche des Konsquenzialismus liegt daher nicht
darin, auf das Ergebnis des Handelns gerichtet zu sein, sondern ist vielmehr
in der Tendenz zu sehen, dieses Ergebnis um jeden Preis anzustreben.
Diesem Ansatz fehlt ein ethisches Regulativ entlang des oben aufgezeigten
Prinzips der Gerechtigkeit bzw. unterliegt ihm die Verfolgung einer missverständlichen Auffassung von Gerechtigkeit. Hängt der Wert jeder ethischen
Theorie von der In-Beziehung-Setzung der beiden Hauptbegriffe der Ethik,
des Rechten und Guten, ab, so scheitert der Utilitarismus daran, zunächst
das Gute (hier also die bestmögliche Förderung und Befriedigung des gewünschten Ergebnisses) unabhängig vom (Ge) Rechten zu definieren, um
schließlich das Rechte als das festzulegen, welches das Gute maximiert.18
Zweifellos beruhen zahlreiche ethisch ungerechtfertigte Handlungsweisen
auf der Tatsache, dass viele in ihren Entscheidungen auf das unbedingte
Erreichen des gewünschten Resultats versessen sind und vergessen, dass
der Zweck niemals alle Mittel heiligen kann. Als Regulativ kann hier die Einsicht in die von Aristoteles aufgestellte Maxime behilflich sein, welche auffordert, die theoretische Maxime der Vernunft mit der praktischen Maxime
der Weisheit zu verbinden:
„Ferner kommen die menschlichen Handlungen unter dem maßgebenden Einflusse der Klugheit und der sittlichen Tugend zu stande. Die Tugend macht, daß
man sich das rechte Ziel setzt, die Klugheit, daß man die rechten Mittel dazu
wählt.“19
Ethische Unterweisung hat sich also unweigerlich mit der verführerischen
Maxime des „Der Zweck heiligt die Mittel“ auseinanderzusetzen und das
Spannungsfeld von deontologischer und teleologischer Ethik zu behandeln.
Ethische Urteilsfähigkeit, als Ziel ethischer Bildung und Unterweisung, wird
18
Vgl. hiezu auch W. K. Frankenas Kritik der teleologischen Theorie in: Ethics, Englewood Cliffs
1963, vor allem S. 13f.
19 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Leipzig 1911, 1144a.
28
daher sowohl Vernunftregeln als auch situative Klugheit und praktische
Weisheit veranschlagen und in jeder Situation danach trachten, die Freiheitsansprüche jedes Menschen mit dem Maßstab der ethisch Guten und
Gerechten zu vereinen. Nur dadurch können die kollidierenden Ansprüche
zwischen Handelnden bzw. Beteiligten in ethisch relevanten Situationen
ausgesöhnt und bestmögliche Entscheidungen getroffen werden.
Die Interessensabwägung und das Dilemma der lebenszugewendeten ethischen Entscheidung, oft das kleiner von zwei Übeln wählen zu müssen, hat
die Denker von jeher beschäftigt. Bereits bei Aristoteles finden wir im Kontext des Notstandes bzw. der Notwehr den Gedanken der Kollision zweier
Rechtsgüter, in dem entschieden werden muss „welches von zwei Dingen
man wählen, und welches von zwei Übeln man ertragen soll“. 20 Hegel wird
das beinahe zwei Jahrtausende später konkretisieren, in dem er in der Notfallsituation, als der ethischen Entscheidungssituation par excellence, die
Erhaltung überweigender, d.h. qualitativ höherer oder quantitativ umfangreicherer Rechte, auch dann als gerechtfertigt ansieht, wenn dadurch die
Rechte und Interessen anderer eingeschränkt werden. 21 Dieses der unvoreingenommenen Vernunft selbstevidente Prinzip ist für die Militärethik von
besonderer Bedeutung, muss doch in Situationen militärischer Gewaltanwendung häufig beispielsweise zum Schutz von bedrohten Personen das
Leben anderer aufs Spiel gesetzt bzw. in extremis sogar genommen werden.
Wie noch gezeigt werden wird, besteht das Fundamentalproblem der militärischen Ethik ja darin, die Legitimität von Gewaltanwendung, die potenziell
den Tod anderer wie des eigenen impliziert, ethisch zu begründen und die
Grenzen und Kriterien für sittlich legitimes soldatisches Handeln aufzuzeigen.
Für das in diesem Abschnitt behandelte Thema der Abwägung eigener Interessen und angestrebter Handlungsresultate mit den Ansprüchen anderer,
die von diesen Handlungen betroffen sind – was die Verfolgung eigener Zwecke um jeden Preis für immer als unethische Maxime ausweist – gibt uns
auch Franz Böckle eine wichtige Hilfestellung. Er betont, dass es sich bei
handlungsrelevanten Entscheidungen immer wieder um eine Entscheidung
zwischen Gütern und Werten handelt.22 Unter Gütern werden reale Gegebenheiten verstanden, die zwar unabhängig von unseren persönlichen Intentionen existieren, aber unserem Handeln vorgegeben und zur verantwortlichen
Beachtung aufgegeben sind, wie etwa die leibliche Integrität, geistiges oder
20
21
22
Ebenda, 1110a.
Dargelegt u.a. in Theodor Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, Tübingen 1965, bes. S. 84.
Franz Böckle, Fundamentalmoral, München 1978, S. 259ff.
29
materielles Eigentum, aber auch institutionelle Faktoren wie Ehe, Familie,
Staat. Werte hingegen sind geistig-moralische Größen, die nur „als Qualitäten
des Willens als real existent“ angesehen werden können, wie etwa das subjektive Verständnis von Gerechtigkeit oder auch Treue, Solidarität, Kameradschaft. Nun stehen sich in Situationen, in denen sittliches Handeln gefordert
ist, konkurrierende Güter und Werte gegenüber, die vom handelnden Subjekt
eine Entscheidung fordern, welchem der kollidierenden Güter und Werte es
den Vorzug einräumt. Um nun Prioritäten sinnvoll festlegen zu können und
eine „Tyrannei der Werte“ (Nikolai Hartmann) zu vermeiden, schlägt Böckle
vor, das Prinzip der Fundamentalität – welches demjenigen Gut den Vorzug
gibt, das die notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung eines anderen
ist – und das Prinzip der Dignität, welches die Werte nach ihrer jeweiligen
Sinnfülle ordnet und wiederum das Fundamentalgut in einen Sinnkontext
bringt, zu veranschlagen. So würde es normativ das Prinzip der Fundamentalität beispielsweise nicht gestatten, das Recht zu freiheitlicher Selbstbestimmung über das Gut, das die Voraussetzung dafür bildet, nämlich das Recht
auf Leben, zu stellen; es sei denn, dass in einer konkreten Situation etwa die
Verhinderung freiheitlicher Selbstbestimmung mit dem Versuch physischer
Auslöschung einhergeht; was das Fundamentalgut durch die Betrachtung auf
der Ebene der Dignität in einen neuen Sinnzusammenhang bringt.
Ethisch relevante Urteile sind zumeist gemischte Urteile, die sich aus Tatsachen- und Werturteilen zusammensetzen und – wenn Ethik in den Kontext
übergreifender Daseinsbedingungen gestellt werden soll, die sich mehr als
die eigene Zweckerfüllung zum Ziel setzt – die beiden Schlüsselpositionen
des Sittlichen – die Grundhaltung der Klugheit (Bedingtheit) und Pflicht (Unbedingtheit)23 – im konkreten Handeln zu verwirklichen sucht.
Zum ethisch-moralischen Relativismus und Partikularismus
Relativismus und Partikularismus scheinen die logische Konsequenz des
zeitgenössischen Zustands der kulturellen und gesellschaftspolitischen Orientierung zu sein, die jener Denkweise nähersteht, die darauf verzichet,
sowohl Wirklichkeit als auch Wertüberzeugungen einheitlich zu gestalten.
Allerdings zeigt sich in ideengeschichtlicher Perspektive, dass sich die Frage
nach einer universalen Ethik sowohl in der philosophischen Ethik als auch
der politischen Philosophie als perennes Problem präsentiert, das sich heutzutage vor allem im Zusammenhang mit einer immer dependenter werdenden Menschheit mit besonderer Aktualität wieder stellt.
23
Wilhelm Korff, Wie kann der Mensch glücken?, München 1985, S. 10.
30
Dass die ethische Begründung bzw. der Begründungsversuch jedoch als
gleichsam existenzielles Bestreben zu verstehen ist, wird in Ernst Tugendhats These deutlich: „Nur mit Bezug auf die Moral ist das Begründungsproblem eines Notwendigkeit des konkreten Lebens“. 24 Bei wissenschafltichen
oder ästhetischen Urteilen könnte man das Problem ihrer Begründung als
rein akademische Angelegenheit betrachten, nicht so bei ethischen, die mit
konkretem lebensweltlichem Handeln zu tun haben.
Ich pflichte auch P.F. Strawson bei, wenn dieser in seiner Phänomenologie
des sittlichen Bewusstseins zum Ausdruck bringt, dass erst der Anspruch
allgemeiner Geltung, einem Interesse, einem Willen oder einer Norm die
Würde moralischer Autorität verleiht.25 Robert Spaemann geht sogar einen
Schritt weiter, wenn er den Gedanken zum Ausdruck bringt, dass „jede Philosophie einen praktischen und theoretischen Totalitätsanspruch stellt“,
wobei „ihn nicht zu stellen“ gleichzusetzen wäre mit „nicht Philosophie zu
treiben“.26 Natürlich muss hier, um Missverständnissen vorzubeugen, hinzugefügt werden, dass das intrasubjektive Streben des philosophischen Denkers nach philosophischer Wahrheitserkenntnis nicht mit der Aufforderung
zu einem totalitär-dogmatischen Umgang im Menschlichen wie Politischen
verwechselt oder als solcher verstanden werden darf.
Es ist auch wichtig darauf hinzuweisen, dass dieser Denkansatz nicht darauf
abzielt, Relativismus in allen Lebensbereichen aufzuheben oder gar ein
Mikromanagement kultureller und religiöser Besonderheiten betreiben zu
wollen. Worum es geht ist eine Wertübereinstimmung auf fundamentaler
Ebene, um das Auffinden eines „ethischen Minimalkonsensus“, der ungeachtet individueller Wertungen und Interessen, gesellschaftlicher und religiös-weltanschaulicher Orientierung und Zugehörigkeit, von allen Menschen
und menschlichen Gemeinschaften als außerempirische Form der Wirklichkeit anerkannt werden kann.
Der Kernbestand eines gemeinsamen ethischen Normenverständnisses wird
sich daher auf Aspekte wie die Würde der menschlichen Person, individuelle
und gemeinschaftliche Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte sowie Gerechtigkeitsvorstellungen im Zusammenhang mit den sich immer wieder manifestierenden Dimensionen des Widerstreits von Interessen und deren potenziell gewaltvoller Austragung zu beschränken haben. Ethische Grundlagen, welche sich auf die politische Macht- und Gewaltkultur sowohl inner- als
24
Ernst Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 57.
P.F. Strawson, Freedom and Resentment, London 1974, zitiert in: Jürgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983, S. 59.
26 Robert Spaemann, Der Streit der Philosophen, in: H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie?, Berlin
1978, S. 96.
25
31
auch zwischenstaatlich beziehen, werden als Kernelement eine Ethik enthalten müssen, die sich mit Gewaltanwendung und der Verwendung des militärischen Instrumentariums beschäftigt.
Schon Plato hatte vor der Gefahr der Wertbeliebigkeit gewarnt, welche insbesondere die Demokratie bedroht. Der ethisch-moralische Relativismus bzw.
Partikularismus hatte ja im antiken Griechenland in Form der Sophistik Gestalt angenommen und begonnen, die Bedeutung der staatlichen Institutionen
auszuhöhlen und der individuellen Beliebigkeit anheim zu stellen. Am Ende
sah Plato die Tyrannis, der niemand mehr bereit ist entgegen zu treten, um
die dekadent gewordenen demokratischen Institutionen zu verteidigen.27
Es muss also auch in der Demokratie angestrebt werden, ethische Werte
und normative Grundpositionen aufzufinden, die von allen Kräften der Gesellschaft auf Basis eines „sittlichen Minimalkonsenses“ akzeptiert und zum
Maßstab des sozialen und politischen Verkehrs gemacht werden können.
Dabei muss ein normatives Ethikmodell dem Anspruch weltlicher Gültigkeit
und konsensfähiger Plausbilität genügen, mithin also lebenszugewendet
sein und somit anthropologische und empirische Gesichtspunkte berücksichtigen. Umso mehr ein solcher Minimalbestand an ethischen Prinzipien beanspruchen muss, gegenüber jedem begründbar zu sein, ohne sich auf höhere
Wahrheiten zu berufen, muss es zumindest dem Erfordernis genügen, unparteiisch und im Interesse aller zu sein. Im zeitgemäßen Kontext, in dem
Letztbegründungsversuche von vornherein misstrauisch machen, wird die
Frage, ob ein normatives System begründet ist daher eher in die Frage gewandelt, ob es gute Gründe gibt, es zu akzeptieren.
Der Anspruch normativer Gültigkeit geht überdies mit der Erscheinung
höchster Abstraktion einher und und entbehrt somit konkreter Inhalte. Normative Gültigkeit ist daher in erster Linie formale Gültigkeit und muss dies
auch sein, da sich das normative Prinzip ja auf alle denkbaren empirischen
Situationen anwenden lassen muss. Allerdings darf diese formale Gültigkeit
und Inhaltsarmut keineswegs mit Inhaltsleere verwechselt oder gleichgesetzt
werden, wie dies von oberflächlichen Kritikern immer wieder behauptet wird.
Vielmehr handelt es sich bei diesen allgemeinen Prinzipien und Wertmustern
um normative Forderungen, die einen großen, nicht nur logischen Spielraum
für Interpretationen bei der inhaltlichen Bestimmung und praktischen Konkretisierung lassen.
Die Suche nach normativen ethischen Prinzipien hat entschieden die Position des Relativismus und Skeptizimus zurückzuweisen, der die zeitgenössische philosophische und wissenschaftliche, aber auch politische Debatte
27
Vgl. Platon, Der Staat, besonders das Ende des 8. Buches, 557b-565c.
32
auszeichnet und zur Aufgabe der Idee von der Objektivität normativer Wertmaßstäbe zu verleiten versucht. Hier liegt die fälschliche Annahme zugrunde, dass die Pluralität von Lebensformen und der vorherrschende Partikularismus das Vorhandensein oder Zustandekommen ethischer Normen mit
universellem Anspruch verunmöglicht; während es durchaus plausibel erscheint, dass sich Menschen, wenn auch unterschiedlichsten Lebensformen
zugehörig, auf der Ebene höchster und universell gültiger normativer Prinzipien und Überzeugungen treffen können. Im anglo-amerikanischen Raum
wurde dieses moralische Argument u. a. von Michael Walzer aufgenommen,
der auf eine „Thin Morality“ verweist, die sich auf grundlegende Normen des
sozialen und politischen Verkehrs bezieht und durchaus auf ein hohes Maß
an globalem und kulturinvarianten Konsensus trifft. Diese Minimalmoral
unterscheidet er von der „Maximal Morality“, die sich in den einzelnen Regionen und Gesellschaftssystemen in kultureller Differenzierung entwickelt.28
Diesen Überlegungen liegt also die hier thematisierte Überzeugung zugrunde, dass sich die Pluralität kultureller und politischer Lebensformen nur auf
eine sekundäre Ebene von Normen und Prinzipien bezieht bzw. beziehen
darf, während durchwegs auf der Primärebene grundlegender Werte und
ethischer Normen die Verpflichtung zur Objektivität und zum Universalismus
besteht.
Relativismus oder Partikularismus kann daher niemals als ethische Theorie
dienen; im Gegenteil, würde normative Ethik auf immer unmöglich machen.
Aber neben den problematischen praktischen Konsequenzen bedeutet Relativismus auch eine intellektuelle Inkonsequenz. Wie Hilary Putnam herausarbeitet akzeptiert die Wissenschaft entsprechende kognitive Normen – wie
etwa methodologische – bzw. setzt diese voraus, wenn sie zu allgemein
gültigen Ergebnissen gelangen will, weist aber andererseits jede moralische
Norm zurück, wenn es zum Gegenstandsbereich der normativen Ethik
kommt.29
In einer politischen Ethik, in deren umfassenden Kontext auch die militärische Ethik ihren Platz finden muss, bringt die relativistische Haltung die
eminente Gefahr mit sich, dass mit den Resultaten schwerlich gelebt werden
kann. Insbesondere die ethische Legitimierung politisch-militärisch-soldatischen Handelns muss auf universal gültigen Prinzipien beruhen und eine
allgemein akzeptierte Theorie des Gerechten Krieges – die sowohl politische
Kriterien für die Entscheidung zur Kriegsführung als auch militärische Kriterien für das Verhalten von Soldaten und Streitkräfteformationen beinhaltet –
28
Michael Walzer, Thick and Thin: Moral Argument at Home and Abroad, University of Notre
Dame Press 1994, S. 1-19.
29 Hiezu vor allem Hilary Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a. M., 1982.
33
auf die je gegebenen Bedingungen der internationalen Beziehungen und des
Konflikt- bzw. Kriegsbildes adaptieren.
Schlussfolgerungen und Axiome militärischer Ethik
Die militärische Ethik muss konsequenterweise, als Disziplin angewandter
Ethik, von der Frage der Anwendung normativ-ethischer Kriterien auf alle
ethisch relevanten Herausforderungen der militärischen Lebenswelt handeln,
die ja von Aspekten der täglichen Dienstpflichterfüllung bis hin zu Fragen der
politisch-militärischer Gewaltanwendung in einem zivilen und politischdemokratischen Umfeld reichen.
Zwei pragmatische Voraussetzungen sind als Ausgangsbasis für militärische
Ethik in Betracht zu ziehen: 1. Der Zweck der Militärorganisation und die
distinkte Organisations- und Aufgabenkultur des Militärs im Rahmen nationalstaatlicher und bündnis- bzw. koalitationsbezogener Politik; und 2. Die
sozialen und politischen Umfeldbedingungen offener und demokratischer
Gesellschaften, in denen Soldat und Streitkräfte existieren und tätig sind.
Denn wie jedes Berufsfeld so wird auch das militärische geformt durch den
Zweck der Organisation, die daraus entspringenden berufsbedingten, funktionellen Erfordernisse und das soziale und politische Umfeld.
Der Zweck der Militärorganisation im staatlichen Gemeinwesen besteht
darin, die politisch-staatlichen Interessen in der Ausnahmesituation von
(bewaffneten) Konflikten – durch Management und Anwendung von Gewalt
– durchzusetzen. Hier agiert das Militär als Instrument der Politik unter dem
Primat der Politik als Teil des staatlichen Gewaltmonopols in erster Linie für
äußere Sicherheit aber auch, unter gesetzlich streng reglementierten Bedingungen, für die Sicherheit im Inneren. Das dem „modernen“ Militär primäre
„Kämpfer“-Element im Sinne von Gewaltandrohung und –anwendung wird
nun im „postmodernen“ Militär durch vorwiegend friedenserhaltende und
humanitären Aufgaben durch das „Beschützer“-Element ergänzt. Es ist jedoch ganz wichtig festzuhalten, dass die neuen Funktionen die alten ergänzen, jedoch nicht ersetzen.30
Aus diesem Grund müssen die Streitkräfte nach wie vor der Herausforderung
gewachsen sein, ihre organisatorischen Handlungsziele unter den Bedingungen des bewaffneten Konfliktes erreichen zu können. Dies ist aber nur
möglich, wenn die Erfordernisse einsatzbezogener Ausbildung – Gewöhnung
an physische und psychische Belastung – sowie die Besonderheiten der
30
Barbara Schörner/Edwin R. Micewski, Streitkräfte in der Postmoderne, Österreichische Militärische Zeitschrift 3/2007, S. 271-280.
34
militärischen Lebenswelt – Disziplin, Hierarchie, Drill – weiterhin zentral Beachtung finden. Nach wie vor gilt es, zur Bewältigung der von Clauswitz angeführten Elemente des Krieges – Gefahr, Erschöpfung, Unsicherheit, Zufall31 –
fähig zu sein, wozu auch gehört, dass der Soldat dieser Herausforderung auf
moralisch einwandfreie Weise gerecht wird.
Neben moralisch verantwortbarem Verhalten im Einsatz steht für den mit
Führungsaufgaben betrauten Offizier die militärischen Ethik zusätzlich im
Kontext einer speziellen Führungsverantwortung, in der es um den Aspekt
der sittlichen Verantwortung des Offiziers und seine persönlich spezifische
Moralität geht, die aus der ihm zustehenden Befehlsgewalt resultieren. Als
weiteren Aspekt hat die Militärethik die Frage der sozialethischen Bedeutung
des Militärs zu behandeln, da sich ja die spezielle und exklusive Organisationskultur des Militärischen in einem demokratiepolitischen Umfeld entfaltet,
in dem die soziale (politische) Billigung des Handelns für alle Organisationsbereiche eine wichtige Bedingungen für effizientes Handeln bildet. Es ist
daher leicht verständlich, dass jener Aspekt der Militärethik, der sich mit der
Legitimation militärischen Handelns gegenüber dem politischen und sozialen
Umfeld beschäftigt, eine große Rolle spielt.
In diesem Zusammenhang besteht die große philosophische Herausforderung der Militärethik für den Soldaten, insbesondere für den Offizier und
militärischen Führer, in der existenziellen Sinnfrage, die er sich im Angesicht
des Todes – des eigenen wie fremden – zu stellen hat. Dem Offizier in Führungsverantwortung ist Leben anvertraut, in zweifacher Hinsicht: zum Bewahren und gegebenenfalls zum Nehmen. Ob und wann dies ethischmoralisch legitimierbar ist, steht im Zentrum all jener Fragen, denen militärethisch nachzuspüren ist und die jeder Einzelne – idealtypisch gesprochen –
für sich zu beantworten hat. Soldat wie Offiziert haben zu gewärtigen, dass
der tiefste Ernst und die größte Herausforderung ihrer Existenz in der Gewaltanwendung liegt, der die Tötung Anderer und der eigene Tod potenziell
inhärent sind.
Dabei sind zwei Aspekte von Bedeutung, die es hervorzuheben gilt. Zum
einen muss diese Gewaltanwendung, obwohl sie vom Staat domestiziert,
monopolisiert und legalisiert ist, doch letzlich vor dem eigenen Gewissen
ethisch-moralisch verantwortet werden; zum zweiten ändert auch die quantitativ vorherrschende Faktizität der friedlichen Koexistenz des Militärischen
nichts an der eigentlich metaphysischen Natur des Militärischen, die von
ihrem Wesenskern her unveränderlich und eben in der Bewährung in der
Ausnahmesituation eines bewaffneten Konfliktes zu sehen ist.
31
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, München 1963, S. 58ff.
35
Diese spezielle Sinnfrage ist das nachhaltigste Unterscheidungsmerkmal,
das den militärischen Professionalisten von anderen Berufsausübenden
trennt, und berührt die tiefsten Zusammenhänge sozialen und politischen
Seins. Gleichzeitig repräsentiert diese Sinndimension aber auch die größte
Diskursherausforderung für die Streitkräfte mit der Gesellschaft und begründet nachhaltige Wertambivalenzen und Inkompatibilitätsprobleme. 32
Abgesehen davon und darüber hinaus steht im Mittelpunkt militärethischer
Bildung die Kultivierung einer ethisch-moralischen Disposition, eines ethischen Bewusstseins, das dem einzelnen Soldaten/Offizier die Wahrung
ethisch-moralischer Prinzipien in allen Bereichen seiner Dienstpflichterfüllung, vom alltäglichen Friedensbetrieb bis zum Verhalten im Einsatz, ermöglicht.
Dass militärische Ethik als Bildungsgegenstand eher mit der Förderung eines
ethisch-moralischen Bewusstseins im Sinne der Vermittlung eines Orientierungsmaßstabs als mit konkreten ethischen Rezepturen und Handlungsvorschreibungen zu tun hat, liegt darin begründet, dass sich die Anlassfälle, in
denen ethisches Verhalten von Soldaten und Offizieren eingefordert wird,
niemals exakt vorherbestimmen lassen; vor allem nicht für die komplexen
Einsatzszenarios, mit denen Streitkräfte heutzutage konfrontiert sind.
Die bereits von Platon erhobene Forderung, vom „Wächter“ einen philosophischen Hang zur Bildung und die Entwicklung bzw. Schärfung seiner Urteilsfähigkeit zu fordern, die es ihm ermöglicht, nicht nur gerechtfertigt sondern auch auch gerecht zu handeln,33 erscheint daher aktueller denn je. Aber
nur in einem breit angelegten Verständnis politisch-ethischer Bildung wird es
möglich sein, das zu erreichen. Während Moralphilosophie und Ethik grundlegende Einsichten in den Zusammenhang von menschlich-moralischen
Pflichten und deren Anwendung in unseren privaten und beruflichen Lebenswelten vermitteln, widmet sich die militärische Ethik der kompetenten
Auseinandersetzung mit grundsätzlich-normativen Aspekten von Gewalt und
Gewaltanwendung und deren Umsetzung in den zeitgemäßen Kontexten
staatlicher und internationaler Gewaltmonopolisierung sowie den neuen Herausforderungen, die durch die Entstaatlichung, Deregulierung und Privatisierung ebenso entstehen wie durch die paradigmatischen Veränderungen
im Kriegs- und Konfliktbild.
32
Zur Frage der Inkompatibilität, vor allem der normativen, vgl. Edwin R. Micewski, Werte und
Militär – Werte im Militär. Die Wertethematik im Kontext von Individuum, Gesellschaft und Streitkräften, in: Hermann T. Krobath (Hg.), Werte in der Begegnung. Wertgrundlagen und Wertperspektiven ausgewählter Lebensbereiche, Würzburg 2011, S. 255-274.
33 Edwin R. Micewski, Der gebildete Soldat und Offizier – Grundlegendes zur Bildung der Führungskräfte in Streitkräften. Truppendienst 5/2001, S. 408-413 (wiederveröffentlicht in Schörner/Fleck (Hrsg.), Ein Offizier als Philosoph, a.a.O., S. 467-478.
36
Ich habe an anderer Stelle das moralische Fundament für eine Ethik der
Gewaltanwendung im Rahmen einer Logik der (politischen) Gerechtigkeit
gelegt und das normative Gerüst, eine normative Richtschnur für eine militärische Ethik, vorgestellt. Dabei habe ich die Frage der moralisch-sittlichen
Legtimität politisch-militärischer Gewaltanwendung und soldatischen Handelns in ihren äußeren (politik- und systemabhängigen) und inneren (in der
persönlichen Entscheidungsautonomie begründeten) Bedingungen abgehandelt und die drei Legitimitätsebenen der Politik, des militärischen Kollektivs und des persönlichen Gewissens eingeführt. Dieser Ansatz gestattete,
ohne Bezug auf die Theorie vom Gerechten Krieg, die Parameter einer Ethik
der Gewalt in ihren Bedingungen, Einschränkungen und Voraussetzungen
normativ aus moralphilosophischer Analyse phänomenologisch zu begründen.34
Schlussperspektive
Der unüberwindbare ethische Charakter menschlichen Daseins stellt den zur
Wahrnehmung von Verantwortung Fähigen in allen Lebensbereichen vor die
ständige Herausforderung, sein Handeln nach Maßstäben zu gestalten, die
sinnvolle menschliche Koexistenz ermöglicht bzw. zu einer solchen beiträgt.
Gesetze und Vorschriften können zwar ein bestimmtes Verhalten, zumindest
dort, wo Recht und Rechtsdurchsetzung vorhanden sind bzw. zum Tragen
kommen, erzwingen, aber gelebt wird Humanismus letztlich nur dort, wo er
tatsächlich internalisiert ist und verstanden wird.
Die Ethik als philosophisch-wissenschaftliche Disziplin setzt sich zum Ziel,
Handlungsnormen aufzufinden und zu begründen, die als Richtschnur und
Orientierungshilfe für tatsächliches Verhalten dienen können. Dabei werden
die normativen Aspekte der Ethik gleichsam auf die einzelnen beruflichen
Handlungsbereiche im Wege der angewandten Ethik übersetzt, um Hilfestellung für die speziellen Herausforderungen der beruflichen Lebenswelten zu
geben. Als Erziehungs- und Bildungsdimension ist die Ethik überdies bestrebt, dem Einzelnen dabei behilflich zu sein, zu einer adäquaten innerlichmoralischen Disposition zu finden, die ihm ethisch gerechtfertigtes Handeln
auch dort ermöglicht, wo keine direkten und unmittelbaren äußeren Handlungsanweisungen vorliegen.
Aber abgesehen von einer diversen und in sich unabgeschlossenen Philosophiegeschichte sehen sich Moralphilosophie und Ethik mit der Herausforderung relativistischer und fragmentierender Tendenzen in der westlichen
Edwin R. Micewski, Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit, a.a.O., V. Kapitel
(S. 163-180).
34
37
Kultur bzw. im abendländischen Denken konfrontiert, welche das Auffinden
einheitlicher Werthorizonte erschwert, wenn nicht sogar verunmöglicht.
Hier ist es aber gerade der Bereich der Gewalt- und Kriegsethik, der noch
am ehesten dazu angetan ist, ethischen Konsens zu ermöglichen. Die humanitären Imperative einer politisch-militärischen Ethik – Krieg als ultima
ratio, Unausweichlichkeit (Notwendigkeit) und Angemessenheit (Proportionalität) der Gewaltanwendung, Diskriminierung von Kombattanten und Nichtkombattanten, der Schutz von Unschuldigen und Hilfsbedürftigen, die indiskriminierende Versorgung Verwundeter, die menschenwürdige Behandlung Gefangener ... – tragen universale und kulturinvariante Züge, die nur
von Kräften des politischen Extremismus oder des schweren Verbrechertums negiert werden.
Insbesondere die Komplexität der ethischen Herausforderungen für den
Soldaten rückt die Notwendigkeit einer militärischen Ethik in den Vordergrund der Bildungsmaßnahmen für militärisches Führungspersonal. In der
Erkenntnis, dass die Humandimension – und nicht technisch-wissenschaftliche Dimensionen – im Mittelpunkt der militärischen Führungsaufgabe steht,
ist die Handlungskompetenz des Soldaten in Führungsverantwortung auf
eine philosophisch-ethische Grundlage zu stützen.
Die militärethische Orientierung hat daher im Mittelpunkt einer militärphilosophischen Bildung zu stehen, welche die Möglichkeiten des moralischen
Selbst des Soldaten und Offiziers fördert und ihm die ständige Nährung und
Kultivierung seiner ethischen Kompetenz ermöglicht.
Literatur
Aristoteles, Metaphysik, Stuttgart 1987
Aristoteles, Nikomachische Ethik, Leipzig 1911
Bauman, Zygmunt, Postmoderne Ethik, Hamburg 1995
Böckle, F., Fundamentalmoral, München 1978
Clausewitz, Carl von, Vom Kriege, München 1963
Frankena, W. K., Ethics, Englewood Cliffs 1963
Hartmann, Nikolai, Ethik, Berlin-Leipzig 1925
Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart
Korff, Wilhelm, Wie kann der Mensch glücken?, München 1985
Lenckner, Theodor, Der rechtfertigende Notstand, Tübingen 1965
Lévinas, Emanuel, Ethik und Unendliches, Wien 1986
Lyotard, J.-F., Das postmoderne Wissen, Wien 1993
Micewski, Edwin R., Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit. Zur Begründung der Gewaltproblematik im Kontext philosophischer Ethik und politischer
Philosophie, Frankfurt a. M. 1998
38
Micewski, Edwin R., Werte und Militär – Werte im Militär. Die Wertethematik im Kontext von Individuum, Gesellschaft und Streitkräften, in: Hermann T. Krobath (Hg.),
Werte in der Begegnung. Wertgrundlagen und Wertperspektiven ausgewählter Lebensbereiche, Würzburg 2011
Micewski, Edwin R., Der gebildete Soldat und Offizier – Grundlegendes zur Bildung
der Führungskräfte in Streitkräften. Truppendienst 5/2001, S. 408-413
Platon, Politeia,Stuttgart 1982
Putnam, Hilary, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a. M., 1982.
Schopenhauer, Artur, Fundament der Moral
Schörner, Barbara/Micewski, Edwin R., Streitkräfte in der Postmoderne, Österreichische Militärische Zeitschrift 3/2007, Wien 2007
Schörner, Barbara/Fleck, Günther (Hrsg.), Ein Offizier als Philosoph – Schriften von
Edwin Rüdiger Micewski. Kommentierter Sammelband, Frankfurt a. M. 2009
Schröfl, J./Pankratz, T. (Hrsg.), Asymmetrische Kriegführung – ein neues Phänomen
der Internationalen Politik?, Baden-Baden 2003
Spaemann, Robert, Der Streit der Philosophen, in: H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie?, Berlin 1978
Strawson, P.F., Freedom and Resentment, London 1974, zitiert in: Jürgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983
Tugendhat, Ernst, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984.
Walzer, Michael, Thick and Thin: Moral Argument at Home and Abroad, University of
Notre Dame Press 1994
39
Uto Meier
Ethische Grenzen und moralische Wegweisungen. Verantwortung jenseits zweckrationaler Optimierung
Ein elementarmoralischer Zugang
Es sei mit einem modernen Gedicht eröffnet, dessen Intuition interessanterweise eine sehr alte moralphilosophische Position trifft, die in dieser fundamentalethischen Reflexion ein wenig entwickelt werden soll:
Die gute Sache
wenn ich sehe
was alles
um der guten Sache willen
getan wird
dann denke ich
manchmal
es wäre
vielleicht eine gute Sache
wenn es überhaupt
keine
gute Sache
mehr gäbe
(Erich Fried. Aus: Lebensschatten. Gedichte. Berlin 1981)
Erich Fried greift hier in einem lyrischen Sprachspiel ein zentrales Thema
gegenwärtiger Verantwortungstheorien auf, die im Kern davon handeln, ob
das, was wir als legitimiert ansehen und anstreben, also unser freies wie zielbestimmtes Handeln, von „letzten großen Zielen“ bestimmt sein soll, oder ob
gerade in dieser äußeren Zielbestimmtheit als Letztorientierung – in der praktischen Philosophie „Konsequentialismus“ genannt – nicht selbst ein ernstes
philosophisches Problem liegt.
Der Verfasser gehört zu derjenigen Denktradition, die eine Begründung des
Guten aus einem äußeren Zweck als problematisch erkennt, heiße dieser
Zweck nun klassenlose Gesellschaft, oder Rasse oder Fortschritt oder Rendite. Wir alle kennen den Preis, den diese Denkfiguren in der Geschichte schon
gekostet haben und immer noch kosten. Der Gulag, das KZ oder auch die
Kinderarbeit der Millionen Kleinen, die für unsere Wohlfahrt die Teppiche, die
Pflastersteine und die ach so feinen Schnäppchen produzieren, über die wir
41
uns herzlich beim Shopping erfreuen. Diese Haltung, wir müssten uns doch
stets dem große Ziel unterwerfen, ist in vielen unmittelbaren ethischen Entscheidungen verborgen, die unser Leben bestimmen.
Dabei ist dieses „Das-Größere-Wollen“ durchaus auch als positives ethisches
Existenzial zu sehen. „Der Mensch ist dasjenige Geschöpf, das mehr will, als
es kann, und mehr kann, als es soll“, schreibt der renommierte deutsche
Verhaltensbiologe Wolfgang Wickler in seinem lesenswerten Band „Die Biologie der zehn Gebote“, um das bekannte anthropologische Phänomen der
grundsätzlichen „Offenheit/Instinktungebundenheit“ des Menschen zu beschreiben.
Dieser Essay zu einem Verantwortungsverständnis aus dem Nachdenken
über Grenzen will der moralphilosophischen Frage nachgehen, woran sich
heute denn eine nachhaltige Ethik orientieren sollte, die nicht ständig verschiedenen „Werte-Herrschaften“ wechselnd und abwägend wie zweckdienlich dienen will.
Kurzum: An welchen Wegweisern (= Ethischen Prinzipien) sollen wir uns orientieren und welche unbedingten Grenzen (als konkrete normative Forderungen)
sollen wir anerkennen, wenn wir nicht als Menschen zugunsten eines Zieles
„Jenseits von Gut und Böse“, wie es Nietzsche formulierte, abdanken wollen?
1. Ein erster wissenschaftsethischer Blick: Paradigmenwechsel vom
wertneutralen zum wertgebundenen Wissenschaftsverständnis
Während Aristoteles (Metaphysik IV.3 und Nikomachische Ethik VI.3) noch die
völlig voraussetzungslose, autonome und wertfreie Zielsetzung der Wissenschaft propagierte, die die Wahrheit – und teleologische Zielgerichtetheit – in
den Dingen und Prozessen um ihrer selbst Willen sucht, und dies widerspruchsfrei und mit beschreibbar logischen Methoden (Syllogismus und Induktion), erkennt die kritische Moderne, spätestens seit dem kritischen Rationalismus eines Karl Popper (1902-1994) den positiven wie negativen Einfluß des
Interesses etwa der Politik und der Wirtschaft auf die Wissenschaft: „Während
wir Philosophen noch streiten, ob die Welt überhaupt existiert, geht um uns
herum die Natur zu Grunde.“ Bekanntlich ist der Sitz im Leben der Differentialgeometrie die frühe Ballistik-Technologie der neuzeitlichen Artillerie, wie auch
die Navigation, die Kartografie und Geodäsie (der Kolonialmächte) von der
vermeintlich interesselosen Mathematik (mit) entwickelt und motiviert wurde.
Die Unschuld einer wertfreien Wissenschaft ging etwa in Deutschland endgültig verloren mit der weltführenden deutschen Chemie am Anfang des 20.
Jahrhunderts, als diese sich wie ein wissenschaftlicher Oberprimaner völlig
den Kriegsforderungen des militaristischen Wilhelminismus unterwarf. Der
42
spätere Nobelpreisträger für Chemie, Prof. Fritz Haber, ging in die Geschichte
auch als „Vater des Giftgases“ ein, das er den deutschen Militärs einsatzgerecht erfand.1 Im Frühjahr 2012 wurde des 100. Geburtstages von Wernher
von Braun gedacht, der sowohl als „Vater der Mondfahrt“ Weltruhm erlangte,
wie auch als willfähriger Erfinder der V2-Rakete im NS-Regime die Janusköpfigkeit des neuzeitlichen Wissenschaftlers verkörperte, der keine Grenzen in
einer ausufernden Güterabwägung mehr akzeptieren konnte und wohl auch
nicht wollte. Wernher von Braun und sein Protegé, General Dornberger, rechtfertigten sich nach dem Krieg immer – vor allem im Blick auf die tausenden
Opfer, die allein die V2-Produktion im Konzentrationslager Dora-Mittelberg
forderte – mit dem Argument: „…daß wir Raketen für militärische Zwecke
entwickeln mussten, haben wir immer nur als Umweg betrachtet. Wir wussten,
dass die Frühpioniere der Fliegerei in der ganzen Welt den gleichen Umweg
beschreiten mussten.“ (Ruland 1969: 71). Instrumentelle Vernunft nannte
Jürgen Habermas ein solches Denken einmal, denn eine instrumentalisierte
Moral kann man aus der unbegrenzten Abwägung unserer Handlungsbegründungen hier unschwer identifizieren, eine Moral, die letztlich dem Prinzip huldigte, dass der Zweck die Mittel heilige.
Dieser Verlust der wissenschaftlichen Unschuld führte bei Karl Popper zum
Postulat einer notwendig wertgebundenen Wissenschaft, die ihre Legitimation
eben nicht aus dem reinen Erkenntnisfortschritt schöpfen darf, sondern sich
zum einen aus Wahrheitssuche (allerdings über die Skepsis der TheorieFalsifikation), zum anderen aber aus der Lösung von Problemen und aus der
Minderung von Leid und Übel verstehen soll.
Robert Oppenheimer (1904-1967), maßgeblicher Kopf im „Projekt Manhattan“
zur Entwicklung der amerikanischen Atombombe, war wahrscheinlich eine
der tragischsten Figuren im Wissenschaftsbetrieb der Neuzeit, die das Problem der Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers existenziell durchleben
musste. Nach dem Abwurf der beiden Atombomben über Hiroshima und
Nagasaki mit 125.000 Soforttoten und ca. 100.000 weiteren Toten in Folge
schwerster Strahlenverletzungen versuchte Oppenheimer die Entwicklung
der Wasserstoffbombe zu verhindern, weil er seine Mitarbeit an dieser Forschung moralisch nicht mehr verantworten konnte. Literarisch hat bekanntlich
Heinar Kipphardt 1964 diese Figur in seinem Drama „In der Sache J. Robert
Oppenheimer – ein szenischer Bericht“, vor allem unter verantwortungstheoretischen Fragestellungen, luzide ästhetisch verarbeitet.
1
Fritz Haber (1968-1934) erhielt den Nobelpreis 1919 für die Ammoniak-Synthese, die sowohl
die Düngemittel- wie Sprengstoffherstellung revolutionierte. Vieles deutet darauf hin, dass der
Freitod von Habers Frau, Clara Immerwahr, die selbst Chemikerin war, mit dem Umstand der
Mithilfe ihres Gatten in der Wegbereitung zum Giftgas zu tun hat.
43
Die heutige politische Ethik ringt noch immer mit diesen Fragestellungen, ob
denn und inwieweit Massenvernichtungswaffen und deren Einsatz gegen die
Zivilbevölkerung moralisch vertretbar sein kann. Die Militärethik wiederum
versucht Antworten auf die Frage zu finden, wieviel Kollateralschaden, wenn
überhaupt, akzeptiert werden kann oder auch, ob die neue Form der „smarten
Kriegführung“ etwa mittels „Targeted Killing“ ethisch vertretbar zur Reduktion
von unschuldigen Opfern und Minimierung von Kollateralschäden verstanden
werden kann.
2. Zweckrationalität die Zweite: Ethische Verantwortung oder ökonomischer Sachzwang?
Ein anderer wesentlicher Bereich unserer Gesellschaft, in dem das Prinzip
einer ausufernden „Abwägungs-Ethik“ dominiert, ist die Ökonomie. Wird die
deutsche Wirtschaftselite auf ihre ethische Sensibilität befragt, so zeigt sich
eine erstaunliche Diversität:2
Exakt 13% der befragten Topmanager halten den Stellenwert von Moral für
unzureichend bzw. empfinden Moral als störend während ebenso 13% der
Manager Moral als unabdingbare Basis für gutes Wirtschaften erachten. 31 %
sprechen Moralkategorien eine große Rolle zu, während 33% Moralität als
ambivalente Größe ansehen.3
Ankerbeispiel für eine klare ethikorientierte Rahmenordnung zeigt z.B. folgendes CEO-Statement bei Buß: „Die Rolle der Moral kann nicht groß genug
sein. (…) Es gibt viele Unternehmer, die auch sehr moralisch handeln. Richtig
bewusst unmoralisch handeln nur sehr wenige. Ethik ist ein Fach an der Uni,
das eigentlich von allen gehört werden sollte. Man kann nicht genug davon
reden. (..) Für mich muss der Unternehmer ein breit angelegter Humanist
sein.“ (Buß 2007: 153)
Der Kreis der 13% Kritiker bezweifelt hingegen eine Vereinbarkeit von Unternehmenszielen und Moralorientierung:
„Die Diskussion über Moral ist für mich in erster Linie eine Feigenblattargumentation. Führungsethik-Diskussionen […] sind doch nichts anderes als der vergebliche
Versuch, Moraldefizite auf der Managementebene mit Formeln zu übertünchen,
die Wasser predigen, aber letztlich Wein trinken. […] Ich glaube nicht, dass ethische Grundsätze in den Chef-Positionen in irgendeiner Form verinnerlicht worden
sind und […] gelebt werden.“ (Buß 2007: 160)
2
So Eugen Buß in seiner großen Untersuchung über die deutschen Wirtschaftseliten 2007: 130;
149-175.
3 Die jüngere Untersuchung von Bucksteeg (Bucksteeg 2010) zeigt eine Zunahme der Akzeptanz
von moralischen Werten als Unternehmenssteuerungstools (ebd. 30).
44
In welchem Verhältnis sieht die wirtschaftliche Machtelite nun Ethik und Ökonomie bei genauerer Betrachtung?
(Nur?) 25% der Spitzenmanager erachten die Entwicklung ethischer Leitlinien als erforderlich;4 und ebenso nur 25% befinden, dass Moral durch die
Persönlichkeit der Führungskräfte in ihrer Vorbildfunktion abgebildet wird.
Jeder fünfte Chef (19%) sieht in der Globalisierung ein Erschwernis für ethische Standards und 17% sind überzeugt dass Moral mit (markt-) wirtschaftlichen Notwendigkeiten kollidiert. (Buß 2007: 165) 5
In vielen Antworten zeigt sich die weit verbreitete Unsicherheit, dass moralische Positionen ja nur relative Größe seien: “Wenn es der kategorische
Imperativ ist, denke ich, dass er natürlich eine Rolle spielt. (…) Ist das Fusionieren von Unternehmen mit Freisetzung von Mitarbeitern moralisch oder
unmoralisch? Fragen Sie die Betroffenen und fragen Sie die, die es tun, und
Sie kriegen sehr unterschiedliche Antworten. (…) Aber Moral ist eine sehr
fließende Kategorie. Was vor zehn Jahren noch moralisch war, ist heute
nicht moralisch (..).“ (Buß 2007: 166) Das Phänomen der Relativität moralischer Positionen bestimmt inzwischen erheblich deutsches ManagementDenken.
Gleichwohl wird bei hohen Managern immer wieder die schwere Vereinbarkeit
von ökonomischen Sachzwängen und ethisch eigentlich wünschenswerten
Handlungsalternativen im Kontext vermeintlicher Sachzwänge beklagt:
„Die Ohnmacht kommt fast zwangsläufig. Unter den deterministischen Rahmenbedingungen des Marktes wird man oft gezwungen, Entscheidungen zu treffen,
die ein anderer als unmoralisch empfindet oder als unethisch deutet.“ (ebd.)
Buß‘s Untersuchung zeigt auch – durchaus irritierend –, dass die Machtelite
der deutschen Wirtschaft ein hohes moralisches Ideal für ihre Rolle – oft implizit, aber durchaus spürbar – in Anspruch nimmt, jedoch nicht selten vor der
unklaren Beziehung von ethischer Forderung und ökonomischen Zielen erkennbar verunsichert argumentiert.
Damit ist jetzt der Ort gegeben, eine Klärung anzugehen, welches Ethos,
welche ethischen Standards allenfalls klare Orientierung angesichts eines
umgreifenden Relativismus geben können. Es sollen daher moralische Positionen identifiziert werden, die weder vor einem vermeintlichen Relativismus
vorschnell kapitulieren, noch der Hybris einer endgültigen Klärbarkeit aller casi
erliegen, wenn Entscheidungen verantwortet werden sollen.
4
Anders dagegen die Studie von Bucksteeg von 2010 (ebd. 22f): Hier fordern 71% der Führungskräfte die öffentliche Transparenz von Werteleitlinien.
5 Anders Bucksteeg 2010: 23, hier plädieren über 50% für einen Ethik-Primat im Konfliktfall
zwischen Wert und Cash.
45
Die Frage stellt sich daher: Wovor müssen sich Manager wie Wissenschaftler
wie Militärs – und vielleicht auch jeder Mensch, der in Sachzwängen/Systemen steht – verantworten? Aristotelisch nur vor der Wahrheitssuche? Oder nur vor dem Letztziel Rendite oder Erfolg oder dem „mission
accomplished“? Oder doch auch vor den ferneren Folgen der Verwendung
ihrer Erkenntnisse und Gewinnerzielungsarrangements und Kriegsfolgen?
Oder sind dafür die Verwender/Konsumenten dieser Erkenntnisse/Prozesse
verantwortlich zu machen? Oder gar die anordnenden Politiker oder Märkte
oder die anonymen Sicherheitsarchitekturen?
Auch im Alltag drängen diese Fragen: Darf man das günstige Schnäppchen
erwerben, das nicht selten in ungerechten Kontexten gefertigt wurde, oder ist
man der knappen Familienkasse zuerst verantwortlich? Ist ein Kurzstreckenflug in den Kurzurlaub noch verantwortlich, wenn doch das Weltklima davon
beeinträchtigt wird? Darf man überhaupt dem Bankberater noch zuhören, der
ein Wertpapier anbietet, dass noch ein paar Prozent mehr bietet? Kurzum:
Sind wir nicht alle verstrickt in ungerechte Systeme, sind wir nicht alle (mit-)
verantwortlich für die großen und kleinen Krisen der Welt und Umwelt und
Nachwelt? Oder genügt es, wenn wir den Nahkreis „sauber halten“? Dispensiert gar die „große Aufgabe“ vor einer normativen Verantwortlichkeit, die unabhängig von jeweiliger Funktionsverantwortung ist? Wer lebt schon ohne
Widersprüche? Auch Bischöfe fahren eine Dienst-Mercedes, der nicht zu den
schöpfungsfreundlichsten Erfindungen der Welt gehört.
Oder ruht diese ausufernde Verantwortlichkeitszuschreibung auch auf einer
problematischen All-Verantwortlichkeit, der gegenüber wir weder verpflichtet
sein können noch überhaupt verpflichtet sein sollen, weil Verantwortung unmittelbar wäre und nicht alle letzten Ziele meinen kann?
Hilfreich scheint mir, sich daher zuerst einem differenzierten Verantwortungsbegriff zu stellen, der eine „Ethik jenseits der Zwecke“ andenken will, die sich
als prinzipielle Leitplanke wie vor allem als normativ-unmittelbare Grenze
artikulieren kann.
3. Zur Differenzierung des Verantwortungsbegriffs
Traditionell wird der Verantwortungsbegriff in den neueren Debatten in einer
vierstelligen Relation begriffen:6
(1) Ein Verantwortungssubjekt (Person/Firma/Institution) ist für ein
(2) Verantwortungsobjekt (Handlungen aber auch Sprechakte) gegenüber
einer
6
Hiezu zusammenfassend Assländer 2011.
46
(3) Verantwortungsinstanz (Gericht /Gewissen / öffentliche Meinung) vor einem
(4) Normativen Hintergrund (Regelwerk als Kann- oder Soll- oder Muss-Regel,
vor der Qualität einer sittlichen Beziehung, d.h. deontologischer versus teleologischer Normenbegründung) verantwortlich.
Diese Verantwortung ist entweder (nach Höffe 1989)
a) retrospektiv (jemand muss sich für eine Vergangene Tat verantworten),
b) prospektiv (für zukünftiges Handeln) wie aber auch
c) rekonziliativ (wiedergutmachend) angelegt, d.h. haftungspflichtig.
Damit ist allerdings noch nicht das wesentliche Moment des zugrunde liegenden Handlungsverständnisses geklärt. Denn auch Mafia-Mitglieder „verantworten“ sich, indem sie persönlich für die einzutreibenden Schutzgelder
haften und sich vor dem „Ehrenrat“ ihrer Ehrenwerten Gesellschaft – im Blick
auf die gesetzten Erpressungsziele – rechtfertigen. Volkswirtschaftlich sorgt
die Mafia sogar für positive Effekte, da sie „Umsätze“ generiert, die – ohne
Besteuerung – den Warenfluss (aber eben auch den von Drogen und Waffen) intensiviert.
Ohne die scharfe wie eben zentrale Klärung der Legitimität des normativen
Hintergrundes ist also noch nicht viel für eine substanzielle ethische Betrachtung gewonnen und es bliebe bei einem problematischen Relativismus, wenn
der normative Hintergrund aus seiner funktionalen Begründung (d.h. aus einem „Gut-für-etwas“) nicht befreit wird.
Adolf Eichmann, der Organisator des Holocausts in Europa, hat in seinem
Prozess in Jerusalem immer wieder beteuert, dass er nur Züge bereit gestellt,
Personallisten erarbeitet und bei der Wannsee-Konferenz nur Protokoll geführt
habe. Er selbst habe nie auch nur einem einzigen Juden ein Haar gekrümmt.
Warum wurde er dennoch zu Recht verurteilt?
Weil zu einem sittlichen Handlungsakt nämlich schon immer das Wissen um
die Handlungsfolgen (und ihres Rechts- bzw. Unrechtscharakters) sowie der
bewusste und freie Vollzug, dessen (Langzeit-)Folgen sehr wohl dem Subjekt
zuzuschreiben sind, gehört. Ist Adolf Hitlers unehelicher Vater Alois Schicklgruber, der seinen Sohn regelmäßig geprügelt hat, für den Zweiten Weltkrieg
verantwortlich? Nein, die Folgen seiner Prügelpädagogik waren nicht vorhersehbar (wiewohl verwerflich dem Kind gegenüber), wohl aber war die Funktion
der Züge nach Auschwitz klar, die Eichmann seit der Wannseekonferenz
beflissen organisierte.
47
Schon Hegel hatte in seiner Rechtsphilosophie davor gewarnt, dass ein
Brandstifter nicht sagen kann, seine Hand habe ja nur einen kleinen trockenen
Grashalm zum Glühen gebracht.
Diese grundsätzliche Erkenntnis über die Berücksichtigung der Folgen ist
gerade für eine moderne Handlungsethik von besonderer Relevanz, weil wir
uns im Zuge der Zunahme von erheblichen Handlungsreichweiten in der technisierten Moderne – zeitlich wie quantitativ – klar machen müssen, dass
Irreversibilitäten schneller installiert werden (etwa bei einem Eingriff in die
Keimbahnen), als dies in der Vormoderne je denkbar war. In dieser Hinsicht
denke man an die Kernspaltungsforschung, die zum einen militärisch und zum
anderen ökonomisch betrieben worden war und noch immer wird, oder an die
Gentechnikforschung, die sich keineswegs unschuldig um des reinen Erkenntnisfortschrittes engagiert, bis hin zu neueren „Waffenkulturen“, wie etwa dem
Cyber-War. Dasselbe gilt für die exponenzielle Zunahme von Nebenfolgen
(wer dachte schon beim guten Kühlschrankkühlmittel der Fluorkohlenwasserstoffe daran, dass damit der Ozonschutz der Erde in Gefahr gerät), die in der
gegenwärtigen Debatte mit dem Postulat der Nachhaltigkeit zu fassen versucht wird (Jonas 1984).
Damit wird klar, dass der normative Hintergrund sowohl Handlungen in Unabhängigkeit von ihrem „Funktionsgelingen“ ethisch näher legitimieren muss, wie
wir auch Abgrenzungen zu erkennen haben, die uns aufzeigen, für welche
Handlungsreichweiten bzw. -folgen wir verantwortlich sind. Mithin geht es um
die Kernfrage, was es denn eigentlich bedeutet, eine ethische, mithin sittliche
Verantwortung zu übernehmen, wenn weder das Realisieren von Letztzielen
(Rentabilität ist Ethik!) noch die Ignoranz gegenüber Folgen (Ich habe doch
nur Züge organisiert!) einem Verantwortungsdenken genügen kann.
Eine erste Überlegung soll daher zuerst der Frage nachgehen, ob es nicht
grundsätzlich zu unterscheidende Verantwortungsreichweiten gibt, bevor bedacht wird, welche Sollensforderungen – in Alternative zu Zweckoptimierungsprogrammen – im zumindest europäischen Denken erhoben werden sollen.
4. Verantwortungsebenen als Theorie gestufter (Mit-)Verantwortung
Hilfreich in dieser Fragestellung ist eine Differenzierung, welche die Wirtschaftsethik näher präzisiert hat und die hier modifiziert für den Ethik-Diskurs
einer allgemeinen Ethik – exemplarisch mit Blick auf die Wissenschaft – reflektiert wird. Demzufolge lassen sich drei Verantwortungsebenen als gestufte
Verantwortungsreichweiten festlegen bzw. beschreiben:
a) Die verantwortungsethische Mikroebene unmittelbarer personaler Interaktion. Sie beinhaltet Elemente wie die individuelle Verantwortlichkeit in der
48
konkreten Sacharbeit, im Sinne methodischer Sorgfalt, Pflichterfüllung gegenüber den Rollenerwartungen, z.B. der unmittelbaren Gefahrenvermeidung wie
auch Auftragserfüllung und umfasst damit die unmittelbare Verantwortung vor
den Zielen der beruflichen wie privaten Verpflichtungen.
b) Die verantwortungsethische Mesoebene als der Verantwortung gegenüber
der Organisation bzw. den Organisationszielen, in der das Individuum steht
bzw. an deren Erreichung es mitwirkt.
Auch ein Arzt kann sich – in Forschung und im Vollzug – um die Gesundheit
eines Folterkandidaten kümmern – und damit seinen Job „gut“ machen –, aber
er sollte eben gar nicht in der Struktur eines die Personwürde verachtenden
Regimes arbeiten oder sich wissenschaftlich vorgängig dazu engagieren.
Wenn etwa klar ist, dass Forschung und wissenschaftliche Anwendung primär
einem unmoralischen Ziel dienen, so ist diese wissenschaftliche Arbeit selbst
als unethisch zu beurteilen. Diese Verantwortung kann als Institutionenethik
begriffen werden, die den Einzelnen allerdings nur bedingt betrifft, da Individuen in der Regel ihre Rollenidentität aus den Organisationszielen und dem
organisatorischen Wertekanon ableiten müssen. Aus ethischer Sicht hat jeder
Verantwortungsträger die Ziele und Verfahren der Organisation, in der er tätig
ist, grundsätzlich ständig kritisch (mit-) zu reflektieren.
c) Die verantwortungsethische Makroebene, die sich auf die grundsätzlichen
Fragen der Fern- und Langzeitwirkung von Wissenschaft und Politik konzentriert. Diese Makroebene der Verantwortung ist daher als moralphilosophische Reflexion der (philosophischen, politischen, wissenschaftlichen, finanziellen ...) Rahmenbedingungen zu verstehen, unter denen etwa Wissenschaft
und andere Betätigungsfelder sich bestimmten Themenbereichen widmen
(Kernphysik oder Armutsbekämpfung? Wirtschaftswissenschaft als Lehre von
Gewinnmaximierung oder Gemeinwohlmaximierung etc.). Letztlich geht es
hier aber auch darum, durch Berücksichtigung ethischer Gesichtspunkte erforderliche Ressourcen und budgetäre Allokationen zu generieren, da ohne
entsprechende Ressourcen heutzutage weder in Politik noch Wissenschaft
für bedeutend erachtete Ziele verfolgt werden können. Zur Rechtfertigung der
Ressourcenzuweisungen im Sinne ihrer legitimen Verwendung werden überdies auch ethische Begründungen immer wichtiger.
Diesen Verantwortungsebenen entsprechend gelten unterschiedliche Verantwortungsgrade, die sich situativ für den Wissenschaftler, Politiker, Militär,
Wirtschaftstreibenden etc. ergeben. So kann etwa der Doktorand zumeist
nicht wissen, ob seine Ergebnisse eventuell á la longue missbraucht werden;
der Ordinarius hingegen muss sich schon intensiver fragen, welche Forschungsziele er anstreben kann, wem und wie seine Forschung dient und
dienlich ist; und die Politiker wie die Scientific Communitiy müssen sich im
49
öffentlichen Diskurs fragen bzw. Antwort geben, vor welchem Menschenbild
und vor welchen Wertpräferenzen sie geleitet sind, wenn sie Milliarden in
bestimmte Richtungen lenken oder Milliarden ausschließen. In der Ökonomie
etwa werden erhebliche Finanz- und Personalressourcen dem zumeist kaum
kritisch reflektierten Ziel einer betriebswirtschaftlichen Gewinnmaximierungsprinzip untergeordnet, das – wie die gegenwärtigen Finanzkrisen zeigen –
hoch kontraproduktiv sein kann. Was die optimierte Effizienz betriebswirtschaftlichen Handelns z.B. an sozialen und ökologischen „Nebenwirkungen“
beinhaltet, bleibt in Missachtung der makroethischen Verantwortungsebene
zumeist ausgeblendet und wird erst langsam als eigener wirtschaftswissenschaftlicher Topos ins Blickfeld genommen. Nur zögernd wird Wirtschaftsethik
auch in der Öffentlichkeit diskutiert und der Frage nachgegangen, ob „mehr“
immer auch ein menschliches „Besser“ bedeutet und ob nicht die Kategorie
von Gerechtigkeit verstärkt in einem sinnstiftenden wirtschaftswissenschaftlichen Ansatz zu berücksichtigen sein muss.
Die Medizinethik, die sich aufgrund des unmittelbaren Nahverhältnisses zu
Leben und Gesundheit des Menschen in vielerlei Hinsicht – vorausschauend
wie interdisziplinär vernetzt – Grenzen auferlegt hat bzw. bemüht ist, ethisch
vertretbare Grenzen zu ziehen, sieht sich in den genannten verantwortungsethischen Ebenen besonders gefordert. Gen-Technologie und die Möglichkeiten moderner Medizin- und Pharmatechnik lassen im Kontext weltumspannender Herausforderungen die Interdependenz von Mikro-, Meso- und
Makrobene für Mediziner wie Wissenschaftler zur großen ethischen Herausforderung werden.
5. Ethik als elementar-essenzialistische Reflexion: Das Gute als Erinnerung an die „Natur einer Sache“
Mit zwei Statements der bereits oben zitierten deutschen Topmanager soll
dieser Abschnitt eingeleitet und eine Klärung angegangen werden:
“Ich hege großen Zweifel, ob man immer gleich mit den großen moralischen
Hämmern kommen kann. Jeder muß letztlich seine Grenzwerte selbst bestimmen.“ (Buß 2007: 162) Und: “Wenn die Wirtschaftlichkeit es erfordert, dann muß
man auch zu ‚unmoralischen Mitteln‘ greifen.“ (Buß 2007: 161)
Hier soll für einen moralphilosophischen Ansatz geworben werden, der
diese fast vergessene Überzeugung wieder erinnern will, dass „das Gute
das ist, was der Wirklichkeit gerecht wird.“ 7 – in alter Terminologie das
Thomasische „Agere sequitur esse“ (Das Handeln folgt dem Sein). Ethik
wäre so zuerst „Wirklichkeitsaufmerksamkeit“ (Spaemann) und keine wie
7
So Spaemann 1982: 91.
50
auch immer geartete Zweckoptimierung und/oder utilitaristische Zielrealisierung.
Auch die neuere Ethnologie belegt, dass die bewusste Lüge in Vertrauensbeziehungen, der Verrat einer legitimen Sache, der Diebstahl rechtmäßig erworbenen Eigentums, die ungeregelte Sexualität, die Parteilichkeit des Richters
und vor allem die Tötung von Unschuldigen in allen Kulturen und auch in allen
gesellschaftlichen Teilbereichen klar geächtet ist.8
Ein Elementar-Essentialismus begründet daher eine Norm nicht mit Nutzenoptimierung, sondern mit der Verpflichtung aus dem Wesen einer Sache/Beziehung: Es liegt eben z.B. im Wesen des Richters, dass er unabhängig Recht
spricht, es liegt im Wesen der Kommunikation, dass sie wahrheitsapproximativ
angelegt ist, und es liegt auch im Wesen der Oiko-Nomia, dass zuerst die
Lebensgrundlagen erwirtschaftet werden, und zwar für alle, und nicht Vermögensbildung oder gar Gewinnoptimierung um ihrer selbst willen schon sinnvoll
ist.9
Daher kann Ethik nicht ein Ziel von mehreren etwa in der Unternehmenspolitik sein, sondern sie ist der Maßstab, nachdem die Unternehmenspolitik geordnet werden muss. Ethik „ist nichts anderes, als die richtige, die
wirklichkeitsgemäße Ordnung der Sachgesichtspunkte.“ 10, so Robert Spaemann.
8
Vgl. Johannes Brantl, Verbindende Moral. Theologische Ethik und kulturvergleichende Humanethologie. Freiburg i. Br. 2001, hier: Kapitel 3.2: Mögliche moralische Universalien im Licht
kulturenvergleichender Verhaltensforschung, Seiten 126-142. Brantl nennt hier vier kategoriale
universal-normative Felder, die allen Kulturen gemeinsam wären: a) Verpflichtungen innerhalb
von Verwandtschaftsbeziehungen (Inzestverbot, Exogamie-Gebot, Loyalität innerhalb der
Familie, Reziprozität der Fürsorge zwischen Eltern und Kindern); b) In-Group-Regeln wie
Gewaltverbot, Fürsorge für Arme und Benachteiligte; c) Strenge Unterlassungsnormen wie
Mordächtung – in der In-Group(!) – Respekt vor den Toten, Verbindlichkeit des Versprechens;
d) universelle „ökonomische“ Forderungen wie Recht auf Eigentum, Verbot des Diebstahls.
Brantl entwickelt daraus einen interessanten „Ethologischen Dekalog“ (Seiten 128-141), der
eine begründete Nähe zum biblischen Dekalog erlaubt. Zum Problem der Dichotomie von
normativem Kosmopolitismus der Religionen bzw. ihrer institutionalistischen Ausgrenzungsmacht in einem reflexivem Fundamentalismus vgl. Ulrich Beck, Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen. 2008, hier besonders Kapitel VI: Frieden statt Wahrheit, S. 207-249.
9 Zur aristotelischen Oiko-Nomia und ihrer Kritik am Erwerb um des Erwerbes wegen (= Chrematistik) vgl. Aßländer 2011b: 28-31, Eine sehr interessante – wenngleich nicht vollständige –
Zusammenstellung wesentlicher interkultureller ethischer Universalien stellte der amerikanische
Literaturwissenschaftler C.S. Lewis schon 1943 vor: C.S. Lewis (2003, im engl. Original Oxford
1943): 91-103. Dass dieser essentialistische Ansatz auch wirtschaftsethisch spannende Erschließungen zeitigt, zeigt die neuere Kritik nach den vergessenen „wesentlichen“ Aufgaben
der Banken. So auch Hans-Werner Sinn (Sinn 2010: Kapitel 4 Warum Wall Street zum Spielkasino wurde. S. 108-138).
10 Spaemann 1982: 89.
51
Es ist schlichtweg ein widersprüchliches Verständnis von Ethik (jedenfalls in
abendländischer Tradition), dass moralische Werte in manchen Unternehmensleitbildern als ein Wert neben anderen präferiert werden; sozusagen
neben den Leistungswerten, neben den sozialen Werten und neben den
Kommunikationswerten möge man auch noch ethische Werte beachten11.
Daher muss das Prädikat „gut“ als „funktional gut“ (für die Gesundheit, für den
Umsatz, für das Unternehmenswachstum) gänzlich von einem unbedingten
„ethisch gut“ unterschieden werden. Es kann durchaus umsatzgefährdende
Kontexte geben, die ethisch geboten sind, man denke nur an den Gammelfleischskandal oder Kinderpornographie, wo der Marktaustritt aus ethischer
Sicht verlangt werden darf, auch wenn er ökonomisch nachteilig für die Shareholder ist.
Man beachte im Übrigen auch die schulpolitisch eminente Sprengkraft, wenn
man alle Verantwortlichkeitsüberlegungen nur an die Fächer „Ethik“ oder „Religionslehre“ delegieren wollte. Nein, Ethik – als reflektierte Moralphilosophie –
muss Teil eines umfassenden pädagogischen Auftrages sein, das Normative –
in allen Fächern – zu bedenken.
Zuvor muss allerdings dem zweiten gewichtigen Einwand aus einem deutschen Unternehmensvorstand entgegnet werden, der den Traum der höheren
Ziele als den eigentlichen Maßstab des Guten träumt: Um der Wirtschaftlichkeit wegen, dürfe man auch das Unmoralische tun, so hörten wir von diesem
Vorstand.
6. Der Utilitarismus und die entmenschlichte „Totalität des Ganzen“
Der utilitaristischen Position eines aus der Volkwirtschaftslehre kommenden
Moralansatzes wie etwa bei Jeremy Bantham und John Stuart Mill hängt
sein „Sitz im Leben“ noch an: Es geht um Optimierung, um das „größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl“, wie die allseits akzeptierte Ethik-Formel
lautet:
“Diejenige Handlung bzw. Handlungsregel ist moralisch richtig, deren Folgen für
das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind.“ (Höffe 2003: 11)
Hier müssen aber Einwände um des Menschen willen formuliert werden.
Das Wohlergehen, der Nutzen aller, ist eine abstrakte Verantwortungsinstanz, derer wir gegenüber meinen, rechenschaftspflichtig zu sein. Damit ist
ein (lange tradiertes) personales Gegenüber durch ein Abstraktum ersetzt,
dem wir nun ein allgemeines Optimieren schulden. Es wurde aber deutlich
gemacht, dass die Optimierungsstrategie, das Opfern bzw. die Verzweckung
11
Tendenziell etwa bei Wieland 2006 zu beobachten, vgl. das Schaubild S. 8.
52
einiger Menschen nicht verhindern kann, ja diese sogar fördert, ist doch am
Ende die Bilanz eines Nutzens für die Mehrzahl oft höher. 12 Wahrscheinlich
beruht die derzeitige Konjunktur des Verantwortungsbegriffes auch auf seiner klandestinen Konnotation, dass Moralität etwas ganz persönliches ist,
denn VerANTWORTung ist ja eine Kategorie des „Face-to-face“, ein Gegenbegriff zu den anonymen Mächten (und Märkten), die alle gerne unsere
Überzeugung und unser Gewissen kaufen und gewinnen und anpassen
wollen. Verantwortung wird so zu einem Begriff des menschlichen Dazugehörens, eines Klar-Werdens durch das Im-Gespräch-Sein.
Ebenso bedenkenswert ist jedoch der kritische Einwand, wer welchen Nutzen denn für erstrebenswert hält und ob überhaupt eine Kategorie wie Gerechtigkeit in einem alles bestimmenden Nützlichkeitsdenken Platz haben
soll.
Wer hat sozusagen die „Nutzendefinitionshoheit“ im utilitaristischen Denken, in
dem das sittliche Gewissen einer instrumentellen Vernunft ausgeliefert wird?
Um mit einem Beispiel zu argumentieren: Wenn die Kosten für die Rettung der
drei Monate verschütteten chilenischen Bergleute im letzten Jahr höher gewesen wären (was sie wohl auch waren), als die Kosten für eine entsprechende
Anzahl von neuen Plätzen in der Intensiv-Medizin, warum sollte man den
Zugang zum Kupferschacht nicht besser zubetonieren?
Wenn man in den utilitaristischen Ethik-Ansatz nicht andere Prinzipien mit
einzieht, kann er – aus sich heraus – seine Aporien nicht lösen.13 Die Antwort eines Elementaressenzialismus auf das o.g. Dilemma heißt: Weil wir
mit diesen Bergleuten eine sittliche Beziehung haben, ihnen gegenüber als
Menschen Verantwortung haben, aber auch, weil wir eine (Arbeits-)Beziehung miteinander eingegangen sind und aus dieser organisatorische Verantwortlichkeit resultiert; deshalb lässt Euch Eure Firma nicht im Stich, Ihr
gehört zu uns und die Kosten eurer Rettung können eben kein (erstes) Kriterium sein.
Ja, es muss kritisch hinterfragt werden, ob eine utilitaristische Ethik nicht
überhaupt den Kern aller Sittlichkeit aufhebt (wenn sie radikal nur ihre anonyme Optimierungsfunktion erfüllt), weil ja immer ein größerer Nutzen (die
klassenlose Gesellschaft, die rassenreine Gesellschaft 14, die Reinigung vom
12
Spaemann 2001: Über die Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik, 193-212.
Zum impliziten Opferverständnis in der Verfügungsphilosophie der Moderne vgl. René Girard /
Gianni Vattimo, Christentum und Relativismus. Freiburg 2008.
14 Es sollte sehr ernst genommen werden, dass die treibende „Ethik“ der Eliten des Holocaust, die
das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes bildeten, d.h. die „Ethik“ der Einsatzgruppenleiter der Mordgruppen im Osten, der KZ-Lagerleiter, der Waffen-SS-Generäle eben
durch eine konsequentialistische Ethik bestimmt war, wie Michael Wildt stringent aufgewiesen hat:
„Allein der Erfolg zählte und rechtfertigte zugleich Handeln wie die Idee. Die Tat legitimierte sich
13
53
Glaubensirrtum, die Maximalrendite, der Wohlstand für die Mehrheit, der
Fortschritt, usw. usf.) denkbar ist, um dessentwillen kleinere Übel hinzunehmen sind (in der Regel die Rechte der Ohnmächtigeren 15).
Am deutlichsten war dies in jüngster Zeit an den Heuschrecken-Hedgefonds
erkennbar, die – meist, nicht immer – für die Rendite-Steigerung nahezu alles
tun unter völliger Ignoranz, ob sie gegen den Beschäftigten nicht auch eine
unmittelbare Verantwortung tragen, die eben nicht dem Gewinnmaximierungsziel geopfert werden darf.
Es scheint mir ferner im Utilitarismus eine Anmaßung zu sein, über den besten
Gesamtzustand der fernen Welt Aussagen machen zu wollen16. War nicht
einst die Atomkraft die Zauberformel auf den Energiehunger der Welt? Asbest
das Isolationsmittel schlechthin? Die autogerechte Stadt die Lösung unserer
Mobilitätsansprüche?
Wenn der Zweck die Mittel heiligt, muss man nur genügend große Ziele
definieren, und alles ist erlaubt. John Rawls musste in seiner Theorie der
Gerechtigkeit erst einmal das Prinzip Fairness neu einführen, um das gerechtigkeitsignorante Maximierungspostulat des Utilitarismus zu überwinden17. Bekanntlich ist – um wieder einen wirtschaftsethischen Debattenbeitrag heranzuziehen – die Steigerung des BIP noch lange keine Gewähr,
dass der erwirtschaftete Mehrwert durch akzeptierte Anerkennungsurteile
gerecht verteilt worden ist,18 geschweige denn, dass Wohlstandsmehrung
auf alleiniger Basis des BIP-Wachstums das Wohlfühlen der Menschen
steigert. Das arme Königreich Bhutan belehrt in diesen Tagen die reiche
westliche Welt, dass wir vielleicht über ein Bruttoinlandsglücksbefinden stärker nachdenken sollten, da dies keineswegs mit den BIP-Wachstumsindikatoren korreliert.19
selbst. Was die Weltanschauung dieser Generation auszeichnete, waren nicht so sehr spezifische
politische Inhalte als vielmehr eine bestimmte Struktur politischen Denkens. Politik zielte immer auf
Unbedingtheit, auf das Ganze, durfte weder einer regulierenden Norm noch irgendeinem Moralgesetz unterworfen sein.“ Wildt 2008, 854.
15 Man denke an das Schicksal der indigenen Bevölkerung in Südamerika, durch deren Vertreibung erhebliche Bodenschätze gefördert werden und wurden, durch die ohne Frage einer größtmöglichen Zahl ein größerer Nutzen zugekommen ist. Doch blieb und bleibt dies Unrecht, weil die
Zusage für indigene Lebensräume ethische Priorität genießt. Im Übrigen argumentierten in der
Geschichte alle gewaltverliebten Anarchisten, dass um der späteren Gerechtigkeit willen gerne die
derzeitig Besitzenden geopfert werden dürfen.
16 Zur systematischen Kritik des Utilitarismus als Optimierungsstrategie vgl. Spaemann 2001:
Über die Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik. In : Spaemann 2001: 193-212.
17 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975.
18 Zur Abkehr von einem reinen Preis-Markt, der keine ethischen Verteilungsfragen als Gerechtigkeitsfragen mehr zu läßt vgl. Rademacher 2007: Die zentrale Rolle eines weltweiten Ausgleiches:
die Equity-Frage, In : Rademacher 2002: 78-81.
19 Vgl. Klein, Stefan, Die Glücksformel. Oder wie die guten Gefühle entstehen. Gütersloh 2008.
54
So bleibt, wenn nicht andere ethische Prinzipien den Utilitarismus mitbestimmen, dieser eine letztlich instrumentelle Optimierungsstrategie, die
durchaus (meist technischen) Nutzen stiften, wohl kaum aber ethische Orientierung geben kann, sondern das eigentlich Ethische letztlich den Technikern ausliefert.
Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, dass wirtschaftliche Entscheidungen, die schließlich auch das Überleben und einen höchst menschenfreundlichen Wohlstand garantieren, nicht auch mit dem Mittel kluger Güterabwägung gefunden werden müssten; es geht hier nur um die Klärung
dessen, was sicher keine ethische nachhaltige Grundlage allein schafft, und
natürlich wie und wovor ethisches Handeln sich verantworten muss.
Ob der o.g. Vorstand ein Techniker war, ist nicht überliefert, aber er liefert
sich mit seinen Worten einer VerANTWORTung aus, die keine Antwort mehr
geben muss, weil das Gegenüber nur ein kaltes „Mehr“ ist, dessen Grenzen
im Infinitesimalen verschwimmen.
7. Elementarethik als „Verantwortung vor der Natur der Sache“ und als
„Verantwortung vor Personen“
Mit einem kleinen Rückgriff auf die Stoa soll nun erhellt werden, welche Ethik
hier als „Grenzen-Ethik“ vorgestellt wird, ohne gleich einem funktionalen
Reduktionismus zu erliegen. Marcus Tullius Cicero differenzierte die Verbindlichkeitshöhe der ethischen Handlungsverpflichtungen im dritten Kapitel seines
Werkes „De officiis“20 mit drei bzw. vier Begriffen: MORES sind die normativen
Tatsächlichkeiten, also das, was üblich ist. Dies ist zuerst einmal zu respektieren, aber dieser – heute würde man sagen – Normativität des Faktischen
kommt noch keine eigentliche ethische Verbindlichkeit zu.
Als zweite Ebene spricht Cicero von den LEGES, den in freier Rede und Debatte ausgehandelten Rechten einer Republik, denen bereits hoher Grad an
Verbindlichkeit zukommt.
Gegen diesen Rechtspositivismus setzt aber Cicero nun das HONESTUM
(das Ehrenhafte), dem eigentlich unsere freie Selbstbeschränkung wie Selbstbindung gilt. Dabei grenzt Cicero das HONESTUM explizit von einem vereinzelten UTILE (Nützlichen), ab, weil das, was honestum (ehrenvoll) ist, um
seiner selbst willen getan wird, ein wahres „utile“ sich aber erst aus dieser
Verbindlichkeit des Honestum (Schröer 2005: 337) legitimiert.
Marcus Tullius Cicero, De Officiis – Vom Pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und deutsch.
Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Heinz Gunermann. Stuttgart 1889, 1984.
20
55
Dabei bestimmt sich dieses Honestum aus der „Natur der Sache“. Dieser
Gedanke eines „von Natur aus Rechten“, also die Tradition des Naturrechtes,
ist in der Moderne und Postmoderne in den Hintergrund gerückt, aber nie ganz
verschwunden21. Freilich kann hier nicht mehr an die Tradition einer gleichsamen Metaverfassung angeknüpft werden, die über allem positiven Recht stünde, aber eine Erinnerung daran, was „aus sich heraus“ unbedingt verbindlich
sei, scheint doch hinter aller neokonstruktivistischen Verfügungsdeutung nicht
ganz verschwunden.
Exemplarisch: Es ist aus der Sache heraus geboten, dass der Rolle bzw.
Verantwortung eines Richters die Unparteilichkeit zukommt, mögen auch
parteiliche Urteile schneller, billiger oder sogar rentabler sein. Versprechen
werden überall als verbindliche Zusagen begriffen, denn das ist ihr Wesen.
Man kann nicht sagen, ich habe statt meiner Zusage etwas Besseres, Rentableres, Gesünderes oder Angenehmeres vorgezogen. Das freie – eben
nicht erzwingbare – Versprechen ist eben die aus der Mitte der Freiheit kommende Präferenz für ein Gegenüber. Deswegen hat der Arzt zu heilen und
darf seine Identität nicht aus der denkbaren Verpflichtung der Kostensenkung
oder Forschungsförderung oder Verhöroptimierung oder anderem „Sachfremden“ begreifen.22 Wer wirtschaftliche Verantwortung trägt sollte sinnvolle
Güter und Dienstleistungen bereit stellen, die menschendienlich sind, durchaus auch für den Produzenten in Gestalt einer sinnvollen Rendite, die aber
nicht – worauf schon Joseph Schumpeter hinweist – die Gelingensbedingungen guter Märkte zerstören. Auf diese Verantwortung scheint mir u. a. die in
den USA aufgekommene Occupy Wall Street-Bewegung hinweisen zu wollen. Philosophisch verkürzt: Die Sachforderung aus dem Wesen der sittlichen
Beziehung definiert das „unbedingt Gute“ und keine der jeweiligen sittlichen
Sachfordernisse kann eine totalitäre Hierarchie beanspruchen, wie sich in einem – leider zu unbekannten – totalitätskritischen Narrativ des Thomas von
Aquin sehr schön zeigt:23
„Jeder muss seinen eigenen sittlichen Forderungen nachkommen. Gewissen
hieß das einmal, dass wir keine ethische Weltformel haben, aus der alles
ableitbar ist.“
Dass sich die Gegenwart doch stärker auf eine kommunikative Evidenz von
Sach-Sittlichkeit einläßt und als Grenze immer zuerst und vor allem mit dem
21
Neuerdings wieder Spaemann 1994: Die Aktualität de Naturrechtes, In: Ders., Philosophische
Essays, 60-78.
22 Das Arzt-Patientenverhältnis ist eben die sittliche Beziehung, aus der heraus klar sein muss,
dass der Arzt meine Gesundheit, die Linderung meines Leidens wollen muss. Begibt er sich dieser
Verpflichtung, ist er kein Arzt mehr.
23 Vgl. unten Seite 58.
56
Würdebegriff (und seinen Ausformulierungen in den Menschenrechten) argumentiert, erfährt derzeit keine kleine Renaissance.24
Im Bereich der ethischen wie auch interessanterweise ökonomischen Diskurse wird daher weniger die berühmte „unbekannte Hand“ eines Adam
Smith, als vielmehr das „Würde-Werte-Wort“ Kants zitiert, das als Autorität
und Instanz nicht mehr in Frage gestellt wird. Diesbezüglich führt Kant in der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS BA 77) aus:25
„Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent,
gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent
verstattet, das hat eine Würde.“
Dennoch – es bleibt die Einsicht, dass die meisten Entscheidungen im Leben
güterabwägend getroffen werden müssen, mithin das „funktional Gute“ unseren Alltag wie unsere beruflichen Entscheidungsfelder bestimmt (Colgate oder
Elmex, Bahn oder Auto, Elektroauto oder Minimalverbrenner); dies auch in
wirtschafts- und unternehmensethischen wie alltagsethischen Fragestellungen
einer Konsumentenverantwortung.
Es wurde klar, dass wenn auch selbstredend dem abwägenden Vernunfturteil
die meisten Entscheidungsfelder belassen sind, sich dennoch wenige Lebenssegmente festmachen lassen, die dieser von Kant erkannten kategorischen
Grenze einer unbedingten Sollensforderung einen klaren normativen Ort zuweisen.
8. Ethik der Güterabwägung als Nutzenmaximierung. Traditionen moralischer „No-go-areas“ im abendländischen Denken
Der Verfassungsstaat und die Begrenzung von Mehrheitsgültigkeiten
Bereits mit dem Beginn des modernen Verfassungsstaates haben sich die
westlichen Gesellschaften sukzessive einer demokratischen Güterabwägungsbegrenzung unterworfen.
Nicht mehr alle politischen und gesetzgeberischen Ziele einer Regierung und
ihrer Mehrheit sind legitimiert. Von der Magna Charta von 1215 über den Habeas Corpus Act von 1679 bis hin zur Virginia Bill of Rights von 1776 und den
in weiterer Folge ausgeweiteten Grundrechten der Bill of Rights der USA von
1789, die allesamt dann letztlich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) führten, hat die westliche Verfassungsentwicklung einige Fundamentalrechte nicht nur der Willkür absolutistischer Herrscher abgetrotzt,
24
25
von Pagano 1987 bis Küng 2010.
Bowie, Norman E., Business Ethics. A Kantian Perspective, Malden 1999.
57
sondern auch der Mehrheitsmacht des demokratischen Parlaments entzogen26.
Dahinter steht die naturrechtliche Überzeugung, dass einige essenzielle Dinge im Leben, hier die dem Menschen als Menschen zukommende unveräußerlichen Grundrechte27, nicht mehr – auch nicht über demokratische Mehrheiten – in ihrem Gehalt verändert werden dürfen, nicht mehr den schwankenden Mehrheitsbescheiden und ihren Abwägungsdiskursen ausgeliefert
sein dürfen.
Die westlichen Verfassungsdemokratien tradieren hier nicht nur die – im
Übrigen erheblich aus dem jüdisch-christlichen Denken kommenden –
Personschutz-Normen28 etwa des Dekaloges, sondern bewahren sich eine
Skepsis gegenüber dem korrumpierbaren Diskurs, der vor der Gefahr einer
utilitaristischen Instrumentalisierung nicht gefeit ist. 29
So kann man sagen, dass in der Struktur der „unveränderlichen Grundrechte
bzw. Menschenrechte“ die Erinnerung bewahrt und sanktioniert wird, den
Diskurs über die wesentlichen Grundnormen nicht ständig offen zu halten:
Vieles ist abzuwägen – manches nie!
Kein Feldherrnhügel in Sicht: Thomas von Aquins Kritik an der Möglichkeit
einer letztgültigen Güterabwägung
In einer leider zu wenig diskutierten Stelle 30 erzählt der Kirchenlehrer Thomas von Aquin ein – wie man heute sagen würde – ethisches Dilemma:
Die Häscher des Königs verfolgen einen Rechtsbrecher, der sich bei seiner Frau versteckt. Für unsere modernen „totalen“ Lösungsansprüche
differenziert Thomas hier die Verantwortlichkeiten erstaunlich irritierend:
Was soll die Frau tun? Sie ist – nach Thomas – für das private Wohl ihres
Mannes verantwortlich und muss ihn vor Schaden bewahren. Was sollen
26
Norbert Brieskorn, Menschenrechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung, Stuttgart
1997.
27 Matthias Koenig, Menschenrechte, Frankfurt/Main, 2001, S. 9.
28 Zur Herkunft der Menschenrechte vgl. auch: Konrad Hilpert, Menschenrechte und Theologie.
Forschungsbeiträge zur ethischen Dimension der Menschenrechte. Freiburg 2001, hier Kap. 3, 5987.
29 Dies zeigt sich unter anderem auch darin, dass etwa die amerikanischen Verfassungsväter
die Rechtssubjekte ihrer „Bill of rights“ für lange Zeit weder in den Indianern noch in den afroamerikanischen Sklaven und Sklavennachkommen sehen konnten. Hier spielten nicht selten
(plantagen-)ökonomische Überlegungen, neben rassistischen Ideologien, eine maßgebliche
Rolle in der – wortwörtlich nun zu nehmenden – Güter-Ab-Wägung der Rechte der indigenen
wie afrikanischen „Ware Mensch“.
30 Summa theologica I-II, quaestio 19, articulus 10, zitiert nach Robert Spaemann, Die schlechte
Lehre vom guten Zweck. in: Robert Spaemann. Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns.
Stuttgart 2001, 391-400, hier: 399f.
58
die Staatsanwälte tun? Sie müssen dem Recht (dem öffentlichen Wohl) zur
Geltung verhelfen. Und nun kommt die entscheidende Frage: Welche
Entscheidung hat eine höhere Verpflichtung? Über welche Kriterien verfügen wir, um zu klären, was das letztlich beste Handeln ist?
Die Antwort des Kirchenlehrers: Das weiß nur Gott allein.
Hier wird ein moralischer Totalitätsanspruch in Frage gestellt, der vermeintlich zu wissen glaubt, was das letzte Beste für alle ist. Thomas bleibt hier
bescheiden. Da sich die ethische Verpflichtung aus konkreten sittlichen
Verhältnissen ergibt, sollen wir nicht wissen wollen, was am Ende für alle gut
ist. Das weiß nur Gott allein.
Die aus einem Grundvertrauen an das gute Sein gefallene Moderne kann
das wohl nicht mehr, geht aber auch nicht in das schweigende Ertragen des
Nicht-Lösen-Müssens, sondern sucht verbissen, das Paradox zu klären, aufzulösen, letztlich zu nivellieren.31 Auch von Thomas von Aquin könnte man
hier lernen: Vieles ist abzuwägen, manches nie.
Denn vielleicht liegt ja das Geheimnis einer menschengemäßen „Lösung“
eben darin, die Spannung auszuhalten, dass es keine kurzfristige Gesamtlösung gibt, die uns den Endzweck aller Dinge verrät, sondern dass sich langfristig die Gegensätze „aufheben“. Oder mit den Worten eines totalitätskritischen Gegenwartsautors: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“.32
9. Die Erinnerung an das, was immer destruktiv ist – Die Lehre von den
Intrinsece Mala – Oder: Wo der Zweck die Mittel nie heiligt
Mit dieser kritischen Erinnerung des Kirchenlehrers Thomas von Aquin, dass
eine güterabwägende Nutzenmaximierung durchaus auch ihre Grenze haben muss, kann nun eine ethische Tradition bedacht werden, die weniger
davon ausgeht, sittliche Stimmigkeit über die Klärung dessen zu finden ist,
was positiv zu tun ist, sondern die bescheidener reflektiert, was ganz sicher
zu unterlassen ist, um Leben nicht zu verunmöglichen. Hier äußerst sich
eine ethische Erfahrung, die sich weniger darum bemüht, was den Menschen zu seinem Glück verhilft (was natürlich auch eine genuine Aufgabe
31
Es wäre eine gute Aufgabe, kulturkritisch einmal nachzufragen, warum wir in vielen Lebensbereichen vermeintliche und wirkliche Paradoxa nicht mehr aushalten, warum immer glatte Lösungen, warum das Problem beseitigt, der Widerspruch aufgelöst werden muss, warum letztlich „die
Totale“ unser Denken bestimmt.
32 Martin Walser im Interview: „Reichtum macht unabhängig. Aber auch hässlich.“ In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.09.2007, Nr. 36/ Seite 38. Das Zitat gehört zu Walsers Lebensmaximen und wird von ihm häufigst zitiert und ist auch in seinen Romanen zu
finden.
59
der Ethik als Lehre vom guten Leben ist33), als vielmehr bedenkt, was zu
unterlassen ist, damit Leben zu seiner Bestimmung kommen kann.
In der Ethik wie in der Rechtsphilosophie hat traditionell das Unterlassungsgebot („Du sollst nicht morden!“) ein stärkeres Gewicht 34, denn es ist schwieriger zu sagen, wie ein Mensch sein Glück finden, in Freundschaft mit sich
selbst (Eudaimonia) leben, ja sein Lebensziel verwirklichen soll.
Handlungsgebote leiden in der Regel darunter, dass wir nicht wissen können,
was letztlich für den anderen gut ist, auch wenn „unterlassene Hilfeleistung“
durchaus kontextualisierbar ist. Handlungsverbote lassen sich hingegen – in
allen Kulturen – gut definieren, daher das dominierende „Du sollst nicht …“ in
fast allen kulturellen Normationskatalogen.
So hat sich in der Geschichte des westlichen Denkens und der geprüften wie
gelebten Überzeugung ein Kanon von unbedingten Unterlassungen herauskristallisiert35, der auch heute noch Orientierung geben kann, wenn die Wahrheit über die Unverzwecklichkeit der Person vorausgesetzt wird. Dabei greift
diese lange Tradition der „In-sich-Schlechten-Handlungen“36 (intrinsece mala
oder auch malum ex genere) diejenigen Verantwortungsbeziehungen auf, die
uns zu Menschen als Menschen machen, wo wir Person werden: Leib- und
Leben(srecht), die authentische Kommunikation, die personale Sexualität, die
Integrität des Personkerns und unser Verhältnis zu einem letzten Sinngrund
des Seins.
Die historische Entwicklung nun in einem kleinen Abriss als Überblick:
a) Schon bei Aristoteles findet sich in der Nikomachischen Ethik eine Argumentation, die einigen Handlungen die Qualität des „In-sich-Schlechten“ zuspricht, das auch nicht durch einen guten Zweck saniert werden kann. Dazu
zählen Ehebruch, Diebstahl, Mord: „Alle diese Dinge werden getadelt, weil sie
in sich selbst schlecht sind und nicht ihr Übermaß oder ihr Mangel. Man kann
bei ihnen also niemals das Rechte treffen, sondern immer nur sich verfehlen.“37
Beispielhaft Otfried Höffe, Lebenskunst und Moral – oder macht Tugend glücklich?, München
2007.
34 Unterlassungsgebote sind auch heute noch strafbewerter als Handlungsgebote. Vgl. dazu:
Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf. Freiburg i.Br. 2007,
hier Zweiter Teil, I, 3.2d: Handeln und Unterlassen oder Handeln durch Tun und Handeln durch
Nicht tun, 490-498.
35 Zum geschichtlichen Überblick vgl.: Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde.
Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996, hier Kapitel IV, 4.1 (Die negativen
Verbote des Naturrechtes) und 4.2 (Die in sich schlechten Handlungen), Seiten 200-232.
36 vor allem Summa theologiae II-II, 66,7. vgl. dazu weiter Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und
Menschenwürde, a.a.O. 200-232.
37 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Zweites Buch, 1107, 10-14. Dtv-Ausgabe, München, 3.
Aufl. 1998, 141.
33
60
b) Thomas von Aquin betont in Weiterführung der bereits von Aristoteles
benannten Intrinsece Mala, dass Handlungen wie die bewußte Lüge, der Mord
als die Tötung Unschuldiger, Ehebruch als die Missachtung des Treueanspruchs in einer „gültigen“ Ehe, aber auch Diebstahl38 und Glaubensabfall39,
aber auch Gotteslästerung40 immer und unter Absehung vermeintlich guter
Konsequenzen in sich schlecht, d.h. auch nicht zu einem guten Zweck
rechtfertigbar sind. Hier greift Thomas ein Denken des Hl .Augustinus auf, der
diese Kritik an einer Instrumentalisierungsethik schon in der alten Kirche vertritt: Der Zweck heiligt nicht die Mittel!41
c) Das II. Vatikanische Konzil weitet dann die Lehre von den Intrinsece Mala aus und benennt, im Kontext der Menschenrechtsgefährdungen einer entfesselten Moderne, diejenigen Unterlassungspflichten, die unter keinen Umständen mit der Personwürde des Menschen vereinbar sind. Unter dem
Rahmen, dass ein Gläubiger vor allem in den Bedrängten die Präsenz Christi sehen sollte, wird ein Kanon von In-sich-Schlechten-Handlungen vorgestellt, der im 20. Jahrhundert historisch leider durch „höherwertige Ziele“ de
facto immer wieder rechtfertigbar gedacht wurde: „Was ferner zum Leben
selbst in Gegensatz steht, wie jede Art von Mord, Völkermord, Abtreibung,
Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche
oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was
immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie
und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche
Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der
menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als
jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch
gegen die Ehre des Schöpfers.“ (Gaudium et spes 27) 42
38
Hier verweisen die Kommentatoren zu Recht auch auf einige Inkonsistenzen des Aquinaten, da
er an anderer Stelle den Mundraub rechtfertigt. Vgl. Schockenhoff, Naturrecht und Würde, 204.
Dass Thomas, etwa in der naturrechtlichen Würdigung der Frau schwer irrte, ist ein anderes
Thema des Dominikaners aus Aquin.
39 Vgl die Belegstellen zu Thoams bei Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, a.a.O. 398.
40 Gewohnheitsmäßige Gotteslästerung ist nach Thomas »die Sprache der Hölle« und ein Zeichen der Verwerfung: S. th.II-II quaestio 13 art. 4, vgl. dazu: Bernhard Häring, Das Gesetz Christi,
Band II, Freiburg 1963.
41 Augustinus schreibt in Contra mendacium: VII, 18: „Wer würde im Blick auf die Handlungen, die
durch sich selbst Sünden sind, wie Diebstahl, Unzucht, Gotteslästerung, zu behaupten wagen, sie
wären, wenn sie aus guten Gründen vollbracht, nicht mehr Sünden oder, eine noch sinnlosere
Schlußfolgerung, sie wären gerechtfertigte Sünden?“. Vgl. PL 40, 528; Sehr differenziert dazu
Schockenhoff, Grundlegung, 453f.
42 Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes), Nr. 27.
61
Die weite Reihung vieler depersonalisierter Handlungen kann in der Unbedingtheitsforderung nach Achtung der Würde der Person zusammengefasst werden, die eben in ihrer leiblichen, seelischen und ökonomischen
Dimension vom Konzil als unbedingt zu achtende und auch definierbare
Größe gesehen wird.
d) In der Enzyklika „Veritatis splendor“ von Papst Johannes Paul II aus dem
Jahre 1993 wird die o.g. genannte Lehre von den Handlungen, die durch ihre
innere Struktur so kontrapersonal sind, dass mit ihnen nichts Gutes entstehen
kann43, bestätigt und – vor allem mit Blick auf ihre moralphilosophische Grundlage, den Konsequenzialismus – kritisch fundiert: „Darum können die Umstände
oder die Absichten niemals einen bereits in sich durch sein Objekt sittenlosen
Akt in einen ‚subjektiv’ sittlichen oder als Wahl vertretbaren Akt verwandeln.“44
Und die Erfahrung lehrt, dass wir erschaudern, wenn von einem Menschen
gesagt wird, er ist zu allem fähig. Eine tiefe Intuition bezüglich der letztlichen
Amoralität bzw. Unmoralität seines Handeln lässt uns erfassen, dass hier
einer keine Grenzen mehr anerkennen will und um der „guten“ Ziele zu jedem Opfer – vor allem anderer – bereit ist.
10. Stop-Schilder für die Gegenwart: Unbedingte Grenzen um des Menschen willen
Abschließend soll nun versucht werden, die moralphilosophische Diskussion
zu den Intrinsece Mala der Gegenwart mit ihren historischen Wurzeln, die
sich deontologisch und eben nicht auf teleologische Weise einigen sittlichen
Grenzen nähert, zu verknüpfen und zu resümieren. Denn es lassen sich,
nicht allein aus historischer Sicht, „unbedingte Grenzen um der Würde des
Menschen willen“ 45 identifizieren, die uns behilflich sein können, die folgenden „Stopschilder“ auszumachen, die aus dem Denken einer an der Unverzweckbarkeit der Person festhaltenden Ethik kommen und die unter Verantwortung immer eine unmittelbare Verantwortung versteht, die sich „aus
der Natur der Sache/Beziehung“ ergibt und die einem Rekurs auf die guten
späteren Ziele und Zwecke skeptisch gegenüber steht.
43
Johannes Paul II, Enzyklika Veritatis splendor, Der Glanz der Wahrheit. Stein am Rhein 1993,
Kap. IV.: Die sittliche Handlung. Die Enzyklika greift hier ein Wort des Apostels Paulus im Römerbrief (Röm 3,8) auf, das sinngemäß meint: „Man darf nicht Böses tun, damit Gutes entsteht.“
44 Veritatis splendor Nr. 81.
45 So bei Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik, a.a.O. Zweiter Tiel (Normtheorie), Kap I,
2.5 (Begründung durch folgenunabhängige Handlungsmerkmale), Seiten 397-422; auch Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde, 209-232, Robert Spaemann, Moralische Grundbegriffe,
München 2006 u.ö. Vgl. auch Küng 2010, Kap VII, Für die Menschheit ein Ethos der Menschlichkeit, Seiten 239-287.
62
- Zum Gut des Lebens
Es ist unbedingt und in sich schlecht, einen unschuldigen Menschen mit
Absicht zu töten. Keine Notlage – auch nicht in Abwägung des Lebensschutzes anderer – rechtfertigt die Auslöschung eines Menschen, denn sein Lebensrecht gilt unbedingt.
- Zum Gut der Integrität des sittlich-autonomen Menschen
Es ist in sich verwerflich, einen Menschen zu foltern, denn damit zerbricht
man den Personkern eines Menschen, macht ihn zum Ding, das kein Subjekt
mehr ist. Und dies in Unabhängigkeit von (rechtlicher oder moralischer)
Schuldhaftigkeit.
- Zum Gut der kommunikativen Identität
Es ist in sich schlecht, in Vertrauensbeziehungen den Anspruch auf Wahrheit im Gegenüber zu missachten und – in bewusster und abgewogener
Zusage – ein Versprechen nicht zu halten. Denn aus der Natur eines Versprechens folgt, dass es einzuhalten ist. Und ohne gegenseitige Anerkennung eines Wahrhaftigkeitsanspruchs kann niemand auch nur argumentieren und jegliche Dialoggemeinschaft wird per se verunmöglicht.
- Zum Gut der Leib-Seele-Einheit in der Sexualität
Es ist in sich widersprüchlich, die freie Hingabe der Körper zu funktionalisieren
und zu instrumentalisieren, denn dies bedeutet Verlust und Verletzung des
anderen, der in der Liebe bedingungslose Akzeptanz erwarten darf.
- Zum Gut der grundsätzlichen Bejahtheit in der Wirklichkeit
Es ist sinngefährdend, wenn der Sinn von Sein und das Sein von Sinn grundsätzlich bestritten wird. Auch atheistische Lebens-Begründungen gehen von
der Voraussetzung aus – im Zuspruch wie im Widerspruch -, dass das Leben
gewollt ist. Dieses Recht auf grundsätzliche Erwünschtheit von Dasein und
Sein darf nicht negiert werden.
Oder normativ zusammengefasst:
- Zum Gut des Lebens: Nie Lebensrecht in Frage stellen!
- Zum Gut der Integrität des Menschen: Niemand zerbrechen!
- Zum Gut der kommunikativen Identität: Nie Versprechen brechen!
- Zum Gut der Leib-Seele-Einheit in der Sexualität: Niemals Missbrauch!
- Zum Gut des sinnvollen Seins: Nie alles für sinnlos erklären!
63
Mit diesen Erinnerungen an unbedingte Grenzen für unser ethisches Handeln
ist natürlich nicht geklärt, wie im Einzelnen etwa die Integrität des Personkerns verletzt wird, was ein bewusst eingegangenes Versprechen ist, ob
jede Form von AIDS-Prävention wirklich schon „instrumentalisierte Sexualität“
ist, oder ob der Mindestlohn eine notwendige Konsequenz aus dem
Verzwecklichungsverbot des Kantischen Kategorischen Imperativs sein kann.
Aber es ist vielleicht deutlich geworden, in welchem Korridor eine Abwägungsethik sich bewegen darf, und wo das Leitmotiv greifen muss: Vieles ist
abzuwägen, manches nie!
Mit dieser Erinnerung an die Leitplanken einer „Begrenzungs-Ethik“ soll hier
keineswegs das gute Handeln in seinem sinnstiftenden und wirklichkeitserschließenden Charakter voll bestimmt und umrissen sein, es sollte nur in
einer bescheideneren Denkbewegung erhellt werden, was Sinnstiftung und
Wirklichkeitserschließung auf jeden Fall verunmöglicht.
Was eine ethische Orientierung jenseits dessen, was das Personsein verunmöglicht, bleiben kann, sei als Prinzipienethik resümierend an das Ende
dieser Begrenzungsgrenzen-Ethik, gleichsam als positive Leitplanke gegenüber den absoluten Stop-Schildern des in sich Menschenfeindlichen, gestellt.
In Modifikation eines unternehmensethischen Rasters von Michael A. Pagano
für verantwortliches Handeln soll diese „moralische Checkliste“ in der Folge
kurz vorgestellt werden.
11. Das Herzstück positiver Verantwortung: Ethische Prinzipien für
Verantwortungsentscheidungen
In einem letzen Gedankenschritt sollen ethische Positionen der abendländischen Tradition summarisch vorgestellt werden, die einer Orientierungsethik
ein distinktives Fundament verleihen können.
Wie bereits angedeutet, können für ethische Sollensforderungen unterschiedliche Verpflichtungsgrade (Kann-, Soll-, und Muss-Normativitäten) angegeben werden, was mit der erwähnten Tatsache zu tun hat, dass es in der
Betrachtung eines gelingenden Lebens schwieriger ist, das Gelingen zu
prognostizieren als das zu benennen, was mit Sicherheit gutes Leben verunmöglicht. Wenn hier ein Kriterienkatalog für eine Verantwortungsethik
angerissen sein soll, dann vor allem unter dem Aspekt einer operationablen
ethischen Orientierung.
Wer Handeln ethisch eingrenzen will, sollte sich daher folgenden Prinzipien
stellen, die eine vernunftgebundene Ethik für ein gelingendes Leben nur
schwer hintergehen kann:
64
Der Meier-Pagano-Filter für eine menschengemäße Ethik: Wegweiser zum
Guten:
Legalitätsprinzip
Kategorischer Imperativ
Unparteilichkeitsfilter
Ist mein Handeln
gesetzeskonform?
(in einer funktionierenden
Demokratie! )
Ist mein Handeln verallgemeinerbar?
Wird dadurch ein Mensch
ge- oder missbraucht?
Was würde mein bester
Freund sagen, der
keine Aktien im Spiel
hat? (J. Rawls!)
(I. Kant + GG Art. 1)
Öffentlichkeitstest
Könnte ich mein Handeln
im Fernsehen öffentlich
vertreten? (J. Habermas!)
Goldene Regel
Kann ich die Folgen
meines Tuns für mich
selbst wollen?
(Jesus/Buddha/Mohammed und alle Religionen)
Ökolog. Imperativ
Verantwortung
als Sinngemäßheit
Werden die Freiheitsgrade der Kinder/ Enkelkinder reduziert? (H. Jonas!)
Utilitarismus in Güterabwägung
Eschatologisches
Sinnprinzip
Wird mein Handeln in
Abwägung aller Folgen
mehr Nutzen als Schaden für Viele bringen? (J.
St. Mill / J. Bentham)
Wenn ich meine letzte
Stunde mir vorstelle:
Hat mein Handeln dann
Bestand? (I.v. Loyola)
Wer diese ethischen Leitplanken in seinem Handeln berücksichtigt und für den
Einzelfall abwägt, wird schwerlich noch Grenzen überschreiten, die uns als
Menschen gesetzt sind.
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67
Thomas Schirrmacher
Ethische Bildung und ‚Innere Führung‘
in der Bundeswehr und in Streitkräften
In meinem Buch ‚Hitlers Kriegsreligion‘1 wird untersucht, wie Hitler religiöse
Argumente gebraucht, um zu verkündigen, dass Krieg der Normalzustand
sei und Frieden höchstens ein vorübergehender Waffenstillstand, um neue
Kräfte für den nächsten Krieg zu sammeln; denn Fortschritte erziele die Welt
nur im Krieg.
Wie anders das Deutschland, das aus den Trümmern erwuchs, die Hitler
zurückließ. Frieden ist jetzt der zu erhaltende Normalzustand, der Zustand,
in dem sich der Einzelne wie das ganze Land entfalten kann; Krieg die bittere und leider bisweilen unvermeidliche Ausnahme, niemals aber zu suchen
oder zu glorifizieren.
Doch so lange unsere Welt ohne Gewalt und ohne Krieg nicht auskommt,
so lange werden Armeen auch in friedlichen Ländern nötig sein, um sich
selbst zu schützen oder auch, um für die Opfer von Kriegen, Terror und
massenhaften Menschenrechtsverletzungen einzutreten.
„Die vier großen Krisenräume der Welt sind: Naher und Mittlerer Osten, der Balkan, der Kaukasus und Zentralafrika“2. Laut dem Heidelberger Institut für Konfliktforschung hat im Jahr 2008 die Zahl der hochgewaltsamen Konflikte stark und die
Zahl der Kriege von 6 auf 9 zugenommen.3
Die Frage, wie man auf solche Art Gewalt angemessen reagiert, ist so
aktuell wie eh und je. Der Radikalpazifismus empfiehlt, gar nicht zu reagieren, weil Gewalt, um Gewalttäter aufzuhalten, ethisch genauso verwerflich
sei wie die Gewalt des Gewalttäters selbst. Ein Christ könne niemals Soldat sein und niemals eine Armee, auch keine reine Verteidigungsarmee,
befürworten.
Ganz anders Jesus, der selbst über den Vorwurf, er verwechsele seine
geistliche Mission mit der Aufgabe des Staates oder wolle politische Gewalt säen, erhaben ist, aber Soldaten (damals zugleich Polizisten), die
1
2
3
Thomas Schirrmacher, 2 Bde. Bonn: VKW, 2007.
Michael Wolffsohn. Weltkonflikte der Gegenwart. Neuried: ars et unitas, 2008. S. 29.
Heidelberg Institute for Conflict. Conflict Barometer 2008. Heidelberg: HIIK, 2009.
69
seiner Friedensbotschaft folgen wollten, nicht aufforderte, ihren Beruf aufzugeben. In Lukas 3,12-14 heißt es: „Es kamen auch die Zöllner, um sich
taufen zu lassen, und sprachen zu ihm: Meister, was sollen denn wir tun?
Er sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist! Da
fragten ihn auch die Soldaten und sprachen: Was sollen denn wir tun? Und
er sprach zu ihnen: Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch
genügen an eurem Sold!“
Hier findet sich weder eine grundsätzliche Ablehnung einer Armee und Polizei (diese Aufgaben gehörten damals bekanntlich noch zusammen)4, noch
ein grundsätzlicher Freibrief für Armee oder militärische Macht, sondern eine
Ethik des Soldaten und der Armee. Gerechtigkeit (etwa durch Vermeidung
von Hass, Rassismus oder Korruption) und Vermeidung unnötiger Gewalt
(etwa durch Eroberung, Folter oder Vergewaltigung) bestimmt auch das
Soldatenhandwerk.
„Die in der theologischen Ethik beheimatete Lehre vom gerechten Krieg steht
sachlich zwischen der Lehre vom Heiligen, also von Gott gewollten Krieg, und
einem radikalen christlichen Pazifismus. Ihr Ziel liegt nicht in einer kritiklosen
Bejahung der Gewaltanwendung, sondern in ihrer kritischen Begrenzung. Zur
Lehre vom gerechten Krieg passt deshalb keine religiös motivierte Kriegsbejahung oder gar Kriegsbegeisterung. Sie hat etwas eigentümlich Säkulares
und Nüchternes an sich. Von der Lehre vom gerechten Krieg aus lässt sich
aber auch kein generelles ‚Nein‘ zu jedem nur denkbaren Krieg begründen.
Krieg ist weder notwendig, wie in der bellizistischen Philosophie, noch begrüßenswert, wie im Konzept des Heiligen Krieges. Aber er ist auch nicht ausgeschlossen, wie im radikalen Pazifismus; er ist vielmehr (leider Gottes) möglich. Die Lehre vom gerechten Krieg behauptet somit die grundsätzliche Kontingenz und damit die Vermeidbarkeit, aber auch die Führbarkeit des Krieges.“ 5
4
Die Konstabulisierung des Militärs durchlebt in unserer Zeit eine bedeutsame Renaissance. Die nach Ende des Kalten Krieges sich ergebenden neuen Sicherheitsherausforderungen, welche die Streitkräfte von der klassischen Aufgabe der Landesverteidigung zur
internationalen Friedensschlichtung in zivil-militärischen Kontexten geführt haben, zeigen
dies deutlich auf. Dazu näher: E. R. Micewski/ B. Schörner. Streitkräfte in der Postmoderne,
in: Österreichische Militärische Zeitschrift 3/2007, S. 271-280; und E. R. Micewski. Der
gebildete Soldat und Offizier – Grundlegendes zur Bildung der Führungskräfte in Streitkräften, Truppendienst 5/2001, S. 408-413 (wiederveröffentlicht in Schörner/Fleck (Hrsg.), Ein
Offizier als Philosoph – Schriften von Edwin Rüdiger Micewski. Kommentierter Sammelband,
Frankfurt a. M . 2009, S. 467-478.
5 Wolfgang Huber. „Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? Aktuelle Entwicklungen in
der evangelischen Friedensethik“. Zeitschrift für Evangelische Ethik 49 (2005) 113 -130; hier
zitiert nach der ursprünglichen Fassung Wolfgang Huber. „ Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? – Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik (1)“. Rede vom
28.4.2004 in Potsdam. http://www.ekd.de/vortraege/huber/040428_huber_friedensethik.html.
70
Die Kriterien des ‚gerechten Krieges‘ in Kurzfassung6
Ius ad bellum:
gerechter Grund
legitime Autorität
gerechte Absicht
letztes Mittel
begründete Hoffnung auf Erfolg.7
Ius in bello:
Unterscheidung von Kombattanten und Nicht-Kombattanten
Verhältnismäßigkeit der Mittel8
Beispiel Totenkopfaffäre bei uns – Folterskandale bei anderen
Die Bundeswehr kam kürzlich moralisch ins Gerede durch die berüchtigte
Totenschädel-Affäre in Afghanistan, als sich Bundeswehrsoldaten mit einem
gefundenen Schädel fotografieren ließen. Wird hier die Ethik von der BildZeitung gemacht, die scheinheilig die Bilder empört veröffentlichte, dadurch
aber die Affäre erst zu einer machte? Besteht nicht die Gefahr, dass die
Journalisten per Empörung bestimmen, was Ethik ist und was nicht (was in
anderen Bereichen der Gesellschaft ja sowieso schon so ist) und in dem
Presserummel eine gediegene ethische Diskussion innerhalb und außerhalb
der Bundeswehr, was denn ethisch und interkulturell falsch gelaufen ist,
eigentlich verhindert? So dümmlich die Fotos der Soldaten waren: Die wahren ethischen Probleme in Afghanistan sind woanders zu suchen. Und die
wichtigste Lehre daraus, nämlich weiteres und verstärktes Augenmerk auf
kulturelle Sensibilisierung der Bundeswehrangehörigen für die jeweiligen
Einsatzgebiete zu legen, hat die Bundeswehr ja gezogen.
Könnte so etwas wie die Folteraffären amerikanischer Soldaten und Soldatinnen im Irak auch in der Bundeswehr passieren? Die einen sagen stolz:
Nein. Kriege sind aber nie ein Sonntagsspaziergang. Wie einzelne Soldaten
unter extremem Druck reagieren, kann man ebenso wenig vorhersagen, wie
S. dazu Edwin R. Micewski. „Ethics and Politics“. S. 1-17 in: ders. u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001. S. 7-8.
7 Formulierung nach Ines-Jacqueline Werkner. „Soldat und Religion“. S. 287-307 in: Nina
Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für
Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005 in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.).
Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005. S.
302.
8 Formulierung nach ebd. Vgl. ausführlicher Thomas Schirrmacher. Ethik. Bd. 6. Hamburg/Nürnberg: RVB/VTR, 20094. S. 172-205 – Auszüge im Anhang.
6
71
die Folgen, wenn man monatelang mit Äußerungen von Gewalt, Tod und
Verwundung sowie Gefahr für das eigene Leben konfrontiert ist.
Zum einen können solche Dinge nur verhindert bzw. minimiert werden, wenn
man Soldaten gründlich auf ihre Einsätze vorbereitet, wozu auch die Vermittlung von Ethik und ethischem Verhalten gehört; sowohl in Form von Wertevermittlung und Grundsatzentscheidungen als auch in ‚Sandkastenspielen‘,
das heißt praktischer Behandlung konkreter ethischer Konfliktfälle.9 Nur wenn
man offen darüber spricht, welche typisch negativen Reaktionen sich in und
nach Kampfsituationen, gerade auch gegenüber dem unterlegenen Feind,
einstellen können, hat man überhaupt eine Chance, ausuferndes Verhalten zu
unterbinden.
Zum anderen kann man nur etwas bewirken, wenn man nüchtern bleibt und
mit dem Schlimmsten rechnet. Als Christ wäre zu sagen: Der Mensch hat eine
Neigung zum Bösen, zur Sünde, und insbesondere in bzw. nach Situationen
höchster Gefahr und Stressbelastung kann sich dies in Einzelfällen auf ungerechtfertigte Weise entladen. Wird das nüchtern gesehen und nicht unnötig
dramatisiert, so kann man vorbeugen und Vorsorge treffen, dass es nicht
vorkommt; wenn es aber passiert, wie man damit angemessen umgeht. Wer
aber blauäugig meint, der Mensch sei nur gut und werde solch schreckliche
Dinge sicher nicht tun, wird umso mehr von den tatsächlichen Ereignissen
überwältigt sein.
Mehr denn je durchdrungen von ethischen Themen
Gehen wir schlaglichtartig weitere Herausforderungen durch, die ein tragendes
ethisches Gesamtkonzept wie die ‚Innere Führung‘ und eine ethische Diskussion innerhalb und außerhalb der Bundeswehr heute noch nötiger als früher
machen.
 Die erwähnte Totenschädelaffäre zeigt: Der Rechtfertigungsdruck gegenüber den Medien und die Angreifbarkeit durch die Medien hat enorm zugenommen.
 Insgesamt wird heute überhaupt mehr denn je mit Hinweis auf Moral und
moralische Entrüstung Krieg geführt. Jeder versucht sich moralisch ins Recht
zu setzen. Für den Anspruch der Bundeswehr darf das aber nicht nur eine
propagandistische Maßnahme sein, sondern immer auch der Wunsch und der
Versuch, die moralischen Ansprüche so weit wie nur irgend möglich mit der
Realität in Deckung zu bringen.
9
Zur Methodik ethischer Urteilsbildung in Fallstudien vgl. Friedensethik im Einsatz. a. a. O. S.
357-362.
72
 Seit dem Einsatz im Kosovo 1999 und in Afghanistan seit 2001 ist die Bundeswehr erstmals tatsächlich eine Armee im Kampfeinsatz, erstmals mit ‚Gefallenen‘. Vorher war sie „nur so etwas wie Deutschlands beste Katastrophenhilfe“10. 7.000 deutsche Soldaten waren 2008 im Ausland im Einsatz,11 heute
sind es sogar um 200 Soldaten mehr. Dies rückt Fragen militärischer Ethik
wieder in den Vordergrund des Interesses.
 Mit Verwundung, Sterben und Tod wird heute ganz anders umgegangen als
in vergangenen Jahrhunderten.12 Zum einen wird der Gedanke daran sehr
stark verdrängt, zum anderen wird das Sterben von Militärangehörigen, so hat
es zumindest in Deutschland den Anschein, meist nicht mehr als Opfer angesehen. Das führt zu neuen Herausforderungen, natürlich nicht nur, aber eben
auch ethischer Natur.
 Die Rolle der Familien der Soldaten ist heute längst nicht mehr die selbstverständlicher Opferbereitschaft, sondern muss ethisch neu bedacht werden.13
 Die psychische Belastung der Soldaten im Einsatz spielt heute eine viel
größere Rolle in Vorbereitung, Diagnose und Behandlung, und bringt eigene
ethische Fragen mit sich.14 Die Zahl der Bundeswehrangehörigen, die aus
Kampfgebieten mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) zurückkehren, steigt rasant.15
Michael Wolffsohn. „Dichter, Denker und Soldaten“. Die WELT vom 3.4.2009, auch unter
www.welt.de.
11 Innere Führung. 2008. a. a. O. S. 4.
12 Ulrike Beckmann. „Verwundung und Tod – Ursachen und Folgen traumatischer Erfahrungen“.
S. 334-343 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft.
VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062. Aber auch Edwin R. Micewski. Tod und
Tabu – Das Ethos des Soldaten und die Todesfrage, in: Ethica. Jahrbuch des Instituts für Religion
und Frieden. Wien 2002, S. 95-99 (wiederveröffentlicht in Schörner/Fleck (Hrsg.), Ein Offizier als
Philosoph, a.a.O. S. 151-157.
13 Georg-Maria Meyer. „Soldatenfamilien“. S. 551-561 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.).
Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062;
Gerhard Kümmel (Hg.). Diener zweier Herren: Soldaten zwischen Bundeswehr und Familie. Lang:
Frankfurt, 2005; Maren Tomforde. Einsatzbedingte Trennung. Forschungsbericht 78. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2006, Download unter www.sowi.bundeswehr.de. Man beachte dazu auch die Kooperation des Zentralinstitut für Ehe und Familie in der
Gesellschaft der Katholischen Universität Eichstätt mit dem Katholischen Militärbischofsamt,
www.ku-eichstaett/Forschungseinr/ZFG/Home.de.
14 Michael Feller, Claudia A. Stade. „Physische und psychische Belastungen im Einsatz“. S. 323333 in: 333 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft.
VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062 und Trauma Friedensethik im Einsatz. a. a.
O. 283-285.
15 Vgl. Rainer M. Schubmann u. a. Psychosoziale Extrembelastungen bei Auslandseinsätzen
(Januar 2000 – März 2007). Möhnesee-Körbecke: Klinik Möhnesee, 2007, unter http://www.dbkg.de/upload/content/MOE/Bundeswehrbericht_2007_0321.pdf. Vgl. auch den sehr kritischen,
wenn auch etwas einseitigen Bericht eines längjährigen Offiziers im Einsatz im Kosovo und Afgha10
73
 Die Aufnahme von Frauen im Militär in allen Positionen und Rängen führt zu
neuen ethischen Fragestellungen.16
 Gleichzeitig bringen die jungen Rekruten nicht unbedingt ein höheres Maß
an ethischer Bildung aus Familie, Schule oder Kirche mit, schon gar nicht eine,
die auf einem breiten Konsens beruht.
 Michael Wolffsohn hat darauf verwiesen, dass die Bundeswehr zusehends
eine „Unterschichtenarmee“17 wird und darüber hinaus im aktiven Einsatz
heute eher Kämpfertypen als Bildungsbürger braucht. „Die Ent-Intellektualisierung der Bundeswehr wird deshalb eher zu- als abnehmen.“18 Angesichts
der jüngsten Anpassungen in den Curricula der Offiziersaus- und fortbildung
scheint sich der Trend aber umgekehrt zu haben. Human- und geisteswissenschaftliche Inhalte werden verstärkt berücksichtigt und auch der ethischen Bildung wird zusehends mehr Augenmerk geschenkt, was sich etwa
in der Einrichtung des Zentrums für ethische Bildung der Bundeswehr oder
dem Institut für militärethische Studien des Österreichischen Bundesheeres,
das in der evangelischen Superintendentur eingerichtet wurde, dokumentiert. Dass die Bemühungen aus der Sicht des Ethikers noch immer nicht
ausreichend sind und eine stärkere denkerische Durchdringung komplizierter
ethischer Sachverhalte erfolgen sollte, muss aber gleichzeitg festgehalten
werden.
 Zudem nimmt die Bundeswehr zunehmend nicht jüdisch-christlich sozialisierte Angehörige, sondern Areligiöse oder Angehörige ethnischer und/oder religiöser Minderheiten auf, was eine einheitliche ethisch-moralische Orientierung
weiter erschwert.19
 Die Bundeswehr ist zunehmend in anderen Ländern zur Durchführung und
Überwachung von humanitären Einsätzen, Wahlen oder Verträgen befasst,
nistan Andreas Timmermann-Levanas. Die reden – wir sterben. Frankfurt: Campus, 2010.
16 Gerhard Kümmel. „Frauen im Militär“. S. 51-60 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.).
Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062;
ähnl. Gerhard Kümmel. „Frauen im Militär“. S. 114-135 in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline
Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005.
17 Michael Wolffsohn. „Die Bundeswehr ist eine Unterschichtenarmee“. Die WELT vom 22.8.2009,
als „Die Bundeswehr – Legenden und Tatsachen“ unter http://debatte.welt.de/kommentare/150218/die+bundeswehr+legenden+und+tatsachen.
18 Vgl. Heiko Biehl. „Kampfmoral und Einsatzmotivation“. S. 268-286 in: Nina Leonhard, InesJacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften:
Wiesbaden, 2005; Nina Leonhard, Heiko Biehl. „Soldat: Beruf oder Berufung?“. S. 242-286 in: Nina
Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für
Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005.
19 Paul Klein. „Nationale, ethnische und religiöse Minderheiten in der Bundeswehr“. S. 72-80 in:
Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für
Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062.
74
nimmt also zunehmend Polizeifunktion in Einsatzgebieten wahr, was zahlreiche ethische Fragen aufwirft.
 Die zunehmende Privatisierung von Sicherheit wirft eigene ethische Fragestellungen auf.20 Die Evangelische Kirche wendet sich u. a. zu Recht massiv
gegen eine „Erosion des staatlichen Gewaltmonopols durch Privatisierung von
Sicherheitsaufgaben“21 und auch bei der Bundeswehr zeigt sich diesbezüglich
eine klare Einstellung. Allerdings sind ethische Herausforderungen im Hinblick
auf die Zusammenarbeit mit zivilen Sicherheitskräften in Einsatzgebieten zu
behandeln.
 Ethische Fragen stehen auch im Zentrum anderer Grundsatzdebatten, wie
etwa die nach dem Einsatz der Bundeswehr im Inneren,22 also der Polizeifunktion einer Armee, einem Wunsch, den die Bundeswehr ihrer Stärke in ABCAbwehr, Luftaufklärung, Luftabwehr, Lufttransport, Fernmeldefähigkeit, Pionierfähigkeit im Katastrophenfall und den Fähigkeiten der Marine zum Schutz
von Häfen und Schiffen verdankt.23
Interkulturelles Konfliktmanagement
Johannes Varwick schreibt in seinem Artikel „NATO: Auf dem Weg zum
Weltpolizisten?“24, dass die NATO eine Zwitterstellung zwischen „Verteidigungsbündnis“ und „Instrument internationaler Krisenbeherrschung“ 25 habe.
Im Rahmen des neuen strategischen Konzepts „Out-of-Area“ der NATO
arbeiteten in Afghanistan nicht weniger als 20 Nicht-NATO-Mitglieder, die im
Rahmen der NATO Partnerschaft für den Frieden (PfP) die Interoperabilität
mit der NATO herstellten, zusammen. 26 Damit ergibt sich die Herausforderung von Interkulturalität zum einen auf die Bedingungen im Einsatzraum,
S. Maria Meyer. „Söldner GmbH? – Zur Problematik privater Militärdienstleistungsunternehmen“.
S. 506-517 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft.
VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062.
21 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen: Eine Denkschrift des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 20072. S. 106 (Nr. 167),
www.ekd.de/download/ekd_friedensdenkschrift.pdf.
22 Siehe Wilhelm Knelangen. „Einsatz der Bundeswehr im Innern“. S. 112-124: Sven Bernhard
Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062.
23 Auflistung nach ebd. S. 116-117.
24 Johannes Varwick. „NATO: Auf dem Weg zum Weltpolizisten?“. Aus Politik und Zeitgeschichte
15-16/2009 (6.4.2009): 3-9.
25 Ebd. S. 8.
26 Ebd. S. 7. Vgl. auch Olaf Theiler. „Die ‚Neue NATO’ – Eine Allianz im Wandel“. S. 238-249 in:
Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für
Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062.
20
75
zum anderen auf die Zusammenarbeit in multikulturell zusammengesetzten
Streitkräfteformationen.
Krieg hatte und hat schon immer auch etwas mit dem Verhältnis zu anderen
Kulturen zu tun, wird aber nun im Kontext internationaler Friedenssicherung
und Konfliktbereinigung zu einem weitaus komplexeren Gegenstandesbereich.
Bei einem gerechten Krieg und in Friedensmissionen wird ein faires Verhältnis
zu anderen Kulturen zu einem besonders zentralen Thema. Die jüngsten
Beteiligungen von Bundeswehrangehörigen an internationalen Einsätzen
belegen, dass auch die Bundeswehr auf eine „Begegnung mit fremden Kulturen“27 vorbereitet sein muss.
Die Begegnung mit anderen Kulturen hat aber nicht nur den Aspekt interkultureller Kommunikation, sondern immer auch einen zentralen ethischen
Aspekt zu berücksichtigen.
Auch die multinationalen Einsätze bringen ethische Probleme mit sich, 28
müssen doch Truppen verschiedener Nationen und aus verschiedenen
Kulturbereichen gemeinsam mit in den Einsatzzonen Heimischen, die oft
selbst verschiedenen Völkern, Stammesgruppen und sozialen Schichten
angehören, zusammen arbeiten.
Die etwa mancherorts viel belächelte Taschenkarte für Bundeswehrangehörige in Afghanistan29 hatte ja nie die Aufgabe, hochkomplizierte Zusammenhänge billig zu vereinfachen, sondern wollte nur die Möglichkeit schaffen,
sich schnell immer wieder ethische und interkulturelle Grundsätze des Bundeswehreinsatzes in Erinnerung zu rufen. Auch für die Bundeswehr selbst ist
es eine gute Übung, ihre ethischen Grundsätze in wenigen Prinzipien zusammenzufassen, die in langatmigen Erklärungen und Dokumenten nicht
immer leicht zu finden oder nachzuvollziehen sind, schon gar nicht im praktischen Einsatz, der immer mit Zeitdruck und der Notwendigkeit zu schnellen
Entscheidungen verbunden ist.
Literatur Interkulturelles Konfliktmanagement
„Lebensweise verstehen: Interkulturelle Handlungskompetenz ...“. http://www.y-punkt.de/portal/a/ypunkt/archiv/2007?yw_contentURL=/01DB131000000001/W26Z4JRN81
1INFODE/content.jsp (aus Y-Das Magazin der Bundeswehr)
27
Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 34-37 (Abschnittsüberschrift).
Sven Bernhard Gareis. „Multinationalität als europäische Herausforderung“. S. 360-373 in: Sven
Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062; Sven Bernhard Gareis. „Militärische Multinationalität“. S. 157175 in: Nina Leonhard, Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS
Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005.
29 Taschenkarte: Druckschrift Einsatz Nr. 03: Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Grundsätzen – Grundsätze. Bundesministerium der Verteidigung, 2008.
28
76
Andreas Berns, Roland Wöhrle-Chon. „Interkulturelles Konfliktmanagement“. S. 350358 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissen2
schaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006
Paul Ertl, Jodok Troy (Hg.). Der Feind – Darstellung und Transformation eines Kulturbegriffes. Bd. 2: Ausgewählte Bereiche der Feindkonzeption. Wien: Landesverteidigungsakademie, 2007
Sven Bernhard Gareis. „Multinationalität als europäische Herausforderung“. S. 360-373
in: ders., Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für
2
Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006 , insgesamt S. 350-434
Sven Bernhard Gareis. „Militärische Multinationalität“. S. 157-175 in: Nina Leonhard,
Ines-Jacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für
Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005
Jörg Keller. „Interkulturelle Kompetenz auf dem Prüfstein: die Auslandeinsätze der Bundeswehr“. S. 161-194 in: Ludwig Krysl (Hg.). Interkulturelle Kompetenz – Voraussetzung für erfolgreiche Aufgabenerfüllung postmoderner Streitkräfte. Schriftenreihe der
Landesverteidigungsakademie 18/2007. Wien: LVAk, 2007
Ludwig Krysl (Hg.). Interkulturelle Kompetenz – Voraussetzung für erfolgreiche Aufgabenerfüllung postmoderner Streitkräfte. Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 18/2007. Wien: LVAk, 2007
Jörg Keller. „Interkulturelle Kompetenz auf dem Prüfstein: die Auslandeinsätze der
Bundeswehr“. S. 161-194 in: Ludwig Krysl (Hg.). Interkulturelle Kompetenz – Voraussetzung für erfolgreiche Aufgabenerfüllung postmoderner Streitkräfte. Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 18/2007. Wien: LVAk, 2007
Paul Klein. „Nationale, ethnische und religiöse Minderheiten in der Bundeswehr“. S. 7280 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissen2
schaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006
Andreas Th. Müller. „Der Feindbegriff im Völkerrecht“. S. 119-146 in: Paul Ertl, Jodok
Troy (Hg.). Der Feind – Darstellung und Transformation eines Kulturbegriffes. Band
2. Wien: Landesvereinigungsakademie, 2007
Vgl. auch
Thomas Schirrmacher. Rassismus: Alte Vorurteile und neue Erkenntnisse: SCM
Hänssler, 2009
Thomas Schirrmacher. Multikulturelle Gesellschaft. Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2007
Menschenrechtsgeleitete Intervention
Aus den 1990er Jahren heraus entwickelte sich eine neuartige Form der
bewaffneten Auseinandersetzung, „die menschenrechtsgeleitete Intervention“30 oder ‚humanitäre Intervention‘ die den miles protector gefragt sein lässt,
Christian Stadler. „Internationales Recht – Völkerrecht und humanitäre Intervention“. S. 19-34 in:
Edwin R. Micewski u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics.
Wien: Literas, 2001. S. 26, vgl. dazu den ganzen Beitrag und Heinz-Gerhard Justenhoven, HansGeorg Ehrhart (Hg.). Intervention im Kongo: Eine kritische Analyse der Befriedungspolitik von UN
30
77
den Friedensstifter, Konfliktmediator, Helfer.31 „Bewaffneter Sozialarbeiter?“32,
fragt Christian Walther, und Wilfried von Bredow diskutiert die Verquickung
von „Kämpfer und Sozialarbeiter“33 in einer Person. Die frühere „klare Trennlinie zwischen dem Militär und zivilen Organisationen wird mehr und mehr
durchlöchert“, etwa durch humanitäre Hilfeleistungen, dazu Polizeiaufgaben
im Zivilleben (nicht nur beim Aufgreifen von Kriegsverbrechern) oder durch
die Aufstellung und Schulung von Polizeiformationen und andere Serviceleistungen beim Aufbau ziviler Strukturen.34 Offiziere in Afghanistan müssen
zudem Geschick in Diplomatie und hohe Flexibilität angesichts unklarer Verbündeter und der Sprachprobleme haben.
Es gibt dabei eine breite internationale Diskussion, inwieweit eine Intervention überhaupt humanitär sein kann und vor allem, unter welchen Voraussetzungen sie möglich ist, wenn es kein Mandat des UN-Sicherheitsrates gibt.35
An Auslandseinsätzen im Sinne von Friedensmissionen waren etwa – wie
dem Weißbuch 2006 beispielsweise zu entnehmen ist – weltweit etwa
200.000 Soldaten beteiligt.36
All das erfordert nicht weniger, sondern mehr Ethik und ethisches Nachdenken. Hier wird Ethik zur Begründung von Einsätzen der Bundeswehr (und
anderer Armeen) herangezogen, vor allem deshalb, weil das Völkerrecht die
neuen Herausforderungen noch nicht verarbeitet hat und klare rechtliche
Richtlinien (noch) ausständig sind. Die politische Diskussion trägt daher
verständlicherweise immer stärker ethische Züge, muss doch die Legitimation der von der Politik beschlossenen Einsätze vorrangig auch ethisch erfolgen. Allein deshalb hat die ethische Diskussion nicht nur zugelassen, sondern gefördert zu werden, innerhalb der Politik, der Bundeswehr, unter Fachleuten, aber auch gesamtgesellschaftlich.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 12.7.1994 über die
Zulässigkeit von Bundeswehreinsätzen außerhalb des NATO-Territoriums
und anderer Fragen war einerseits die Voraussetzung dafür, dass sich der
Charakter der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Armee der
und EU. Beiträge zur Friedensethik 42. Stuttgart: Kohlhammer, 2008.
31 So ebd.
32 Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 19-20.
33 Wilfried von Bredow. „Kämpfer und Sozialarbeiter“. S. 314-321 in: Sven Bernhard Gareis, Paul
Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062.
34 Bes. ebd. S. 318.
35 Eine Zusammenfassung der Kriterien gibt nach Darstellung der Diskussion Dieter Baumann.
Militärethik. a. a. O. S. 376-378; ähnlich Peter Fonk. Frieden schaffen auch mit Waffen? a. a. O. S.
52-53.
36 Vgl. die Auflistung der Beteiligung bis 2008 in Wilfried von Bredow. Militär und Demokratie in
Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2008. S. 233-234, zu 232-247.
78
Beteiligung an ‚Friedensmissionen‘ und aktiven Kampfeinsätzen entwickelte
und dass die Bundeswehr andererseits zu einer ‚Parlamentsarmee‘ wurde,
entschied doch das Gericht, dass der Bundestag jeden einzelnen Einsatz der
Bundeswehr beschließen müsse.37 Dieser Umbruch bringt die oben bereits
angesprochenen ethischen Herausforderungen mit sich und insbesondere die
Vorgabe ’der parlamentarischen Beschlüsse bedeutet auch längerfristige und
durchaus auch verstärkt ethische Betrachtungen.
Literatur Humanitäre Intervention – Kämpfer und Sozialarbeiter?
Dieter Baumann. Militärethik: Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven. Theologie und Frieden 36. Stuttgart: Kohlhammer,
2007
Gerhard Beestermöller (Hg.). Die humanitäre Intervention – Imperativ der Menschenrechtsidee? Rechtsethische Reflexionen am Beispiel des Kosovo-Krieges. Theologie
und Frieden 24. Stuttgart: Kohlhammer, 2003
Peter Fonk. Frieden schaffen – auch mit Waffen? Theologisch-ethische Überlegungen
zum Einsatz militärischer Gewalt angesichts des internationalen Terrorismus und der
Irak-Politik. Beiträge zur Friedensethik 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2003
Heinz-Gerhard Justenhoven, Hans-Georg Ehrhart (Hg.). Intervention im Kongo: Eine
kritische Analyse der Befriedungspolitik von UN und EU. Beiträge zur Friedensethik
42. Stuttgart: Kohlhammer, 2008
Edwin R. Micewski, Ethics and Politics – Some Thoughts on the History of Ideas and
Today’s Challenges, S. 1-17, in: Edwin R. Micewski u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001
Christian Stadler. „Internationales Recht – Völkerrecht und humanitäre Intervention“. S.
19-34 in: Edwin R. Micewski u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and
International Politics. Wien: Literas, 2001. S. 26.
Wilfried von Bredow. „Kämpfer und Sozialarbeiter“. S. 314-321 in: Sven Bernhard
Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für So2
zialwissenschaften: Wiesbaden, 2006
Afghanistan
Der einstige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des
NATO-Militärausschusses, Klaus (Dieter) Naumann, bekanntlich der
höchstdekorierte deutsche Soldat seit dem 2. Weltkrieg, äußert sich sehr
kritisch zum Umgang der Regierung und des Parlaments mit multilateralen
Einsätzen der Bundeswehr. „Der Afghanistan-Einsatz ist zum Musterfall
37
S. dazu Wilfried von Bredow. Militär und Demokratie in Deutschland. a. a. O. S. 121-124.
Hans Born. „Demokratische Kontrolle von Streitkräften und Sicherheitspolitik“. S. 125-134 in:
Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag
für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006 2 stellt die Kompliziertheit der Fragestellung gut
dar.
79
strukturierten Politikversagens geworden.“ 38 Sind die von Naumann angesprochenen „Ausrüstungsmängel“ in Afghanistan nicht auch ein durchaus
moralisches Versagen der Politik, den Streitkräften die zur Auftragserfüllung
notwendigen Mittel zur Vefügung zu stellen? In seinem Aufsatz „Scheitern
an der ganzen Front: das Versagen deutscher Politik torpediert die Auslandseinsätze der Bundeswehr“ hat Naumann seine Kritik über Afghanistan
hinaus auf alle Einsätze der Bundeswehr ausgeweitet. 39 Ähnlich hat Michael
Wolffsohn von der Hochschule der Bundeswehr kritisiert, die Bundeswehr
habe grundsätzlich keine ausgereifte Strategie, wie der Libanoneinsatz von
2006/2007, die Mission im Kongo 2006 und die Piratenbekämpfung vor
Somalia und Afghanistan zeigten. 40
Inwieweit diese Kritik zutrifft oder allenfalls überzogen ist, kann nur schwer
beurteilt werden. Jedenfalls lässt die Diskussion schon erkennen, dass hier
über tagespolitische Fragen oder Wahlkampfthemen hinausreichend, auch
ethische Dimensionen verstärkt im Diskurs berücksichtigt werden müssen.
Literatur Afghanistan
Eric Chauvistré. Wir Gutkrieger: Warum die Bundeswehr im Ausland scheitern wird.
Frankfurt a. M.: Camous, 2009
Stefan Kornelius. Der unerklärte Krieg: Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan.
Hamburg: edition Körber Stiftung, 2009
Klaus Naumann. Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Hamburger Edition: Hamburg, 2008
Klaus Naumann. „Scheitern an der ganzen Front: das Versagen deutscher Politik
torpediert die Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Internationale Politik 63 (2008) 9:
82-89
„Neue Kriege“
In den zwei Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges hat sich ein Kriegstypus herauskristallisiert, den es zwar in der Geschichte, wenn auch in
abgeschwächter Form, immer schon gegeben hat und der so alt wie der
Krieg selbst ist, der sich aber im weltweiten Maßstab nach vorne schiebt.
Dieser neue, asymmetrische Krieg 41 ist eine Mischung aus klassischer
38
Klaus Naumann. Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Hamburger
Edition: Hamburg, 2008. S. 8-47.
39 Klaus Naumann. „Scheitern an der ganzen Front: das Versagen deutscher Politik torpediert die
Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Internationale Politik 63 (2008) 9: 82-89.
40 Michael Wolffsohn. „Die Bundeswehr ist eine Unterschichtenarmee“. Die WELT vom 22.8.2009,
als „Die Bundeswehr – Legenden und Tatsachen“ unter http://debatte.welt.de/kommentare/150218/die+bundeswehr+legenden+und+tatsachen.
41 Counterinsurgency. FM 3-24/MCWP 3-33.5. December 2006. Headquarters of the Army: Wash-
80
Kriegsführung, organisiertem Verbrechen, Bürgerkrieg und massenhafter
Verletzung von Menschenrechten. 42 Der Wiener Philosophieprofessor Rudolf Burger erkennt drei vorrangige Gründe, die für diese asymmetrische
Entwicklungen in der Kriegführung verantwortlich sind, nämlich die Entstaatlichung, Denationalisierung und Retheologisierung der Politik. 43
Dabei beabsichtigt der politische Charakter der neuen Asymmetrie das Unterlaufen der Staatlichkeit und zielt unter Umgehung symmetrischer militärischer
Konfrontation darauf ab, die rund um die regulären Streitkräfte bestehende soziale und politische Ordnung auszuhöhlen. Festeht, wie Micewski feststellt,
dass sich als wesentlicher Aspekt in der neuen Kriegsführung ergibt, dass die
„technologisch-materielle Asymmetrie durch die Ausnutzung moralischer
Asymmetrien begleitet und verstärkt wird“.44 Mit dem „Verzicht auf Moralität“
(E. Micewski) stellt sich der asymmetrisch Kriegführende außerhalb jeglicher
rechtlicher und moralischer Norm des Völkerrechtes und politisch-militärischer
Ethik und treibt somit die Entgrenzung des Krieges weiter voran. Während
etwa in der Lehre vom gerechten Krieg im ‚ius in bello‘ die Unterscheidung
zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten eine zentrale Rolle spielt, wird
diese Unterscheidung von irregulären Kräften oft bewusst missachtet oder
aufgehoben. Zivilisten werden als Geiseln, Kinder zur Täuschung von Soldaten verwendet, Kombattanten werden äußerlich bewusst und absichtlich nicht
von Nichtkombattanten unterscheidbar gemacht. Die ethisch-moralischen
Herausforderungen, die daraus für reguläre Streitkräfteformationen resultieren,
sind eminent, ist doch der reguläre und einem Kriegsvölkerrecht verpflichtete
Soldat dazu „verurteilt“, dem „Inhumanen auf eine Weise zu begegnen, in der
er sich selbst des Humanen niemals entledigen darf.45
Für die Ethik ist der neue Kriegstypus eine besondere Herausforderung, weil
der überwiegende Teil unseres modernen Kriegsrechts und unsere ethischen Überlegungen nach wie vor auf klassische zwischenstaatliche Kriege
ausgerichtet ist.46
Literatur Neue Kriege & Asymmetrie
Gustav Däniker. Wende Golfkrieg: Vom Wesen und Gebrauch künftiger Streitkräfte.
Frankfurt: Report Verlag, 1992
ington, 2006. www.fas.org/irp/doddir/army/fm3-24.pdf. S. 1-1.
42 Vgl. Klaus Ebeling. Militär und Ethik. a. a. O. S. 36-37.
43 Rudolf Burger. Retheologisierung der Politik und weltpolitische Konfliktkonstellationen. Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie Wien 1/2004: Wien: LVAk, 2004. 21. S. S. 16, auch unter
www.bmlv.gv.at/pdf_pool/publikationen/08_kwd_burger.pdf.
44 Micewski (2004). S. 35.
45 Ebd. S. 40.
46 So bes. ebd. S. 7-5.
81
Peter Fonk. Frieden schaffen – auch mit Waffen? Theologisch-ethische Überlegungen
zum Einsatz militärischer Gewalt angesichts des internationalen Terrorismus und der
Irak-Politik. Beiträge zur Friedensethik 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2003
Edwin R. Micewski, Moralphilosophische Überlegungen zur Legitimität von asymmetrischer Kriegführung. In: Schröfl, Josef/Pankratz, Thomas (Hrsg.). Asymmetrische
Kriegführung – ein neues Phänomen der Internationalen Politik? Baden-Baden: Nomos 2004. S. 31-40
Herfried Münkler. „Neues vom Chamäleon Krieg“. Aus Politik und Zeitgeschichte 57
(2007) 16/17: 3-9
Counterinsurgency. FM 3-24/MCWP 3-33.5. December 2006. Headquarters of the
Army: Washington, 2006. www.fas.org/irp/doddir/army/fm3-24.pdf
3
Herfried Münkler. Die neuen Kriege. Reinbek: Rowohlt, 2002
August Pradetto. „Neue Kriege“. S. 214-225 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.).
Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften:
2
Wiesbaden, 2006
C. René Padilla, Lindy Scott. Terrorismus und der Krieg im Irak: Christen aus Lateinamerika melden sich zu Wort. Weltmission heute 57. Hamburg: Evangelisches Missionswerk in Deutschland, 2005
‚Innere Führung‘ und Militärethik
Als Folge des Dritten Reiches und der Schrecken des Zweiten Weltkrieges
war es kein Wunder, dass die Deutsche Bundeswehr das Konzept der Inneren
Führung erarbeitet und in den Streitkräften verankert hat. Der Natur der Sache
und den Erfordernissen gemäß konzentrierte sich die Innere Führung weniger
auf Überlegungen einer Militärethik, als vielmehr auf demokratiepolitische
Wertvermittlung, die Menschenwürde berücksichtigende Ausbildungs- und
Führungsmethoden und die Einbindung und Integration der Bundeswehr und
ihrer Soldaten in die Gesellschaft.
Wilfried von Bredow bezeichnet die ‚Innere Führung‘, wie dies in der gleichnamigen Dienstvorschrift 10/1 des Verteidigungsministeriums von 2008
zum Ausdruck kommt, als das Markenzeichen der Bundeswehr. 47 Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Walter Schneiderhahn, fügt
hinzu, dass „keine andere westliche Nation ...über ein ähnlich umfassendes
Konzept zur Harmonisierung des Spannungsverhältnisses zwischen Soldat
und Demokratie“ 48 verfügt wie die Bundeswehr. Schneiderhan wehrt sich
dagegen, das Bild vom Soldaten auf das Bild vom Kämpfer zu reduzieren.
Nicht zuletzt durch die Innere Führung verfügt die Bundeswehr auch über
den moralisch stabilen Soldaten, der Werte hat und mit Courage für diese
47
Wilfried von Bredow. Militär und Demokratie in Deutschland. a. a. O. S. 124; vgl. zur Inneren
Führung insgesamt S. 124-144.
48 Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 7.
82
Werte eintritt. Aus diesem Grund steht die Innere Führung nicht zur Disposition sondern muss von jedem Angehörigen der Bundeswehr gelebt werden und das Handeln der deutschen Soldaten bestimmen. Nach über 40
Dienstjahren ist sich Schneiderhan in einem Punkt absolut sicher: „Ohne
Innere Führung hätten wir eine andere Bundeswehr. Denn das Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Freiheit und militärischer Ordnung existiere nun einmal.“49
Die Evangelische Kirche in Deutschland schreibt in einer ausführlichen Stellungnahme zum Konzept der Inneren Führung:
„Das ethisch, historisch und rechtlich begründete Konzept der Inneren Führung
ist in den vergangenen fünfzig Jahren zum Markenzeichen der deutschen
Streitkräfte geworden. Das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform, der Primat
der Politik, der Grundrechtsschutz, die Gewissensfreiheit, die Bestimmung des
Verhältnisses von Befehlsgewalt und Gehorsamspflicht, die Integration der
Streitkräfte in die demokratische Ordnung, eine an der Menschenwürde orientierte Ausgestaltung des Dienstes sowie zeitgemäße Menschenführung – all
dies ist in der Bundeswehr weitgehend verwirklicht. Gleichwohl machen die in
den jährlichen Berichten des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
wiedergegebenen Verfehlungen – auch von Vorgesetzten – die Notwendigkeit
ständigen Einübens der Grundsätze der Inneren Führung und der Überwachung ihrer Befolgung durch konsequente Dienstaufsicht deutlich. Unter den
neuen Bedingungen multinationaler Einsätze und des damit einhergehenden
Strebens nach »Interoperabilität«, also der Befähigung zu militärischem Zusammenwirken, dürfen auch angesichts unterschiedlicher Wehrrechtssysteme
die Prinzipien der Inneren Führung nicht preisgegeben, relativiert oder nivelliert
werden. Vielmehr sollten sie auch für multinationale Streitkräfte als wegweisend betrachtet und vertreten werden. Ein Aspekt der Inneren Führung, der
angesichts der Auslandseinsätze Gewicht gewinnt, ist die Fürsorge, und zwar
in mehrfacher Hinsicht: Betreuung der Familien am Standort, Betreuung von
Soldaten nach Einsätzen, besonders solchen mit sehr belastenden Erlebnissen
und Erfahrungen, Versorgung von verletzten und insbesondere von dauerhaft
versehrten Soldaten. Die Soldatenseelsorge leistet einen entscheidenden Beitrag dazu, dass Soldaten und ihre Angehörigen in schwierigen und angefochtenen Lebenssituationen kompetente und qualifizierte Begleitung und Unterstützung erfahren.“50
49
http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLd4w3tHQ0BMmB2KaepvqREIYlTMzQzQ8iBlbo65Gfm6oflJKq760foF-QGxpR7uioCADHLUXm/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfQV8xOUEx?yw_contentURL=%2F01DB131000000001
%2FW26YEJ3C829INFODE%2Fcontent.jsp (1.3.2009).
50 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen: Eine Denkschrift des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 20072. S. 198 (Nr. 154),
www.ekd.de/download/ekd_friedensdenkschrift.pdf.
83
Das Bundesverteidigungsministerium vermeldete in jüngerer Zeit mit Stolz,
dass das Konzept der Inneren Führung immer weiter als Anhalt für andere
Streitkräfteorganisationen um sich greift:
„Ein weltweit gefragtes Erfolgsmodell: Die Innere Führung ist ein Markenzeichen
der Bundeswehr. Während seiner Südamerikareise im Juli führte der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wolfgang Schneiderhan, ein ausführliches
Gespräch mit Argentiniens Verteidigungsministerin Nilda Celia Garré und Generalstabschef Jorge Alberto Chevallier über die einzigartige Konzeption der Inneren Führung. Die Konzeption der Inneren Führung bringt die Freiheitsprinzipien
des demokratischen Rechtsstaates mit den Ordnungs- und Funktionsprinzipien
der Streitkräfte zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrages in Einklang. Sie ist
mehr denn je unverwechselbares Markenzeichen der deutschen Streitkräfte. Die
bisherigen deutschen Erfahrungen, Gesellschaft und Militär zusammenzuführen,
stoßen auch in anderen Staaten auf ein starkes Interesse. ... Diesem Bedarf
entsprechend wurde die im Januar diesen Jahres erlassene und den aktuellen
Entwicklungen, insbesondere der Einsatzrealität angepasste Neufassung der
Zentralen Dienstvorschrift Innere Führung (ZDv 10/1) nun in die französische,
englische, russische und auch spanische Sprache übersetzt. Damit kann sie
auch der breiten Masse der Soldaten ausländischer Streitkräfte, so auch den
interessierten Argentiniern, verfügbar gemacht werden.“ 51
Die Sozialwissenschaftlerin Angelika Dörfler-Dierken nennt kurz und bündig
folgende drei Hauptelemente des Konzeptes der Inneren Führung:
1. Gewissengeleitetes Individuum; 2. Verantwortlicher Gehorsam; 3. Konfliktund friedensfähige Mitmenschlichkeit.52
In jüngerer Zeit mehren sich jedoch auch kritische Stimmen, welche die Gefahr sehen, dass die Innere Führung bei zivilen Mitarbeitern des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr, bei einigen Offizieren im Zentrum
Innere Führung in Koblenz, in den theologischen Instituten der Bundeswehrhochschulen sowie in Akademien und Sonntagsreden gefangen zu bleiben
und weniger den Alltag der Bundeswehr zu bestimmen droht. So stellte der
Wehrbeauftragte Reinhold Robbe große Defizite bei der Inneren Führung und
beim Rechts- und Wertebewusstsein von Ausbildern und Rekruten fest und
das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr kam im Projekt ‚Ethische
Fundamente der Inneren Führung‘53 zu einem insgesamt negativen Ergebnis:
Zwar gilt, dass die „Die Konzeption der Inneren Führung ... die Bundeswehr
demokratie- und bündniskonform gemacht [hat]“54, aber sie „schon recht früh
„Ein weltweit gefragtes Erfolgsmodell“. http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/kcxml/04
Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung: Baudissins Leitgedanken.
Berichte 77. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2005. S. 39.
53 Klaus Ebeling, Anja Seiffert, Rainer Senger. Ethische Fundamente der Inneren Führung. SOWIArbeitspapier 132. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2002.
54 Ebd. S. 38.
51
52
84
zu einer eher innerbetrieblichen Führungsphilosophie – zu Lasten des Politischen“55 wurde; und das sei bis in die Gegenwart so geblieben. Und Angelika
Dörfler-Dierken konstatiert eine emotionale Barriere der Bundeswehr gegen
einen „Beitrag zur Legitimation der eigenen Existenz“56.
Wenn auch nicht im Vordergrund der Inneren Führung, so kommt mit dem
Hinweis auf den Wehrbeauftragten und den Lebenskundlichen Unterricht57 die
Sorge um das Seelenheil des Soldaten auf und verweist auf den durchaus
auch berufsethischen Charakter der Seelsorge, die immer wieder auch moralische Aspekte der dienstlichen Pflichterfüllung berührt. Die Dienstvorschrift
10/4 (104) äußert sich dementsprechend wie folgt:
„Der Lebenskundliche Unterricht ist ein Ort freier und vertrauensvoller Aussprache
und lebt von der engagierten Mitarbeit der Soldatinnen und Soldaten. Er ist kein
Religionsunterricht und auch keine Form der Religionsausübung im Sinne von §
36 des Soldatengesetzes, sondern eine berufsethische Qualifizierungsmaßnahme
und damit verpflichtend. Er wird in der Regel von Militärseelsorgerinnen und Militärseelsorgern und im Bedarfsfall auch von anderen berufsethisch besonders qualifizierten Lehrkräften erteilt.“
Unter den übrigen Staaten der westlichen Welt – mit Ausnahme Österreichs –
die sich nach dem Zweiten Weltkrieg ja durchaus auf der Seite der Sieger
befanden und nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert waren, eine noch ganz
junge totalitäre Vergangenheit bewältigen zu müssen, beschränkten sich die
zivil-militärischen bzw. politisch-militärischen Beziehungen, deren adäquate
Regelung ja die Grundmotivation für die Konzeption der Inneren Führung war,
großteils auf rechtliche Aspekte und allenfalls die Verbesserung der Medienarbeit. Hier wie dort standen Fragen einer militärischen Ethik jedoch nicht im
Vordergrund, beruhte die Konstellation der bipolaren Weltordnung doch in
ethischer Hinsicht auf einem allgemein anerkannten Kriegsvölkerrecht, dessen
Bestimmungen in Unterrichten und Schulungen vermittelt wurde und auf dessen Vermittlung sich militärethische Bildung wesentlich beschränkte.
Österreich, wo man sich nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Wiedererlangung der Souveränität in einer ähnlichen Lage – wenn auch als immerwährend
Neutraler ohne dem Erfordernis nach Bündnistauglichkeit – befand, nahm sich
an der Inneren Führung ein Beispiel und entwickelte in ähnlicher Absicht das
Konzept der Geistigen Landesverteidigung als einem wesentlichen und grundlegenden Teilbereich des strategischen Konzepts der Umfassenden Landesverteidigung. Aber auch hier standen weniger Aspekte einer ethischen Bildung
55
Ebd. S. 39.
Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 39.
57 Vgl. zum lebenskundlichen Unterricht Friedensethik im Einsatz: Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009. S. 345-3567. Im
Österreichischen Bundesheer gibt es denselben Unterricht unter derselben Bezeichnung.
56
85
im Vordergrund als vielmehr das Bemühen, Bürger in Uniform zu schaffen,
deren Bewusstsein und Auftreten keinen Zweifel an ihrer demokratiepolitischen Gesinnung aufkommen ließ und welche es dem Österreichischen Bundesheer ermöglichte, sich adäquat in die Gesellschaft zu integrieren. Im Gegensatz zu Deutschland nicht einer Militärallianz zugehörig, sondern aus freien
Stücken immerwährend neutral und damit ganz eindeutig auf eine rein defensive Landesverteidigung im Rahmen des völkerrechtlichen Neutralitätsstatus
reduziert, gewährleistete die Neutralität für die Jahrzehnte des Kalten Krieges
ein relativ hohes Maß an gesellschaftlicher Zustimmung zum Bundesheer und
zur Landesverteidigung sowie stabile zivil-militärische Beziehungen.
All dies änderte sich jedoch mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch jener Weltordnung, die für etwa 40 Jahre den Ausbruch größerer militärischer Konflikte nicht zuletzt durch die Strategie der nuklearen Abschreckung verhindert hatte. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der
Auflösung des Warschauer Paktes, dem Entstehen einer Vielzahl neuer Staaten, konnten sich nationalistische, religiöse und ethnisch motivierte Strömungen – etwa am Balkan, in Osteuropa, im Nahen und Mittleren Osten – entladen, die lange geschwelt hatten, aber doch durch die bipolare Machtkonstellation unter Kontrolle gehalten worden waren.
Im Zuge des ersten Golfkrieges und der humanitären Interventionen der
1990er Jahre wurde plötzlich der dringende Wunsch nach ethischer Orientierung im Politischen wie Militärischen laut, da sich sowohl politische Entscheidungsgremien als auch militärisches Führungspersonal mit Herausforderungen konfrontiert sahen, die neue und brisante ethische Fragestellungen mit
sich brachten. Diese verdichteten sich, als die oben bereits erwähnte asymmetrische Kriegführung immer mehr um sich griff und subnationale und irreguläre Kräfte ihre politischen Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen trachteten.
Abgesehen davon war es aber das Begehren der jungen demokratischen
Staaten Ost- und Südosteuropas, sich aus Sicherheitsgründen dem westlichen
Verteidigungsbündnis der NATO und vorwiegend aus wirtschftlichen Gründen
der Europäischen Union anzunäheren, das zu einer Renaissance moralischethischer Orientierung und der Verbreitung von Konzepten führte, die sich
stark an Konzepte wie das der Inneren Führung anlehnten.
Eine der ersten sichtbaren Manifestationen dieser Trends war der im Dezember 1994 von der ‚Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa‘
(OSZE) gebilligte ‚Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der
Sicherheit‘. Dieser verpflichtet die Teilnehmerstaaten auf Minimalstandards zur
Integration der Streitkräfte in den demokratischen Staat, zur Streitkräftekontrolle, zur Gewährleistung einer die Grundrechte schützenden Rechtsstellung der
Soldaten und Soldatinnen sowie zur Sicherstellung der persönlichen Verantwortung aller Angehörigen der Streitkräfte für ihre Handlungen und benennt
86
klar die Aufgabe der Politik, die Weiterentwicklung und Konkretisierung der in
diesem Kodex vereinbarten Normen tatkräftig voranzutreiben. 58
Mit Beginn der 1990er Jahre setzten also in einzelnen Streitkräften, vor allem
aber mit bzw. nach Gründung der NATO-Partnerschaft für den Frieden, auch
erste staatenübergreifende und internationale Anstrengungen zur Behandlung
von politisch-militärischen und ethischen Themenstellungen der internationalen Beziehungen und Militärethik ein.
Als Beispiel sind hier etwa die Bemühungen des US-Amerikanischen Centers
for Civil-Military Relations (CCMR) festzustellen, in Bildungsveranstaltungen
vor allem in Ost- und Südosteuropa Aspekte der politisch-militärischen Beziehungen wie etwa die demokratische Kontrolle von Streitkräften, Öffentlichkeitsund Medienarbeit, Gestaltung des inneren Dienstbetriebes in den Militärorganisationen und die Integration des Militärs in die neuen, offenen Gesellschaften zu behandeln.
Im deutschsprachigen Raum war es die österreichische Landesverteidigungsakademie, die u. a. in eine Kooperation mit dem CCMR eingebunden, ab dem
Jahr 2000 einen Schwerpunkt zur „Militärischen Ethik“ (Military Ethics) setzte
und damit auf die steigende Bedeutung ethischer Kompetenz für Führungskräfte reagierte. Nach ersten internationalen Veranstaltungen zu Themenstellungen der zivil-militärischen Beziehungen wurde im Jahr 2000 mit dem im
Rahmen der Partnerschaft für den Frieden angebotenen Civil-Military Relations Seminar IV „Ethics and International Politics“ (Buchpublikation, Literas
Verlag Wien) begonnen, die Frage von Ethik und Politik und die moralphilosophisch relevanten Aspekte des Einsatzes politisch-militärischer Gewalt zu
behandeln und den Führungskräften in einem internationalen Umfeld zugänglich zu machen. Mit dem im Jahr 2002 abgehaltenen Civil-Military Relations
Seminar VI „Military Ethics I“ wurde dann eine Transformation der ethischen
Reflexion von der Makro- auf die Mikroebene angewandter militärischer Ethik
durchgeführt, die mit dem im November 2004 mit dem siebenten Seminar in
der Reihe zum Thema „Military Ethics II – (Military) Leadership in a Postmodern Age“ fortgesetzt wurde.
Ungeachtet dieser Veranstaltungen und darauf beruhender Publikationen
blieb aber der gewünschte Breiteneffekt aus und die Frage der Militärethik
wurde nach wie vor nur von einer Minderheit interessierter Akademiker
und Offiziere behandelt. Wenn auch die Versuche, militärethische Inhalte
verstärkt in den Curricula der Offiziersaus- und -fortbildung unterzubringen,
gewisser Erfolg beschieden war und entsprechende Anpassungen vorgenommen wurden, so kann doch zum jetzigen Zeitpunkt nicht von einer
58
Ebd. S. 17.
87
systematisierten, koordinierten und zielgerichteten militärethischen Bildung
in den Streitkräften gesprochen werden.
Klaus Ebeling bringt dies mit Bezug auf die Bundeswehr auf den Punkt, indem
er die Diskussionslage in Deutschland in dieser Hinsicht als „defizitär“ bezeichnet. Zwar gäbe es hier und dort „bedenkenswerte Überlegungen“, aber
von einem „etablierten militärethischen Diskurs“ kann nicht gesprochen werden“.59.
Michael Wolffsohn konstatiert ein grundsätzliches Desinteresse der Gesellschaft an der Bundeswehr,60 was auch dazu führt, dass die Gesellschaft ethische Fragen in Bezug auf die Bundeswehr kaum noch diskutiert oder wenn,
dann höchstens im Rahmen parteipolitischer Debatten und Vorgaben.
Genauer gilt: Die Bundeswehr wird heute von der Bevölkerung erstaunlich
breit akzeptiert61 – zusammen mit und nach der Polizei belegt sie die ersten
beiden Plätze (90 bzw. 88%) –, ohne dass sich daraus ein Interesse für Detailfragen ergeben würde. Das stärkt die Rolle der Medien als Stichwortgeber für
Entrüstung und Begeisterung.
Bundeswehrnahe und bundesheernahe Institute, die sich mit Militärethik beschäftigen (Auswahl)
http://vzlbs2.gbv.de/DB=55/LNG=DU/ Größte Bibliothek zum Thema des Instituts für
Theologie und Frieden
Lehrstuhl Evangelische Theologie, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in
Hamburg: Prof. Ewald Stübinger mit Mitarbeiterin Prof. Angelika Dörfler-Dierken, früher Prof. Christian Walther, http://www.hsu-hh.de/theevs/
Lehrstuhl Katholische Theologie, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg, Prof. Thomas Hoppe, http://www2.hsu-hh.de/thekat/index.html
Institut für Theologie und Ethik der Universität der Bundeswehr in München, Prof. Thomas Bohrmann (katholisch) und Lehrstuhlvertretung (evangelisch), früher: Gottfried
Küenzlen, https://www.unibw.de/theologie/
Besonders ebd.: Forschungsstelle Militärische Berufsethik, https://www.unibw.de/theologie/berufsethik
Institut für Theologie und Frieden, Hamburg (Träger: Katholische Militärseelsorge), Prof.
Heinz-Gerhard Justenhoven und Prof. Gerhard Beestermöller, http://www.ithf.de/
59
Klaus Ebeling. Militär und Ethik. a. a. O. S. 9.
Michael Wolffsohn. „Dichter, Denker und Soldaten“. Die WELT vom 3.4.2009. S. 7, auch http://debatte.welt.de/kommentare/121378/dichter+denker+und+soldaten.
61 S. Thomas Bulmahn. „Das sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbild in Deutschland“. S. 135-148 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 20062; Paul Klein. „Die Integration der
Bundeswehr in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland“. S. 268-283 in: Thomas
Jäger u. a. (Hg.). Sicherheit und Freiheit: Festschrift für Wilfried von Bredow. Forum Innere Führung 22. Baden-Baden: Nomos, 2004.
60
88
Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg, Prof. Ernst-Christoph
Meier, Prof. Dr. Angelika Dörfler-Dierken, Klaus Ebeling, www.sowi.bundeswehr.de
Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation, Strausberg, Andreas
Berns, Roland Wöhrle-Chon, www.aik-bundeswehr.de
(Österreich), Institut für Human- und Sozialwissenschaften an der Landesverteidigungsakademie Wien, http://www.bmlv.gv.at/ lvak/ihsw.shtml
(Österreich) http://www.irf.ac.at/ Institut für Religion und Frieden der Katholischen Militärseelsorge Österreichs
(Österreich) Ev. Militärseelsorge http://www.bmlv.gv.at/organisation/beitraege/mil_seelsorge/evang_ms/index.shtml
(Österreich) Institut für militärethische Studien, IMS/Evangelische Superintendentur,
Roßauer Lände 1, 1090 Wien.
Außerdem: http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de/ und dann „Ethik“ in die Suche
eingeben.
Beispiel für Grundlagenwerke aus dem Bereich dieser Institutionen:
Edwin R. Micewski. Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit. Zur Begründung der Gewaltproblematik im Kontext philosophischer Ethik und politischer Philosophie. Studien zur Verteidigungspolitik, Militärwissenschaft und Sicherheitspolitik.
Frankfurt: Peter Lang Verlag, 1998.
Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden: Versuch einer Ethik für Soldaten
der Bundeswehr. Miles Verlag: Berlin, 2006
Klaus Ebeling. Militär und Ethik. Kohlhammer: Stuttgart, 2006
(Schweiz) Dieter Baumann. Militärethik: Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven. Theologie und Frieden 36. Stuttgart: Kohlhammer,
2007
Keine gemeinsame Ethik mehr?
Ein zentrales Problem sowohl für die Ethik der inneren Führung als auch
militärethischer Bemühung allgemein ist, dass es so etwas wie eine verbindliche Ethik eigentlich nicht mehr gibt und dort, wo sie diskutiert wird, sich ein
unübersehbares Heer von Institutionen, Positionen und Ansprüchen, die
zumeist weniger inhaltlich diskutiert als vielmehr von Lobbys transportiert
werden, findet:62
Formal wird Deutschland vom Grundgesetz und der von diesem vorgegebenen freiheitlich-demokratischen und an die Menschrechte gebundenen
Grundordnung zusammen gehalten, auch wenn seiner Begründung und
Interpretation aus dem Weg gegangen wird; ein Vorgang, der sich auch
bezüglich der Inneren Führung konstatieren lässt.
62
So auch Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 14.
89
Der katholische Militärbischof Walter Mixa etwa beobachtet, dass die meisten Soldaten gar keine Gewissensentscheidung und damit Übernahme
persönliche Verantwortung wollen. 63 Nach seiner Ansicht reagieren sie wie
normale Angestellte, welche die ethischen Entscheidungen der Firmenleitung überlassen und diese einfach brav umsetzen oder gar unterlaufen.
Klaus Ebeling hat darauf verwiesen, dass „Ethik als Krisenmanagement“64
nicht ein „abgeschlossenes Spezialwissen über Werte und Normen“65 ist, das
autoritativ vermittelt werden könnte, sondern insbesondere auch „ethische
Erwägungskompetenz“66 bedeutet.
Thomas Bohrmann hebt in seinen Gedanken zur Ethikausbildung in der Bundeswehr besonders den Aspekt des Bedeutungsverlustes der klassischen
Autoritäten für Wertbildung hervor und weist auf die Schwierigkeiten, aber
auch die Notwendigkeit hin, ein allen Soldaten gemeinsames Berufsethos zu
entwickeln:
„Da die klassischen Moralinstanzen wie Familie, Schule und Kirche an Bedeutung verlieren, wird die Tradierung von Moral auch für die nachfolgenden Soldatengenerationen immer schwieriger. Eine verpflichtende Ethikausbildung für alle
Dienstgradgruppen könnte unter den veränderten sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Bedingungen dabei helfen, ein neues soldatisches Berufsethos
zu vermitteln und damit eine nachhaltige militärische Berufsethik zu institutionalisieren. Bislang werden ethische Themen in den deutschen Streitkräften nur vereinzelt und losgelöst von einem einheitlichen Ausbildungsprogramm behandelt.
An den beiden Universitäten der Bundeswehr in Hamburg und München wird das
Fach Ethik im Rahmen unterschiedlicher Studiengänge zwar angeboten und unterrichtet, doch damit kann nur ein sehr geringer Anteil der studierenden Offiziere
erreicht werden. Das Gleiche gilt für die berufsethischen Anteile, die in anderen
Bundeswehrinstitutionen zur Sprache kommen (z. B. Führungsakademie, Offiziersschulen, Truppenschulen, Zentrum Innere Führung). Militärische Berufsethik
müsste aber umfassend für alle Dienstgradgruppen gelehrt werden. Dabei könnte die Militärseelsorge in der Wertevermittlung ein möglicher und wichtiger Ort
sein. Angesichts der fehlenden Kirchenbindung vieler Soldatinnen und Soldaten
durch den gesellschaftlichen Säkularisierungsprozess sollte eine berufsethische
Ausbildung jedoch auch unabhängig von religiösen und konfessionellen Bindungen angeboten werden. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die christlichen
Werte und die für Europa so zentralen christlich-abendländischen Traditionselemente nicht gebührend zur Sprache kommen dürfen. Ganz im Gegenteil:
Unsere ethischen Prinzipien sind ohne das jüdisch-christliche Fundament nicht
zu verstehen. Erst vor dem Hintergrund des christlichen, biblisch begründeten
Walter Mixa. „Christliches Menschenbild und Innere Führung“. Militärseelsorge, Dokumentation
39/40 (2001/02): 9-23.
64 Klaus Ebeling. Militär und Ethik. a. a. O. S. 10-12 (Überschrift).
65 Ebd. S. 11.
66 Ebd. S. 12.
63
90
Menschenbildes können Soldatinnen und Soldaten moralische Überzeugungen
der westlichen Welt verstehen und letztlich auch andere kulturelle Positionen begreifen. Das heißt: Nur wenn die eigenen Wurzeln bekannt sind, kann das Fremde eingeordnet und verstanden werden! Ein ausreichendes Wissen über die Herkunftsreligion und ihr spezifisches Ethos ist insbesondere im gegenwärtigen
interkulturellen und interreligiösen Dialog unverzichtbar.“ 67
Literatur zur Inneren Führung
Soldaten als Diener des Friedens: Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr. 29.11.2005. Die deutschen Bischöfe 82. Bonn: Sekretariat der Deutschen
Bischofskonferenz, 2005: Stellungnahme zur Inneren Führung
Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung: Baudissins
Leitgedanken. Berichte 77. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr:
Strausberg, 2005
Klaus Ebeling, Anja Seiffert, Rainer Senger. Ethische Fundamente der Inneren Führung. SOWI-Arbeitspapier 132. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr:
Strausberg, 2002
Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der
Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008
Jürgen Groß. „Innere Führung rangiert vor militärischer Effizienz“. S. 159-163 in: Detlef
Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008
Jürgen Rose. „Vision ‚Zivilisierung des Militärs’: Thesen zur Inneren Führung“. S. 141158 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008
Hans-Günther Fröhling. „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt! – Brauchen wir eine neue innere Führung?“. S. 124-133 in: Detlef Bald (Hg.).
Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr.
Nomos: Baden-Baden, 2008
Wolf Graf von Baudissin. „Gedanken zur Inneren Führung“. S. 85-87 in: Detlef Bald
(Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008 (Original 1978)
Angelika Dörfler-Dierken. „Die Bedeutung des Jahres 1968 für die Innere Führung“. S.
65-84 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert, unverstanden: Die innere
Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008
Jürgen Groß. „Einführung“. S. 7-25 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert,
unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008
Rudolf Hamann. „Abschied vom Staatsbürger in Uniform: Fünf Thesen zum Verfall
der Inneren Führung“. S. 29-46 in: Detlef Bald (Hg.). Zurückgestutzt, sinnentleert,
unverstanden: Die innere Führung der Bundeswehr. Nomos: Baden-Baden, 2008
Klaus Naumann. „Innere Führung im beschleunigten Wandel“. Militär und Sozialwissenschaften 40 (2007): 101-104
67
Thomas Bohrmann. Ethikausbildung in der Bundeswehr: warum und wie, in: Kompass. Soldat in
Welt und Kirche 6/2008, 3-6, hier nach http://www.katholische-militaerseelsorge.de/fileadmin/kms/kompass/2008/06/kompass200806_03/index.htm.
91
Weiterführende Aspekte von Innerer Führung und militärethischer Orientierung
Wehrbeauftragter
Der Wehrbeauftragte, ursprünglich nach schwedischem Vorbild entworfen, soll
die Grundrechte der Soldaten schützen und die Innere Führung sicherstellen
beziehungsweise überwachen. Das „Gesetz über den Wehrbeauftragten des
Deutschen Bundestages“ von 1956 wurde übrigens bis heute nur unwesentlich
verändert.68
Mittlerweile ist es in allen namhaften Militärorganisationen der freien westlichen Welt üblich geworden, weisungsungebundene Wehrbeauftragte einzusetzen, um die Transparenz des Militärs gegenüber der Gesellschaft zu gewährleisten und durch Offenlegung von Missständen und Vorfällen des Kasernenalltags über den öffentlichen Diskurs rasch Verbesserungen herbeizuführen. In Deutschland geschieht dies vor allem Dank des Jahresberichtes des
Wehrbeauftragten, in dem alle namhaften Vorfälle, Vorkommnisse und Beobachtungen aufgezeigt werden und der eben auch die ‚dunkle‘ Seite der
Bundeswehr aufzeigt.
Militärseelsorge
Während die Evangelische Kirche in Deutschland die Militärseelsorge als ihre
eigene Idee ansah, gehörte sie für Wolf Graf von Baudissin von Anbeginn der
Bundeswehr zum Konzept der Inneren Führung.
Abgesehen von Gottesdiensten und der seelsorgerischen Betreuung einzelner
Soldaten oder Soldatengruppen hatte sich die Tradition entwickelt, dass Militärseelsorger im Rahmen von Lebenskundlichen Unterrichten (LKU) auch
ethische bzw. militärethische Fragen und Gesichtspunkte berühren. Während
diese Unterweisungen ursprünglich auf christlicher Grundlage beruhten, so
koppelt die neue Zentralen Dienstvorschrift zur Inneren Führung den LKU
offiziell von christlichen Voraussetzungen ab, schreibt ihn aber zugleich noch
immer als verbindlich fest.
In Deutschland wie in Österreich steht die Seelsorge im Militär unter kirchlicher und nicht militärischer Aufsicht, während für die Organisation und Gestaltung des lebenskundlichen Unterrichts und ethischer Unterweisung die
68
S. zur Geschichte Wilfried von Bredow. Militär und Demokratie in Deutschland. a. a. O. S. 138141.
92
militärischen Befehlsstrukturen verantwortlich sind.69 Aus diesem Grund
wurde etwa in Österreich zur Gestaltung, vor allem aber zur Gesamtkoordinierung der berufsethischen Bildung (BeB) ein Steuerungskomitee an der
höchsten Bildungsstätte, der Landesverteidigungsakademie in Wien, eingerichtet, in welches neben Vertretern der relevanten militärischen Dienststellen auch Vertreter des katholischen Militärordinariates und der evangelischen Superintendentur geladen wurden. Grundsätzlich trifft die nach Konfessionen geordnete und ablaufende Militärseelsorge in allen Streitkräften
auf große Zustimmung, wenn sie auch verständlicherweise von Soldaten,
die unmittelbar im Einsatz stehen, als besonders wichtig erachtet wird. So
ergab etwa mit Bezug auf die Bundeswehr eine vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr durchgeführte Befragung der Soldaten im
Feldlager Rajlovac in Bosnien bei 89% der Soldaten eine Zustimmung zur
Militärseelsorge, während diese nur von 1% abgelehnt wurde und 10% dazu
keine Meinung hatten. Nach Rückkehr erneut befragt sank die Zustimmung
leicht auf 82% ab, die Ablehnungsrate blieb gleich und 17% hatten keine
Meinung. Erwähnenswert ist auch, dass unter den Konfessionslosen im
Lager 69% der Militärseelsorge zustimmten, während 29% keine Meinung
hatten und die Anlehnungsrate nur unwesentlich höher war.
Literatur Militärseelsorge
http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de/
Literatur und Weblinks zur Militärseelsorge: http://www.katholische-militaerseelsorge.de/fileadmin/kms/jubilaeum/infothek/infothek.htm
Martin Bock. Religion im Militär: Soldatenseelsorge im internationalen Vergleich.
Straußberg: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, 1993, andere Ausgabe: München: Olzog, 1994
Angelika Dörfler-Dierken. Zur Entstehung der Militärseelsorge und zur Aufgabe der
Militärgeistlichen in der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Strausberg, 2008
Friedensethik im Einsatz: Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009
Horst Scheffler. „‚Gott ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit‘:
Baudissin und die evangelische Militärseelsorge“. S. 69-79 in: Rudolf J. Schlaffer,
Wolfgang Schmidt (Hg.). Wolf Graf von Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Oldenbourg: München,
2007
Horst Scheffler. „Militärseelsorge“. S. 190-200 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein
(Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften:
2
Wiesbaden, 2006
69
Vgl. zur sehr unterschiedlichen Lage in allen wichtigeren Ländern weltweit: Martin Bock. Religion im Militär. a. a. O., darin S. 235-236 zu den deutschsprachigen Ländern.
93
Joachim Simon. „Militärseelsorge im Auslandseinsatz“. S. 344-349 in: Sven Bernhard
Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für So2
zialwissenschaften: Wiesbaden, 2006
Dokumentation zur Katholischen und Evangelischen Militärseelsorge. Evangelisches
7
Kirchenamt für die Bundeswehr & Katholisches Militärbischofsamt: Bonn, 2002
Angelika Dörfler-Dierken. „Militär und Religion“. S. 539-550 in: Sven Bernhard Gareis,
Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwis2
senschaften: Wiesbaden, 2006
Ines-Jacqueline Werkner. „Soldat und Religion“. S. 287-307 in: Nina Leonhard, InesJacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2005
Gehorsamsverweigerung
Es ist wohl dem Nachdenken über die nationalsozialistische Vergangenheit
zu verdanken, dass es nun zum Recht der Bundeswehrangehörigen gehört,
aus schweren Gewissensgründen den Gehorsam verweigern zu dürfen.
Dieses Widerstandsrecht in das Deutsche Grundgesetz aufgenommen und
ihm damit Verfassungrang gegeben zu haben, ist weltweit einzigartig.70 Allerdings sind innerhalb der Wehrgesetzgebung in den meisten Ländern
mittlerweile Bestimmungen eingführt worden, die dem einzelnen Soldaten
das Nichtbefolgen von rechtswidrigen Befehlen und Anordnungen zur Pflicht
machen.71 Die Katholische Bischofskonferenz pflichtet dem bei: „Die Gehorsamspflicht endet dort, wo rechtswidrige Handlungen befohlen werden.“ 72
Im Hinblick auf die Umsetzung dieser Bestimmung in die alltägliche Praxis der
Inneren Führung drückt der Kommandeur des Zentrums Innere Führung dies
so aus:
„Jeder Soldat soll überzeugt sein, dass sein Auftrag
– politisch gewollt,
– militärisch leistbar sowie
– rechtlich und ethisch begründet ist.“73
Das Bundesverwaltungsgericht Leipzig hat im Jahr 2005 die Gehorsamsweigerung aus Gewissensgründen des Piloten Major Florian Pfaff, der den
Aufgezeigt von: Harald Seidel. „Lehren aus der Geschichte: Ausstrahlung des Widerstands auf
die Wehrgesetzgebung“. Informationen für die Truppe 2/2004: 18-35.
71 Vgl. Wehrpflicht- und Soldatenrecht. Beck-Texte im dtv. München: dtv, 200530.
72 Soldaten als Diener des Friedens: Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr.
29.11.2005. Die deutschen Bischöfe 82. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz,
2005. S. 8.
73 Alois Bach. „Kommandeur Zentrum Innere Führung zu aktuellen Aspekten der Inneren Führung“. Auftrag 271, Sept 2008, S. 5-10, nach ww.kath-soldaten.de/html/aktuelle_aspekte_der_inneren_f.html, S. 6.
70
94
Einsatz von Tornados im Irak-Krieg als nicht vom Grundgesetz legitimiert
ansah, als rechtmäßig erkannt und festgestellt: „Das Grundgesetz normiert
eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung
der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte.“74
Das Bundesverwaltungsgericht hat aber auch sehr weise darauf hingewiesen,
dass ein inflationärer Gebrauch der Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen nicht zu erwarten steht, da dies für den einzelnen Soldaten bei leichtfertigem Gebrauch mit großen Gefahren verbunden ist und Befürchtungen, die
Funktionsfähigkeit der Streitkräfte könnte durch den Gewissenparagrafen
bedroht sein, klar zurückgewiesen:
„Dies macht im Übrigen deutlich, dass die Geltendmachung eines Gewissenskonflikts und die Berufung auf Art. 4 Abs. 1 GG für Soldaten in der Regel alles andere
als einfach sind und demzufolge ein „Massenverschleiß“ des Gewissens nicht zu
erwarten steht. Der einzelne, individuell handelnde Soldat befindet sich in einem
solchen Konfliktfalle ohnehin regelmäßig in der Gefahr, sich im Kameradenkreis
zu isolieren, zum Außenseiter abgestempelt zu werden oder sonst auf Ablehnung
in seinen beruflichen Sozialbeziehungen zu stoßen. In einem wegen Ungehorsam
eingeleiteten Strafverfahren droht ihm darüber hinaus, zu einer Kriminalstrafe verurteilt sowie daneben noch in einem gerichtlichen Disziplinarverfahren mit einer
empfindlichen Disziplinarmaßnahme belegt zu werden und in der Konsequenz für
seinen weiteren beruflichen Lebensweg bei Beförderungen, Verwendungsentscheidungen oder sonstigen Fördermaßnahmen erhebliche Nachteile hinnehmen
zu müssen.”75
Es steht daher nicht zu erwarten, dass etwa bei einem Einsatz- oder Schießbefehl in jedem Panzer zunächst alle Soldaten und Offiziere eine Diskussionsrunde einlegen und dadurch – im Extremfall – diskutierende Soldaten schuld
daran sind, dass die Demokratie überrannt wird oder auch im kleineren Konflikt zu verteidigende Zivilisten oder Soldaten direkt zu Schaden kommen.
Es ist aber doch im Hinblick auf die klassische Theorie vom Gerechten Krieg
bemerkenswert, dass hier einem einzelnen Soldaten die Gewissensentscheidung nicht nur für Vorgänge innerhalb seiner militärischen Formation – also
innerhalb des Jus in bello – sondern auch für das Jus ad bellum, das Recht
zum Kriege, das üblicherweise der politischen Führung allein obliegt, zuerkannt wurde.
Im Fall Pfaff wurde die Situation politisch noch brisanter dadurch, dass seine
Gewissensentscheidung mit der Auffassung der Opposition im Bundestag
identisch war. Dies zeigt überdies auf – was üblicherweise weder in Politik
noch Gesellschaft bewusst ist – dass bedeutende Entscheidungen im Rahmen
74
Urteil des 2. Wehrsenats des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.6.2005: BVerwG 2 WD
12.04, Leipzig 2005, S. 112, http://www.bundesverwaltungsgericht.de/media/archive/3059.pdf.
75 Ebenda, S. 118.
95
der Sicherheits- und Verteidigungpolitik eines Staates auf einem breiten Parteien- und Gesellschaftskonsens beruhen und nicht parteipolitisch gefärbt sein
sollten.
Jedenfalls ist der Fall Pfaff eindringlicher Beleg dafür, dass die Aspekte einer
Dienst- und Militärethik dringend zu diskutieren und zu behandeln sind, denn
dort, wo es um echte Gewissensbindung geht, da geht es ja auch immer um
das „gebildete Gewissen“, das allein zu wirklich fundierter Gewissensentscheidung befähigt.
Aber so unglücklich der Fall Pfaff in gewisser Hinsicht verlaufen sein mag, das
Urteil und insbesondere seine Begründung ist wegweisend, da es einerseits
für Bundeswehrangehörige das Recht auf Gehorsamverweigerung aus schweren Gewissensgründen begründet, andererseits dieses auf ganz essenzielle
Gründe beschränkt und Verhältnismäßigkeit verlangt. Ein Pilot beispielsweise,
dem erst beim Start zum Einsatz einfällt, dass er Gewissensbedenken hat, die
er bei der ersten Einsatzbesprechung nicht geäußert hat, oder dem nur irgendwie unwohl wegen des an ihn ergangen Befehls ist – im Fall Pfaff ging es
immer darum, ob dem Einsatz eine völkerrechtliche oder parlamentarische
Legitimation fehle –, dürfte sich kaum auf den Bundesgerichtshof berufen
dürfen.
Abschließend soll der zentrale Leitsatz 10c des Urteils genannt sein: „Die in
Art. 65a GG gewährleistete ‚Befehls- und Kommandogewalt‘ des Bundesministers der Verteidigung sowie die davon abgeleitete Befehlsbefugnis militärischer Vorgesetzter unterliegen einem verfassungsrechtlich durch Art. 1 Abs. 3
GG besonders geschützten Grundrechts- und damit Ausübungsvorbehalt.“
Baudissin als Christ – Urheber der Inneren Führung
Gewissermaßen als Vater der ‚Inneren Führung‘ wird Generalleutnant Wolf
Graf von Baudissin angesehen. Es ist den ungewöhnlichen Umständen
des Aufbaus der Bundeswehr zuzuschreiben, dass ein Einzelner mit seinen Überlegungen eine solche Prägung ausüben konnte, die wenig mit
militärischen Leistungen zu tun hatte, aber bis heute die Bundeswehr bestimmt.76
Wolf Graf von Baudissin, der am 8.Mai 1907 in Trier geboren wurde, trat 1930
in die Reichswehr ein. Zwischen 1941 und 1947 saß Baudissin in britischer
Kriegsgefangenschaft und 1955 wurde Baudissin Angestellter des neugegründeten Bundesverteidigungsministeriums (BMVg). Seine Erfahrungen aus dem
76
Für weitere Beispiele vgl. Klaus Naumann. Generale in der Demokratie: Generationsgeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite. Hamburg: Hamburger Edition, 2007.
96
Zweiten Weltkrieg und der Kriegsgefangenschaft sollten später maßgeblich zu
seinen Friedensbestrebungen beitragen. Unter Beförderung zum Oberst wurde er 1956 als Berufsoffizier in die Bundeswehr aufgenommen und 1967 trat
Baudissin als Generalleutnant in den einstweiligen Ruhestand. In den Jahren
seiner Aktivdienstzeit wurde Baudissin zum Mitbegründer der Bundeswehr und
zum Vater des Konzepts der Inneren Führung, mit dem er maßgeblich das Bild
des Soldaten als Staatsbürgers in Uniform gestaltete. In diesem sieht
Baudissin einen Soldaten für den Frieden, der sich dessen bewusst sein sollte,
dass Streitkräfte im Kernwaffenzeitalter nur noch kriegsverhütende, allenfalls
friedenswiederherstellende Funktionen haben dürfen. 1968/69 nahm Baudissin seinen ersten Lehrauftrag an der Universität Hamburg an und ab 1980
lehrte er zusätzlich an der Hochschule und späteren Universität der Bundeswehr in Hamburg, nachdem er ein Jahr zuvor vom Senat der Freien Hansestadt Hamburg zum Professor ernannt worden war. In seiner Funktion als
Gründungsdirekter leitete Graf Baudissin von 1971 bis 1984 das IFSH, wo es
ihm u. a. möglich war, einen wissenschaftlichen Beitrag zur Friedenssicherung, zur strategischen Stabilität und insbesondere zur Kriegsverhütung zu
leisten. Im Jahr 1993 verstarb General a. D. Prof. Wolf Graf von Baudissin im
Alter von 86 Jahren. 77
Der Evangelische Militärbischof fasst Baudissins Denken treffend so zusammen, „dass nicht mehr der Kampf, sondern dessen Vermeidung im Mittelpunkt
der Reflexion stehen müsse“78 und dass es wegen Demokratie und Menschenrechten „eine ethische Friedenspflicht“ gebe.
Angelika Dörfler-Dierken, die Baudissins Prinzipien für „noch immer zukunftsweisend“79 hält, hat die protestantischen Wurzeln von Baudissins Konzept herausgearbeitet. Im Detail belegt sie, dass Baudissin seine Prinzipien
im Gespräch mit dem aus der Bekennenden Kirche hervorgegangenen
Nachkriegsluthertum entwickelte.80 Eine Rolle spielen dabei vor allem das
Freiheitsverständnis Luthers als Freiheitsbewusstsein, das nicht zum willenlosen Unterwerfen, sondern zum Dienen als verantwortlichem Handeln führt.81
Institut für Friedensforschung an der Uni Hamburg. „Wolf Graf von Baudissin: Soldat – Reformer
– Friedensforscher“, http://www.ifsh.de/IFSH/profil/milit_baud.htm.
78 Peter Krug. „Geleitwort“. S. 9-10 in: Angelika Dörfler-Dierken (Hg.). Graf von Baudissin: Als
Mensch hinter den Waffen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006. S. 10.
79 Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 7.
80 Z. B. Angelika Dörfler-Dierken. „Baudissins Konzeption der Inneren Führung und lutherische
Ethik“. a. a. O. S. 64; Angelika Dörfler-Dierken. „Baudissins Konzeption der Inneren Führung und
lutherische Ethik“. S. 55-68 in: Rudolf J. Schlaffer, Wolfgang Schmidt (Hg.). Wolf Graf von
Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung.
Oldenbourg: München, 2007. Diese Sicht teilt Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 55.
81 Nach ebd. S. 55-57.
77
97
Für sie beruht „Baudissins ethisches Grundverständnis“ auf den Säulen
Recht – Demokratie – Frieden.82
Aber auch die reformierte Theologie schien eine zentrale Rolle in Baudissins
Lebensorientierung zu spielen. Baudissin hatte gegen Ende seiner Kriegsgefangenschaft Emil Brunners „Gerechtigkeit“ gelesen und „verdankte ihm offenbar die Neuorientierung seines ganzen weiteren Lebens an der Thematik des
Friedens“83.
Wie Dörfler-Dierken betont, floss „die christliche Gewissheit der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen und die Ermutigung Jesu zur Vergebung“84 sowie
der Maßstab des christlich geprägten Gewissens in Baudissins Denken ein.
In seinem ‚Handbuch Innere Führung‘ zitiert Baudissin im letzten Kapitel „Vor
der letzten Instanz“,85 in dem er über den Eid spricht, direkt die Apostelgeschichte 3,29 „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“86 Aber
durchwegs macht das Handbuch von 1957 deutlich, dass das abendländische,
christlich-humanistische Menschenbild in seiner lutherischen Variante für
Baudissin die Basis der Inneren Führung bildet und ein leuchtendes Beispiel in
den Widerständlern des 20. Juli 1944 findet.87
Literatur zu Baudissin
Angelika Dörfler-Dierken (Hg.). Graf von Baudissin: Als Mensch hinter den Waffen.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006
wichtige Originaldokumente von und über Baudissin, vor allem Ethik
Eckart Hoffmann. „Frieden in Freiheit: Philosophische Grundmotive im politischen
Denken von Wolf Graf von Baudissin“. S. 81-98 in: Rudolf J. Schlaffer, Wolfgang
Schmidt (Hg.). Wolf Graf von Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Oldenbourg: München, 2007
Horst Scheffler. „‚Gott ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit‘:
Baudissin und die evangelische Militärseelsorge“. S. 69-79 in: Rudolf J. Schlaffer,
Wolfgang Schmidt (Hg.). Wolf Graf von Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Oldenbourg: München,
2007
82
Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 16-24.
Eckart Hoffmann. „Frieden in Freiheit“. a. a. O. S. 83.
84 Peter Krug. „Geleitwort“. S. 9-10 in: Angelika Dörfler-Dierken (Hg.). Graf von Baudissin: Als
Mensch hinter den Waffen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006. S. 10.
85 So fasst es Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 21
zusammen.
86 Horst Scheffler. „‚Gott ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist die Freiheit‘“. a. a. O.
S. 70.
87 Handbuch Innere Führung. hg. vom Bundesministerium für Verteidigung (Führungsstab der
Bundeswehr – B). BMVg: Bonn, 1957. S. 79-88, s. dazu Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 115 und 33-34.
83
98
Rudolf J. Schlaffer, Wolfgang Schmidt (Hg.). Wolf Graf von Baudissin 1907-1993: Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Oldenbourg:
München, 2007
Klaus Ebeling, Anja Seiffert, Rainer Senger. Ethische Fundamente der Inneren Führung. SOWI-Arbeitspapier 132. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr:
Strausberg, 2002
Claus Frhr. von Rosen. „Staatsbürger in Uniform in Baudissins Konzeption Innere
Führung“. S. 171-181 in: Sven Bernhard Gareis, Paul Klein (Hg.). Handbuch Militär
2
und Sozialwissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, 2006
Wolf Graf von Baudissin. Soldat für den Frieden: Entwurf für eine zeitgemäße Bundeswehr. Beiträge 1951–1969. München: Piper, 1969 (Neuauflage 1982)
Wolf Graf von Baudissin. Nie wieder Sieg: Programmatische Schriften 1951-1981. hg.
Cornelia Bührle, Claus von Rosen. München: Piper, 1984
Zur Friedensforschung, so wie Graf Baudissin sie verstand und betrieb, vgl. die Festschrift Dieter S. Lutz (Hg.). Im Dienst für Frieden und Sicherheit. Baden-Baden: Nomos, 1985, anlässlich der Verabschiedung von Graf Baudissin als Institutsdirektor
des IFSH 1984.
Christlich heute? – Zur Ausrichtung einer Militärethik
Wie soll die Bundeswehr mit dem unverhohlen christlichen Grundcharakter in
ihrem Markenzeichen, der Inneren Führung, umgehen? Teilt nicht die Bundeswehr die Unsicherheit der gesamten deutschen Politik, wie sie mit ihrem
christlichen Erbe umgehen soll.88
In einer Zeit des Pluralismus und säkularer Bemühungen finden sich immer
mehr Kritiker, die als eines der Argumente gegen die Innere Führung ihre Urheberschaft bei christlichen Denkern anführen. „Moralisch-ethische Grundsätze würden nicht mehr aus dem Christentum abgeleitet, sondern von einem
jeden für sich selbst in selektiver Übernahme medialer Vorbilder frei konstruiert.“89
Hier werden aber einige wichtige Aspekte außer Acht gelassen. Zunächst die
Tatsache, dass die gesamte Sozial- und Rechtskultur der westlichen Welt auf
dem judeo-christlichen Erbe beruht. Inbesondere die Grundparamter der
freiheitlich-demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung, inklusive der
Menschenrechte, leiten sich aus diesem Erbe ab bzw. stehen mit diesem,
auch und insbesondere bei philosophisch-rationaler Betrachtung, im Einklang. Weiters wird gerne vergessen, dass auch jede nichtreligiöse Ethik nicht
wertneutral ist und sich einer herleitbaren Begründung nicht entziehen kann
Vgl. Andreas Berns. „Christliches Ethos als Fundament für die Urteilsfähigkeit des Bundeswehrsoldaten im Einsatz: Was ist Wahrheit?“. Europäische Sicherheit (2006) 2: 21-22, im Web unter
www.europaeische-sicherheit.de.
89 Angelika Dörfler-Dierken. Ethische Fundamente der Inneren Führung. a. a. O. S. 25.
88
99
bzw. darf. Der Ethikunterricht an Berliner Schulen beispielsweise, der sich
gegenüber dem Religionsunterricht als unabhängig, neutral und übergreifend
sieht, ist in Wirklichkeit von der Humanistischen Union geprägt, deren Weltanschauung im Rahmen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des
Grundgesetzes ihren Platz in der Öffentlichkeit hat. Daher sind die Versuche
zurückzuweisen – wie es in Berlin de facto geschieht – den Ethikunterricht zur
Staatsweltanschauung zu erheben, was ihn vom Charakter einer verordneten
Staatsreligion nicht unterscheiden würde.90
Aber auch die Vielfalt an Religionsgemeinschaften, wie sie in Gesellschaft und
Bundeswehr immer deutlicher sichtbar wird, sollte keine wirklichen Schwierigkeiten aufwerfen. Denn gerade die Paramter der Inneren Führung und die
durchaus auch christlich-abendländischen ethischen Grundlagen einer militärischen Ethik fußen auf Normen und Prinzipien, die sich weit über die Grenzen
religiöser und säkularer Auffassungen hinaus als konsensfähig erweisen.
Daraus folgert logischerweise, dass auch die liberale und demokratische
Staatsordnung nicht ohne Grenzziehungen und die Limitierung von Dissent
auskommen kann. Für alle, die im Rahmen der Militärseelsorge und der Inneren Führung bzw. ähnlicher Konzeptionen tätig sind oder ihren Platz finden
wollen, wird ein grundlegendes Bekenntnis zu den Grundpfeilern der demokratischen Verfassung und den Elementarprinzipien einer normativen Militärethik
einzufordern sein.
Das Konzept der Inneren Führung und die Gewissensfreiheit für den einzelnen
Soldaten darf aber auch nicht damit verwechselt werden, dass etwa die Bundeswehr oder auch andere Armeen der westlichen Welt zu Armeen für „Blumenkinder“ im Sinne der 68er Generation geworden wären. All jene Dinge,
welche die 68er an ihre Fahnen geheftet hatten, werden von der Inneren Führung klar zurückgewiesen – die Abneigung gegen alle staatlichen Institutionen
und die Träger staatlicher Gewalt, Wehrdienstverweigerung als Reflex oder
das Misstrauen gegenüber überlieferten und angestammten Werten. Denn für
die Innere Führung gilt: „Ein erstes Element ist die Bindung des Führenden an
Werte“91, wenn auch nicht spezifisch religiöse, so doch um Werte rund um
Demokratie, Rechtsstaat und Menschen- und Persönlichkeitsrechte.
In dieser Hinsicht war es von weitreichender weltanschaulicher Tragweite,
als die ehemals unerschütterlich radikalpazifistische Partei der Deutschen
Grünen – nunmehr in Regierungsverantwortung und ’unter Führung von
Joschka Fischer als Außenminister – plötzlich bereit war, deutsche Soldaten
am Kosovokrieg mitwirken zu lassen. Unter dem Eindruck einer humanitären
Siehe Schirrmacher. Säkulare Religionen. a. a. O.; ders. Marxismus – Opium für das Volk.
Berneck (CH): Schwengeler, 1991.
91 Christian Walther. Im Auftrag für Freiheit und Frieden. a. a. O. S. 66.
90
100
Katastrophe, die nur mehr mit dem Einsatz von militärischen Gewaltmitteln
überwunden werden konnte, ließen sich letzendlich bis dorthin radikale Militärgegner und Totalpazifisten davon überzeugen, dass ihre ursprüngliche
Haltung in einer lebenszugewendeten politischen und militärischen Ethik
nicht bestehen kann.
Es deutet bei realistischer Einschätzung der Situation vieles darauf hin, dass
ethische Bildung innerhalb von Streitkräften auch weiterhin in der Kollaboration
von Vertretern der etablierten Religionsgemeinschaften im Rahmen der Seelsorge und Lebenskundlichen Unterrichte mit zivilen bzw. nicht-konfessionellen
Vortragenden stattfinden wird. Sinnvoll und konstruktiv wahrgenommen sollte
dies eigentlich der Qualitätssteigerung der ethischen Bildung dienlich sein und
auch dazu beitragen, Spannungen und unterschiedliche Auffassungen überbrücken zu helfen.
Militärische Ethik und Gerechter Krieg
Während im Zentrum der militärischen Ethik die Lehre vom Gerechten Krieg
bzw. deren jeweiliger Anwendung und Adaption auf die Bedingungen des
Krieges und bewaffneten Konfliktes steht, so umfasst sie darüber hinaus alle
ethisch relevanten Herausforderungen der militärischen Lebenswelt, die ja von
Aspekten der täglichen Dienstpflichterfüllung bis hin zur Fragen der gesamten
politisch-militärischen Aufgabenerfüllung reichen, inklusive der Einbindung von
Soldat und Streitkräfte in ein politisch-demokratisches Umfeld.92
Wie an anderer Stelle näher ausgeführt wird, bringt die Stellung des Militärs
als Instrument im staatlichen Gewaltmonopol, vor allem aber wegen der der
militärischen Aufgabenerfüllung inhärenten Gewaltanwendungsfunktion, besondere ethische Herausforderungen mit sich. Das Militär muss sich daher mit
der Sinnfrage wie kaum ein anderer Lebensbereich auseinandersetzen, ist
man doch in der soldatischen Dienstleistung mit dem eigenen Tod ebenso wie
mit dem Tod anderer konfrontiert.93 Dies trifft zwar auch für andere exklusive
Berufsbereiche zu, ist aber nirgendwo so akzentuiert wie in der Militärorganisation. „Nur von Soldatinnen und Soldaten wird Tapferkeit unter Einsatz des
Lebens gesetzlich gefordert.“94
92
Mit den Details einer militärischen Ethik beschäftigt sich Edwin Micewski näher in dem in
dieser Publikation enthaltenen Aufsatz „Zur Ontologie von Moral und Ethik und über militärische
Ethik“, S. 15-39.
93 Z. B. Edwin R. Micewski. „Ethics and Politics“. S. 1-17 in: ders. u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001. S. 2.
94 Alois Bach. „Kommandeur Zentrum Innere Führung zu aktuellen Aspekten der Inneren Führung“. Auftrag 271, Sept 2008, S. 5-10, nach ww.kath-soldaten.de/html/aktuelle_aspekte_der_
inneren_f.html, S. 8.
101
Literatur Militärethik
3
Mark R. Amstutz. International Ethics. Lanham (MD): Rowman & Littlefield, 2008
Dieter Baumann. Militärethik: Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven. Theologie und Frieden 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2007
Paul Christopher. The Ethics of War and Peace: An Introduction to Legal and Moral
Issues. Englewood Cliffs (NJ): Prentice Hall, 1994
Friedensethik im Einsatz: Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009
Edwin R. Micewski. „Ethics and Politics“. S. 1-17 in: ders. u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001
Edwin R. Micewski. Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit: Zur Begründung der Gewaltproblematik im Kontext philosophischer Ethik und politischer Philosophie. Studien zur Verteidigungspädagogik, Militärwissenschaft und Sicherheitspolitik 4. Frankfurt: Peter Lang, 1998
Edwin R. Micewski u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International
Politics. Wien: Literas, 2001
Edwin R. Micewski, Hubert Annen (Hg.). Military Ethics in Professional Military Education – Revisited. Frankfurt: Peter Lang, 2005
Edwin R. Micewski, Dietmar Pfarr (Hg.). Civil-Military Aspects of Military Ethics. Bd. 2.
Publication Series of the National Defense Academy Vienna 4/2005. Wien: Landesverteidigungsakademie, 2005
Brigitte Sob, Edwin R. Micewski (Hg.). Brennpunkte politischer und militärischer Ethik –
eine Einführung. Bd. 1. Ideengeschichtliche Entwürfe. Wien: Bundesministerium für
Landesverteidigung / Landesverteidigungsakademie, 2007
Jarmo Toiskallio (Hg.). Identity, Ethics, and Soldiership. ACIE publications 1 . Helsinki:
Finnish National Defense College, o. J. (ca. 2007)
Journal of Military Ethics (Routledge) seit 2002, aktuell 10 (2011)
Zur Lehre vom gerechten Krieg
In letzter Zeit waren Versuche festzustellen, die Lehre vom gerechten Frieden
in Gerechtigkeit als Alternative zur Lehre vom gerechten Krieg zu entwickeln.95
Im deutschsprachigen Raum haben sich darum besonders die Ökumenische
Bewegung aber auch einzelne Vorkämpfer, wie etwa Karl Barth, bemüht.
Dass diese Bemühungen eher einen semantischen Versuch darstellen, den
mit positiven Konnotationen versehenen Begriff des Friedens für eine Lehre
einzusetzen, die ja von ihren Anfängen an niemals die Vorrangstellung des
Friedens angezweifelt und stets den Krieg als den letzten Ausweg bezeichnete, wird klar, wenn wir uns die Genese dieser Lehre vor Augen halten.
Ines-Jacqueline Werkner, Antonius Liedgehener. „Von der Lehre vom gerechten Krieg zum
Konzept des gerechten Friedens?“. S. 9-22 in dies. (Hg.). Gerechter Krieg – gerechter Frieden.
Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2009.
95
102
So findet sich ja schon bei den ersten Vertretern des ‚gerechten Krieges‘,
Ambrosius und Augustinus, dass der Frieden immer höchstes Ziel zu sein
habe und ein Krieg nur dann gerecht ist, wenn er aus Friedensliebe geschieht
und den Frieden zum Ziel hat.96 Auch sonst bildet der Frieden das oberste
Kriterium ein Wesensmerkmal der gesamten Lehre vom gerechten Krieg!97
Peter Fonk wiederum möchte weder von der Lehre vom gerechten Krieg sprechen, da sie seines Erachtens noch zu pauschal ‚den‘ Krieg rechtfertigt, noch
von der Lehre vom gerechten Frieden, da hier die unangenehme Frage nach
der Gewaltanwendung zu sehr beschönigt wird, und schlägt die Formulierung
„Lehre von der gerechten Verteidigung“98 vor.
Offensichtlich sind jedenfalls die Unterschiede zwischen der Lehre vom
gerechten Krieg und der vom gerechten Frieden nicht so gewaltig, sind doch
die Kriterienkataloge sehr ähnlich, wie der folgende Abschnitt der EKDDenkschrift zeigt:
„(102) Das moderne Völkerrecht hat das Konzept des gerechten Kriegs aufgehoben. Im Rahmen des Leitbilds vom gerechten Frieden hat die Lehre vom
bellum iustum keinen Platz mehr. Daraus folgt aber nicht, dass auch die moralischen Prüfkriterien aufgegeben werden müssten oder dürften, die in den
bellum-iustum-Lehren enthalten waren. Denn ihnen liegen Maßstäbe zugrunde,
die nicht nur für den Kriegsfall Geltung beanspruchen, sondern die sich (ausgehend vom Grundgedanken individueller Notwehr oder Nothilfe) ebenso auf das
Polizeirecht, die innerstaatliche Ausübung des Widerstandsrechts und einen legitimen Befreiungskampf beziehen lassen. Ihnen liegen allgemeine Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt zugrunde, die – unabhängig vom jeweiligen
Anwendungskontext – wie folgt formuliert werden können:
– Erlaubnisgrund: Bei schwersten, menschliches Leben und gemeinsam anerkanntes Recht bedrohenden Übergriffen eines Gewalttäters kann die Anwendung
von Gegengewalt erlaubt sein, denn der Schutz des Lebens und die Stärke des
gemeinsamen Rechts darf gegenüber dem »Recht des Stärkeren« nicht wehrlos
bleiben.
– Autorisierung: Zur Gegengewalt darf nur greifen, wer dazu legitimiert ist, im
Namen verallgemeinerungsfähiger Interessen aller potenziell Betroffenen zu
96
Belege siehe bei Dieter Baumann. Militärethik. a. a. O. S. 230-231, zu Augustinus insgesamt
S. 228-235.
97 Eine gute moderne Verteidigung, auch des Ausdrucks: Michael Haspel. „Zwischen Internationalem Recht und partikularer Moral? Systematische Probleme der Kriteriendiskussion der neueren
Just War-Theorie“. S. 71-81 in: Ines-Jacqueline Werkner, Antonius Liedgehener (Hg.). Gerechter
Krieg – gerechter Frieden. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2009. Zur breiten Diskussion verschiedener Positionen s. Ines-Jacqueline Werkner, Antonius Liedgehener (Hg.). Gerechter
Krieg – gerechter Frieden. a. a. O.
98 Peter Fonk. Frieden schaffen – auch mit Waffen? Theologisch-ethische Überlegungen zum
Einsatz militärischer Gewalt angesichts des internationalen Terrorismus und der Irak-Politik. Beiträge zur Friedensethik 36. Stuttgart: Kohlhammer, 2003. S. 39.
103
handeln; deshalb muss der Einsatz von Gegengewalt der Herrschaft des Rechts
unterworfen werden.
– Richtige Absicht: Der Gewaltgebrauch ist nur zur Abwehr eines evidenten, gegenwärtigen Angriffs zulässig; er muss durch das Ziel begrenzt sein, die Bedingungen gewaltfreien Zusammenlebens (wieder-) herzustellen und muss über eine
darauf bezogene Konzeption verfügen.
– Äußerstes Mittel: Der Gewaltgebrauch muss als äußerstes Mittel erforderlich
sein, d. h., alle wirksamen milderen Mittel der Konfliktregelung sind auszuloten.
Das Kriterium des »äußersten Mittels« heißt zwar nicht notwendigerweise »zeitlich
letztes«, es bedeutet aber, dass unter allen geeigneten (also wirksamen) Mitteln
das jeweils gewaltärmste vorzuziehen ist.
– Verhältnismäßigkeit der Folgen: Das durch den Erstgebrauch der Gewalt verursachte Übel darf nicht durch die Herbeiführung eines noch größeren Übels
beantwortet werden; dabei sind politisch-institutionelle ebenso wie ökonomische, soziale, kulturelle und ökologische Folgen zu bedenken.
– Verhältnismäßigkeit der Mittel: Das Mittel der Gewalt muss einerseits geeignet, d.h. aller Voraussicht nach hinreichend wirksam sein, um mit Aussicht auf
Erfolg die Bedrohung abzuwenden oder eine Beendigung des Konflikts herbeizuführen; andererseits müssen Umfang, Dauer und Intensität der eingesetzten
Mittel darauf gerichtet sein, Leid und Schaden auf das notwendige Mindestmaß
zu begrenzen.
– Unterscheidungsprinzip: An der Ausübung primärer Gewalt nicht direkt beteiligte Personen und Einrichtungen sind zu schonen.“ 99
Natürlich betont die Lehre vom gerechten Frieden stärker, dass Krieg mit allen
Mitteln verhindern werden muss, spricht aber immer vom Frieden in Gerechtigkeit, der deswegen gegebenenfalls auch verteidigt werden muss. Ein Militärdekan schreibt:
„Die Kirchen setzten in ihrer Ethik an die Stelle der Lehre vom Gerechten Krieg
die Konzeption vom Gerechten Frieden. Sie unterscheidet sich nicht in der Zielsetzung von der Lehre des Gerechten Krieges. Auch diese sollte den Krieg nicht
legitimieren, sondern verhindern. Das Ziel war und ist der Frieden. Das Neue an
der Ethik vom Gerechten Frieden ist der eindeutige Vorrang der gewaltfreien
Optionen für die Lösung von Konflikten ...“ 100
In anderen Ländern, vor allem den angelsächsischen, trifft das längst nicht für
alle Kirchen zu.101 Die großen Dokumente der katholischen Kirche von 2000
Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen: Eine Denkschrift des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 20072. S. 68-69 (Nr.
102), www.ekd.de/download/ekd_friedensdenkschrift.pdf.
100 Horst Scheffler. „Die Lehre vom Gerechten Frieden – Friedensethik angesichts neuer Kriege:
Achtzehn Thesen zum Gerechten Frieden; aufgestellt im November 2002“. http://www.predigten.de/downloads/gerechter_frieden.pdf, Thesen 4-6.
101 Ebd. S. 9-10.
99
104
und der evangelischen von 2007 erheben die Lehre vom gerechten Frieden
eindrücklich zur Lehrnorm.102 Allerdings bleiben Unterschiede bei beiden bestehen, wie man sehr deutlich daran erkennen kann, dass die katholische
Kirche in Deutschland die heftige Kritik der evangelischen Kirche am Afghanistaneinsatz der Bundeswehr nicht so teilt, sondern zurückhaltender und nicht
abschließend formuliert.
Auszüge aus Thomas Schirrmacher. ‚Ethik‘. Bd. 6103 zur Lehre vom gerechten Krieg
S. 174: Schon darin wird deutlich, daß bei aller Notwendigkeit und Berechtigung
bestimmter Verteidigungskriege der Frieden das eigentliche Ziel ist. Krieg kann in
der Bibel immer nur als Verteidigung des wahren Friedens verstanden werden.
Krieg ist immer eine vorübergehende Not-wendigkeit (die Not wendend) auf dem
Weg zum endgültigen Frieden.
S. 175: Eine Verherrlichung des Krieges ist daher der christlichen Gemeinde unmöglich. In seinem ausgezeichneten Buch ‚Deutsche Kriegstheologie‘ 104 hat Karl
Hammer sehr schön die religiöse und vermeintlich christliche Begründung für den
Krieg im deutschen Nationalismus deutlich gemacht. Die Kirche predigte Krieg und
verquickte pietistische, bibelkritische, nationalistische und monarchistische Elemente zu einer Kriegstheologie, die erstaunlich systematisch war. Hier geht es
nicht mehr um den Schutz von Gerechtigkeit und den Krieg als Mittel, das Böse
einzudämmen, sondern der Krieg wird zum Selbstzweck, zum Ideal, zur Religion.
Karl Barth hat die Gefahr treffend zusammengefaßt: „Das ist es in erster Linie,
was nicht geschehen darf: der Krieg darf nicht als ein normales, ein ständiges, ein
gewissermaßen wesensnotwendiges Element dessen anerkannt werden, was
nach christlichem Urteil den rechten Staat, die von Gott gewollte politische Ordnung ausmacht.“105 Deswegen ist auch jede religiöse Verherrlichung des Krieges
zu bekämpfen, auch wenn und gerade weil die meisten Kriege mit irgendeiner religiösen Überhöhung begründet wurden.
S. 190: So schreibt Dietrich Bonhoeffer gegen die „im Weltbund zusammengeschlossenen Kirchen“106, die einen Frieden um jeden Preis verkündigten: „So wird
Vgl. im Detail Dieter Baumann. Militärethik. a. a. O. S. 276-290 zu Aus Gottes Frieden leben –
für gerechten Frieden sorgen: Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 20072, www.ekd.de/download/ekd_friedensdenkschrift.pdf und Gerechter Friede: 27. September 2000. Die deutsche Bischöfe 66. Bonn: Sekretariat der
Dt. Bischofskonferenz: 2000.
103 Insgesamt: Thomas Schirrmacher. Ethik. Bd. 6. Hamburg/Nürnberg: RVB/VTR, 20094. S. 172205 („Krieg und Frieden“).
104 Karl Hammer. Deutsche Kriegstheologie 1870-1918. dtv: München, 1974.
105 Karl Barth. Die Kirchliche Dogmatik. Studienausgabe Bd. 20: Die Lehre von der Schöpfung III,4
§§ 55-56: Das Gebot Gottes des Schöpfers 2. Teil. Theologischer Verlag: Zürich, 1993 (1951).
S. 522.
106 Otto Dudzus (Hg.). Bonhoeffer Brevier. Chr. Kaiser Verlag: München, 1963. S. 110-111, zitiert
102
105
der Friede zum absoluten Ideal. Diese Auffassung ist abzulehnen; auch der Friede
ist nur eine Ordnung der Erhaltung, die zerstört werden kann. Der Friede hat seine
Grenze an der Wahrheit und am Recht. Dort, wo Wahrheit und Recht vergewaltigt
sind, kann kein Friede bestehen.“107
S. 193: D. J. Atkinson faßt die Tradition der Lehre vom gerechten und ungerechten Krieg seit Ambrosius und Augustinus gut zusammen:108 „1. Die Tradition
bietet keine Rechtfertigung für alle Kriege. Es muß eine Unterscheidung zwischen
einem ‚gerechten Krieg‘ und dem Kreuzzugsmilitarismus eines ‚heiligen Krieges‘
gemacht werden. Die erklärte Absicht eines gerechten Krieges ist Friede durch die
Verteidigung des Rechtes. 2. Es gibt Umstände, in denen die rechtmäßige Autorität des Staates Gewalt zur Verteidigung seiner Bürger einsetzen darf. 3. Krieg darf
nur von der legalen Autorität des Staates geführt werden und es muß eine offizielle Kriegserklärung geben. 4. Das Ziel, für den der Krieg geführt wird, muß gerecht
sein. 5. Die Zuflucht zum Krieg muß der allerletzte Ausweg sein. 6. Das Motiv für
den Krieg muß gerecht sein. 7. Es muß eine vernünftige Hoffnung auf Erfolg geben. 8. Die guten Konsequenzen, die von der Kriegsführung zu erwarten sind,
müssen die Übel, die die Kriegsführung mit sich bringt, überwiegen. 9. Gewalt darf
nur gegen Bewaffnete gerichtet werden. Die Immunität der Nichtkämpfenden muß
so weit wie nur irgend möglich bewahrt werden. 10. Der Krieg muß so geführt
werden, daß nur ein Minimum an Kraft eingesetzt wird, um die Ziele des Krieges
zu erreichen.“109
aus Dietrich Bonhoeffer. Schöpfung und Fall: Eine theologische Auslegung von Gen 1-3. Chr.
Kaiser: München, 19584. S. 400.
107 Ebd. Anschließend spricht sich Bonhoeffer ebd. S. 401 für einen „Pazifismus“ in dem Sinne aus,
daß die heutigen Kriege Selbstvernichtungskriege sind, die die Kirche nur verurteilen kann. Er läßt
aber leider die Frage offen, wie denn dann heute Wahrheit und Gerechtigkeit verteidigt werden
können.
108 Vgl. zur Geschichte der Theorie vom gerechten Krieg z. B. Heinz-Gerhard Justenhoven. Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden. Theologie und Frieden 5. J. P. Bachem: Köln, 1991; Gerhard
Beestermöller. Thomas von Aquin und der gerechte Krieg: Friedensethik im theologischen Kontext
der Summa Theologiae. Theologie und Frieden 4. J. P. Bachem: Köln, 1990 sowie allgemein
Paulus Engelhardt. „Die Lehre vom ‚gerechten krieg‘ in der vorreformatorischen und katholischen
Tradition“. S. 72-124 in: Reiner Steinweg (Hg.). Der gerechte Krieg; Christentum, Islam, Marxismus. edition suhrkamp 1017. Suhrkamp: Frankfurt, 1980. S. 72-97; Anselm Hertz. „Die Lehre vom
‚gerechten Krieg‘ als ethischer Kompromiß“. a. a. O. (weitere Literatur S. 453; zu Francisco de
Vitoria S. 437-440) und Helmut Weber. Spezielle Moraltheologie. Styria: Graz, 1999. S. 248-251
zur Lehre vom gerechten Krieg und S. 234-260 zum Krieg überhaupt.
109 D. J. Atkinson. „Just War Criteria“. P. R. Gilchrist. „Old Testament Ethics“. S. 215-217 in: R. K.
Harrison (Hg.). Encyclopedia of Biblical and Christian Ethics. Thomas Nelson: Nashville (TN),
1987, hier S. 215-216 (vgl. ebd. S. 216 die traditionellen biblischen Argumente dafür.). Vgl. ähnliche Zusammenstellungen in John Stott. Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit ... 4 ... im
sexuellen Bereich. Francke: Marburg, 1988 [Engl. 1984]. S. 17-20, in Arthur F. Holmes. „Die
Theorie vom gerechten Krieg“. S. 95-113 in: Robert Clouse (Hg.). Der Christ und der Krieg: 4
Standpunkte. Verlag der Francke-Buchhandlung: Marburg, 1982, hier S. 98-99 (und den ganzen
Beitrag, der allerdings kaum biblische Argumente nennt), in Anselm Hertz. „Die Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ als ethischer Kompromiß“. a. a. O. S. 442-443 und in Helmut Weber. Spezielle Moraltheologie. a. a. O. S. 250-251.
106
Zusammenfassend kann man also sagen: „Leitgedanke der Theorie vom gerechten Krieg bildet das Prinzip, daß Kriege grundsätzlich nur um des Friedens willen
geführt werden dürfen.“110
S. 198: Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß Kriege praktisch immer ungezählte andere Verbrechen und unmoralische Entwicklungen
mit sich bringen, von denen viele auch nach einem Krieg nicht mehr zurückzudrehen sind. Ob es die gigantischen Steuersätze sind, die nicht erst der Erste
und Zweite Weltkrieg mit sich brachte, ob das organisierte Verbrechen im
Rahmen des Waffenhandels 111, ob es Vergewaltigungen und sexuelles Durcheinander sind oder ob die massenhafte Zerstörung von intakten Familien ihre
Folgen zeitigt, der Krieg bringt viele Übel hervor. Der Zusammenbruch der Familie in Deutschland ist ohne den 2. Weltkrieg nicht zu denken und fand seine
Fortsetzung in den vielen außerehelichen Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg,
zum Beispiel zwischen Besatzungssoldaten und hungrigen deutschen Frauen.
Und bis in die Moderne sind Kriege immer auch Propagandafeldzüge und gigantische Lügenschlachten gewesen, wobei nicht nur die Kriegspropaganda
des Nationalsozialismus gemeint ist, sondern auch etwa die westliche Propaganda im Golfkrieg gegen den Irak, den man zu Recht ‚Die Schlacht der Lügen‘ genannt hat112.
Aus dem Traditionserlass
Anmerkungen zur Tradition, die in Streitkräften vor allem im Gedenken an die
Gefallenen in Kriegen und militärischen Konflikten, aber auch an die Beweise
soldatischer Tugenden gepflogen werden, scheinen opportun, diese Untersuchung zu beschließen.
Nach den „Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in
der Bundeswehr“, meist kurz einfach ‚Traditionserlass‘ genannt, wird Tradition
als die Überlieferung von Werten und Normen verstanden, die ein verbindendes Element zwischen den Generationen herstellt und eigene Identität sichert113 Der derzeitig gültige Erlass wurde vom damaligen SPD-Verteidigungsminister Hans Apel im Jahr 1982 erlassen und löste den ersten Erlass aus
Anselm Hertz. „Die Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ als ethischer Kompromiß“. a. a. O. S. 429.
Vgl. die ausgezeichnete Arbeitshilfe: Päpstlicher Rat Justitia et Pax. Der internationale Waffenhandel: Eine ethische Reflektion (21. Juni 1994). Arbeitshilfen 121. Sekretariat der Deutschen
Bischofskonferenz: Bonn, 1994.
112 John R. MacArthur. Die Schlacht der Lügen: Wie die USA den Golfkrieg verkauften. dtv: München, 19931; 19933 (Engl. Second Front: Censorship and Propaganda in the Gulf War. Hill & Wang:
New York, 1992); vgl. Burkhard Müller-Ullrich. Medienmärchen: Gesinnungstäter im Journalismus.
Karl Blessing Verlag: 1996. S. 150-159.
113 Vgl. Heiko Biehl, Nina Leonhard. „Militär und Tradition“. S. 216-239 in: Nina Leonhard, InesJacqueline Werkner (Hg.). Militärsoziologie – Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften:
Wiesbaden, 2005.
110
111
107
dem Jahr 1965 ab.. Eine Auswahl an Bestimmungen zeigt die Schwergewichte des Erlasses auf:114
„1. Tradition ist die Überlieferung von Werten und Normen. Sie bildet sich in einem
Prozeß wertorientierter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Tradition verbindet die Generationen, sichert Identität und schlägt eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft.“
„7. Alles militärische Tun muß sich an den Normen des Rechtsstaats und des Völkerrechts orientieren. Die Pflichten des Soldaten – Treue, Tapferkeit, Gehorsam,
Kameradschaft, Wahrhaftigkeit, Verschwiegenheit sowie beispielhaftes und fürsorgliches Verhalten der Vorgesetzten – erlangen in unserer Zeit sittlichen Rang
durch die Bindung an das Grundgesetz.“
„17. In der Traditionspflege der Bundeswehr soll auf folgende Einstellungen und
Verhaltensweisen besonderer Wert gelegt werden:
– kritisches Bekenntnis zur deutschen Geschichte, Liebe zu Heimat und Vaterland, Orientierung nicht allein am Erfolg und den Erfolgreichen, sondern auch am
Leiden der Verfolgten und Gedemütigten;
– politisches Mitdenken und Mitverantworten, demokratisches Wertbewußtsein,
Vorurteilslosigkeit und Toleranz, Bereitschaft und Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen des soldatischen Dienstes, Wille zum Frieden;
– gewissenhafter Gehorsam und treue Pflichterfüllung im Alltag, Kameradschaft,
Entschlußfreude, Wille zum Kampf, wenn es der Verteidigungsauftrag erfordert.“
„20. ... der Verzicht auf ideologische Feindbilder und auf Haßerziehung“
„22. Begegnungen im Rahmen der Traditionspflege dürfen nur mit solchen Personen oder Verbänden erfolgen, die in ihrer politischen Grundeinstellung den Werten
und Zielvorstellungen unserer verfassungsmäßigen Ordnung verpflichtet sind.“
114
Text unter http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/kcxml/04.
108
Alois Bach
Ethische Bildung in der Bundeswehr und das Zentrum
Innere Führung
Wenn von ethischer Bildung in den Streitkräften bzw. von Ethik in der Bundeswehr die Rede ist, glauben viele, dass es vor allem darum ginge „anständig zu handeln“. Zugleich kann man die Auffassung hören, dass einem schon
das sogenannte Bauchgefühl sage, was recht oder unrecht sei. So unverfänglich und ehrenwert derartige Meinungsbekundungen und Beschreibungen auch sein mögen, sind sie letzten Endes nicht ausreichend, um das
notwendige geistige und seelische Rüstzeug für ethische Herausforderungen
und moralische Entscheidungen bereitzuhalten. Schnell fällt einem hierzu das
Sprichwort ein: Das Gegenteil von gut gemacht, ist gut gemeint.
Ein kleines Gedankenexperiment kann dies veranschaulichen helfen. Gesetzt den Fall, ein medizinischer Laie muss kurzerhand entscheiden, wem
von mehreren Dialysepatienten er die derzeit einzig verfügbare Spenderniere überträgt. Nach welchen Kriterien geht er vor? Nur nach dem Bauchgefühl
zu handeln, reicht hier offenkundig nicht aus, ebenso wenig der Vorsatz,
grundsätzlich „anständig handeln“ zu wollen. Wer wollte dies bestreiten? Mit
anderen Worten: ein medizinischer Laie wäre mit einer solchen Herausforderung schlicht überfordert, zumal ohne fundierte medizinische, besser noch
fachmedizinische Kenntnisse. Und auch ein intensives Blättern in einem
medizinischen Wörterbuch wie dem bekannten Pschyrembel reicht eben bei
weitem nicht aus, um hier sozusagen über andere Menschenleben zu entscheiden.
Vor diesem skizzierten Hintergrund gilt es – auch außerhalb von Fachkreisen – zur Kenntnis zu nehmen, dass sich der Zweig der Militärethik in den
letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum innerhalb der allgemeinen
Ethik als eine Art Bereichsethik etabliert und zugleich deutlich weiterentwickelt hat. Zwar ist über ethische Fragen bereits seit Bestehen der Bundeswehr stets verantwortungsvoll und intensiv vor allem durch das Zentrum
Innere Führung und die Militärseelsorge sowie später an entsprechenden
Lehrstühlen an den Universitäten und Instituten der Bundeswehr reflektiert
und geforscht worden, aber der Begriff Militärethik selbst ist dabei weitgehend vermieden worden.
Das hatte gute Gründe; denn nicht wenige vermuteten vor dem Hintergrund
der deutschen Geschichte, vor allem des Nationalsozialismus mit all seinen
109
fürchterlich Pervertierungen und Umwertungen von Werten, dass mit dem
Begriff Militärethik wieder einer Sonderethik zur Instrumentalisierung und
Ideologisierung von Soldaten das Wort geredet würde. Um solchen Befürchtungen grundsätzlich entgegenzutreten, ist noch vor Aufstellung der Bundeswehr im Jahr 1955 die offene und dynamische Konzeption der Inneren
Führung in ihren wesentlichen Grundzügen als „etwas grundlegend Neues“
entwickelt und später gegen manchen verdeckten oder auch offenen Widerstand erfolgreich umgesetzt worden.
Die heutige Konzeption der Inneren Führung mit ihren Grundlagen, Grundsätzen und Gestaltungsfeldern beinhaltet ethische Prinzipien und Postulate
in einer Systematik und gedanklichen Dichte, welche bei näherer Betrachtung nicht nur erstaunlich ist, sondern beweist, dass diese Führungsphilosophie tatsächlich eine werte- und praxisorientierte Handlungsanweisung für
den gesamten Dienst in den deutschen Streitkräften liefert.
Zielgruppen
Wie sich beispielsweise Medizinethik vorrangig an Mediziner oder Wirtschaftsethik an Wirtschaftsfachleute und Manager in der Industrie wendet,
so ist die primäre Zielgruppe der Militärethik der Soldat bzw. die Soldatin auf
allen Führungsebenen, in allen Organisationsbereichen und in jeder Phase
seines militärischen Lebens. Die militärische Ethik verfolgt den Anspruch,
Soldatinnen und Soldaten sowohl im militärischen Alltag zuhause als auch
im Einsatz im Ausland eine echte Hilfestellung zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen zu geben. Dabei gilt es, ethische Kompetenz zu
vermitteln, moralische Urteilskraft zu entwickeln, gewissensgeleiteten Gehorsam und verantwortungsvolles, eigenständiges Handeln zu fördern.
Die Persönlichkeitsbildung für Soldaten, insbesondere für militärische Führer,
hat eine neue Dimension erhalten, die neben dem Beherrschen des militärischen Handwerks und körperlicher Fitness vor allem moralische und politische Urteilsfähigkeit, rechtliche Handlungssicherheit, interkulturelle Kompetenz, Initiativkraft und Führungswillen erfordert. All diese Themen müssen
steter Bestandteil von Führung, Ausbildung und Erziehung sein. Wer künftig
als Führungskraft beispielsweise ethische Grundlagen und entsprechendes
Handlungstraining im Rahmen der Persönlichkeitsbildung oder der Einsatzvorbereitung vernachlässigt, wird nicht in der Lage sein, seine Aufträge –
auch und gerade im Einsatz – umfassend zu erfüllen.
Sicherlich ist bei der Vermittlung ethischer Sachverhalte zu berücksichtigen,
dass verschiedene Herkünfte, unterschiedliche Bildungsniveaus und divergierende Meinungsbilder als Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft es
110
erforderlich machen, für die jeweiligen Zielgruppen die richtigen Abholpunkte
zu finden. Es gilt zu vermeiden, dass Über- oder Unterforderungen in der
Wissensvermittlung entstehen. Erfahrungsgemäß ist dies jedoch häufig keine Frage des Dienstgrades oder der Schulbildung, sondern vielmehr eine
Frage der jeweiligen Persönlichkeit und des Charakters. Ethik sollte daher
auch nicht primär als „Lernfach“ begriffen und vermittelt werden. Vielmehr
sollten neben den erforderlichen kognitiven Grundlagen vorrangig affektive
Aspekte im Mittelpunkt stehen, um so ethische Einstellungen und wertegebundene Haltungen aufgrund eigener Einsicht entwickeln zu können. Dabei
spielen persönliche Vorbilder sowie deren beispielhaftes Handeln und Verhalten eine wesentliche Rolle.
Orte ethischer Vermittlung in der Bundeswehr
Für eine verantwortungsvolle ethische Vermittlung für die Soldaten und Soldatinnen braucht es Freiräume. Diese werden strukturell, organisatorisch
und personell durch den Dienstherrn, also die Bundeswehr selbst, bereitgestellt. Die beiden Universitäten der Bundeswehr vermitteln beispielsweise
angehenden jungen Offizieren neben dem Fachstudium in einem übergreifenden Studienanteil eine akademische Grundbildung, die auch ethische
Themenfelder umfasst, beginnend von der Antike bis hin zu modernen Fragestellungen und aktuellen Problemen. Diese meist trimesterübergreifenden
Vorlesungen geben den Studenten einen fundierten Einblick in Fragen der
ethischen Reflexion und welche Wege man in der Geschichte der Philosophie hierzu beschritten hat. An der Führungsakademie der Bundeswehr in
Hamburg können Stabsoffiziere ihre ethische Bildung gezielt und durch
spezielle Forschungen vertiefen. Die Sanitätsakademie der Bundeswehr in
München widmet sich darüber hinaus ethischen Fragen aus wehrmedizinischer Sicht.
An den verschiedenen truppengattungsspezifischen Schulen der Bundeswehr
erfolgt dies meist im Rahmen von Laufbahnlehrgängen, in der Regel vermittelt durch Militärseelsorger und Militärseelsorgerinnen beider christlichen
Konfessionen. Sowohl die evangelische als auch die katholische Militärseelsorge bieten für alle Soldaten und Soldatinnen der Streitkräfte Bildung und
Reflexion über den sogenannten ‚Lebenskundlichen Unterricht’ an. Dieser „ist
kein Religionsunterricht (…), sondern eine berufsethische Qualifizierungsmaßnahme und damit verpflichtend“, wie es in der hierzu eigens erlassenen
Zentralen Dienstvorschrift 10/4 in Nr. 104 unmissverständlich heißt. In diesem
Kontext ist vom Katholischen Militärbischof im März 2010 das Zentrum für
ethische Bildung in den Streitkräften (ZEBIS) gegründet worden. Diese Einrichtung wendet sich vor allem an Militärseelsorger und Militärseelsorgerinnen
111
sowie an Führungskräfte und alle Interessierte in der Bundeswehr zur Vertiefung ethischer Reflexion anhand aktueller Fragestellungen. Diesem Ansatz
folgend ist dann auch innerhalb der Evangelischen Militärseelsorge die Arbeitsgemeinschaft Ethische Bildung in den Streitkräften (AEBIS) ins Leben
gerufen worden.
Das Zentrum Innere Führung ist die zentrale Einrichtung der Bundeswehr
für die Konzeption, Weiterentwicklung, Lehre und Vermittlung der Führungsphilosophie der Bundeswehr. Diese Führungsphilosophie mit dem
Leitbild vom ‚Staatsbürger in Uniform‘ beruht auf den Werten und Normen
des Grundgesetzes. Dieses Fundament verleiht der Inneren Führung per
se eine ethische Herkunft und Qualität, die sich in zahlreichen Lehrgängen, Seminaren, Tagungen, Ausbildungsinhalten, Modulen und Projekten
des Zentrums Innere Führung selbstverständlich widerspiegeln. Es gibt
kein Gestaltungsfeld der Inneren Führung, das nicht eine ethische Dimension oder moralische Implikation beinhaltet. Soldatisches Dienen und Handeln ist stets an ethische Begründungen und moralische Entscheidungen
gebunden. Dieses Bewusstsein und Wissen wird am Zentrum Innere Führung praxisnah und handlungsorientiert nicht nur an Offiziere, sondern an
militärische und zivile Führungskräfte aller Ebenen in der Bundeswehr
weitervermittelt.
Nicht zuletzt deshalb wurde am Zentrum Innere Führung im Auftrag des
Bundesverteidigungsministeriums im Frühjahr 2010 eine Zentrale Ansprechstelle für militärische Ethik-Ausbildung (ZETHA) eingerichtet, die inzwischen
eine gewisse Koordinierungsfunktion für ethische Bildung in den Streitkräften
aufweisen kann. Sie hat mittlerweile einen beachtlichen Vernetzungsgrad zu
in- und ausländischen Instituten gleicher Zielrichtung erreicht und betreibt
intensiven Gedankenaustausch. Am Zentrum Innere Führung werden darüber hinaus einwöchige Ethikseminare, vorrangig für militärische Multiplikatoren, erfolgreich angeboten, um Sensibilisierung für ethische Handlungsfelder
sowie Reflexion von Werten, Normen, Tugenden und moralischen Grundsätzen praxisorientiert zu erreichen. In diesem dargestellten Beziehungsgeflecht versteht sich das Zentrum Innere Führung mit seiner ‚ZETHA‘ als ein
signifikanter Mosaikstein bezüglich der ethischen Bildung in der Bundeswehr.
Was kann Militärethik leisten?
Was militärische Ethik leisten kann, lässt sich an wenigen Punkten sehr
gut verdeutlichen. In einer hochkomplexen Gesellschaft wie der unsrigen
kann keine Institution, geschweige denn ein einzelner, alle militärethischen
112
Fragestellungen überblicken und hinreichend diskutieren. Daher ist es
erforderlich, dass alle Institutionen, die mit militärethischer Bildung b eschäftigt und beauftragt sind, sich strukturell und personell vernetzen. Da
anthropologische, kulturelle, didaktische, medizinische, neurologische, philosophische, psychologische, rechtliche, soziologische, technische und
theologische Aspekte eine wichtige Rolle für eine solide ethische Bildung
spielen, ist Interdisziplinarität nicht nur wünschenswert, sondern zwingend
erforderlich.
Militärethik hat zudem kompatibel mit den anderen militärischen Ausbildungsgebieten in der Truppe zu sein. Das heißt: es darf letztlich kein Widerspruch bestehen zwischen einer militärethischen Norm und einem militärisch
notwendigen Ausbildungsbaustein. Dies setzt u.a. ganz praktisch voraus,
dass sowohl der Militärethiker als auch der militärische Ausbilder wissen,
was der andere unterrichtet. Militärische Ethik darf – wie schon erwähnt –
den Aspekt der Einsatzorientierung nicht aus den Augen verlieren, wenngleich sie darauf nicht reduziert werden kann. Soldatinnen und Soldaten
sollen verstehen, dass es bei militärischer Ethik um ihre Anliegen als Soldaten geht, dass Militärethik sie persönlich betrifft und Militärethik nicht ausschließlich für wissenschaftliche Experten betrieben wird. Vor diesem Hintergrund muss militärische Ethik im guten Sinne sprachlich und inhaltlich
verständlich sein. Zudem darf bei Soldaten und Soldatinnen nicht der Eindruck aufkommen, dass über ethische Vermittlung eine Ideologisierung
erfolge.
All diese Aspekte lassen sich insbesondere für Vorgesetzte in folgenden „TFragen“ bezüglich einer militärischen Ethikausbildung bündeln:
- Teleologie: Was ist Ziel und Zweck militärischer Ethikausbildung?
- Taxonomie: Welche Zielgruppen, und zwar ebenengerecht, und welche
Ausbildungsziele können erreicht werden?
- Taktik: Wie lässt sich militärische Ethik in die militärische Ausbildung,
insbesondere in Handlungstraining, integrieren?
- Trennschärfe: Gibt es besondere Fragestellungen hinsichtlich einer militärischen Ethikausbildung (Stichwort: Töten und getötet werden, vgl. ZDv
10/1 Nr. 105)?
- Tod/Verwundung: Welche existentiellen Fragestellungen ergeben sich für
Soldaten daraus, wie gehen sie damit um (dabei auch das Stichwort:
PTBS)?
- Tradition: Auf welchen Traditionen kann und darf sich Militärethik in der
Bundeswehr stützen?
- Technik: Welchen Einfluss hat Militärtechnologie auf die Militärethik
(aktuelle Stichworte: Drohnen, Minen, Scharfschützen, Streubomben,
etc.)?
113
Ziel und Zweck militärischer Ethikausbildung
Ziel und Zweck militärischer Ethikausbildung ist es beizutragen, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr die Grundsätze der Inneren Führung
zur Richtschnur für ihr Handeln und Verhalten als ‚Staatsbürger in Uniform’
nehmen. Diese Prinzipien sind in der Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 10/1
enthalten. Diese Dienstvorschrift kann von der Homepage des Zentrums
Innere Führung (auch in englischer, französischer, spanischer und russischer Übersetzung) aus dem Internet heruntergeladen werden.
Soldaten haben sich im Sinne der Inneren Führung stets darum zu bemühen, ethisch gefestigt und somit auch moralisch urteilsfähig zu sein, denn
sie müssen sich ethisch und moralisch in extremen militärischen Situationen bewähren. Soldaten, zumal Vorgesetzte, haben sich immer und überall
vorbildlich und – wie es soldatisch heißt – ehrenhaft zu verhalten. Die
Grundlage für diese werteorientierte Haltung bilden die Werte unseres
Grundgesetzes, insbesondere „Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie“. Soldaten und vor allem
militärische Führungskräfte, die danach leben und agieren, handeln verantwortlich und stellen für die ihnen anvertrauten Soldaten und Mitarbeiter ein
Vorbild dar.
Ein aktuelles Anforderungsprofil an unsere Soldatinnen und Soldaten
Sicherlich ist es immer einfacher, ein anspruchsvolles Anforderungsprofil zu
formulieren, als es zu leben. Dabei kann leicht die Erinnerung an manchen
Anfangssatz einiger Volksmärchen geweckt werden, der da lautet: „Als das
Wünschen noch geholfen hat“. Wenngleich die Differenz zwischen Theorie
und Praxis besteht, so ist dennoch das aufgestellte ‚soldatische Anforderungsprofil‘ als Kompass und Zielperspektive zu verstehen.
Unter dem Aspekt einer fundierten militärethischen Bildung sind die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ebenso historisch sowie politisch gebildet
und informiert. Sie verfügen über ein rechtliches Grundwissen, nicht nur bezüglich des Soldatengesetzes, sondern auch im Hinblick auf das humanitäre
Völkerrecht. Sie sind darüber hinaus fachlich-technisch und militärisch qualifiziert, denn fachliches militärisches Können ist lebensentscheidend. Hierzu
gehört auch körperliche Fitness und Robustheit. Schließlich haben Soldaten
der Bundeswehr sich ethische Kompetenz erworben und sie verfügen über
moralische Urteilsfähigkeit. Gerade vor dem Hintergrund der Auslandseinsätze ist es dringend erforderlich, dass Soldatinnen und Soldaten neben fremdsprachlichen Fähigkeiten interkulturelle Kompetenz besitzen. Dies schließt
114
freilich unverzichtbare Führungsfähigkeiten auf der jeweiligen Ebene sowie
kommunikative Eignung mit ein.
Wem dies von vornherein als zu ideal gedacht erscheint, der möge sagen,
auf welche Fähigkeit ohne Not verzichtet werden könne. Hierzu wird gern
eine Geschichte erzählt, die bewusst zum Nachdenken einladen will. Weil
einem Menschen der ihm aufgetragene Holzbalken auf einer Wanderung als
zu schwer erschien, sägte er kurzerhand etwas davon ab. Der Erfolg war
scheinbar verblüffend; er konnte viel schneller und unbeschwerter seine
Wanderung fortsetzen. Zudem machte er sich insgeheim Vorwürfe, warum
er nicht schon früher auf diese Idee gekommen war. Während er noch darüber nachdachte, kam er an eine tiefe Schlucht. Ein Fortkommen schien ihm
zunächst unmöglich. Da fiel ihm sein scheinbar nutzlos mitgegebener Holzbalken ein. Damit könnte er doch die tiefe Schlucht überbrücken. Nur musste
der Wanderer bitter feststellen, dass jetzt genau jenes Stück Holz fehlte,
welches er kurze Zeit zuvor als scheinbar belastend abgesägt hatte.
Wer also Ethik ausblendet, befindet sich auf diesem „Holzweg“ und wird es
am Ende bitter bereuen!
Literaturhinweise
Hans-Christian Beck, Christian Singer (Hrsg.), Entscheiden, Führen, Verantworten.
Soldatsein im 21. Jahrhundert, Berlin 2011
Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), ZDv 10/1 Innere Führung, Bonn 2008
Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr, Bonn/Potsdam 2008
Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.), ZDv 10/4 Lebenskundlicher Unterricht.
Selbstverantwortlich leben – Verantwortung für andere übernehmen können, Bonn
115
Edwin R. Micewski
Überlegungen zur ethischen Bildung im Militär und zur
Berufsethischen Bildung (BeB) im Österreichischen
Bundesheer
Mein persönliches Interesse an der Ethik und deren Vermittlung in Vorträgen,
Unterrichten und Publikationen wurde durch jene gleichsam ethische Konjunktur gefördert, die wir in jüngster Zeit zur verstärkten Ethisierung unserer privaten wie öffentlichen Lebenswelt erleben.
Im Kontext dieser Entwicklung erhielten auch Sicherheitspolitik und Streitkräfte
ethische Impulse. Ich darf an die Welle der humanitären Interventionen in den
1990er Jahren erinnern, in deren Folge wir in der Philosophie der internationalen Beziehungen die Rückkehr der Lehre vom Gerechten Krieg verzeichneten,
mitsamt den Versuchen, sie an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Die
militärischen Gewaltinstrumentarien der Staaten und Bündnisse wurden vor
allem durch das Phänomen des internationalen Terrorismus mit dem Phänomen asymmetrischer Gewalt konfrontiert. Da in asymmetrischen Konfliktszenarien nichtstaatliche Kräfte ihre politischen Zielsetzungen mit Formen der Gewalt durchzusetzen trachten, ohne die traditionellen Limitierungen von Krieg
und bewaffenetem Konflikt in Zeit und Raum zu beachten, noch sich sittlichmoralische oder gar rechtliche Schranken aufzuerlegen, eröffneten sich neue
ethisch-moralische Aspekte für die politisch-militärische Führungsverantwortung. Diese Bedingungen der internationalen Beziehungen im Zusammenhang
mit den drastischen Veränderungen im Kriegs- und Konfliktbild haben zu einer
Revitalisierung von Fragen der politischen und militärischen Ethik geführt.
Es sollen hier nach Anmerkungen zum Verständnis von Ethik die Voraussetzungen und Notwendigkeiten für ethische Bildung angesprochen und vor allem
die Bedeutung der Ethik im Kontext der militärischen Führungsverantwortung
thematisiert werden. Danach werden einige vergleichende Fakten aus einem
Forschungsprojekt zur berufsethischen Bildung in der österreichischen Offiziersaus- und fortbildung genannt und die wesentlichen Parameter dieser
Konzeption vorgestellt. Sowohl in dieses von mir initiierte Forschungsprojekt
als auch in die Darstellungen zu Ethik, Militärethik und der Vermittlung ethischer Bildung sind sehr stark persönliche Erfahrungen eingeflossen. Diese
verdanken sich den zwei Jahrzehnten meiner akademischen Karriere im österreichischen Verteidigungsministerum in Dienstverwendungen an ihrer höchsten Bildungseinrichtung, der Landesverteidigungsakademie in Wien, als auch
117
einer Lehrtätigkeit an einer US-amerikanischen Bildungsstätte, an der ich
politische und militärische Philosophie sowie (militärische) Ethik einem internationalen Studentenkreis vermitteln konnte.
Persönlicher Zugang zur ethischen Bildung
Ich darf meinen Zugang zur Bildung zunächst mit einer Definition des historischen Wörterbuchs für Philosophie zum Ausdruck bringen. Bildung wir hier
verstanden als „ein durch Personalität, Bewusstseinserhellung und soziale
Verantwortung ausgezeichneter Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins.“1
In diesem Verständnis vermittelt Bildung also vor allen Dingen zweckfreies,
zusammenhängendes Wissen, trägt zur Formung des Charakters bei und
ermöglicht durch das in ihr enthaltene Moment der Freiheit und denkerischen
Autonomie auch und vor allem die Übernahme von Verantwortung.
Wie an anderer Stelle bereits näher ausgeführt berührt die Ethik für mich die
tiefsten Gründe des Menschseins und handelt deshalb von Begründungszusammenhängen, die jenseits rein empirisch-wissenschaftlicher Zusammenhänge liegen, weshalb die Notwendigkeit philosophischer Reflexion besonders in der Ethikvermittlung gefragt ist. Und da, so wie die Philosophie
selbst, die Ethik kein abgeschlossenes Lehrgebäude darstellt, vermittelt der
philosophische Ethiker in erster Linie keine Lehre, sondern lehrt denken und
urteilen. Damit wird, zumindest in diesem Verständnis, gerade die Ethikvermittlung zu einem Gegenstandsbereich, der es gestattet, sich dem oben
beschriebenen Bildungsideal anzunähern, das ja weniger in der Vermittlung
konkreter Inhalte zu sehen ist, als vielmehr in der Befähigung zu selbständiger Urteilsfähigkeit.
Für den Transzendentalphilosophen ist die Ethik als praktische Philosophie
eine ideale Wissenschaft, die das Ideale in die Wirklichkeit bringen will, oder,
anders ausgedrückt, danach trachet, die Handlungswirklichkeit so nahe wie
möglich an das Ideal heranzuführen. Während der Gegenstand der Erkenntnistheorie die Wirklichkeit ist, insofern und wie sie ist; so ist der Gegenstand
der Ethik die Wirklichkeit, wie sie sein soll.
Ethik ist gutes Handeln im Modus der Theorie und als solche unterscheidet
sie sich vom konkret praktizierten Ethos. Damit ist aber auch schon die wesentlichste methodologische Unterscheidung zwischen meinem bzw. dem
kontinentaleuropäischen und dem anglosächsischen bzw. angloamerikanischen Zugang zur Ethikvermittlung aufgezeigt: während beim ersteren der
1
Historisches Wörterbuch der Philosophie (herausgegeben von Joachim Ritter), Band 1, Basel
1984, S. 92.
118
Weg verfolgt wird, generelle Einsichten in die Idee von Freiheit, Verantwortung, Gerechtigkeit, Pflicht zu vermitteln und davon ausgehend Antworten
auf die Herausforderungen der militärischen Lebenswelt zu deduzieren, also
gleichsam von der (normativen) Ethik zum Ethos vorzudringen, ist der der
zweite Weg eher der umgekehrte; eine pragmatische Ethos-Orientierung
steht im Vordergrund, wobei eine übermäßige Intellektualisierung der ethischen Bildung vermieden und abstrakte ethische Theorie minimalisiert werden soll.
Dabei sieht sich der letztgenannte Weg mit der Warnung Kants konfrontiert,
die Pflicht nie zur Gewohnheit werden zu lassen. Was Kant damit meint ist,
dass Ethik nicht als Rezeptbuch für gelingendes Leben missverstanden werden darf. Der Handelnde soll vielmehr jede ethisch relevante Situation als
speziell eigene betrachten und genuin gemäß der je gegebenen Umstände
entscheiden. Routine in der Ethik, das Einüben von Prozeduren und Handlungsmodellen, birgt die Gefahr in sich, ins Inhumane zu führen und den eigentlichen Sinn ethischen Handelns und moralischer Verantwortung ad absurdum zu führen.
Propädeutische Axiome für militärische Ethik
Es soll hier nochmals hervorgehoben werden, dass die militärische Ethik als
Disziplin angewandter Ethik von der Frage der Anwendung der moralphilosophisch-normativen obersten Prinzipien des moralisch Guten und Rechten,
welche als Richtschnur für unser Handeln dienen sollen, auf die militärische
Lebenswelt in all ihren Konfigurationsbereichen handelt. Insbesondere für den
Offizier steht die Bereichsethik der militärischen Ethik im Kontext einer speziellen Führungsverantwortung, welche die Frage nach der Legitimität von Gewaltanwendung auf individueller und kollektiver Ebene in dem Sinne erweitert,
als der Offizier nicht nur sein eigenes Leben, sondern vor allem das von ihm
anvertrauten Soldaten zu verantworten hat.
Auch wenn die ethische Bildung im generellen Bildungskanon nur relativ geringen – wenn auch stetig steigenden – Stellenwert einnimmt, so handelt es
sich bei ihr doch – ungeachtet des methodologischen Zuganges – so ziemlich
um die schwierigste Herausforderung, mit der wir uns in Bildung und Erziehung konfrontiert sehen. Dies hat u.a. mit den weitverzweigten und interdependenten Grundlagen und Zusammenhängen zu tun, die für ethisches Verständnis erforderlich sind.
In meinen berufsethischen Bildungsbemühungen bin ich auf einige Fundamentalparameter gestoßen, deren Bedeutung und Angemessenheit sich im Verlauf
des Lehrens und Publizierens über diese Thematik immer wieder bestätigt und
119
weiter verdichtet hat. In meinem Verständnis beeinflussen diese den bildungsethischen Diskurs nachhaltig, müssen in ihm aber auch ganz besonders beachtet und behandelt werden.
Sinnfrage
Bei der für diesen Kontext wohl grundlegendsten Voraussetzung handelt sich
um die Tatsache, dass kaum ein Beruf philosophisch so herausfordernd ist wie
der des Soldaten, insbesondere jener des Offiziers und militärischen Führers,
der sich die existenzielle Sinnfrage im Angesicht des Todes – des eigenen wie
fremden – zu stellen hat. Er hat zu gewärtigen, dass der tiefste Ernst und die
größte Herausforderung seiner Existenz in der (zwar vom Staat monopolisierten, domestizierten, und legalisierten) aber doch Gewaltanwendung liegt, der
die Tötung Anderer und der eigene Tod potenziell inhärent sind. Die quantitativ
vorherrschende Faktizität der friedlichen Koexistenz des Militärischen ändert
nichts an der eigentlich metaphysischen Natur des Militärischen, die von ihrem
Wesenskern her unveränderlich und eben in der Bewährung in der Ausnahmesituation eines bewaffneten Konfliktes zu sehen ist. Das nachhaltigste
Unterscheidungsmerkmal des militärischen Professionalisten zu anderen ist
diese spezielle Sinnfrage, welche die tiefsten Zusammenhänge sozialen und
politischen Seins berührt. Diese existenzielle Sinnfrage des Militärischen repräsentiert aber auch gleichzeitig die größte Diskursherausforderung für die
Streitkräfte mit der Gesellschaft und begründet nachhaltige Wertambivalenzen
und Inkompatibilitätsprobleme.
Komplexer Bildungsbedarf
Aus dieser Prämisse der militärischen Sinnfrage ist schon abzusehen, wie
umfassend der Bildungsbedarf ist, wie vernetzt und komplex die ethischen
Herausforderungen sind, mit denen sich der Soldat mit Führungsaufgabe
konfrontiert sieht und welchen Aufwandes – zeitlich wie inhaltlich – es bedarf,
ethisches Bewusstsein für die mannigfachen Herausforderungen, mit denen
die militärische Lebenswelt aufwartet, zu begründen und zu fördern. Aristoteles wies uns schon darauf hin, dass man die Frage nach den Zielen des
menschlichen Handelns nur beantworten kann, wenn man weiss, wie die
Natur des Menschen beschaffen ist. Für das tiefgreifende Verständnis militärischer Ethik benötigt der einzelne als Voraussetzung daher die Grundlagen der
Sozialphilosophie – Wesen des Menschen/Anthropologie; Wesen von Staat
und Gesellschaft/Staats- und Rechtsphilosophie plus Philosophie der Internationalen Beziehungen; Wesen von Krieg und Militär/Kriegsphänomenologie
und Militärphilosophie.
120
Gesellschaftliche Verfasstheit
Das nächste Axiom bezieht sich auf die Tatsache, dass die moderne Gesellschaft zu einem nahezu unbegrenzten Wertrelativismus und ethischen Nihilismus tendiert. Werte- und normensetzende Institutionen wie Kirche oder
staatliche Einrichtungen verlieren an Einfluss und einheitliche und übergreifende Wertsysteme sind kaum noch zu verwirklichen. Der US-amerikanische
Sozialphilosoph Michael Walzer hat hiefür den Begriff des Unsettlement, der
Entwurzelung, vorgeschlagen, um damit auf den individuellen Egosimus und
Relativismus zu verweisen. Diese atomisierende Tendenz der (postmodernen)
Gesellschaft wird duch MacIntyre’s Gedanken des Emotivismus ergänzt, mit
dem er das Dilemma bezeichnet, das die Wertevielfalt und der Relativismus
der Anschauungen erzeugt: die Urteile und Überzeugungen der Einzelnen
werden zum bloßen Ausdruck persönlicher Gefühle und Präferenzen, die in
sich keinen essenziellen moralischen Gehalt mehr aufweisen.2 Was immer
einer denkt oder wofür er auch eintreten mag, ist von gleicher Gültigkeit, eben
gleich-gültig. Diese Relativität individueller Überzeugungen übersetzt sich
auch in die Politik und ihre Handlungsbereiche. Die Spielformen der Differenz
und Deregulierung führen dazu, dass Ethik etwa in der Ökonomie als Behinderung aufgefasst oder zurückgewiesen wird und verursachen auch tiefgreifende
Veränderungen im Verständnis von Streitkräften. Insbesondere in Europa
konstatieren viele nach Wegfall der direkten und klassischen Bedrohung einen
radikalen Bedeutungsverlust des Militärs im nunmehr „feindlosen Staat“ (Ulrich
Beck) und hinterfragen kritisch die Existenzberechtigung von Streitkräften
unter den neuen sicherheitspolitischen Umfeldbedingungen. Wie Max Weber
schon sagte, brechen vor allem in einem Zustand mangelnder unmittelbarer
Bedrohung von Außen die Widersprüche zwischen Militär und Demokratie
besonders hervor, sodass es zu einer Neuordnung des Verhältnisses kommen
muss: „Wenn der Staat das intime Verhältnis zur Gewalt verliert, dann muss
sich das Politische neu öffnen“.3
Ethik und militärische Führungsverantwortung
In meinem anderen, in dieser Publikation enthaltenen Aufsatz, habe ich den
ontologischen Zusammenhang zwischen menschlicher Existenz, Freiheit und
Verantwortung aufgezeigt und die wesentlich moralische Qualität des
Menschseins hingewiesen. Verantwortung erwies sich als eine im Sein selbst
angelegte, jedem Menschen aufgegebene Herausforderung.
2
3
Alasdair MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, New York 1987, S. 52-54.
Max Weber, Gesammelte Politische Schriften. 5. Auflage. Stuttgart 1988, S. 396.
121
Wenn dem so ist, so ist der Ort der Verantwortung überall – in der Familie, in
der Gemeinschaft, in Gesellschaft und Staat, vornehmlich im Beruf. Im Zusammenhang mit ethischer Unterweisung ist zu betonen, dass die Idee von
Erziehung und Bildung überhaupt wesentlich auf dem Gedanken beruht, zur
Wahrnehmung von Verantwortung zu befähigen. Nicht zuletzt daraus wird
erklärlich, dass Bildung und Erziehung, in diesem umfassenden Verständnis,
nicht nur die Dimensionen von Wissen und Können, sondern auch und insbesondere den sittlichen Aspekt der Tugend zu enthalten haben.
Verantwortung geht also dem Führen voraus, besteht bereits vor und unabhängig davon und ist jedem aufgegeben, bevor er noch in die Position des
Führens oder gar des militärischen Führens gelangt. Die besonderen Anforderungen an militärische Führung beruhen auf der speziellen Leistung, welche
Streitkräfte für das politische System, dem sie angehören, zu erbringen haben
und das sich, wie anderorts näher dargestellt, auf die Wahrung von Sicherheit
unter den Ausnahmefällen von bewaffneten Konflikten und Bedrohungen
größeren Umfanges als auch Beiträgen zu internationaler Friedensbewahrung
bzw. -wiederherstellung bezieht.
Mit Blick auf das militärische Führen hat der Kriegstheoretiker Clausewitz
bereits darauf hingewiesen, dass dieses eher kreativen denn rein technischwissenschaftlichen Charakter trägt.
„Nach alledem ergibt sich von selbst, dass es passender ist, Kriegskunst als
Kriegswissenschaft zu sagen“.4
In Vorbereitung dieses Diktums von der „Kriegskunst“ heißt es, dass „Wissen
zu Können“ werden muss und es daher
„die geistige Reaktion, die ewig wechselnde Gestalt der Dinge macht, dass der
Handelnde [...] fähig sein muss, überall und mit jedem Pulsschlag die Entscheidung aus sich selbst zu geben“.5
Nun könnte man unter Kriegskunst in einem modernen, zeitgemäßeren Verständnis die militärische Führungsfähigkeit unter den mannigfachen Bedingungen der komplexen Ausnahmesituation eines bewaffneten oder potentiell
bewaffneten Konfliktes verstehen. Aber genau darum geht es.
Ich erachte diese Handlungsanleitung, die uns Clausewitz für Bildung und
Lehre und vor allem militärisches Führungsverständnis gegeben hat, für aktueller denn je. Weder die Fähigkeit zur Bewältigung eines klassischen noch
eines modernen bewaffneten Konfliktes kann durch ein positives Lehrgebäude
allein herbeigeführt oder ersetzt werden, welches dem militärisch Handelnden
überall einen äußeren Anhalt, gleichsam eine technische Rezeptur, an die
4
5
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, München 1963, S. 66.
Ebenda.
122
Hand gäbe. Immer wieder wird der militärisch Führer in Situationen gelangen,
in denen er auf sein kreatives Talent verwiesen wird. Aus diesem Grund sollte
die Theorie eher Betrachtung denn dogmatische Lehre sein und muss durch
das, was im Sinne von Clausewitz als „hervorbringendes Können“ zu bezeichnen wäre, ergänzt und ermöglicht werden.
Dies gilt umsomehr für die Ethik. Die Geschichte der Ethik, ihre Theorien und
Modelle, die sich in der Geistesgeschichte auffinden lassen, können erlernt
und reflektiert werden. Ethisches Verhalten aber, das in informiertem ethischen Bewusstsein gründet, ist und kann nicht das Ergebnis eines ständigen
Räsonnierens über den Kategorischen Imperativ oder philosophischer Konzeptionen von Gerechtigkeit und Tapferkeit sein; vielmehr muss eine innere
Disposition, eine Inklination des Willens, anerzogen und ständig genährt und
kultiviert werden.
Ethikvermittlung in Theorie und Praxis – Forschungsprojekt Berufsethische Bildung
Im Sinne des hier dargestellten Zuganges zu militärethischer Bildung habe ich
als seinerzeitiger Leiter des Instituts für Human- und Sozialwissenschaften an
der Landesverteidigungsakademie Wien ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Thema „Berufsethische Bildung im Österreichischen Bundesheer
(ÖBH)“ initiiert und durchgeführt, das hier in seinen wesentlichen Grundzügen
und strukturellen Ergebnissen zur Darstellung gebracht werden soll.6 Es sollte
durchaus geeignet sein, gewisse Anregungen für die Gestaltung
militärethsicher Bildungsmaßnahmen zu geben als auch Rückschlüsse für
zukünftige Kooperationen gestatten.
Das Forschungsprojekt nahm seinen Ausgang von dem seit dem Jahr 2000 im
österreichischen Verteidigungsressort verfolgten Schwerpunkt zur „Militärischen Ethik“ (Military Ethics), mit dem auf die steigende Bedeutung ethischer
Kompetenz für Führungskräfte reagiert wurde. Diese Orientierung innerhalb
des Ressorts war einerseits von den aktuellen Entwicklungen, andererseits
von den international vorangetriebenen Bemühungen der Landesverteidigungsakademie im Bereich der ethischen Bildung ausgelöst worden. Bereits
im Jahr 2000 hatten wir mit dem im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden
6
Mein besonderer Dank und meine Anerkennung gelten hier Oberst des höheren militärfachlichen Dienstes Mag. Andreas Kastberger, der sich damals, meinem Institut dienstzugeteilt, um
dieses Projekt besonders bemüht gemacht hat und dem wesentlicher Anteil an der Qualität und
dem Gelingen dieses Projekts zukommt. ObstdhmfD Mag. Kastberger dient als Referatsleiter für
Pädagogik, Lehrgangsleiter und verantwortlicher Redakteur der akademieinternen Schriftenreihe
an der Heeresunteroffiziersakademie in Enns, Oberösterreich.
123
angebotenen Civil-Military Relations Seminar IV „Ethics and International
Politics“ (Buchpublikation, Literas Verlag Wien) begonnen, die Frage von Ethik
und Politik und die moralphilosophisch relevanten Aspekte des Einsatzes
politisch-militärischer Gewalt zu behandeln und den Führungskräften in einem
internationalen Umfeld zugänglich zu machen. Mit dem im Jahr 2002 abgehaltenen Civil-Military Relations Seminar VI „Military Ethics I“ wurde dann begonnen, eine Transformation der ethischen Reflexion von der Makro- auf die Mikroebene angewandter militärischer Ethik durchzuführen, die mit dem im November 2004 mit dem siebenten Seminar in der Reihe zum Thema „Military
Ethics II – (Military) Leadership in a Postmodern Age“ fortgesetzt wurde.
Gleichsam parallel wurde das Forschungsprojekt zur Berufsethischen Bildung
(BeB) auf interdisziplinäre Weise und unter Einbindung der beiden Hauptkonfessionen der Militärseelsorge im ÖBH vorangetrieben, mit dem Ziel, dem
Bildungsangebot des ÖBH in diesem Gegenstandsbereich eine stringente und
aufbauende Systematik zu verleihen.
Nach Festlegung des Projektteams wurden die Curricula der Aus- und Fortbildungslehrgänge der Offiziersausbildung des ÖBH7 überprüft, wobei sich herausstellte, dass
- es in der Aus- sowie Fort- und Weiterbildung für den Berufskader und die
Führungskräfte des Bundesheeres in vielen (aber nicht allen!) Lehrgängen
curricular verankerte Lehrveranstaltungen zum Themenfeld einer soldatischen
Berufsethik gab;
- es der militärischen Berufsethik einer thematischen Systematik ebenso wie
einer konzertierten, operativ-taktischen Umsetzung im Gesamtzusammenhang
des Bildungsmanagement für die Führungskräfte des ÖBH mangelt.
Aus dieser Ist-Bestandsaufnahme ergab sich die zwingende Notwendigkeit,
die Berufsethische Bildung (BeB) strukturell wie inhaltlich den komplexen
Führungserfordernissen in einem internationalisierten sicherheitspolitischen
Umfeld anzupassen und dem für den Berufsvollzug österreichischer Soldaten
in der Zukunft immer relevanter werdenden politisch-militärethischen Bildungsaspekt mehr Kontur zu verleihen.
Als nächste Ausgangsbasis für die Strukturierung der BeB wurde ein berufsethisches Qualifikationsprofil entworfen, welches
7
Dabei erfolgte eine Konzentration auf jene Lehrgänge, welche der unmittelbaren Vorbereitung
auf Führungsfunktionen bzw. der Weiterbildung akademischen Personals dienen. Konkret wurden die herangezogen: der Fachhochschul-Diplomstudienlehrgang „Militärische Führung“ (Offiziersgrundausbildung an der Miilitärakademie); die Führungslehrgänge 1/ 2 und 3 (Offiziersfortbildung an der Landesverteidigungsakademie; der Intendanzlehrgang (Bildungslehrgang für Juristen); der Grundausbildungslehrgang (Bildungslehrgang für Offiziere des höheren militärfachlichen Dienstes).
124
- in einer Richtzielformulierung den ethisch-moralischen Anspruch an den
Beruf des Offiziers beschreibt; und
- die Grobziele für die ethische Bildung von Offizieren mit Führungsfunktionen
in Abstimmung auf bereits bestehende Qualifikationserfordernisse ausformuliert.
Berufsethisches Qualifikationsprofil für den Berufsoffizier
Richtziel
Der Offizier des Österreichischen Bundesheeres hat als Kommandant oder
Stabsmitglied die mit seiner Funktion als Exekutivorgan im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols verbundene ethisch-moralische Verantwortung, in deren
Mittelpunkt der Wert der Person und die Achtung der Menschenwürde stehen,
wahrzunehmen.
Diese Verantwortung erwächst aus der humanistischen und christlich-abendländischen Denktradition und verpflichtet den Offizier, ihr sowohl unter Friedens- als
auch unter Einsatzbedingungen in jeder Beziehung und zu jeder Zeit gerecht zu
werden. Das Berufsethos des Offiziers soll darüber hinaus in seinem persönlichen
Verhalten und gesellschaftlichen Wirken sichtbar werden.
Grobziele
Das militärische Bildungswesen soll den Offizier in der Entwicklung und Herausbildung seines Berufsethos unterstützen und fördern. Die BeB trägt im Besonderen dazu bei, dem Offizier vor allem nachstehende Kompetenzen zu vermitteln:
Offiziere sollen
- in die Lage versetzt werden, ihr Handeln generell in einem umfassenderen Zusammenhang zu sehen;
- die Fähigkeit erwerben und/oder festigen, ihr eigenes Fühlen, Denken und Handeln zu reflektieren;
- einen Gesamtüberblick zu Fragen der Ethik und Moral unter besonderer Berücksichtigung der Erfordernisse des militärischen Berufsvollzugs im Europa des angehenden 21. Jahrhunderts erhalten und aktualisieren;
- sich mit den wichtigsten rechtlichen und organisatorischen Bestimmungen vom
Humanitären Völkerrecht bis zur Allgemeinen Dienstvorschrift auseinandersetzen
und die moralischen Aspekte daraus im Berufsvollzug umsetzen;
- befähigt werden, eigenständig und verantwortungsbewusst moralische Entscheidungen zu treffen und diese nachhaltig vertreten zu können;
- eine klare Zielvorstellung für ihr Verhalten im beruflichen Handlungsfeld insgesamt und bei spezifischen Auftragserfüllungen im Besonderen entwickeln;
- angeregt werden, die öffentliche Diskussion über einschlägige ethische Fragen
zu verfolgen und gegebenenfalls auf kompetente Weise daran teilzunehmen.
Als nächsten Schritt wurden moralisch-ethische Kernthemen für die Berufsethische Bildung in einer aufbauenden Systemtik erstellt (die etwa von Gewissen und Verantwortung, Freiheit, Disziplin, Treue, Gerechtigkeit bis hin zu
Krieg/Frieden, Ehre, Pflicht, etc. reichen). Diese Kernthemen wurden dann den
philosophisch-wissenschaftlichen Disziplinen und Kernthemen zugeordnet und
125
schließlich in Lehrveranstaltungsziele und zur Erreichung erforderliche Zeitansätze im Sinne einer Soll-Darstellung übersetzt. Das Ganze wurde ergänzt
durch didaktisch-methodische und taxonomische Überlegungen, die für die
gewählten Kriterien zu berücksichtigen waren bzw. sind.8
Das Projekt zur BeB berührte ausdrücklich nicht die Bestimmungen für die
konfessionelle Ethikbildung im Österreichischen Bundesheer. Allerdings wurde
die zu fordernde Koordinierung der philosophisch-wissenschaftlichen und
religiös-konfessionellen militärethischen Bemühungen durch die Art der Zusammensetzung des Projektteams berücksichtigt. Synergieeffekte mit den
Vertretern der beiden wesentlichen Konfessionen im Rahmen der Militärseelsorge wurden durch die Einbeziehung von Experten des Militärordinariats des
Militärbischofsamtes und der Evangelischen Superintendentur in das Forschungsprojektteam erzielt.
Für die fachliche Gesamtkoordinierung der curricular verankerten Berufsethischen Bildung in den Lehrgängen und Kursen wird die Einrichtung eines
Steuerungskomitees an der Landesverteidigungsakademie als der höchsten
Forschungs- und Lehreinrichtung des Österreichischen Bundesheeres vorgeschlagen.
In dieses Gremium sollen alle für die Ethikbildung unmittelbar umsetzungsrelevanten Dienststellen des Bundesheeres eingebunden werden.
Diese Koordinierungseinrichtung sollte
- für die wissenschaftliche Fundierung der curricular verankerten Ethikschulungen und deren institutionsübergreifende Gesamtkoordinierung verantwortlich zeichnen;
- als Kommunikationsforum die Abstimmung der gesamten ethischen Bildung
für das (Berufs)Kaderpersonal im Bundesheer vornehmen, einschließlich laufender Aktualisierung gemäß der sich in den nationalen und internationalen
Beziehungen ergebenden moralphilosophischen Fragestellungen und ethischen Herausforderungen sicherstellen;
- den Einsatz des seitens der kurs- oder seminarführenden Dienststellen vorgesehenen Lehrpersonals aus fachlicher Sicht beurteilen und Empfehlungen
abgeben.
- über die in den standardisierten Curricula enthaltene Berufsethische Bildung
hinaus spezielle Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen anregen;
- die Planungen für alle weiteren Offizierslehrgänge sowie die ethische Bildung
der Unteroffiziere und die Kurse und Schulungen des Milizkaders in einem
weiterführenden Projekt gewährleisten.
8
Für nähere Details dazu können sich Interessenten an ObstdhmfD Mag. Andreas Kastberger
unter ([email protected]) wenden.
126
Die Ergebnisse des gegenständlichen Forschungsprojektes und deren Umsetzung bis zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrages trugen dazu bei, die
Aus- und Fortbildung der Offiziere des ÖBH im Bereich einer berufsbezogenen
Ethik sinnvoller zu strukturieren und zu einer systematisch-aufbauenden Methodik zu verhelfen.
Darüber hinaus wurde bzw. wird dadurch dem internationalen Schwergewicht
der ethischen Bildung von Führungspersonal im Rahmen der Professional
Military Education (PME) auch im Bildungsmanagement des Österreichischen
Bundesheeres entsprochen.
Abschlussbetrachtungen
Eine entsprechende Organsiation der berufsethischen Bildung ist für die
Herausbildung eines adäquaten ethischen Bewusstseins und einer autonomen
moralisch-sittlichen Urteilsfähigkeit – als Grundlage und Voraussetzung der
sozialen und menschlichen Kompetenz von militärischen Führungskräften aller
Ebenen – unerlässlich.
Abgesehen von der nach Innen gerichteten berufsethischen Orientierung sind
unsere militärischen Lebenswelten gefordert, sich postmodernen gesellschaftspolitischen Realitäten zu stellen und ihren Wert und Nutzen sowie ihre
spezifischen Ziele, Aufgaben und Organisationskulturen einem politischen und
gesellschaftlichen Umfeld zu vermitteln, das potenziell dazu neigt, das Ideal
einer zukünftigen staatlichen wie globalen Ordnung allein auf ökonomische
und demokratische Prinzipien reduzieren zu wollen, und daher den Zielen und
Aufgaben der Streitkräfte nicht immer das nötige Interesse und die erforderliche Aufmerksamkeit entgegenbringt.
Ich erachte nach wie vor als vielleicht grundlegendste Diskursherausforderung
zwischen Militär und Gesellschaft – ungeachtet der einschneidenden sicherheitspolitischen Veränderungen – die Kernfrage nach der Moralität und sittlichen Legitimität von militärischer Friedenssicherung. Die Forderung nach
gewaltfreier Friedensgestaltung auf der einen Seite, der Einsatz politischmilitärischer Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung und zur Deeskalation von
Konflikten auf der anderen birgt Inkompatibilitätsprobleme und ethische Ambivalenzen in sich, die einer Lösung bedürfen, die nur diskursiver Natur sein
kann.
Hier sehe ich aber eine große Chance für die Streitkräfte. Sind die Herausforderungen für die Streitkräfte in postmodernen Gesellschaften auch mannigfach, so bieten sie doch gleichzeitig außergewöhnliche Möglichkeiten, ein
neues Vertrauensverhältnis zwischen Streitkräften und Gesellschaft zu begründen.
127
Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Streitkräfte neben einer inneren
Selbstfindung in ihren Außenbeziehungen gegenüber Politik und Gesellschaft
einen adäquaten Gebrauch von den Chancen machen, die ihnen von den
neuen Bedingungen des sicherheitspolitischen und gesellschaftspolitischen
Umfeldes geboten werden.
128
Thomas Schirrmacher
Zur Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD)
1. Darstellung
Einleitung
Georg Lind1 (geboren 1947) ist Psychologieprofessor an der Universität Konstanz und durch seine Beiträge zur Moralentwicklung von Kindern bis zu jungen Erwachsenen in Weiterentwicklung der Sicht Lawrence Kohlbergs und
ihre praktisch-pädagogische Umsetzung durch die Konstanzer Methode der
Dilemma-Diskussion (KMDD) bekannt.2
„Die KMDD kann in allen Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen eingesetzt
werden. Sie fand Eingang in Schulen, Hochschulen, berufliche Weiterbildung,
Streitkräfte, Gefängnisse und Altersheime im In- und Ausland.“3 Die KMDD
wird vor allem in weiterbildenden Schulen, aber eben auch in so unterschiedlichen Einrichtungen wie im Justizvollzug4 oder in der Sozialarbeit angewendet. In Baden-Württemberg werden Biologielehrer für das Projekt Bioethik mit
der KMDD vertraut gemacht. Außerhalb Europas wurden 100 Lehrer in einem
Distrikt Kolumbiens ausgebildet, das Bildungsministerium empfiehlt das Programm allen Lehrern des Landes. In Mexiko haben Universitäten ihre Ethikprofessoren in der KMDD ausbilden lassen, vor allem Medizinethiker 5. Eine
polnische Universität nimmt die KMDD in ihr Ausbildungsprogramm auf.6
2007 erteilte die Bundeswehr Lind den Auftrag, ihre für Ausbildung aller Art
Verantwortlichen, gleich ob Offiziere, Psychologen oder Militärgeistliche zu
1
S. www.uni-konstanz.de/ag-moral/ und de.wikipedia.org/wiki/Georg_Lind. Alle Webseiten wurden zuletzt eingesehen am 22.4.2011.
2 S. www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm.
3 http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm.
4 Vgl. Kay Hemmerling, Matthias Scharlipp, Georg Lind: Die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion für die Bildungsarbeit mit Riskiogruppen, S. 303-311 in: Klaus Mayer, Huldreich Schildknecht: Dissozialität, Delinquenz, Kriminalität: Ein Handbuch für die interdisziplinäre Arbeit, Zürich:
Schulthess: 2009.
5 S. z. B. http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/pdf/Hernandez-2005_Medicine-Professionalism_short.pdf.
6 Alles nach Eigenangaben Linds. Die aktuellste Zusammenstellung fand ich in Georg Lind: Die
Förderung moralisch-demokratischer Kompetenzen mit der Konstanzer Methode der DilemmaDiskussion, S. 285-301 in: Brigitte Latzko (Hg.): Moralische Entwicklung und Erziehung in Kindheit
und Adoleszenz, Göttingen: Hogrefe: 2010, 288.
129
KMDD-Lehrern fortzubilden. Es war eine Diskussion im Anschluss meines
Vortrages zur Ethikausbildung in der Bundeswehr in der Akademie für Kommunikation der Bundeswehr in Strausberg,7 die mich anregte, mich der Thematik einmal grundsätzlicher anzunehmen.
In der Praxis sind sog. Dilemma-Stunden8 das Hauptwerkzeug der KMDD. Als
optimale Länge für eine Dilemma-Stunde gibt Lind 80-100 Minuten vor. In den
ersten 15 Minuten wird das Dilemma erläutert, dann folgen 15 Minuten mit
Probeabstimmung und Gruppenbildung. Anschließend werden in jedem Meinungslager kleine Gruppen von 3-4 Teilnehmern gebildet, die ihre Gründe
austauschen. Dann folgt 40 Minuten lang eine Plenumsdiskussion nach Erläuterung der Diskussionsregeln für das Argumente-Ping-Pong, bei dem jeder
Redner den nächsten aufruft. Dann bringt jede Gruppe 10 Minuten lang ihre
Argumente in eine Rangreihe. Für die Schlussabstimmung und für einige
Nachfragen sind je 5 Minuten vorgesehen.
Grundlagen
Linds beide Hauptwerke tragen einen ähnlichen Titel. Das allgemeinere
heißt ‚Moral ist lehrbar‘9, das eher wissenschaftlich Begründende heißt ‚Ist
Moral lehrbar?‘10. Daneben sind einige neuere Aufsätze von Bedeutung.11
Grundlegend ist Linds Überzeugung, dass eine moralische Handlung als
Ausfluss moralischer Entscheidungen nicht statisch durch die Kenntnis moralischer Positionen entsteht, sondern durch den bewussten Diskurs zwischen verschiedenen moralischen Möglichkeiten anlässlich einer konkreten
Situation. „Wo wir von moralischer Urteilsfähigkeit sprechen, meinen wir
daher immer eigentlich auch moralische Diskursfähigkeit.“ 12
“Sicherheitspolitische Expertenrunde der Informationsarbeit ‘Umsetzung der Ethischen Ausund Weiterbildung in der Informationsarbeit der Bundeswehr’ vom 18. bis zu 20. März 2009 an
der AIK Strausberg“, s. auch http://www.bucer.eu/bq.html, dort BQ Nr. 96 = 12/2009 „Bundeswehr braucht Ethiker“.
8 Siehe die Tabelle mit dem „Ablaufschema“ in Georg Lind: Moral ist lehrbar, EGS-Texte, München: Oldenbourg, 20092, S. 83-84.
9 Lind: Moral ist lehrbar. In dieser 2. Auflage finden sich einige kleinere, aber wesentliche Änderungen der KMDD, s. 149-158.
10 Georg Lind: Ist Moral lehrbar? Ergebnisse der modernen moralpsychologischen Forschung,
Berlin: Logos, 20022.
11 Die neuesten gedruckten Veröffentlichungen sind: Georg Lind (Hg.): Moral Judgements and
Social Education, New Brunswick (NJ): Transaction, 2010; Lind: Förderung; Hemmerling, Scharlipp, Lind: Methode; vgl. auch Georg Lind: Gewissen lernen? Zur Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion, S. 101-112 in: Anton A. Bucher (Hg.): Moral, Religion, Politik: Psychologischpädagogische Zugänge. Berlin: Lit, 2007.
12 Lind: Moral ist lehrbar, 19 (kursiv ausgelassen).
7
130
Die Konstanzer Dilemma-Methode baut grundsätzlich auf dem moralischen
Stufenentwicklungsschema von Lawrence Kohlberg13 und Moshe Blatt14 auf
(auf das unten noch ausführlicher eingegangen wird), ändert dessen praktische Umsetzung aber ab. Durch die kontrollierte Konfrontation mit Dilemmasituationen von angeleiteten Gruppen entstand ein Verfahren zur vertieften
Diskussion und Reflexion moralischer Konflikte.
Es sind vor allem zwei Kritikpunkte an der Blatt-Kohlberg-Methode, die Lind
vorbringt.15 Zum ersten geht die moralische Entwicklung nicht einfach automatisch die sechs Stufen von unten nach oben, sondern kann vor und zurück
gehen.16 Zum zweiten führt die Gesprächsmethode Kohlbergs aufgrund ihres
autoritativen Elements in der Bewertung und Einstufung der Beiträge nicht zu
einer Entwicklung der moralischen Fähigkeiten von innen heraus,17 was Lind
besser gelöst zu haben meint.
Gegen die kognitive Entwicklungstheorie der Moral nach Jean Piaget und
Kohlberg und die ihr entgegengesetzte Sozialisationstheorie stellt Lind daher
die Bildungstheorie als dritten Weg der Erziehung.18 Nach ihr stagniert die
Entwicklung des moralischen Urteilsvermögens, wenn sie nicht durch Bildung
stimuliert wird. Die Bildungstheorie fußt dabei auf der kognitiven Entwicklungstheorie, ändert diese aber an entscheidenden Punkten. Die Sozialisationstheorie gilt dagegen für Lind als eindeutig widerlegt.19
13
Bes. ebd., 46-47.
Moshe Blatt, Doktorand Kohlbergs, fügte zu Kohlbergs Methode den sogenannten ‚BlattEffekt‘ hinzu, vgl. Detlef Garz: Lawrence Kohlberg: Zur Einführung, Hamburg: Junius, 1996,
132-134. Neu in der Pädagogik war auch Kohlbergs und Blatts Sicht, wie sich das moralische
Urteil entwickelt, wobei zwei Festlegungen zentral waren: 1. nur ein kognitiver Konflikt lässt ein
Kind höherstufige Urteile entwickeln; 2. moralische Aussagen und Urteile lassen ein Kind nur
dann ein höherstufiges Urteil entwicklen, wenn diese Urteile von einer höheren Stufe her kommen.
15 Siehe die bereits frühe Auseinandersetzung mit Kohlberg in: Georg Lind, Jürgen Raschert (Hg.).
Moralische Urteilsfähigkeit: Eine Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg. Weinheim: Beltz,
1987. Zur Kritik Linds an Kohlberg vgl. Helga Scheibenpflug: Die höchste Stufe der Moral: Adäquate Beschreibung anhand des Stufenmodells der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg unter
Weiterführung der Kritik der praktischen Vernunft Immanuel Kants, Kovač: Hamburg, 2007, 102106, 268-269, allgemein zu Kritikern Kohlbergs 87-119.
16 Lind: Förderung, 289; vgl. zu Kohlbergs Fixierung der Reihenfolge Alexander Schimmel:
Die Theorie der Entwicklung des religiösen Urteils (Fritz Oser & Paul Gmünder): Darstellung
und Diskussion eines multidisziplinären Ansatzes, Saarbrücken: VDM Verlag Müller, 2008,
12-13 und William Crain: Theories of Development, Englewood Cliffs (NJ): Prentice Hall,
19923, 143-144.
17 So bes. in Lind: Förderung, 286.
18 Siehe vor allem die Habilitationsschrift Georg Lind: Eine sozialpsychologische Untersuchung zur
Veränderbarkeit der moralischen Urteilsfähigkeit durch Bildungsprozesse, Habilitationsschrift Katholische Universität Eichholz. Konstanz, 1992.
19 Lind: Ist Moral lehrbar?, 18-21, 251.
14
131
Lind folgt daneben eigenständig Jürgen Habermas, John Dewey und anderen
Größen des Konstruktivismus sowie der kommunikativen Ethik von Habermas
und der Diskursmethode von Fritz Oser20.
Den Konstruktivismus sieht Lind vor allem in zweierlei Hinsicht als Vorgabe für
seine Methode. 1. Lernen geschieht von innen heraus21 (Die Welt muss von
jedem aktiv konstruiert werden). 2. Es gibt immer mehrere unterschiedliche
Wahrnehmungen eines Dilemmas, nicht nur unterschiedliche Meinungen
darüber, wie man es lösen soll.22
Lind hat die Grundlagen seiner Sicht in verschiedenen Veröffentlichungen
unterschiedlich zusammengestellt und nummeriert. In ‚Ist Moral lehrbar?‘ sieht
das so aus:23
1. „Die Lösung moralischer Probleme hängt tatsächlich in ähnlicher Weise von
erworbenen Fähigkeiten (und nicht nur von der richtigen Einstellung oder
Motivation) ab, wie die Lösung anderer Arten von Handlungsproblemen.“24
Vorsätze und Wollen allein reichen nicht aus, um moralisch zu handeln.
2. Moralische Fähigkeiten und moralische Einstellungen sind keine zwei getrennte Komponenten, sondern Aspekte derselben Sache. So kann man die
kognitiven und die affektiven Aspekte des moralischen Verhaltens zwar unterscheiden, aber nicht trennen.
3. Für die Pädagogik bedeutet das, dass Lehrer und Eltern nicht einfach vor
der Alternative stehen, ihren Kindern keine moralischen Vorgaben zu machen
oder sie zu indoktrinieren, sondern vielmehr ihre moralische Kompetenz insgesamt fördern muss.
An anderer Stelle heißt es bei Lind: „Die theoretischen Grundlagen bilden die
Zwei-Aspekte-Theorie des moralischen Verhaltens und die Bildungstheorie der
Moralentwicklung.“25 Dazu kommen vier praktische Grundlagen für die
KMDD26:
1. Das Prinzip der „Gleichwürdigkeit“ aller an der Diskussion Beteiligten;
2. Das Prinzip des Lernens als „Konstruktion“;
Fritz Oser, Moralisches Urteil in Gruppen – Soziales Handeln – Verteilungsgerechtigkeit: Stufen
der interaktiven Entwicklung und ihre erzieherische Stimulation, Frankfurt: Suhrkamp, 1981; Fritz
Oser, Maria Spychiger: Lernen ist schmerzhaft: Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis
der Fehlerkultur, Weinheim: Beltz, 2005; Roland Reichenbach, Fritz Oser (Hg.): Die Psychologisierung der Pädagogik: Übel, Notwendigkeit oder Fehldiagnose, Weinheim: Juventa, 2002; über Oser:
Schimmel: Theorie.
21 Hemmerling, Scharlipp, Lind: Methode, 304.
22 Ebd., 305.
23 Georg Lind: Ist Moral lehrbar?, 11-12, 65.
24 Ebd., 11.
25 Lind: Förderung, 285.
26 Ebd., 292-294; ähnlich, aber ohne den 4. Punkt, in Lind: Moral ist lehrbar, 12-155.
20
132
3. Das Prinzip der “Affektregulation”: Moralische Affekte sind die Basis jedes
moralischen Verhaltens, oft aber auch ein Hindernis für gewaltfreie, vernünftige Lösungen;
4. Das Prinzip der selbstbestimmten Kursevaluation – ständige Kontrolle der
Methode.
Überprüft
Fast die gesamte zahlreiche Literatur zur KMDD stammt entweder von Lind
selbst – beginnend mit seiner Dissertation von 198527 – oder er ist Mitautor
bzw. Mitinitiator. Die Bücher und Aufsätze überschneiden sich inhaltlich sehr
stark, textmäßig relativ stark. Es gibt leider kaum unabhängige Literatur über
die KMDD.28 Lind zitiert vor allem Studien, an denen er beteiligt war oder die er
mit initiiert hat, die allerdings seit Anfang der 1980er Jahre auch eine beeindruckende Zahl und Themenbreite umfassen.
Immer verweist Lind darauf: „Die KMDD ist eine der wenigen Unterrichtsmethoden, die experimentell überprüft wurden und von der wir wissen (und nicht
nur vermuten), dass sie sehr wirksam ist ...“29
Getrübt wird die Begeisterung dadurch, dass viele der Überprüfungen mit dem
ebenfalls von Lind und in enger Verbindung zur KMDD-Methode entwickelten
Moralischen-Urteil-Test (MUT) durchgeführt werden, also manches, was bewiesen werden soll, bereits voraussetzen. Schaut man die von Lind selbst
zusammengestellten und vorgetragenen Studien durch30, so sind sie durchaus
beeindruckend, aber nur selten wirklich unabhängig erstellt. Dazu gehört vor
allem eine thailändische Studie. Lind schreibt dazu:
„Die hohe Effektivität der Konstanzer Methode wurde inzwischen in einem sorgfältig angelegten Interventions-Experiment mit Hochschulstudenten in Thailand bestätigt, bei der die Teilnehmer nach Zufall auf die Experimental- und die Kontrollgruppe aufgeteilt wurden (Lerkiatbundit et al., 2006).“31
27
Georg Lind: Inhalt und Struktur des moralischen Urteilens: Theoretische, methodologische und
empirische Untersuchung zur Urteils- und Demokratiekompetenz bei Studierenden, Diss. Universität Konstanz, 1984. neu gesetzte Online-Neuauflage, 2000. http://www.uni-konstanz.de/psychologie/ag-moral/pdf/Lind-1985_Inhalt-und-Struktur.pdf.
28 Unveröffentlicht ist Ingo Wetter: Die Frage der Messbarkeit moralischer Urteilsfähigkeit: Die
Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion, Vortrag an der Akademie für Information und Kommunikation der Bundesweher in Strausberg am 26.9.2006 (unveröffentlichtes Manuskript), das ich
mit freundlicher Genehmigung des Verfassers verwende.
29 Lind: Moral ist lehrbar, 155 (im Anhang zur 2. Auflage, mit Belegen), auch unter http://www.unikonstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm.
30 In Grafiken zusammengestellt in Georg Lind: How Effective is the Konstanz Method of Dilemma
Diskussion (KMDD)?. Powerpoint-Präsentation mit Grafiken ca. 2010. http://www.comitenorte.org.mx/ciudadania/docs/taller3/6_kmdd_effectsize.pdf.
31 Lind: Moral ist lehrbar, 155 (im Anhang zur 2. Auflage, mit Belegen), auch unter http://www.uni-
133
Bildung
Lind stellt fest: „Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Befundlage eindeutig ist: Umfang und Qualität der Allgemeinbildung zeigen den stärksten Zusammenhang mit dem Niveau der moralischen Urteilsfähigkeit. Das gilt unabhängig von der Untersuchungsmethode.“32
Lind fragt dann aber, warum Menschen mit viel Bildung oft moralisch überfordert oder gar kriminell sind. Erstens, so Lind, seien moralische Anforderungen
und Versuchungen bei gebildeten Menschen größer, was sie oft mit komplexeren moralischen Problemen konfrontiert. Zweitens sieht Lind einen Unterschied aufgrund der Qualität der Bildung. Er schreibt:
„Natürlich fördert auch Bildung generell die moralisch-demokratischen Fähigkeiten
..., wenn auch meist im geringeren Maße als dies mit Methoden wie der KMDD
möglich ist. Neue Studien zeigen aber, dass nicht jede Art von Bildung förderlich
ist, sondern nur qualitativ hochwertige Bildung dazu in der Lage ist. Ein guter Indikator für die Qualität von Bildung sind die Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion, die sie den Lernenden bietet ...“ 33
Wenn auch Allgemeinbildung „die moralisch-demokratischen Fähigkeiten“
fördert, so gilt dies doch eigentlich nur für „eine qualitativ hochwertige Bildung,
zu der vor allem die kontinuierlichen und balancierten Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und angeleiteten Reflexion“ gehören.34
2. Zur Beurteilung, vor allem aus säkularer Sicht
Nicht nur, sondern auch
Eine Kernaussage Linds lautet:
„Ein reifes moralisch-demokratisches Verhalten hängt nicht nur von den moralischen Idealen und Vorsätzen einer Person ab, sondern auch oder vor allem von
ihrer Fähigkeit, diese Ideale im Alltag konsistent und differenziert anzuwenden.“ 35
Dieser Aussage kann man nur voll und ganz zustimmen. Das für mich zentrale
Problem bei der KMDD ist allerdings, dass oft aus dem „nicht nur ... sondern
auch“ (also Werte/Ideale einerseits und deren Anwendung andererseits) zunächst ein „vor allem“ (Anwendung) und schließlich ein ‚nur‘ wird, insofern es
konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm, zu Sanguan Lerkiatbundit u. a. Impact of the Konstanz
method of dilemma discussion on moral judgment in allied health students: a randomized controlled study. Journal of allied Health 35 (2006): 101-108 (bei Lind falsch zitiert).
32 Lind: Moral ist lehrbar, 121-122.
33 Lind: Förderung, 295.
34 Alles ebd., 295.
35 Lind: Moral ist lehrbar, 18.
134
eigentlich gar keine Rolle mehr spielt, welche Werte angewandt werden beziehungsweise der Gedanke fehlt, dass es grundsätzliche und unantastbare
Werte und dass es Unwerte gibt. (Darauf, dass Lind in Form der Demokratie
und ihrer Werte – etwa der privaten Gewaltlosigkeit – doch stark Werte voraussetzt, wird unten näher eingegangen.)
Man könnte es auch anders formulieren – und hier spricht natürlich der Ethiker
in mir: Bei aller Wichtigkeit, die ein Psychologe dem psychologischen Prozess
der ethischen Entscheidungsbildung einräumt und von der zu lernen ist, droht
die Gefahr, dass Ethik ein rein psychologischer Prozess wird, der mit juristisch,
philosophisch oder theologisch begründbaren und herleitbaren Inhalten immer
weniger zu tun hat.
So heißt es dann: Das zentrale Problem Heranwachsender ist „der Mangel an
Fähigkeit ... moralische Werte und Prinzipien im Alltag richtig anzuwenden“36.
Richtig ist, dass es hier um ein großes Problem geht und die KMDD eine gute
Übungsmethode darstellt. Aber das ‚zentrale‘ Problem der Heranwachsenden
heute ist nicht nur, dass ihnen die Fähigkeit zur Anwendung fehlt, sondern
dass sie oft gar keine bewussten und gesicherten Werte mehr zum Anwenden
haben. Nun führt dann sicher die fehlende Anwendungsübung dazu, auch
keine Werte mehr an- und ernstzunehmen. Und die Anwendungsübung hilft
oft, den Jugendlichen ihr Manko bewusst zu machen oder verschüttete Werte
neu zu entdecken oder sich erstmals überhaupt für bestimmte Werte zu interessieren und zu entscheiden.
Aber wer Jugendliche zu moralisch urteilenden Bürgern in einer Demokratie
erziehen will, braucht beides: Das Erklären und Herleiten von Werten und
Unwerten, das Schmackhaftmachen von Werten in Gespräch und Diskussion,
und dann auch das Einüben ihrer Anwendung.
„Lind kritisiert, dass er die Erfahrung gemacht hat, dass viele Kinder und Jugendliche in ihrem Leben noch nie mit irgend jemandem über ihre Probleme
gesprochen haben. Die Eltern geben auf Nachfrage an, mit den Gesprächswünschen der Kinder überfordert zu sein.“37 Das ist natürlich von Lind richtig
beobachtet, aber auch hier geht es nicht nur (natürlich auch!) darum, dass die
Eltern die Entscheidungswege nicht vermitteln oder diskutieren, sondern dass
sie oft selbst nur ein schwimmendes Wertefundament haben, sich nicht trauen, ihre Werte als ‚besser‘ darzulegen oder vorhandene, vergleichsweise
stabile Werte, nicht als Vorbilder vorleben.
Miteinander moralische Fälle zu diskutieren, fehlt allerorten, vor allem aber
auch im Elternhaus. Auch im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen sollten
36
37
Ebd., 18-19.
Wetter: Messbarkeit.
135
sowohl 1. fiktive Situationen, als auch 2. reale Fälle in der Umwelt, von denen
man selbst nicht betroffen ist, und 3. solche aus dem eigenen Leben diskutiert
werden. Solche Diskussionen sind wichtig, damit die Kinder und Jugendliche
ihren eigenen Wertekanon entwickeln und/oder den der Eltern aus eigener
Anschauung und Überzeugung annehmen und auf ihre Weise umsetzen. Und
solche Diskussionen können auch dann weiter hilfreich sein, wenn sich der
Wertekanon der Eltern und der der Kinder auseinandergelebt haben.
Ob das aber wirklich alles ist? Müssen Eltern nicht auch einen Wertekanon
besitzen, erklären, herleiten, verteidigen, vorleben, aber auch im Gespräch
deutlich machen, wie schwer es manchmal sein kann, ihn umzusetzen?38
Im Übrigen: Man kann auch viel Moral anwenden und einüben und weil es die
falsche Moral ist, trotzdem Schaden anrichten. Um es überspitzt zu formulieren: Ein Einüben von Dilemmasituationen hätte unter SS-Angehörigen im KZ
wohl kaum etwas geändert, da ein Unrechtbewusstsein weitgehend fehlte,
zumal natürlich eine eigenständige Meinung bei der SS sowieso nicht vorgesehen war. Auch im Dritten Reich wurde ja viel moralisiert und moralisch ‚angewandt‘39, von den Herrschenden ebenso wie von ihren Gegnern, etwa in den
USA. Wer ‚recht‘ hatte, konnte man nicht an der Menge des Moralisierens
erkennen.
Natürlich ist das genau das Gegenteil von dem, was Lind erreichen möchte,
wie seine Parteinahme für Demokratie und Gewaltlosigkeit immer wieder deutlich machen. Aber kann man wirklich Moral erlernen, wenn man an der Diskussion über die Inhalte der Moral, wie sie Philosophie und Theologie seit
Jahrhunderten führen, weitgehend vorbei geht, zumindest in der Methodenund der Zielvorgabe?
Wählen wir als Beispiel direkt die Gewaltlosigkeit. Gilt sie grenzenlos? Gibt es
nicht eine Ethik der Gewalt, die etwa für das Gewaltmonopol des Staates zum
Schutze aller tragend ist? Kann Gewaltlosigkeit nicht auch in bestimmten
Situationen unmoralisch sein?40 Müßte es nicht gerade auch Thema der
Dilemmadiskussionen sein, in welchen Situationen Gewaltlosigkeit, ja sogar
demokratische Abstimmungsverfahren, anderen Menschen schaden? Und
kann man in Dilemmadiskussionen Gewaltlosigkeit vorgeben, wenn man
diskutiert, wie man auf Gewalt reagieren soll, die einem ungefragt entgegentritt?
38
Vgl. Thomas Schirrmacher: Moderne Väter, Holzgerlingen: Hänssler, 2007.
Siehe Thomas Schirrmacher: Hitlers Kriegsreligion, Bonn: VKW, 2007, Bd. 1.
40 S. dazu Edwin R. Micewski. Grenzen der Gewalt – Grenzen der Gewaltlosigkeit: Zur Begründung der Gewaltproblematik im Kontext philosophischer Ethik und politischer Philosophie. Studien
zur Verteidigungspädagogik, Militärwissenschaft und Sicherheitspolitik 4. Frankfurt: Peter Lang,
1998 und Edwin R. Micewski. „Ethics and Politics“. S. 1-17 in: ders. u. a. (Hg.). Ethik und internationale Politik: Ethics and International Politics. Wien: Literas, 2001.
39
136
Noch ein Beispiel für die Gefahr, dass aus dem sowohl/als auch ein ‚nur‘ wird.
Lind schreibt:
„Der Wunsch, moralisch zu handeln, setzt also mehr voraus als moralische Ideale
und Werte. Er setzt auch Fähigkeiten voraus, diese Ideale in konkreten Situationen konsistent und differenziert anzuwenden, also auch, selbst darüber nachzudenken, wie ein Dilemma gelöst werden kann, und mit anderen über die Lösung
zu beraten und zu streiten. Wir nennen diese Fähigkeiten moralischdemokratische Fähigkeiten.“41
Ja, diese Fähigkeiten sind unverzichtbar, aber sie sind eben doch nur das
„mehr ... als moralische Ideale“, setzen also weiterhin bestimmte moralische
Ideale voraus!
Die KMDD setzt doch einen Wertekanon voraus
Meines Erachtens setzt die KMDD trotz aller Beteuerungen, sie setze keine
bestimmte Moral voraus und sei nicht an bestimmten fixen moralischen Werten interessiert, vor allem die in einer westlichen demokratischen Gesellschaft
bei fast allen intuitiv vorhandene Mischung von jüdisch-christlichen mit aufklärerisch-humanistischen Werten voraus, wie sie für viele Länder typisch ist,
wenn auch nicht für alle. Funktioniert die KMDD auch bei einer Gruppe von
Selbstmordattentätern, deren Werte vom Islamismus bestimmt sind? Oder
führt hier die Dilemmadiskussion nicht dazu, Verbrechern zu helfen, bessere
Verbrecher zu werden? (Ich lasse mich aber gerne durch weitere Studien
eines Besseren belehren.)
Oder anders gesagt: Die KMDD setzt viel mehr ethische Inhalte und Ideale
voraus, als sie offiziell zugibt. Ihr Erfolg ist nicht nur der Methode geschuldet,
sondern auch, weil sie von Lind und anderen genutzt wird, um eine friedliche,
demokratische, an Menschenwürde und Recht orientierte Gesellschaft zu
propagieren. Denn Lind geht es darum, die „Fähigkeit, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten durch Abwägen und vernünftigen Diskurs mit anderen zu lösen statt durch Gewalt und Machtausübung“42.
Das wird etwa deutlich, wenn Lind schreibt:
„Moral, Demokratie und Erziehung sind eng miteinander verbunden. Moderne
Demokratien gründen auf der Vorstellung, dass das Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft nicht von Königen oder Tyrannen geregelt wird,
sondern von den Menschen selbst auf der Basis von moralischen Prinzipien,
denen sich alle verpflichtet wissen. Demokratie ist im Kern eine moralische Institution. Umgekehrt ist die moderne Moral demokratisch. Sie ist kein willfähriges
Instrument in der Hand einer herrschenden Klasse, wie dies noch in Begriffen
41
42
http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm.
Hemmerling, Scharlipp, Lind: Methode, 303.
137
wie Sexualmoral, moralische Mehrheit und Doppelmoral herausklingt. Vielmehr
stellen moralische Prinzipien die von allen akzeptierbare Grundlage für die Möglichkeit von gewaltfreien, verständigungsorientierten und gerechten Konfliktlösungen dar.“43
Demokratie beruht für Lind „auf moralischen Prinzipien und Verfahren, wie
Konflikte zu regeln und zu entscheiden sind“44. Nun sind dies dann ja meines
Erachtens genauso moralische Inhalte wie eine bestimmte Sicht von Familie
oder Wirtschaft. Zudem geht es etwa im Grundgesetz gerade nicht nur um
Prinzipien und Verfahren, sondern um konkrete Inhalte und Ideale, deren
Schutz diese Prinzipien und Verfahren dienen, die somit kein Selbstzweck
sind. Es sind die sog. ‚Ewigkeitswerte‘ des Grundgesetzes, also die selbst vom
Parlament nicht änderbaren Abschnitte zur Menschenwürde und zu zentralen
Menschenrechten, die das Verfahren ‚Demokratie‘ verteidigen soll und – gemäß historischer Erfahrung – auch am besten verteidigen kann. Demokratie ist
kein Wert in sich, sondern der beste Weg, grundlegende Werte zu schützen,
wie etwa den Minderheitenschutz, der mathematisch dem Mehrheitsprinzip
widerspricht, aber eben wertemäßig über dem Mehrheitsprinzip steht.45
Bei Linds Werten finden sich nur ‚moralische Prinzipien und Verfahren‘ wie
etwa „Achtung vor der Würde des Menschen, Rechtsstaatlichkeit, soziale
Gerechtigkeit sowie die Freiheit der Meinung und der politischen Verantwortung u. a. m.“46 Nur: Ist das nicht bereits eine vorgegebene Moral? Soziale
Gerechtigkeit ist doch kein reines Prinzip oder Verfahren, sondern zuerst ein
eindeutiger Wert!
Und ist nicht auch das Ziel, eigenständig von innen heraus für das Gute zu
entscheiden und einzutreten, auch bereits ein Wertekanon in sich, den längst
nicht alle Kulturen und Weltanschauungen teilen?
Und warum soll man gerade diese Prinzipien und nicht andere, ja ihnen entgegengesetzte, vorgeben? Wo kommen sie her und wie werden sie begründet? Und: Wieso stehen sie nicht auch zur Diskussion und zur Disposition? Ja
sind die Prinzipien und Verfahren nicht selbst Werte und werden damit bestimmte (und begrüßenswerte!) Werte fix vorgegeben. Warum wird nicht diskutiert, warum andere Werte nicht ebenso wert wären, vorab genannt oder
eingebaut zu werden?
43
Lind: Moral ist lehrbar, 31 (mit Verweisen auf Bücher von Habermas und Kohlberg).
www.uni-konstanz.de/ag_moral/moral/dildisk-d.htm.
45 Vgl. ausführlicher Thomas Schirrmacher, Ethik, Bd. 6, Hamburg: RVB, 20115. S. 56-172; Thomas Schirrmacher. Demokratie und christliche Ethik. Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu
Das Parlament) 14/2009 (30.3.2009): 21-26, auch unter http://www1.bpb.de/publikationen/N6VK9L,0,Demokratie_und_christliche_Ethik.html; Christianity and Democracy. International Journal for
Religious Freedom 2 (2009) 2: 73-86.
46 Lind: Moral ist lehrbar, 42.
44
138
Wählen wir ein Beispiel: Lind beruft sich auf Immanuel Kant, nachdem die
Moralität einer Handlung nicht existiert, wenn sie ‚zufällig‘ mit göttlichen
Geboten übereinstimmt, sondern nur, wenn sie aus guten Motiven entspringt.47 Das hat sicher eine gewisse Berechtigung, aber ist 1. für sich natürlich ein eigenes Wertesystem, das erst einmal diskutiert werden müsste,
und 2. eine nur auf den Einzelnen bezogene Aussage, da aus der Sicht des
Anderen die gute Handlung aus ‚schlechten‘ Motiven (er schlägt mich nicht,
weil er Angst vor einer Strafe hat) besser ist, als eine schlechte Handlung
aus ‚guten‘ Motiven (er schlägt mich, weil er meint, damit der Gerechtigkeit
zu dienen oder einen erzieherischen Erfolg erzielen zu können).
Kein fixer Wertekanon, aber Demokratie?
Nun sagt Lind zwar, dass es in einer Demokratie keinen fixen Wertekanon
geben könne und die KMDD nur wünsche, dass jeder seine Werte in den
Diskurs mit einbringt. Und tatsächlich ist es begrüßenswert, dass die KMDD
immer wieder betont, jeder Teilnehmer solle nur das vertreten, was seiner
Auffassung entspricht. In guter 68er Tradition lernten wir in der Schule noch
diskutieren, indem zwei Gruppen durch Abzählen gebildet wurden und man so
leicht etwas verteidigen lernen sollte, was der eigenen Auffassung widersprach.
„Der enge Zusammenhang von Moral, Bildung und Demokratie ...“48 ist für Lind
vorgegeben:
„Das Kernziel der KMDD ist es also, die moralischen Grundprinzipien der Demokratie im alltäglichen Leben (also auch im Lernprozess!) anzuwenden und dadurch
die Lernenden zur Anwendung der eigenen moralischen Prinzipien motivieren und
ihnen konkrete Verhaltensweisen zur Übung und Nachahmung anzubieten.“ 49
Ist das aber nicht ein klarer Wertekanon, der etwa von vielen muslimischen
Führern gerade andersherum gesehen wird? Lind wird hier sehr deutlich:
„Demokratie ist eine sehr anspruchsvolle moralische Idee darüber, wie Menschen
ihr Zusammenleben regeln und gestalten sollen. In der Demokratie beruht die
Macht nicht auf Personen (wie der König im Königreich und der Tyrann in der Diktatur), sondern auf moralischen Prinzipien und Verfahren, wie Konflikte zu regeln
und zu entscheiden sind. Bestimmte Menschen (Politiker, Richter etc.) erhalten
den Auftrag, sich in besonderer Weise um die Einhaltung und Interpretation dieser
Prinzipien zu kümmern, aber diese Menschen müssen dafür durch direkte oder
indirekte Wahl legitimiert sein. Sie können sich diese Macht nicht selbst aneignen
oder von einer religiösen Instanz übertragen lassen. Recht und Ordnung in einer
47
48
49
Ebd., 34.
Lind: Ist Moral lehrbar?, 265.
http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm.
139
Demokratie werden auf der Grundlage universeller moralischer Prinzipien durch
einen freien Diskurs aller Mitglieder einer Gesellschaft bestimmt und beruhen nicht
auf Willkürentscheidungen eines Machtträgers. Konflikte werden nicht durch
Macht und Gewalt, sondern durch demokratisch bestimmte Gesetze und durch
den Diskurs freier Bürger zu lösen versucht.“50
Am deutlichsten wird das, wenn Lind unter Berufung auf die sechste und
höchste Stufe der Moralentwicklung bei Kohlberg und internationale Studien
mit seinem Moralisches-Urteil-Test, darauf verweist, dass ein weltweiter Konsens herrscht, dass sich Dilemmadiskussionen „an universalistischen Moralprinzipien orientieren“51 sollten.
Indoktrination
Wie Kohlberg siedelt Lind seine Methode zwischen moralischem Relativismus
und moralischer Indoktrination an. Kohlberg hat aber einfach jede Vermittlung
von Moral, in der ein Ergebnis von vorneherein für gut gehalten wurde, zur
Indoktrination erklärt. Lind diskutiert das nirgends direkt, aber die Argumentation scheint bei ihm auf dasselbe hinauszulaufen.
Hier müsste nun eine grundsätzliche Auseinandersetzung erfolgen, da es sich
um eine Kernfrage der Moralpsychologie handelt, die Lind außer acht lässt. Da
Kinder bei der Übernahme der Sprache, Kultur und Werte ihrer Vorfahren und
Umwelt bei aller selbstständigen Auseinandersetzung damit immer auch erhebliche Elemente einfach übernehmen oder variieren, ist die Frage auch eine
zentrale Frage nach der Kulturvermittlung überhaupt. Muss jeder Menschen
jeden Wert gewissermaßen von Null her neu erfinden oder ist es zulässig,
wenn er Werte übernimmt und allmählich zu seiner eigenen Sache macht?
„Indoktrination“ ist bei Kohlberg, wenn der Inhalt der Moralerziehung und ihre
Methode von der Absicht des Lehrers bestimmt sind.52
Ich behaupte, dass Kohlberg und Lind im Sinne ihrer eigenen Definition
Indoktrination betreiben, denn die Werte und Ziele, die sie erreichen wollen,
sind ja vorgegeben. Der Weg zur universellen Gerechtigkeit und Demokratie ist bei Lind ein subtiler, in einer pluralistischen Gesellschaft auch gangbarer und sinnvoller, aber es bleibt eine pädagogische Methode mit einem
Ziel, dass nicht die beteiligten Kinder und Jugendlichen vorgeben, sondern
die Pädagogen. (Diese pädagogsiche Methode wird ja sogar den KMDD
50
Ebd.
Lind: Förderung, 289.
52 So in Lawrence Kohlberg: Stages of Moral Development as a Basis for Moral Education. S. 1598 in: Brenda Munsey (Hg.): Moral Development, Moral Education, and Kohlberg: Basic Issues in
Philosophy, Psychology, Religion, and Education, Birmingham (AL): Religious Education Press,
1980. S. 27.
51
140
Lehrenden vorgegeben, die nur dann die KMDD unterrichten dürfen, wenn
sie bestimmte Kurse belegt und die Methode übernommen haben.)
Indoktrination bei Kohlberg scheint automatisch stattgefunden zu haben, wenn
ein Kind moralische Werte und Entscheidungen übernimmt, die seine Erzieher
teilen und gelehrt haben. Da die moralischen Sichtweisen in dieser Welt aber
nicht Legion sind, endet fast jeder von uns bei Einstellungen und Entscheidungen, die andere vor ihm gehabt haben.
Indoktrination liegt aber meines Erachtens nicht vor, wenn ich moralische
Einstellungen und Positionen gelehrt bekomme, dann in Auseinandersetzung
mit anderen Positionen diskutiere, raffiniere, in der Praxis teste und schließlich
zu meiner aus mir selbst heraus gewollten Position mache.
Das genau ist etwa die christliche Sicht.53 Paulus will etwa, dass wir den göttlichen Geboten (etwa den Zehn Geboten) nicht als Sklaven folgen, ja noch
nicht einmal als Kinder, sondern als reife Erben aus eigenen Stücken (z. B.
Gal 4,1-7). Von Jesus wird gesagt, er habe immer seinem Vater gehorcht,
aber immer aus völlig freien Stücken gehandelt (Joh 10,11+17-18; Phil 2,8;
Hebr 9,14). Dass ist das christliche Idealbild: Die reife Persönlichkeit, die das
in Gott verkörperte Gute und Gerechte tut, nicht weil sie muss, sondern weil
sie aus tiefer eigener Überzeugung will, nicht, weil sie Angst vor Strafe hat,
sondern weil sie es an sich für das Beste für alle hält (z. B. Röm 13,5).
Exkurs: Stufen der moralischen Entwicklung nach Kohlberg
„Die Kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteils von Lawrence Kohlberg54 basiert unter anderem auf John Rawls moralphilosophischer Gerechtigkeitstheorie55 und stellt eine Weiterentwicklung von Jean Piagets Theorie der Moralentwicklung dar. Konzeptionell baut Kohlbergs Theorie auf Jean Piagets Entwicklungsmodell der kognitiven Entwicklung auf.56 Lawrence Kohlbergs Theorie
der Entwicklung des Moralbewusstseins beim Menschen beruht auf seiner Dissertation (1958), ihr folgte eine beinahe 30 Jahre laufende Längsschnittstudie.
53
Die beste Darstellung zur Indoktrination ist: Elmer John Thiessen: Teaching for Commitment:
Liberal Education, Indoctrination and Christian Nurture, Montreal: McGill-Queen’s University Press,
1993.
54 Vgl. zu Kohlberg grundsätzlich Brenda Munsey (Hg.): Moral Development, Moral Education, and
Kohlberg: Basic Issues in Philosophy, Psychology, Religion, and Education, Birmingham (AL):
Religious Education Press, 1980; Detlef Garz: Sozialpsychologische Entwicklungstheorien: Von
Mead, Piaget und Kohlberg bis zur Gegenwart, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwiss., 20063, bes.
S. 88-115; Garz: Kohlberg.
55 Vgl. zu John Rawls Theorie der Gerechtigkeit Dwight Boyd: The Rawls Connection. S. 185-213
in: Brenda Munsey (Hg.): Moral Development, Moral Education, and Kohlberg: Basic Issues in
Philosophy, Psychology, Religion, and Education, Birmingham (AL): Religious Education Press,
1980.
56 Zu Piaget vgl. Crain: Theories, 100-133 und Garz: Entwicklungstheorien.
141
Zeit seines Lebens hat Kohlberg an seiner Theorie der moralischen Urteilsentwicklung gearbeitet und sie beständig revidiert und erweitert. Die Theorie geht
davon aus, dass sich das Moralbewusstsein beim Menschen stufenweise in immer derselben Reihenfolge entwickelt, wobei nicht alle Menschen die höheren
Stufen des Moralbewusstseins erreichen.“ 57
Die Stufen Kohlbergs sind philosophisch von ihm vorgegeben und dann erst
im Nachhinein empirisch belegt worden, allerdings auch nur bis zur 4. oder 5.
Stufe. Das hat Kohlberg selbst immer wieder deutlich gesagt.58
Kohlberg wollte aus empirisch-psychologischen und anthropologischen Daten
philosophische Aussagen herleiten und Philosophie benutzen, um solche
Daten zu definieren und zu interpretieren.59
Kohlberg selbst gibt an, in 50 Kulturen Stufen 1 bis 4 gefunden zu haben, die
5. Stufe aber nur im städtischen Umfeld.60 Die tatsächlich nachvollziehbaren
Studien beziehen sich auf weniger Kulturen.61 Hauptbeleg dafür, dass die 5.
und 6. Stufe kein Produkt westlicher Ideologien ist, waren für Kohlberg Kibbuze in Israel.62 Das ist wenig überzeugend, denn die Grundideen der Kibbuze
wurden schon in Europa und von europäischen Einwanderern nach Israel
entwickelt.
Ulf Peltzer hat die neun moralphilosophischen Grundannahmen Kohlbergs
kurz zusammengestellt63 und im Detail diskutiert und widerlegt.64 Mir geht es
dabei nicht um diese Details, sondern darum, dass wir keine rein empirische
Wissenschaft vor uns haben, sondern eine philosophisch-weltanschauliche
Vorgabe, die dann im Rahmen eng begrenzter Vorgaben empirische Bestätigung findet.
57
http://www.d-stift.de/_Stufentheorie_des_moralischen_Verhaltens_8927,de (1.4.2011).
Vgl. Lawrence Kohlberg: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Suhrkamp: Frankfurt am Main,
1974; Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, Suhrkamp: Frankfurt am
Main, 1996; Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Lebensspanne, Suhrkamp: Frankfurt am
Main, 2007. Eine gute Darstellung der Stufen findet sich Schimmel, Theorie, 31-34.
58 Z. B. Lawrence Kohlberg: My Personal Search for Universal Morality. Moral Education Forum 11
(1986) 1: 4-10; Deutsch: Meine persönliche Suche nach universeller Moral. S. 21-30 in: Lisa
Kuhmerker, Uwe Gielen, Richard L. Hayes (Hg.): Lawrence Kohlberg, München: Kindt, 1996;
Lawrence Kohlberg: Stages of Moral Development as a Basis for Moral Education. S. 15-98 in:
Brenda Munsey (Hg.): Moral Development, Moral Education, and Kohlberg: Basic Issues in Philosophy, Pyschology, Religion, and Education, Birmingham (AL): Religious Education Press, 1980,
56-62, siehe auch seine Definition von Gerechtigkeit 62-66.
59 Lisa Kuhmerker, Uwe Gielen, Richard L. Hayes (Hg.): Lawrence Kohlberg, München: Kindt,
1996. S. 11 (Hg.).
60 Kohlberg, Personal Search, S. 28. Vgl. zu Taiwan Kohlberg: Stages, 62-66.
61 Siehe Garz: Kohlberg, 94-100.
62 Dazu ebd., 99-100.
63 Ulf Peltzer: Lawrence Kohlbergs Theorie des moralischen Urteilens, Beiträge zur psychologischen Forschung 10, Köln: Westdeutscher Verlag, 1986, 32-33.
64 Ebd., 32-55.
142
Lawrence Kohlbergs sechs Stufen der moralischen Entwicklung65
Niveau A: Präkonventionelles Niveau (die meisten Kinder unter 9 Jahren)
Stufe 1: Die heteronome Stufe
Gut ist der blinde Gehorsam gegenüber Vorschriften und gegenüber Autorität, Strafen zu vermeiden und kein körperliches Leid zu erdulden
„Macht ist Recht!“ (eine den Nazis zugeschriebene Parole)
Stufe 2: Die Stufe des Individualismus, des Zweck-Mittel-Denkens und des Austauschs
Gut ist es, eigenen oder anderen Bedürfnissen zu dienen und im Sinne des konkreten Austauschs
fair miteinander umzugehen.
„Eine Hand wäscht die andere!“ (Volksweisheit)
Niveau B: Konventionelles Niveau (die meisten Jugendlichen und Erwachsenen)
Stufe 3: Die Stufe gegenseitiger interpersoneller Erwartungen, Beziehungen und interpersoneller
Konformität
Gut ist es, eine gute (nette) Rolle zu spielen, sich um andere zu kümmern, sich Partnern gegenüber loyal und zuverlässig zu verhalten und bereit zu sein, Regeln einzuhalten und Erwartungen
gerecht zu werden.
„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu!“ (Die Goldene Regel; vgl.
Lukas-Evangelium 6,31)
Stufe 4: Die Stufe des sozialen Systems und des verlorenen Gewissens
Gut ist es, seine Pflichten in der Gesellschaft zu erfüllen, die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten
und für die Wohlfahrt der Gesellschaft Sorge zu tragen.
„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ (aus der Bekanntmachung, die am 17. 10. 1805 nach der
Schlacht bei Jena an die Straßenecken Berlins angeschlagen wurde)
Niveau C: Postkonventionelles Niveau (einige Erwachsene über 20 Jahre)
Stufe 5: Die Stufe des Sozialvertrages oder des Nutzens für alle und der Rechte des Individuums
Gut ist es, die Grundrechte zu unterstützen sowie die grundsätzlichen Werte und Verträge einer
Gesellschaft, auch wenn sie mit den konkreten Regeln und Gesetzen eines gesellschaftlichen
Subsystems kollidieren.
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ (Art. 14
II GG)
Stufe 6: Die Stufe der universalen ethischen Prinzipien
Gut ist es, ethische Prinzipien als maßgebend zu betrachten, denen die ganze Menschheit folgen
sollte.
„Handle nur nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz wird!“
(Kants Kategorischer Imperativ)
Stufen der moralischen Entwicklung nach L. Kohlberg66
6 Orientierung an universal-ethischen Prinzipien
„Universelle und solidarische Sichtweise“
Moralisch richtig ist es, ethische Prinzipien zu achten, denen die ganze Menschheit folgen sollte.
65
Nach Werner Stangel, Fernuniversität Hagen, unter http://www.stangl-taller.at/arbeitsblaetter/moralischeentwicklung/KohlbergTabelle.shtml, jeweils in der Reihenfolge: Stufe – Definition –
exemplarische Maxime. Vgl. insgesamt die ausgezeichnete Seite der Fernuniversität Hagen, Kurs
Einführung in die Psychologie, Abschnitt „Die moralische Entwicklung“: http://www.stangl-taller.at/arbeitsblaetter/moralischeentwicklung/. Bei Kohlberg selbst: Lawrence Kohlberg: Stages, 91-96.
66 Freiheit! (L(i)eben!?, Ausgabe April2010, www.sembbsrp.de/uploads/media/Freiheit_L_i_ebenApril_2010_01.pdf.
143
5 Orientierung am Sozialvertrag
„Wir alle, auch ich“
Moralisch richtig ist es, alle Interessen abzuwägen und sich so zu entscheiden, dass man im Wohl
der Allgemeinheit handelt.
4 Orientierung an Autorität und Sozialordnung
„Ich, du und unsere Gruppe im sozialen Verbund“
Moralisch richtig ist es, wenn Juttas Recht auf Privatsphäre geschützt und die soziale Familienordnung aufrechterhalten wird.
3 Orientierung an Eintracht und Bezugsgruppe
„Ich und du und unsere Gruppe“
Die Privatsphäre des Kindes wird von den Eltern in den Blick genommen. Jedoch ist es moralisch
gerechtfertigt, wenn sie sich um ihr Kind kümmern und zuverlässig ihren Pflichten als Erziehungsberechtigte nachkommen.
2 Orientierung an Zweck und Austausch (Nutzen)
„Ich und der andere“
Moralisch richtig ist es, die Bedürfnisse des Kindes in den Blick zu nehmen und als Eltern ihrer
Sorge gerechterweise nachzukommen.
1 Orientierung an Strafe und Gehorsam
„Ich“
Als Erziehungsberechtigte haben die Eltern moralisch richtig gehandelt.
Zur sechsten Stufe
Lind behält im Prinzip die Stufen der moralischen Entwicklung Kohlbergs bei,
auch wenn er anders als Kohlberg ein Vor und Zurück für möglich hält und die
pädagogischen Mittel zum Aufstieg anders justiert. Dies wird vor allem daran
deutlich, dass die 6. Stufe der Entwicklung, wenn auch fast immer unerreicht,
trotzdem die zu erfüllende, ideale Vorgabe bleibt.
Erstaunlicherweise fehlt bei Lind weitgehend die Diskussion um diese Stufen
oder wenigstens ein Verweis auf die intensive literarische Diskussion dazu67.
Insbesondere fehlt eine Diskussion über die philosophischen Grundlagen der
Stufen.
So schreibt Joachim Detjen:
„Denn die Präskriptivität erhält die Theorie weniger dadurch, dass die jeweils
nächste Entwicklungsstufe als besser zu bezeichnen ist, weil sie eine höhere
kognitive Leistung ausdrückt, als vielmehr durch die analogisierende Parallelisierung der Entwicklung mit einer stufenweisen Annäherung an das, was die
philosophische Ethik gebietet. Jede Diagnose einer Entwicklungsstufe unterhalb
der sechsten drückt zumindest implizit eine negative Bewertung aus, denn sie
67
Vgl. als ein älteres und ein jüngeres Beispiel unter der nicht zu übersehenden Literatur zu
Kohlberg: Fritz Oser, Reinhard Franke, Otfried Höffe (Hg.): Transformation und Entwicklung:
Grundlagen der Moralerziehung; Frankfurt: Suhrkamp, 1986; Ulf Peltzer: Lawrence Kohlbergs
Theorie des moralischen Urteilens, Beiträge zur psychologischen Forschung 10. Köln: Westdeutscher Verlag, 1986; Garz, Entwicklungstheorien, 168-176.
144
verweist auf einen moralphilosophisch defizitären Status des vorgefundenen
Reflexionsniveaus ...“ 68
„Die Moralstufen 5 und 6 sind philosophische Konstrukte, und zwar stellen sie
eine Rezeption von Moralphilosophien dar, die im europäisch-amerikanischen
Kontext als modern gelten und im Diskurs westlicher Philosophen allgemein
anerkannt sind. Man könnte zugespitzt formulieren, dass sie dem Ideengut
des Rationalismus und Individualismus entspringen sowie politisch am Liberalismus orientiert sind, und Kohlberg folglich entgegenhalten, dass er für bestimmte Ideale wirbt, die kulturkreisgebunden und nicht, wie die Theorie behauptet, universell sind.“69
Auch William Crain hat nachgewiesen, dass Stufe 6 empirisch kaum von Stufe
5 zu unterscheiden ist, sondern eine philosophische Vorgabe im Gefolge von
Kant und Rawls darstellt, wie es sein sollte.70 Dazu nochmals Joachim Detjen:
„Kohlbergs philosophische Autoritäten für die Stufe 6 sind vor allem Immanuel
Kant, John Rawls und Kurt Baier. Entscheidend für diese Stufe ist, dass hier nach
universalen, für alle Menschen (die Menschheit) gültigen Prinzipien geurteilt werden muss. Kulturell Relatives darf folglich keine Rolle spielen. Diese Ausschließung macht die erwähnten Philosophen aufgrund ihres auf Verallgemeinerung von
Grundsätzen und Maximen zielenden sowie auf die Festlegung eines inhaltlich
Guten weitgehend verzichtenden Denkens attraktiv. Kants Autonomieforderung
und kategorischer Imperativ, Rawls’ Gerechtigkeit als Ergebnis einer fairen Entscheidung unter Ungewissheitsbedingungen und Baiers auf Unparteilichkeit setzender Standpunkt der Moral erfüllen Kohlbergs Anforderungen für ein Moralurteil
auf der Stufe 6. ... Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Kohlberg sogar glaubt,
hiermit den pädagogischen Königsweg entdeckt zu haben. Denn er hält seinem
Erziehungsansatz zugute, den Gefahren anderer Werteerziehungskonzeptionen
zu entgehen, die entweder beim Wertrelativismus bzw. einem moralischen
Laissez-faire stehen bleiben oder eine Indoktrinierung der Schüler mit vorgefertigten Wertüberzeugungen und eine Erziehung zu einem, wie er sagt, willkürlichen
71
‚Bündel von Tugenden‘ vornehmen.“
Genau dies gilt auch für Lind. Auch er hält seinen Weg für eine Art goldenen
Mittelweg, der eine Festlegung auf konkrete Werte ebenso vermeidet, wie
68
Joachim Detjen. Werteerziehung im Politikunterricht mit Lawrence Kohlberg? Skeptische Anmerkungen zum Einsatz eines Klassikers der Moralpsychologie in der Politischen Bildung. S. 303335 in: Gotthard Breit, Siegfried Schiele (Hg.). Werte in der politischen Bildung. Schwalbach: Wochenschau-Verlag; Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2000, hier 307-308 Text unter
http://www.lpb-bw.de/publikationen/did_reihe/band22/detjen.htm und in Freiheit! (L(i)eben!? Unsere
Kultur der politischen Bildung, Ausgabe April2010, www.sembbsrp.de/uploads/media/Freiheit_L_i_eben-April_2010_01.pdf. S. 2-18.
69 Detjen: Werteerziehung, 308.
70 William Crain: Theories of Development. Englewood Cliffs (NJ): Prentice Hall, 19923. S. 134153, bes. S. 140-144.
71 Detjen, Werteerziehung, 309 und 311.
145
einen Werterelativismus. Ingo Wetter hat gar das Gefühl, dass Lind meint,
„einen allumfassenden Lösungsansatz für die Probleme der Menschheit gefunden“72 zu haben.
Es ist aber sowohl die Frage, ob das dazugehörige philosophisch-weltanschauliche Fundament wirklich universale Gültigkeit beanspruchen kann und
an sich schon ausreicht, um konkrete Wertesysteme wie das christliche, das
kantische oder das alevitische an sich aus dem Rennen zu werfen, als auch
die Frage, ob hier nicht einem Konstrukt nachgejagt wird, dass schon Kohlberg empirisch kaum feststellen konnte, noch andere je an konkreten Personen festgemacht haben. Ralf Gesellensetter schreibt dazu:
„Es wurde bereits erwähnt, daß empirische Untersuchungen Vertreter der
Stufe 6 in der Normalbevölkerung nicht nachweisen konnten. Auch der Utilitarismus ... verfolgt ein moralphilosophisches Ziel, das mit den durch Stufe 5
repräsentierten Merkmalen auskommt.“73
Gleichzeitig enthalten die Stufen der moralischen Entwicklung Kohlbergs und
Linds – wenn auch durch Kant, Habermas und andere vermittelt – einen
harten Kern christlich-abendländischer Auffassungen, indem Ethik überhaupt
an einem Ideal festgemacht wird, das die völlig freiwillig das Gute tuende und
dabei an das Wohl der gesamten Menschheit denkende Persönlichkeit als
Ideal schlechthin setzt. Ersetzt man etwa bei Thomas von Aquin Gott durch
‚das Gute‘ – und immerhin hält er ja Gott für den Guten bzw. das Gute
schlechthin –, erscheint bereits die Persönlichkeit, die das von Gott gegebene
Gute eigenständig mit dem Verstand erkennt und freiwillig tut, nicht weil sie
muss, sondern weil es gut ist.
Typisch und wesentlich offensichtlicher als bei Kohlberg und Lind wird dies bei
allen Autoren, die die sechste Stufe ausführlicher beschreiben oder begründen. Helga Scheibenpflug beschreibt etwa die sechste Stufe als das „Prinzip
Liebe“, wenn auch von Kant und Viktor Frankl her definiert.74 Hier ist zwar Gott
nicht mehr mit dem Urprinzip Liebe identisch, aber das Urprinzip wirkt wie eine
göttliche Größe als letztes Ideal weiter, ohne dass es dafür eine empirische
Begründung gibt.
Fritz Oser hat sich kritisch mit der 6. Stufe auseinandergesetzt75 und sieht
vor allem die letzten Stufen als eher philosophisch vorgegeben, denn als
72
Wetter: Messbarkeit, 4.
Ralf Gesellensetter: Moralentwicklung. http://www.stangl-taller.at/arbeitsblaetter/moralischeentwicklung/Gesellensetter.shtml#f13.
74 Helga Scheibenpflug: Die höchste Stufe der Moral: Adäquate Beschreibung anhand des Stufenmodells der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg unter Weiterführung der Kritik der praktischen Vernunft Immanuel Kants, Kovač: Hamburg, 2007, 213-220.
75 Oser: Moralisches Urteil in Gruppen, 337-342.
73
146
bewiesen an. Sie sind Teil eines „Theoriesystems, das die Stufen durch
philosophisch-logische Analysen der ethischen Urteile a priori konstruiert
und erst anschließend durch Empirire verifiziert.“76 Am deutlichsten sieht er
das in den Spekulationen Kohlbergs über eine 7. Stufe, eine Art pantheistischer Glaubensorientierung, in der universelle Prinzipien mit einer „ultimative
meaning“ des Lebens verbunden werden.77 Oser schreibt: „Ich glaube nicht,
daß Kohlberg mit dem Entwurf einer Stufe 7 die Lösung des Problems religiöser Implikationen im moralischen Urteil gelöst hat.“ 78 Oser sieht auch bei
der Neubestimmung einer 7. Stufe bei Jürgen Habermas den Vorrang philosophischer Wünsche vor der Empirie.79
Nur anwenden, nicht ändern?
Lind schreibt:
„Die Förderung moralischer Urteils- und Diskursfähigkeit steht im Mittelpunkt der
KMDD. Während andere Programme meist die Änderung moralischer Einstellungen, Werthaltungen und Denkweisen zum Gegenstand haben, geht es hier um
Fähigkeiten im Bereich des moralisch-demokratischen Verhaltens.“80
Zum einen ist zu sagen, dass die meisten Programme nicht die Änderung und
nicht die Anwendung, sondern rein die (theoretische) Vermittlung von Werten
oder Anweisungen zum Inhalt haben. Die Änderung kommt nur insofern ins
Spiel, als die Teilnehmer möglicherweise vorher andere Werte und Positionen
vertraten, zielt aber am meisten auf solche Teilnehmer ab, die zu vielen Fragen keine wirkliche Meinung haben oder – zumindest offiziell – den gelehrten
Wertekanon teilen oder eigentlich teilen müssten.
Zum anderen unterschätzt Lind meines Erachtens das Potenzial der KMDD
zur Änderung moralischer Einstellungen und Werte. Da viele Teilnehmer erstmals über die Konsequenzen ihrer Werte und Einstellungen nachdenken und
viele Teilnehmer ihre Werte erstmals der Kritik anderer aussetzen, ändern sie
sie oft auch bei dieser Gelegenheit. Das finde ich sehr positiv, nur wird dieser
Effekt von der KMDD selbst kaum beschrieben oder begrüßt.
Noch einmal: Das alles soll das Verdienst der KMDD nicht schmälern, darauf
zu verweisen, dass das reine Kennen und Vertreten von Werten noch nicht
dafür sorgt, dass man nach ihnen lebt und sie konkret anwenden kann. Ethik
muss immer das Einüben von Diskussion mit sich selbst, mit anderen und mit
der Gesellschaft beinhalten.
76
77
78
79
80
Ebd., 339.
Ebd., 340.
Ebd.
Zu Habermas ebd., 342-344.
www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm.
147
Lind verweist darauf, dass Experimente zeigen: Eine moralisch gute Entscheidung ist wahrscheinlicher, wenn man sich erstens auf Dilemma konzentriert
und zweitens Zeit für den Diskurs hat.81 Das kann ich nur aus meiner Erfahrung bestätigen.
Allerdings muss man einschränken: Erstens: Es gibt ja kaum andere Methoden
der ethischen Ausbildung zum Vergleich. Zweitens setzt das ja doch voraus,
dass man beurteilen kann, ob eine Entscheidung gut war oder nicht. Und drittens müssten die Experimente zur Frage ausgeweitet werden, ob die statistisch
häufigere gute ethische Entscheidung auch zu einem besseren Handeln führt.
Das ist natürlich unvergleichlich viel schwerer zu erforschen, wenn man sich
nicht allein auf Selbsteinschätzungen der Betroffenen verlassen will und zudem
wäre dazu ja auch der Vergleich zum bisherigen Leben und Verhalten der
Betroffenen nötig. Aber nur die Realität ist am Ende moralisch aussagekräftig.
Das Böse
Warum führen moralische Ideale nicht direkt zu moralisch gutem Handeln,
wie es Sokrates und Kant erhofften, fragt Lind immer wieder? Lind meint,
weil moralisches Handeln durch Durchspielen möglicher Situation und durch
Diskussion mit Andersdenkenden eingeübt werden muss. Ist das aber alles?
War das nicht auch für Sokrates und Kant selbstverständlich, die doch so
gerne diskutierten?
Die Kategorie, die Lind meines Erachtens völlig außer Acht lässt, auch wenn
sie seiner Aussage nicht entgegensteht, sondern sie komplementär ergänzt,
ist die Frage nach dem ‚Bösen‘ beziehungsweise nach der Motivation zum
Bösen. Warum lieben es manche Menschen, andere zu quälen, zu betrügen
oder gar zu töten? Warum gibt es Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Rassismus oder Sklaverei?
Wenn Menschen sich für etwas entscheiden, was anderen wirklich schadet,
scheint die Ursache nach der KMDD immer in der fehlenden Diskursfähigkeit
zu liegen oder darin, dass man in einer Minderheitensituation zu wenig Mut
aufbringt, oder aber auch einfach zu träge ist.
Dass Problem, dass der Mensch auch eine Motivation zum Bösen kennt, ja,
dass die KMDD – wie alles in dieser Welt – in der Hand von bösen Menschen
mit bösen Zielen ein Werkzeug sein könnte, um die Bosheit besser zu praktizieren, wird völlig ausgeblendet.
Paulus beschreibt das Dilemma klassisch in Röm 7,18-19+21: „Wollen habe
ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich
81
Lind: Moral ist lehrbar, 58.
148
will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. ... So
finde ich nun das Gesetz, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt.“ Das ist nicht ein nur von Christen dargestelltes Problem, sondern beschäftigt die gesamte Philosophie- und Ethikgeschichte.
Lind geht von der Annahme aus, dass kein Mensch grundsätzlich schlecht
geboren wird. Moralische Grundvorstellungen beim Menschen befinden sich,
unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialer Stellung, auf einem sehr ähnlichem Niveau.
„Aber man muss Moral so früh wie möglich lernen. Nur über den ständigen begleiteten Lernprozess kann die Fähigkeit trainiert werden, moralische Idealvorstellungen im Alltag zu leben. Es gilt die Kluft zwischen theoretischen Vorstellungen und
tatsächlichem Handeln zu überwinden.“82
3. Zur Beurteilung, vor allem aus christlicher Sicht
Gemeinsamkeiten von KMDD und christlicher Ethik
Fragen wir noch speziell nach dem Verhältnis der christlichen Ethik zur KMDD
– das im Abschnitt 2.5. ja schon anklang, wissend, dass ihre Absicht weder
eine Förderung noch eine Kritik der christlichen Ethik per se ist.
Die KMDD greift zum einen zentrale Elemente der christlichen Ethik in ihrer
Geschichte auf. Ja, ich möchte behaupten, dass sie nur in unserem ehemals
christlichen Kulturkreis entstehen und zur vollen Entfaltung kommen konnte,
was nicht bedeuten soll, sie sei nicht von jedem Menschen guten Willens
nachvollziehbar.
1. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik der Gedanke, dass die Frage,
wie ich wirklich entscheide und was ich wirklich tue viel wichtiger ist als die
Frage, welche Werte ich theoretisch vertrete. Er geht zu Recht davon aus,
dass die moralische Einstellung noch nichts darüber sage, wie man sich
tatsächlich entscheidet und wie man sich tatsächlich verhält. Das aber lehrt
bereits Paulus, etwa mehrfach im Römerbrief (Römer 2: Nicht die sind gerecht, die sich auf die Schrift berufen, sondern die sie tun; Römer 7: Ich will
das Gute, tue es aber nicht), und erläutert Jesus mit dem Gleichnis der beiden Söhne: Der eine stimmte seinem Vater zu und tat dann nie, was der
Vater wollte, der andere widersprach dem Vater, um dann aber später seine
Meinung zu ändern und doch den Wunsch des Vaters zu erfüllen. Letzterer,
so Jesus, hat trotz seines Widerspruchs am Ende besser gehandelt (Mt 21,
28-31).
82
Wetter: Messbarkeit, 1.
149
2. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik der Gedanke, dass Ethik eingeübt werden muss und nicht einfach darin besteht, bestimmte Werte am
grünen Tisch zu kennen. Denn „die Vollkommenen“ sind nach Hebr 5,14 die,
„die durch den Gebrauch geübte Sinne haben und deswegen Gutes und Böses unterscheiden können“ (ähnlich Eph 4,14). „Ethische Tugenden entstehen
nicht von selbst. Sie sind vielmehr das Produkt von ständiger Übung und Gewohnheit.“83
3. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik die Bedeutung der inneren
Motivation für unser moralisches Handeln und das Ziel, aus dem Gewissen
heraus moralisch zu handeln und deswegen zu wissen, warum man so handelt anstatt einfach ‚gehorsam‘, angepasst und denkfaul zu sein (siehe Römer
12,1-2). Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass es ein moralisches Reifen
des Kindes zum Jugendlichen und Erwachsenen gibt und das von einer reinen
Übernahme von vorgegebenen Geboten hin zu einer eigenständigen, unabhängigen Entscheidung (Hebr 5,11-14; Eph 4,13-14) führt.
Ein gutes Beispiel ist hier Paulus, der von Christen verlangt, dem Staat, wenn
er das Böse straft und das Gute schützt, nicht aus Angst vor Strafe wie andere
zu folgen (so unausweichlich der Staat ohne Strafe nicht bestehen kann),
„sondern um des Gewissens willen“ (Römer 13,5).
4. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik, dass es weltweit akzeptierte
universalistische Moralprinzipien gibt – siehe Linds Zitat oben. Ganz gleich, ob
man eher an das katholische „Naturrecht“, das protestantische, aus der Bibel
abgeleitete „Moralgesetz“ oder an grundsätzliche transzendentalphilosophischen Prinzipien nach Immanuel Kant denkt, für das christliche Abendland ist
dieser Gedanke tragend und war die Voraussetzung für den Siegeszug des
Menschenrechtsgedankens. Dabei wird vorausgesetzt, dass die offenbarte
oder metaphysisch begründete Moral mit einer jedermann vernünftig zugänglichen und diskutierbaren Moral identisch ist.84
5. Gemeinsam ist KMDD und christlicher Ethik der Gedanke des Dilemmas,
der in der Theologie jahrhundertelang unter dem Stichwort „Pflichtenkollision“
verhandelt wurde, den Lind so ausdrückt: „... wenn man in einem moralischen
Dilemma feststeckt, das heißt, wenn die moralischen Prinzipien, denen man
sich verpflichtet fühlt, einen in eine Zweckmühle bringen, in der man keine
andere Möglichkeit hat, als zumindest eines der Prinzipien zu übertreten.“85
83
Christian Walther: Im Auftrag für Freiheit und Frieden: Versuch einer Ethik für Soldaten der
Bundeswehr, Miles Verlag: Berlin, 2006. S. 77.
84 Allerdings darf ein solche universale Ethik nicht mit einer konkreten und kasuistisch-detaillierten
Vorgabe wie der islamischen Scharia verwechselt werde, siehe Christine Schirrmacher: Die Scharia, Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2009.
85 www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm.
150
Thomas von Aquin und viele andere wussten, dass der Kern der Ethik die
Fähigkeit ist, sich im Konfliktfall, der Pflichtenkollision, entscheiden zu können.
Es ist Lind zu danken, das wieder in den Mittelpunkt gerückt zu haben. Am
grünen Tisch entscheidet es sich immer einfach, weil man sich auf einen Unterschied, gewissermaßen den einen Schalter, konzentrieren kann. Es ist die
komplizierte Realität, die die unerwarteten ethischen Zwickmühlen hervorbringt, wobei man vorab lernen kann, mit diesen zu rechnen und Lösungsmöglichkeiten durchzuspielen.86
6. Lind hat viele Interventionsstudien miteinander verglichen und kommt zu
dem Ergebnis: Moralische Urteilsfähigkeit ist „sehr effektiv lehrbar“87. Die
christliche Ethik gibt ihm hier prinzipiell recht, geht sie doch davon aus, dass
Ethik grundsätzlich eine Frage der Lehre, der Erziehung, des Vorbildes und
des Anwendens und Auslebens ist (z. B. Timotheus 3,14-17). Das ist das
alttestamentliche Erziehungskonzept (verkörpert etwa im Buch der Sprüche),
das insbesondere Paulus übernommen hat.
Die Einschränkung, dass man den Hang zum Bösen nicht einfach durch Erziehung wegtherapieren kann, wurde bereits angesprochen, ändert aber nichts
daran, dass ethische Entscheidungsfähigkeit nicht einfach aus dem Nichts
entsteht.
7. Die christliche Ethik stimmt mit Lind überein, dass die Bildung in den westlichen Ländern sehr einseitig ist und nicht sichtbare Größen wie ethische Werte
vernachlässigt. „Es ist aber vor allem die einseitige Förderung technischwirtschaftlicher Bildung, die unsere Gesellschaft instabil macht ...“88
Unterschiede von KMDD und christlicher Ethik
Die KMDD weicht meines Erachtens hingegen von der Tradition der christlichen Ethik an sechs Punkten ab.
Das Böse
Zum einen ist es das Auslassen des Bösen als einer Macht, die uns auch
dann zu unmoralischen Handlungen verleitet, wenn wir eigentlich den richtigen
Weg kennen.
Die KMDD folgt hier der klassischen Sicht der Aufklärung, dass die Probleme des Menschen in der fehlenden Aufklärung allein liegen und deswegen
86
Vgl. meine Darstellung der Pflichtenkollision in der Bibel und der Geschichte der christlichen
Ethik in Thomas Schirrmacher: Ethik, Bd. 3, 60-76.
87 Lind: Moral ist lehrbar, 67.
88 Lind: Ist Moral lehrbar?, 261.
151
Bildung, Diskurs und vernünftige Entscheidung allein den Menschen aus
seinem Unheil befreien können. Nichts von alledem will die christliche Ethik
ausklammern, dennoch sieht sie es als erwiesen an, dass Menschen sich
auch dann oft immer noch für das Böse entscheiden und es mehr als vernünftiger Argumente bedarf, um den Menschen von der Neigung oder gar
Sucht zu befreien, sich und anderen zu schaden zuwollen.
Schuld und Verantwortung
Eng damit zusammen hängt, dass die KMDD die Frage der Verantwortung
des eigenen Handelns nicht aufwirft und damit die Frage der Schuld unbeachtet lässt. Nun würde Lind sicher sagen, dass das gar nicht sein Thema ist und
er den verschiedenen Wegen, Schuld zu definieren und mit Schuld umzugehen, demokratisch gegenüberstehe. Und wenn ein Teilnehmer der KMDD
seine diesbezügliche Sicht einbringe, können er das ruhig. Nur ist es eben
eine Vorentscheidung, diese Größen in die eigentliche Dilemmadiskussion gar
nicht erst einzubringen. Ingo Wetter schreibt dazu:
„Auch hilft die KMDD nur stark eingeschränkt beispielsweise bei der Frage
nach dem Selbstschutz von Soldaten bei einem Angriff durch ‚Zivilisten‘ (z. B.:
Terroristen, Frauen, Kindersoldaten). Das Dilemma ist nicht lösbar und der
Soldat muss auf sich allein gestellt mit der Möglichkeit einer falschen Entscheidung rechnen. Eine Schuld ist immer möglich und darauf gilt es ihn
bestmöglich vorzubereiten. Hier ist bei der KMDD kein Ansatz von Hilfestellung erkennbar, getroffene Fehlentscheidungen (Feuer auf Kindergarten/
Krankenhaus, aus dem heraus das Feuer auf den Konvoi eröffnet wird) zu
verarbeiten.“ 89
Political correctness
Wie wird ‚political correctness‘ verhindert? Sagen die Schüler wirklich ehrlich
ihre Meinung? Oder beten sie Versatzstücke aus Medien oder Schulhofdiskussionen nach? Werden Schüler in Dilemmadiskussionen wirklich Auffassungen wie Hass auf Türken oder Homosexuelle ansprechen? Und wird der Lehrer das wirklich immer kommentarlos laufen lassen, falls keine Mitschüler
heftig widersprechen?
Dasselbe gilt für die Gruppendynamik. Da die KMDD nur mit eigens ausgebildeten Lehrern arbeitet, wird das sicher berücksichtigt, trotzdem dürfte die
christliche Ethik die Neigung, in solchen Diskussion anderen nach dem
Mund zu reden oder aber zu provozieren, größer veranschlagen, als die
KMDD.
89
Wetter: Messbarkeit, 6.
152
Werteverfall
„Wir leben nicht in einer Welt des ‚Werte-Verfalls‘. Vielmehr wurde noch selten
so viel und so stark ‚moralisiert‘ wie heute.“90
Hier muss man sicher unterscheiden. Stellt man die Frage, ob heute Werte
fehlen, ist die Antwort richtig, dass noch nie so offiziell und inoffiziell moralisiert
wurde wie heute. Der Spiegel bietet wöchentlich hunderte moralinsaure Kommentare zu allem und nichts, Politiker überschlagen sich darin, ihre eigenen
Vorschläge als moralisch und die der Gegner als völlig unmoralisch darzustellen, und ein Militäreinsatz ohne ethisches Begleitfeuer aus Politik, Medien und
Kirchen ist heute nicht mehr denkbar. Nur ist diese Aussage banal, weil Menschen ohne Werte und ohne einen gewissen Wertekonsens nicht zusammen
leben können.
Wer von Werteverfall spricht, meint aber in der Regel nicht die Menge irgendwelcher Werte, sondern bestimmte Werte, die für ihn vorgegeben sind, wie
zum Beispiel Ehrlichkeit oder Opferbereitschaft für Kinder und Familie. Und da
gibt es natürlich immer Werte, die heute stärker als früher vorgegeben und
umgesetzt werden und andere, die im Vergleich zu früher im Verfall sind.
Das Ausmaß der Zwangsprostitution im Vergleich zu vor 50 Jahren hat unglaublich zugenommen und das ist ein Werteverfall.91 Zugleich geht die Gesellschaft vergleichsweise uninteressiert darüber hinweg. Fast jeder Mord wird
aufgeklärt, Zwangsprostitution – die ja immer Entführung, Freiheitsberaubung,
Vergewaltigung, Folter und Bildung krimineller Vereinigungen beinhaltet –
interessiert die große Masse kaum.
Messbarkeit?
Problematisch ist aus christlicher Sicht auch der Faktor, der die KMDD etwa
für die Bundeswehr, den Justizvollzug und andere staatliche Felder so interessant macht: Die Messbarkeit der Moral unabhängig davon, welche moralischen Werte jemand vertritt.
Der ‚Moralische-Urteil-Test‘ (MUT), der einen „Zielwert“ ermittelt, wurde für
wissenschaftliche Zwecke konzipiert, um Programme zu evaluieren, nicht zur
Individualdiagnostik.92 Trotzdem wird er nun doch verwandt, um zu belegen,
dass konkrete Gruppen, die die KMDD durchgeführt haben, moralische Fortschritte machen.
Messbar wird die moralische Urteilsfähigkeit mittels psychologischer Tests.
Innerhalb dieser wird das Diskussionsverhalten der Teilnehmer analysiert und
90
91
92
Lind: Moral ist lehrbar, 32.
Dazu Thomas Schirrmacher: Menschenhandel. Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2011.
Ebd., 49-52.
153
empirisch erfasst und die Art und Qualität ihrer Argumente und Gegenargumente auf bestimmte Fragestellungen erhoben. Lind vertritt die Meinung, dass
moralische Urteilsfähigkeit dann einsetzt, „wenn jemand bereit ist, verwerfliche
Argumente, auch wenn sie die eigene Entscheidung stützen, kritisch zu betrachten. Den Schlüssel zur Problemlösung sieht er darin, dass die Menschen
grundsätzlich in der Lage sein müssen, die Qualität von Argumenten unterscheiden zu können.93
Allheilmittel?
Schließlich muss aus christlicher Sicht noch der Optimismus kritisiert werden,
was man mit der KMDD alles erreichen könne. Die christliche Ethik, die sich in
ihren unterschiedlichen Varianten doch mit einem Wahrheitsanspruch verbindet, ist trotzdem wesentlich realistischer, was den Erfolg einer christlichen
Ethikerziehung betrifft. Vergebung und Versöhnung stehen so sehr im Mittelpunkt des christlichen Glaubens, weil das Handeln gegen die eigenen Prinzipien und gegen das Gute so ‚normal‘, das heißt allgegenwärtig ist und es dann
auch um die Frage gehen muss, wie der Mensch mit Gott, mit sich selbst und
mit anderen wieder ins Reine kommen kann. Ingo Wetter schreibt dazu:
„Bei der Beschäftigung mit der KMDD drängt sich einem das Gefühl auf, Lind hat,
ausgehend von der ursprünglichen Zielgruppe in Schulen, durch kontinuierliche
Entwicklung einen allumfassenden Lösungsansatz für die Probleme der Menschheit gefunden. Einem einfacher strukturierten Geist drängt sich die Frage nach einer Form von ‚Absolutheitsanspruch‘ auf, den Lind für seine Methode erheben
könnte. Es ist fraglich, ob es wirklich gelingen kann, nur die Qualität des besseren
Argumentes ‚gelten‘ zu lassen. Es gibt immer Fälle, in denen eine Güter-, Werteoder Interessenabwägung notwendig ist. Spätestens hier könnte die KMDD an ihre Grenzen stoßen. Absolute Werte, wie das Leben, die Menschenwürde oder
Menschenrechte sind quantitativ und qualitativ nicht diskussionsfähig. Lind könnte
mit der „‚Messbarkeit‘ der moralischen Urteilsfähigkeit eben diese unumstößlichen
Werte – sicherlich unbeabsichtigt – in der letzten Konsequenz hinterfragbar machen. Ein weiterer Punkt ist sein Ansatz, dass die Mehrheit der Menschen die selben moralischen Grundvorstellungen hat, ohne jedoch im Einzelnen darauf einzugehen. Moralische Werte werden unter anderem sehr stark religiös geprägt.“ 94
4. Exkurs: Sollte man die KMDD in der philosophischen und
theologischen Ethikausbildung einsetzen?
Als Methode ist KMDD sehr gut und angesichts des de-facto-Pluralismus in
unserer Umwelt unabhängig von etwaigen Unterschieden zur christlichen Sicht
93
94
Wetter: Messbarkeit, 1-2.
Ebd., 4.
154
vielerorts zu empfehlen, wenn man überhaupt noch Ethik diskutieren und
einbringen möchte.
Wie aber sieht es aus, wenn man von einem Wertefundament aus KMDD
einsetzen will oder KMDD nutzen will, um ein bestimmtes Wertefundament zu
vermitteln? Zum Beispiel im Fach Ethik eines Philosophie- oder Theologiestudiums?
Beginnen wir mit einer eher allgemeinen Diskussion und wenden uns erst
dann wieder KMDD zu.
Allgemeine Diskussion
Klaus Ebeling hat darauf verwiesen, dass „Ethik als Krisenmanagement“95
nicht ein „abgeschlossenes Spezialwissen über Werte und Normen“96, das
autoritativ vermittelt werden könnte, sondern gerade auch „ethische Erwägungskompetenz“97 ist. Ich würde ihm darin prinzipiell zustimmen, aber doch
den Gegensatz zwischen beidem in Frage stellen, ja kann noch nicht einmal
ersehen, ob er das will.98 Wo es keine grundlegenden Werte und Normen gibt,
von denen die Erwägungen ausgehen – und wenn man nur über den Prozess
der Entscheidung nachdenkt –, gibt es weder eine verbindliche Entscheidung
noch eine, die man anderen vermitteln kann. Gerade das aber will ja die Bundeswehr. Umgekehrt ist aber richtig, dass verbindliche Werte und Normen (wie
etwa die ersten Paragrafen des Grundgesetzes) für sich allein genommen
alltagsuntauglich sind und die Herausforderung des Lebens nicht ist, diese
Normen im entscheidenden Moment zu rezitieren, sondern in Krisen und komplizierten Lagen abwägend umzusetzen beziehungsweise unerreichbaren
Idealen doch so weit wie möglich nahezukommen.
Es gibt meines Erachtens eine Komplementarität der eher theoretischen Überlegungen, was denn ‚an sich‘ richtig und gut ist, und eher praktischer Einübung
von Verfahren und Wegen, wie man in konkreten Konflikten zu tragfähigen
Entscheidungen kommt.99
In meinem Buch ‚Führen in ethischer Verantwortung: Die drei Seiten jeder
Entscheidung‘100 versuche ich, deutlich zu machen, dass in den klassischen
Entwürfen der Theologie und Philosophie einander drei Seiten – normativ,
situativ und existenziell – komplementär ergänzen. Sie gehen davon aus, dass
95
Klaus Ebeling: Militär, 10-12 (Überschrift).
Ebd., 11.
97 Ebd., 12.
98 Ebd., 57, 65 spricht eher dagegen und für eine Komplementarität beider Aspekte.
99 Zur Methodik ethischer Urteilsbildung in Fallstudien vgl. Friedensethik im Einsatz, 357-362.
100 Thomas Schirrmacher: Führen in ethischer Verantwortung: Die drei Seiten jeder Entscheidung,
Brunnen: Gießen, 20082.
96
155
dem Menschen durch Normen und Gebote vorgegeben ist, wie er zu handeln
hat, der Mensch nur in der Situation erfassen kann, was das Beste ist, oder
aber die ethische Entscheidung in unserem Innersten als Ringen um unsere
Existenz stattfindet, so dass sie kaum von jemand anders tatsächlich nachvollzogen werden kann.
Ich halte alle drei Entwürfe für unzureichend, wenn sie für sich stehen und
gegen die anderen Schwerpunkte ausgespielt werden. Ich halte alle drei Entwürfe für berechtigt, wenn sie sich als wichtiges Glied in einer Gesamtentscheidung verstehen.
Der normative Aspekt kommt in der Bibel in der Bedeutung der unveränderbaren Gebote Gottes zum Ausdruck.In der Ethik generell finden wir ihn am
stärksten in den Grundwerten wieder. Der situative Aspekt kommt in der Bibel
in der Bedeutung der Weisheit zum Ausdruck, die aufgrund von Erfahrung und
der konkreten Situation abwägt. In der Ethik generell spielen hier die sogenannte Pflichtenkollision, die Situationsethik und die kulturelle Anpassung eine
Rolle. Der existenzielle Aspekt kommt in der Bibel in der Bedeutung des Herzens und des Gewissens zum Ausdruck, in dessen Inneren aufgrund normativer und situativer Überlegungen die eigentliche Entscheidung fällt. In der Ethik
generell wird hier vom Gewissen und von den Motiven gesprochen.
Die grundlegenden Werte einer Gesellschaft können sich nicht einfach aus
ihrem Konsens ergeben, zumal die Frage ist, welchen Konsens unsere Gesellschaft heute noch finden könnte. Wenn Konsens allein zählen würde, hätte
man den Nationalsozialismus zumindest solange akzeptieren müssen, als er
sich auf die begeisterte Zustimmung großer Teile der Bevölkerung stützen
konnte. Es war jedoch gerade die Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus,
dass es über dem Staat unantastbare Werte geben muss. Deswegen schuf
die UNO die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deswegen schrieben
156
die Väter und Mütter des Grundgesetzes einige die Würde des Menschen
betreffende Grundrechte und Grundregeln für immer und unabänderbar fest.
Menschenrechte und Menschenwürde werden nicht vom Staat geschaffen
oder verliehen, sondern sind dem Staat vorgegeben, da der Mensch Geschöpf
Gottes ist. Diese dem Menschen bewusste unantastbare Ordnung steht über
aller Macht und allen Mehrheitsverhältnissen.101
Im Grundgesetz kommt dies durch die sogenannte ‚Ewigkeitsklausel‘ zum
Ausdruck: Die grundlegenden Menschenrechte in der Verfassung dürfen und
können vom Parlament nicht geändert werden.Daneben beachtet das Grundgesetz auch die Situationsethik, die für die Zukunft ermöglichen soll, jeweils
neu vernünftige Entscheidungen zu treffen.
Am anderen Ende des Spektrums legt das Grundgesetz fest, dass jeder Bundestagsabgeordnete in seiner Entscheidung frei und nur seinem Gewissen
verantwortlich ist. Dies bedeutet nicht, dass er seine privaten Wünsche und
Neigungen gelten lässt, sondern im Gegenteil, dass er Werte abwägt und
wohlüberlegte Entscheidungen trifft. Natürlich wird diese Entscheidung nicht
im luftleeren Raum gefällt, sondern auch im Rahmen der jeweiligen Zusammensetzung von Regierung und Parteien und anderer Zwänge. Aber in letzter
Konsequenz kann kein Angeordneter die Verantwortung für seine Entscheidung auf andere abwälzen, sondern muss bereit sein, die volle persönliche
Verantwortung dafür zu tragen und für seine Entscheidung notfalls innerlich zu
leiden oder äußere Konsequenzen auf sich zu nehmen.
All das gilt insbesondere für die sogenannte Pflichtenkollision, oder Güterabwägung, eigentlich einem Begriff aus dem Strafrecht für die nicht rechtswidrige
Verletzung einer Pflicht durch eine Handlung, die das einzige Mittel war, eine
andere, höherrangige Rechtspflicht zu erfüllen, und zu welchen der Handelnde
sich aufgrund einer Abwägung der Pflichten entschieden hat. Innerhalb der
christlichen Ethik wird, besonders in der katholischen Theologie, von einer
Pflichtenkollision gesprochen, wenn mehrere Gebote Gottes in einen scheinbaren Konflikt geraten. Keine Ethik kommt ohne eine Güterabwägung aus,
also ohne die Sicht, dass die einzelnen Werte und Unwerte einen unterschiedlichen Rang haben und im Falle einer Pflichtenkollision der höhere Wert Vorrang hat.
Am grünen Tisch kann man jedes Gebot und jeden Wert losgelöst von der
Wirklichkeit diskutieren und zu schnellen Lösungen kommen. In der Wirklichkeit strömen jedoch zahlreiche Fragen auf uns ein und wir stehen grundsätzlich vor allen Werten gleichzeitig. Oft ist die Frage nicht, welchen Werten wir
folgen wollen, sondern in welcher Reihenfolge wir ihnen gerecht werden.
101
S. ausführlicher Thomas Schirrmacher: Menschenrechte: Anspruch und Wirklichkeit, Holzgerlingen: SCM Hänssler, 2012.
157
Fragen der Priorität setzen eine Wertehierarchie voraus, die nicht einfach
beantwortet, was an sich gut und was nicht gut ist, sondern auch, was Vorrang hat.
Wer keine Werte hat, hat auch nichts zum Abwägen. Aber auch wer sich für
Werte einsetzt, benötigt eine Wertehierarchie und ein Bewusstsein dafür, wie
man im Konfliktfall abwägt. Bestimmte Werte sind normalerweise unantastbar
und damit bestimmte Handlungen zur Güterabwägung tabu. Aber andere
Werte lassen sich nur durch einen Ausgleich mit anderen Werten berücksichtigen. Die Güterabwägung ist deswegen keine Verwässerung von Werten und
Zielen, sondern notwendige Voraussetzung für die ganzheitliche gute Entscheidung.
Übrigens muss für Belange einer militärischen Ethik besonders betont werden,
dass eine Pflichtenkollision besonders problematisch ist, wenn kaum Zeit zur
Verfügung steht. Gerade dafür muss es vorher „Sandkastenspiele“ geben, um
sich bewusst zu machen, wie schwer manche Entscheidungen schon sind,
wenn man viel Zeit hat, um zu verstehen, wie schwierig, ja oft fast unlösbar sie
sind, wenn nur sehr kurze Zeit zum Reagieren zur Verfügung steht. Dies gilt
um so mehr, als die Medien heute in ihrer Berichterstattung und Beurteilung
dann später so tun, als hätten Militärangehörige alle Zeit der Welt oder sogar
die Informationen, die im Nachhinein zur Verfügung stehen. Wenn ein Wachsoldat in Afghanistan blitzschnell entscheiden muss, ob spielende Kinder, die
auf das Wachtor zukommen, ahnungslos wie Kinder sind, ablenken sollen
oder als Selbstmordattentäter missbraucht werden, ist das eben etwas anderes, als wenn die Medien hinterher genau recherchieren können, wer die Kinder waren oder wie man sonst hätte reagieren können.
KMDD in der philosophischen oder theologischen Ethikausbildung
einsetzen?
Zunächst einmal muss man für die Frage, inwiefern man KMDD etwa in der
wissenschaftlichen Ausbildung einsetzen will, feststellen, dass das nur für das
Prinzip gelten kann, nicht für die konkrete KMDD, die rechtlich geschützt ist
und nur durch KMDD-Lehrer ausgebildet werden darf.
„Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) ist beim Deutschen Patent- und Markenamt als Textmarke geschützt (Bestätigung). Sie darf
nur mit schriftlicher Genehmigung des Besitzers der Marke, Prof. Georg Lind,
als Werbung für Kurse, Veranstaltungen und ähnliches verwendet werden.
Das Abhalten von KMDD-Stunden setzt beim Lehrer den Besitz eines gültigen
KMDD-Lehrer Zertifikats voraus. KMDD-Kurse dürfen nur von zertifizierten
KMDD-Trainern durchgeführt werden. Interventionsstudien, die die KMDD als
Methode benutzen, dürfen nur dann behaupten, dass sie die Wirkung der
158
KMDD untersucht haben, wenn die Interventionen von einem zertifizierten
KMDD-Lehrer (siehe Flyer) durchgeführt wurden und sie u.a. mit dem Moralisches Urteil-Test (MUT) gemessen wurde.“102
Wissenschaftliche Ausbildungsprogramme, die Linds Erfahrungen für die
Ethikausbildung nutzbar machen wollen, müssen also entweder den offiziellen
Weg gehen, ihre Ethiker zu KMDD-Lehrern auszubilden, oder aber die Grundprinzipien eigenständig aufgreifen.
Unabhängig davon halte ich eine Diskussion konkreter Beispiele von Pflichtenkollisionen mit Studenten – in Anlehnung an die Prinzipien von KMDD – für
eine wichtige Ergänzung der klassischen Ethikausbildung.
Dafür spricht auch, dass erfahrungsgemäß unter Philosophie- und Theologiestudenten und -studentinnen (und -dozenten und -dozentinnen!) die Bandbreite der Positionen und Meinungen zu einzelnen Themen sehr breit ist, selbst
dann, wenn es sich um eine theologisch prinzipiell ähnlich denkende Gruppe
handelt. Erst recht gilt die Bandbreite der Meinungen bei theoretisch gleichem
Wertefundament, wenn es um die Einschätzung und ‚Lösung‘ von Pflichtenkollisionen geht, also in Dilemmadiskussionen.
Dass der Ethikdozent dabei anschließend die Diskussion analysiert, bewertet
und seine eigene Sicht einbringt, ändert nichts daran, dass es gut ist, wenn
diese unterschiedlichen Auffassungen einmal wahrgenommen, ausgesprochen und diskutiert werden. Dafür ist ein formaler Rahmen mit festen Spielregeln sehr hilfreich.
102
http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildisk-d.htm.
159
160
Zusammenfassung und Ergebnispapiere sicherheitspolitischer Expertenrunden
Uto Meier/ Anne Simon/ Ingo Wetter
Werteorientierung in der sicherheitspolitischen Kommunikation – Methoden in Lehre und Ausbildung für militärisches Einsatzpersonal der
Informationsarbeit (Auswertung der Expertentagung vom 26. und 27.
September 2006 an der Akademie für Information und Kommunikation
in Strausberg)
Die Bundeswehr (Bw) befindet sich nicht nur in einem technologischen und
strategischen Wandel. Sie muss ihre Soldaten nicht nur physisch und medizinisch, sondern – in völlig neuem Umfang – vor allem mental auf die Bewältigung der bevorstehenden Aufgaben vorbereiten. Dies war gemeinsame
Auffassung in der Einschätzung des Transformationsprozesses.
Ziel der Tagung war der Versuch, Inhalte und Methoden zur Erlangung von
Werteorientierung und ethischer Urteilsfähigkeit zu klären. Dies im Rahmen
einer auf veränderte sicherheitspolitische Bedingungen angepassten Neukonzeption der Inneren Führung und die hieraus abzuleitenden Konsequenzen für die Informationsarbeit der Bundeswehr.
Inhaltlich wurde über verschiedene Ansätze, unter anderem zur Messbarkeit
moralischer Urteilsfähigkeit am Beispiel der Konstanzer Methode zur
Dilemmadiskussion (KMDD) diskutiert. Hierbei wurde intensiv hinterfragt, ob
moralische Urteilsfähigkeit lernbar, anwendbar und messbar ist, beziehungsweise wo hier Grenzen liegen. Beispielsweise in der völlig offenen Frage, ob
moralisch differenziert diskutierte Dilemma-Analysen auch handlungsbestimmend seien. Allgemeine Einigkeit herrschte über das Fundament der Grundwerte in der Gesellschaft und ihren Schutz. Sie sind feste Bewusstseinsgröße
quasi als „Polarstern“ des faktischen und nicht nur hypothetischen Handelns.
Überwiegend Einigkeit bestand über die Notwendigkeit des „PräambelPostulats“ der doppelten Verantwortung im Grundgesetz „vor Gott und den
Menschen“1 als Einfluss nehmend auf die Ausbildung der Soldaten. In
Deutschland sind die unbedingten Grundwerte in der Verfassung niedergeschrieben und haben ihre Verwurzelung insbesondere in jahrhundertelanger
1
Präambel S. 1, neugef. durch Art. 4 EVertr. v. 31.8.1990 BGBl. II, S.889.
161
Tradition des jüdisch-christlich geprägten Kulturraums. Der Soldat muss sich
mit diesen Werten identifizieren und sie in weltweitem Einsatz und allen
Situationen beherzigen und umsetzen können. Eine Auseinandersetzung mit
der Ethik abendländisch jüdisch-christlicher Traditionen gehört zum „Ethos
eines demokratischen Soldaten“.
Im Einzel- und Einsatzfall kann und wird es durch die Besonderheiten militärischer Strukturen und dem Gehorsamsprinzip zu Güterkollisionen und ethischen Friktionen kommen. Um endgültige Entscheidungen fällen und ggf.
die Konsequenzen tragen zu können, ist eine umfangreiche Vorbereitung
und Festigung der Persönlichkeit des Soldaten und seiner Vorgesetzten
innerhalb der gesamten Ausbildung notwendig. Diese Fähigkeit hilft nicht nur
dem einzelnen Soldaten, sondern auch den Vorgesetzten. Die in Teilbereichen begonnene Modifikation der Verbindlichkeit des (Grund-)Werteverständnisses – bedingt durch den mit den starken Migrationsbewegungen der
letzten 15 Jahre verbundenen intensiven kulturellen Austausch – gilt es zu
berücksichtigen wie gegen zu arbeiten.
Damit die politischen und militärischen Ziele erreicht werden können, müssen den Soldaten eindeutige, klare und verlässliche Handlungsvorgaben
mitgegeben werden. Die politischen Entscheidungsträger sollten sich ihrer
moralischen Verantwortung für die beschlossenen Einsätze bewusst sein.
Eine ethische Ausbildung des Soldaten – im Sinne einer lediglich formalen
Befehls-Operationalisierung – reicht nicht aus. Das zeigt sich allein am materiell-demokratischen Befehlverständnis: Jüngste Vorkommnisse zeigen,
dass legitime von illegitimen Befehlen unterschieden und in „produktives
‚Befehls-Feedback’“ umgesetzt werden können müssen.
Wahrung und Schutz der Menschenrechte und Menschenwürde bei einem
Auslandseinsatz, insbesondere in Kontakt mit der Kultur fremder Regionen,
sollten stets im Zentrum des bewussten und zu verantwortenden Handelns
stehen.
Neben den eigenen Wertvorstellungen müssen die Soldaten zu einer korrekten Situationsbeurteilung die Handlungen der potentiellen Gegner vor deren
historischen, kulturellen, gesellschaftlichem und sozialen Hintergrund in
wenigen Augenblicken richtig einzuschätzen lernen.
Hierfür muss die Bw ein realitätsnahes Ausbildungsszenario entwickeln. In
der Vorbereitung sind sicher viele, aber längst nicht alle auf den Soldaten im
Einsatz zukommenden Situationen prognostizierbar. Daher sollten als ergänzende Schwerpunkte innerhalb einer ethischen Ausbildung, sowohl die Aneignung strukturierten und handlungsrelevanten Wissens, wie auch ein Verstehensprozess (mittels Begegnung/Rollentausch/narratives Modelllernen
162
u.v.a.) über die historische, kulturelle, gesellschaftliche und religiöse Entwicklung potentieller Einsatzräume zielführend werden.
Einsätze und gemachte Erfahrungen ändern die Menschen und führen zu
einem veränderten Verhaltensmuster2. Darauf muss in der begleitenden
ethischen Ausbildung reagiert werden. Die „Rules of Engagement“ müssen
deshalb durch die Einsatzführung immer wieder auf ihre Aktualität überprüft
und angepasst werden. Die Soldaten sollten insbesondere auf die Möglichkeit einer Konfrontation unauflösbarer Dilemmata vorbereitet werden, denn
manche Handlungsweisen könnten in direktem Gegensatz zu ihren Wertvorstellungen stehen, die sie bisher geprägt haben. Es sollte daher einem (Dialog-) Raum gegeben werden, innerhalb dessen die Soldaten ihre Sorgen
und Nöte frei äußern können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen,
beispielsweise in Gestalt eines ‚forum internum’. Gerade im Dilemmafall
sollten die Soldaten für die ‚situationsbedingte Schuld’ sensibilisiert, aber mit
einer ‚subjektiv bezogenen Schuld’ nicht allein gelassen werden. Hierauf gilt
es den Soldaten umfassend ethisch vorzubereiten. Dies ist, durch die Festlegung auf eine einzige „Methode“ (zur Erlangung moralischer Urteilsfähigkeit) für alle denkbaren Situationen, sicher nicht realisierbar. Ein einziges –
sehr kognitivistisch angelegtes – Regelsystem kann eine stets allgültige
Verhaltenssicherheit nicht leisten.
Hier wurde klar gestellt, dass es derzeit zwar Ansätze, aber keine absolute wissenschaftliche Methode für eine „gesicherte Moralität im Einsatz“
gibt. Innerhalb der Expertenrunde wurde schnell klar, dass die Prüfung
moralischer Urteilsfähigkeit durch die Klärung von moralisch unterschiedlichen Urteilsniveaus nach Professor Georg Lind und seiner Methode 3 in
einem sehr friedlichen Umfeld als einzige Schulungsmethode für den
Soldaten im Einsatz wenig nutzbringend, realitätsfern und auch handlungsunsicher ist, weil der Zusammenhang zwischen moralischem Urteil
und entsprechender Handlungskonsistenz höchst komplex ist. Die von
Lind versuchte stufentheoretische Erfassung von Wertvorstellungen in
ausgewählten Dilemma-Schulungen sollte Vorgesetzten, Stäben und Gremien nicht als hinreichende und quasi ‚entschuldigende Entscheidungsgrundlage’ für „ethische Qualifizierung von Soldaten“ an die Hand gegeben werden. Es wurde im Zuge der Diskussion angemerkt, dass bei Lind
sowohl eine Definition der ‚Ethik’ als auch materiale Zielvorstellungen
fehlen.
2
3
Vgl die Erfahrungen und Untersuchungen innerhalb der NATO.
Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion.
163
Handlungsorientierungen nur aufgrund von (kognitiv überfrachteten) ModellDiskussionen in Verantwortlichkeit zu bringen erscheint fahrlässig, wenn
nicht tieferliegende emotional relevante Motivlagen angesprochen werden.
Zudem wurde zu bedenken gegeben, dass Modelllösungen eine Art
Sicherheit suggerieren, die im Einsatz nicht existiere und die Gefahr einer
damit begründeten Delegation von Verantwortung bestehe.
Es müssten vielmehr Entscheidungskompetenzen aufgebaut werden, die
alle an einem Einsatz irgend beteiligten Strukturen einbeziehen. Ergänzend
zur Methode nach Lind – vorausgesetzt dieses würde als eine Möglichkeit
der Situationssensibilisierung (u.a. für Minderheitenpositionen) angesehen –
sollten bewährte Konzepte wie Ansätze der „Themenzentrierten Interaktion“
(Ruth Cohn), die „Transaktionsanalyse“ (Eric Berne), der „Gewaltfreien Kommunikation“ (Marshall B. Rosenberg), oder der „klientenzentrierte Ansatz“
(Carl R. Rogers) geprüft werden, um handlungsrelevante Kompetenz in
Beurteilung und Verständnis von komplexen Situationen aufzubauen. Aber
auch scheinbar diskursferne Lernwege wie Kunst und Ästhetik sind nicht
auszuschließen.
Nur im Kontext persönlichkeitsbildender anderer Maßnahmen ergibt die
Methode der „Entwicklung moralischer Urteilsbildung“ (nach Kohlberg, respektive Lind) Sinn.
Empfehlungen
1. Voraussetzung für ein angemessenes ethisches Wirken von Kräften der
Bundeswehr im Einsatz sind klare und glaubwürdige, mit den ethischen
Grundsätzen der eigenen Gesellschaft (vgl. Grundgesetz) vereinbare Aufträge. Nur „einsatz-identifizierte“ Soldaten garantieren einen verantwortbaren
Erfolg.
2. Hauptaugenmerk einer ethisch-sensibilisierenden (Aus-)Bildung muss die
Vermittlung von und die Identifikation mit unbedingten Grundwerten des
eigenen Kulturraumes (wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde und des
Lebens, etwa im unbedingten Folterverbot) sein. Entscheidungsfindend berücksichtigen muss der Soldat die Lage im Einsatzgebiet und seinen militärischen Auftrag. Dabei darf eine ‚Ethik’ nicht auftragsgerecht angepasst werden. Dass heißt die (im Grundgesetz normierten Grund-)Werte stehen auch
in absoluten Grenzsituationen nicht zur Disposition.
3. Dafür sind in der Ausbildung bzw. Schulung der Bundeswehr eine persönlichkeitsstärkende Didaktik und daraus resultierende Methoden zu entwickeln, die den Soldaten in die Lage versetzen sollen, innerhalb gewisser
164
Spielräume situationsgerecht eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Eine in Zusammenarbeit mit den verschieden zuständigen Einrichtungen der Bundeswehr (siehe Aufgabenverbund Innere Führung) wissenschaftlich begleitete Prüfung unterschiedlicher Ausbildungskonzepte und
Schulungsmuster ist dringend geboten. Die Länderpolizeien haben seit 1949
sehr wirksame diversifizierte Ethikausbildungen entwickelt, die auch den
finalisierenden Einsatz von Waffen und deren Folgen in einem ganzheitlichen Konzept ständiger Ausbildung berücksichtigen.
Auch der Schatz der inzwischen überkonfessionell gewachsenen Traditionen
geprüfter religiös-ethischer Normenbegründung (z.B. universell gültiges
Tötungsverbot Unschuldiger, Gewalt im Dienst der Friedensermöglichung
u.s.w.) sollte in diese Ausbildung integriert werden.
4. Wenn die Bundeswehr eine Vermittlung ethischer Bildung als erforderlich
ansieht, müssen entsprechende Strukturen und Steuerungselemente flächendeckend und langfristig ausgerichtet aufgebaut werden. Projekte oder
Veranstaltungen in Form von „Insellösungen“ wie im ZinFü, SOWI oder auch
in der AIK, den begleitenden Diensten etc. sind selbst mittelfristig ineffektiv.
Es ist hierfür ein Grundkonzept der ethischen Bildung, das vor- und nicht
nachbereitend ausgerichtet ist, notwendig. Didaktisch müsste das vielschichtige Konzept die Kriterien der Auftrags-, Personen-, Situations-, Erfahrungsund Einsatzorientierung erfüllen.
5. Die Informationsarbeit der Bundeswehr sollte darauf ausgelegt werden,
den Bürgerinnen und Bürgern die moralischen Herausforderungen der Bundeswehr, gerade im Rahmen der militärischen Auslandseinsätze, zu vergegenwärtigen und sie als Teil ihrer nach den ethischen Maximen des Grundgesetzes ausgerichteten Gesellschaft begreifen zu lassen.
6. Eine ganzheitliche ethische (Aus-)Bildung muss flächendeckend von Beginn der Laufbahn an erfolgen und sollte unmittelbar vor einem Einsatz um
die im Einsatzraum gewachsenen sozialen und gesellschaftlichen Strukturen
und Verhaltensmuster erweitert werden. Das veränderte Kriegsbild und die
neuen Herausforderungen „asymmetrischer Kriegführung“ müssen in die
Ausbildung integriert werden.
7. Die Soldaten müssen mit der Möglichkeit einer Konfrontation unauflösbarer Dilemmata vorbereitet werden. Sie können zu Handlungsweisen herausgefordert werden, die in direktem Gegensatz zu ihren Überzeugungen
stehen. Wie oben erwähnt sollten neben der Lindschen KMDD beispielsweise die Ansätze der „Themenzentrierten Interaktion“ (Ruth Cohn), der
„Transaktionsanalyse“ (Eric Berne), die „Gewaltfreie Kommunikation“ (Marshall B. Rosenberg) oder der „klientenzentrierte Ansatz“ (Carl R. Rogers)
165
geprüft werden. Ansätze, die es nicht scheuen, das zugrunde liegende
eigene Menschenbild und seine Projektionen auf „die Anderen“ in Frage zu
stellen.
Die Monokultur einer einzigen Methode zur Ausbildung einer „nachhaltigen
Ethik für Soldaten“ muss vermieden werden, wenn „demokratische Staatsbürger in Uniform“ unsere Rechtsordnung und legitime vitale Interessen der
Bundesrepublik unter Einsatz ihres Lebens schützen sollen.
Andreas Berns/ Edwin Micewski/ Ingo Wetter
Umsetzung der Ethischen Aus- und Weiterbildung in der Informationsarbeit der Bundeswehr (Auswertung und Ergebnispapier der Expertentagung vom 18. bis zu 20. März 2009 an der Akademie für Information
und Kommunikation in Strausberg)
Diese Expertenrunde im März 2009 war bereits die vierte Tagung der AIK
zum Thema Werteorientierung bzw. Ethische Bildung im Rahmen der sicherheitspolitischen Kommunikation, die seit 2005 die aktuelle Entwicklung
in der Bundeswehr mit Herausbildung der Zentralen Dienstvorschriften zur
Inneren Führung und zum Lebenskundlichen Unterricht (LKU) und den Dialog hierüber mit der Öffentlichkeit ‚kre-aktiv’ begleitet. Primärfokus dieser
Veranstaltungen ist die Verbesserung und Effizienzsteigerung der Informationsarbeit der Bundeswehr.
1. Hintergrund und Ziele im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der
Bundeswehr
Ein Bewusstsein für die unbedingte Wahrung der Menschenwürde und eine
innere Orientierung an die Werte unseres Grundgesetzes besitzen in der
Ausbildung der Soldaten einen hohen Stellenwert. Ethische Bildung vermittelt den Soldaten, vor allem aber den Offizieren, nicht nur eine ethischmoralische Urteilsfähigkeit angesichts existenzieller militärischer Herausforderungen wie Tod und Verwundung, sondern ermöglicht auch ein grundlegendes Verständnis zu Fragen der Menschwürde und den demokratischen
Grundgesetzen des Staates. In diesem Sinne zeigt bereits die neue Zentrale
Dienstvorschrift der Bundeswehr zur Inneren Führung (10/1) vom Januar
2008 den Bedarf auf, ethische Bildung im Rahmen der Aus- und Weiterbildung zu vermitteln.
Diese Herausforderung betrifft insbesondere die Informationsarbeit der Bundeswehr und – mit Blick auf den Aufgabenverbund Innere Führung – auch
166
ihre zentrale Ausbildungsstätte AIK. Die durch die Medien- und Multiplikatorenarbeit bedingte Breitenwirkung der Öffentlichkeitsarbeit bei Berichterstattung aus Krisengebieten und bei Vorfällen in der Heimat, die zum überwiegenden Teil auch ethisch-moralische Implikationen beinhalten, trifft auf eine
sensible nationale wie internationale Öffentlichkeit, die in Zeiten von Web 2.0
teilweise in Echtzeit über militärische Handlungen informiert wird und daher
die Reaktionszeit der Informationsarbeit der Bundeswehr entscheidend verkürzt. Ethische (Aus-)Bildung in der Bundeswehr und gerade in der Informationsarbeit der Bundeswehr hat aus diesem Blickwinkel gesehen auch eine
vorab unterstützende, qualitätssteigernde und präventive Wirkung auf (reaktive) Krisenkommunikation bzw. das Krisenmanagement der Öffentlichkeitsarbeit in der Bundeswehr.
2. Bestandsaufnahme und Bewertung aus Sicht teilnehmender Experten
dieser Tagung
- Aufgrund des Kenntnisstandes und der Vorbildung des Soldaten – insbesondere nach der Deutschen Einheit – sowie den einschneidenden sicherheitspolitischen Veränderungen ist ein verstärkter Bedarf an Ethischer Bildung anzunehmen. Zu berücksichtigen ist, dass die Soldaten völlig unterschiedliche
Vorbildungen aufweisen und aus religiös und gesellschaftlich differenzierten
Entwicklungen heraus zur Bundeswehr kommen. Eine der Folgen ist ein unterschiedliches Verständnis von Grundwerten und Dialoge über die Vorschriften und ethische Werte und -vorstellungen finden kaum statt.
- Eine diesbezügliche offene Kommunikation ist in der hierarchischen Struktur der Bundeswehr nur schwer möglich und bedarf ermutigender Rahmenbedingungen, die vordringlich zu schaffen wären.
- Ethische Bildung in den Streitkräften ist sehr heterogen. So gibt es unterschiedliche Ausbildungsmodule, unterschiedliche Zeitansätze und Methodologien, die überdies auf unterschiedlichen Zugängen zur Ethik bzw. zum
Verständnis von Ethik beruhen. Ausbildung/ Ausbilder: Qualifizierte Kräfte
sind [derzeit] im Militär Mangelware bzw. kaum vorhanden
- Es wurde angemerkt, dass Ethische Bildung nicht nur im Hörsaal stattfinden
sollte. Allerdings wird ethisches Handeln, das z.B. in Stations- oder Lageausbildungen einfließt, derzeit weder bewusst vermittelt noch aufgenommen.
- Einsatzerfahrungen werden, falls überhaupt, nur reaktiv in die Ausbildung
eingespeist.
- Wollte man der Ethischen Bildung mehr Raum geben, ginge dies in der
aktuellen Form zu Lasten der Ausbildung in anderen Bereichen. .
167
- Es fehlt ein durchgängiges Konzept für Ethische Bildung der Bundeswehr.
Die ZDv 10/1 (Innere Führung) stellt sehr hehre und hohe Ansprüche, die
ZDv 10/4 (LKU/Ethik) sei vergleichsweise überschaubar. Allerdings kann
ethische Bildung nicht ausschließlich im Rahmen des LKU vermittelt werden.
Ansätze, wann, wo und in welchem Umfang Ethik zu vermitteln ist, müssten
dringend erarbeitet werden.
3. Empfehlungen aus Sicht teilnehmender Experten dieser Tagung
- Es gilt zunächst, die Werte auf Grundlage des Grundgesetzes mit ihrem
Imperativ der dualen Verantwortung vor Gott und den Menschen zu erkennen.
In der Vermittlung müsse in der Bundeswehr Rücksicht auf unterschiedliche
religiöse Inhalte und Wertevorstellungen gelegt bzw. diese in ihrem Verhältnis
zu den christlichen und demokratischen Grundwerten des Grundgesetzes
diskutiert werden.
- Soldaten sollten wertegebunden selbständig handeln können Wegen der
unterschiedlichen Vorbildung sollte daher eine gemeinsame Basis geschaffen werden, auf der in verpflichtenden Themenseminaren stetig vertiefende
Bausteine vermittelt werden. Dies würde auch eine regelmäßige Standortbestimmung ermöglichen und dem Dienstherren gestatten, gezielt nachzusteuern, um eine Art von Handlungssicherheit in Grundsituationen zu erreichen.
- Einigkeit herrscht darüber, dass ethische Kompetenz nicht per Befehl
vermittelt werden kann und Vorgesetzte mit ihren Handlungen die Werte
auch vorleben müssen. Abgesehen von der systematischen Vermittlung in
Unterrichtseinheiten müssen Ethik und moralisches Bewusstsein auch im
täglichen Umgang gelebt und erlebt und somit in der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung verinnerlicht werden. Eine ethische Grundorientierung für menschlich-soldatisches Denken und Handeln und dessen Verfestigung kann nur in einem langen Prozess erreicht werden.
- Bereits zu Beginn der Ausbildung – von der Grundausbildung bis hin zu
Laufbahnlehrgängen sowie solchen für besondere Verwendungen zur Menschenführung (z.B. KpFw oder Kdr-Lehrgänge) oder mit Wirkung in der Öffentlichkeit (z.B. PresseOffz oder JugendOffz) – ist die Bestimmung und
Vermittlung von Grundwerten in der jeweils ebenengerechten Ausprägung
wichtig, wie dies auch in den neuen ZDv 10/1 und 10/4 klar zum Ausdruck
gebracht wird.
- Um das Zeitbudget möglichst wenig zu beanspruchen, könnten in der
gesamten Ausbildungszeit der Soldaten Abholpunkte bestimmt werden.
Ethik könnte eine Art ‚roter Faden’ sein, der sich mit einem interoperativen
168
Ansatz fächerübergreifend durch sämtliche Ausbildungsabschnitte und bereiche zieht. Wissensvermittlung und Entwicklung würden durch die Stetigkeit dynamischer werden, der Lernerfolg dauerhafter. Die häufig bemühte
Zeitknappheit und bereits heute überfüllte Stundenpläne ließen beinahe
keine Alternative zu, als Ethik sowohl fächer- als auch abschnittsübergreifend zu vermitteln. Zur Vermittlung des Wissens gäbe es in unterschiedlichen Institutionen positive Erfahrungen mit interdisziplinär arbeitenden
Teams, deren Mitglieder unterschiedliche Erfahrungshintergründe haben.
Diese Option sollte auch für die Bundeswehr geprüft werden.
- Soldaten im Einsatz sind besonderen Belastungen ausgesetzt und benötigen unmittelbare Ansprechpartner vor Ort wie Militärseelsorger und Truppenpsychologen, die auch in dem hier diskutierten Fachbereich entsprechend
ausgebildet sein müssten (vergleiche hierzu aktuell die Tätigkeit sogenannter
‚Interkultureller Einsatzberater – IEB ’ im Rahmen der Vermittlung interkultureller Kompetenz im Einsatz).
- Ein zu erarbeitendes Ausbildungsprogramm für ethische Bildung hat auch
den Aspekt ethischer Komponenten in Extremsituationen zu berücksichtigen.
- Wissen und Erfahrung sollten in geeigneter Form vermittelt werden. Denkbar wäre eine Art Forum, möglichst dienstgradgruppengleich, um die Kommunikation zu erleichtern.
- Es ergibt sich Entwicklungsbedarf an Schnittstellen von Ausbildung und
Praxis. Lehrmethoden und Vermittler haben authentisch bzw. glaubwürdig
zu sein, der Ausbilder sollte militärischen Hintergrund und Erfahrungen haben sowie eine Vorbildfunktion erfüllen, wenn die Vermittlung erfolgreich
sein soll. Ethik ließe sich so auch außerhalb des Unterrichts und fächerübergreifend vermitteln. Im Sinne der Glaubwürdigkeit wäre die Einbeziehung
von einsatzerfahrenem Personal in die Lehrgänge wichtig. Sie könnten zentral von auf ethische Fragen und Ansätze spezialisiertem Fachpersonal auf
diese Aufgabe vorbereitet werden. Ausbildungsinhalte müssten ebenengerecht aufbereitet sein und für den Soldaten verständlich und auch praxisorientiert sein. Dabei versteht sich von selbst, dass das Ausmaß von Theorie,
somit die philosophische und wissenschaftliche Grundlegung von Ethik, in
hohem Maße von der Ebene der Vermittlung abhängen wird. Vor allem für
Offiziere ist allerdings zu fordern, dass eine umfassende theoretische Unterweisung erfolgt, welche die Basis für praktisches Verständnis und eigenständige moralisch-ethische Urteilsfähigkeit bildet.
- Wichtig wäre auch, eine entsprechende Qualifierung des Ausbildungspersonals für den schwierigen Gegenstandsbereich der Ethik sicherzustellen. Um
169
Lehrerfolge zu optimieren, sollte Personal, welches in der Ethikausbildung
eingesetzt wird, ein ständiges Fortbildungsangebot zur Verfügung stehen.
- Voraussetzung für zielgerichtete Ethische Bildung wäre daher, Kompetenzen, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu vergeben sowie
Strukturen für die Realisierung zu schaffen. Ein Konzept müsste Aspekte
der Anwendbarkeit und Begründetheit berücksichtigen, um praxistauglich
und damit umsetzungsfähig zu sein. In der Umsetzung könnten bereits
erprobte Programme von Polizeien und Rettungsdiensten sowie von befreundeten Streitkräften auf potentielle Schnittstellen und Synergien geprüft werden.4
- Das mögliche Konzept sowie dessen Umsetzung bedürfen einer begleitenden Evaluierung mit der Bereitschaft zu rascher, undogmatischer Revision. Ethische Bildung würde generell die Kompetenz bei Soldaten, vor
allem bei Offizieren, zu erhöhen, den Legitimationsdiskurs zu Fragen militärischer Gewaltanwendung und soldatischem Handeln mit dem gesellschaftlichen Umfeld zu führen. Dieser Diskurs ist eine demokratiepolitische
Notwendigkeit und der Bildungsbedarf auf Seiten der Öffentlichkeit ist
groß.
4. Ergebnisse der drei Arbeitsgruppen
Im Rahmen der sicherheitspolitischen Expertenrunde der Informationsarbeit
„Umsetzung der Ethischen Aus- und Weiterbildung in der Informationsarbeit
der Bundeswehr“ vom 18. bis 20. März 2009 an der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation wurden in drei Arbeitsgruppen
Vorschläge ausgearbeitet, wie Werteorientierung beziehungsweise Ethische
Bildung in die einzelnen Ausbildungsabschnitte der Soldaten eingeflochten
werden können.
Die Ergebnisse der einzelnen Arbeitsgruppen sind in der Folge weitgehend
unverändert dargestellt. Mitglieder der Arbeitsgruppen waren erfahrene
Stabsoffiziere, Hochschuldozenten, Theologen, Juristen und Historiker. Es
handelt sich bei den Ergebnissen der Arbeitsgruppengespräche lediglich um
Anregungen zur Thematik und keineswegs um abschließende Empfehlungen, da weitere Bearbeitungen und Präzisierungen erforderlich sind, die nur
in einem größeren Zeitrahmen erarbeitbar wären.
Vgl. hiezu etwa den Abriss eines Konzepts zur „Berufsethischen Bildung“, wie es von einem
Tagungsteilnehmer für das Österreichische Bundesheer als humanwissenschaftliches Forschungsprojekt entwickelt und in der Tagung vorgestellt wurde.
4
170
Arbeitsgruppe 1: Anregungen und Vorschläge für eine praxisorientierte Ethik
in der Bundeswehr
Anregungen zur Ethikausbildung
a) Festlegung von Handlungsfeldern, in denen ethisch relevante Situationen
vorkommen, die für die Ausbildung von Belang sind:
Im Friedensbetrieb
- im täglichen Dienstbetrieb: Leben der „Inneren Führung“, gelebte „Kultur“,
Umgang miteinander, Umgang mit Kameraden, Vorbildfunktion
- in der Ausbildung: allgemein militärische Ausbildung aller Dienstgradgruppen, sowohl einsatzvorbereitend als auch einsatznachbereitend
Im Einsatz
- Bewaffneter Konflikt / Peace Enforcement
- Missions other than war (beispielsweise humanitäre Einsätze)
Im Verhältnis zur Gesellschaft
- Dienst und Familie
- Umgang mit der Gesellschaft
b) Festlegung ethischer Zielsetzungen für die Handlungsfelder
Im Sinne des Verständnisses von Ethik als Soll-Anspruch an die Handlungswirklichkeit, die vor dem Ausbildungshintergrund für die Bereiche soldatischen und militärischen Handelns als Basis der Lernzielformulierung
festzulegen bzw. zu beschreiben wären.
Leitgedanken zur Ethikausbildung in der Bundeswehr
Ethikausbildung sollte darauf vorbereiten, sich in den ethisch relevanten
Handlungsfeldern, insbesondere in kritischen Situationen, ethisch kompetent
zu verhalten.
Ethisch relevant können sowohl „kritische“ Situationen, etwa im Sinne von
Entscheidungssituationen im Einsatz, aber auch „unkritische“ Situationen,
wie etwa Fragen im täglichen Friedensbetrieb sein. Die ethische Relevanz
ergibt sich aus möglichen Konflikten und Spannungen, die zwischen den
Ansprüchen verschiedener Akteure in einer konkreten Situation auftreten
und die im Spannungsfeld von konkreten Handlungsbedingungen, gesetzlichen Vorgaben und ethischen Normen und Werten gelöst werden müssen.
Was macht Situationen ethisch relevant?
- Ungeregelte Entscheidungssituationen
- keine klaren gesetzlichen Vorgaben (z.B. rechtsfreie Räume)
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- keine klare Führungsvorgabe bzw. Befehlslage
- Entscheidungsdruck
Ethik ist selbstverständlich nicht nur Individualethik, sondern auch Institutionenethik. Diese sittliche Dimension der Ethik berührt die Verantwortung der
Offiziere aller Befehlsebenen ebensowie die der „gelebten Inneren Führung“
in der Bundeswehr.
Weitere Schritte
Ethisch relevante Situationen in den Handlungsfeldern des Soldaten identifizieren.
Einspielen der Situationen in alle Themenbereiche der Ethikausbildung der
Bundeswehr in Schulungen/ Planübungen/ im Unterricht bzw. im alltäglichen
Leben im Dienst unter Berücksichtigung verschiedener Lehrmethoden. Zu
berücksichtigende Voraussetzung ist die bisher erfolgte Sozialisation der
Soldaten und deren Bildungs- und Lernvermögen. Die Festlegung von Lehrund Lernzielen bedarf einer bildungspolitischen Grundsatzentscheidung, die
unter Berücksichtigung normativer moralphilosophischer Prinzipien (wie
Recht und Gerechtigkeit, Freiheit und Verantwortung, allgemeiner wie militärischer Tugenden), Grundwerten der Verfassung, allgemeingültigen Verhaltenskodices und anerkannten Wertvorstellungen erfolgen muss.
Bei der Festlegung der Lehrziele ist es wichtig, auch auf „psychologischen
Realitäten“ des Soldatseins Rücksicht zu nehmen. Das betrifft vor allem das
Handeln unter Bedrohung und persönlicher Gefahr, in Ungewissheit und
unter Zeitdruck. Kernfragen sind:
a) Welche Kompetenzen müssen die Soldaten mitbringen bzw. sind vorhanden?
b) Welche Persönlichkeitsmerkmale sind für das Verhalten in moralrelevanten Konfliktsituationen relevant?
c) Weche Persönlichkeitsmerkmale lassen sich im Erwachsenenalter verändern?
In Abhängigkeit von den Lehrzielen sollten dann im Weiteren
a) die Orte der Ausbildung ausgewählt werden: Lehrsaal, Feldlager, Lebenskundliches Beisammensein, ... In diesem Zusammenhang bedeutend
ist die Integration der Ehtikausbildung in die allgemeine militärische Ausbildung.
b) die Lehrziele präzisiert werden: Was ist im philosophischen Sinn ethisch,
was ist moralisch? Was ist unter ethisch kompetentem Verhalten in den
verschiedenen kritischen Situationen zu verstehen?
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c) die Methoden ausgewählt werden: z.B. Unterrichte, Diskussion, Rollenspiele, authentischer Erfahrungsberichte bzw. Behandlung von für die Praxis
relevante Dilemmata.
d) die Lehrenden ausgewählt bzw. bestimmt werden: Kriterium muss die
Bildungskompetenz sein, die für die Realisierung der Lehre erforderlich ist.
Mögliche weitere Kriterien sind: Methodik, Pädagogik, Erfahrungswissen aus
authentischen Situationen und die Glaubwürdigkeit.
e) Reflexion und Nachbereitung unter dem Gesichtspunkt der ethischen
Entscheidung als „gesollter Realität“, die durch konkretes Handeln verwirklicht werden soll.
Arbeitsgruppe 2: Empfehlungen für Evaluation und das
Qualitätsmanagement der Ethischen Bildung
Qualitätssicherung
Anreize schaffen, beispielsweise durch besondere Berücksichtigung bei
Beurteilungen nach ZDv 20/6 oder als Pflichtfach
Evaluierung
Wer soll die Evaluationen durchführen? Besonders geeignet erscheinen die
Inspizienten der Bundeswehr, die auch jetzt schon Befragungen zu Veranstaltungen durchführen und grundsätzlich auch die Legitimation und den
Erfahrungshintergrund mitbringen.
Vorschlag für eine dreiphasige Evaluation:
a) nach jeder Veranstaltung,
b) nach Abschluss des Veranstaltungszyklus,
c) regelmäßig, beispielsweise nach zwei Jahren als „Erfahrungsfeedback“
mit den Kontrollfragen: „Was hat mir die Veranstaltung für das Leben gebracht? Hat sich der Lehrinhalt praktisch bewährt?“
Umfrage zum Identifikationskoeffizienten
Kann die Führungsperson die Untergebenen ‚mitnehmen’? Kann er/sie auch
Sinnfragen beantworten? Die Führung muss die Widersprechenden überzeugen können“ (Timotheus-Brief). Das ZInFü verfügt über „Coachingprogramme“ bzw. sollte diese erweitern, um bei Qualifikation für ethische
Schulungen Charisma und persönliche Eignung in den Vordergrund zu stellen.
173
Neue ZDv 10/4
Das BMVg bestimmt Ausbilder und Inhalte des Ethikunterrichts. Ausgearbeitete Pläne/ Kontrolle z.B. durch Wehrbeauftragten für den Unterricht als
unabhängige Instanz.
Mannschaften: Curriculum mit Grundkenntnissen – auch zur Vermittlung von
teilweise selbstverständlichen Handlungsweisen wie „no-go-ethics“ und
Festsetzen von Spielregeln in Kombination mit einem integrativen Ethikunterricht.
Uffz/ Offz: weiterführendes Curriculum zur Ausbildung zum Führer als Vorbild und für höhere Ränge Unterweisung in Aspekten der strategischen
Ethik. Eine Sensibilisierung für die speziellen Herausforderungen bei Befehlsgebung auf gehobener Ebene sollte erfolgen.
Aufgeworfene Fragen
Bildung von Zivilcourage in hierarchischen Systemen?
Was könnten Anreizsysteme für konstruktive Konfliktfähigkeit sein?
Arbeitsgruppe 3: Steuerung und Koordinierung der Ethischen Bildung in der
Bundeswehr
Grundlagen
Gemäß ZDv 10/1 Gesamtverantwortung bei GenInsp; Leitungsverantwortung (Steuerung/Durchführung) bei GenBwGemAusb.
Gemäß ZDv 10/4 Festlegung der Ausbildung für die AGA und für Laufbahnund Verwendungslehrgänge basierend auf dem Konzept „Individualausbildung“ sowie Erhöhung individueller Kompetenz für Auslandseinsätze mit
Vor- und Nachbereitung.
Aufgaben für die Umsetzung
- Feststellung/Festlegung wer soll, wann, wofür, für welches Spektrum vorbereitet/ausgebildet werden
- Entwicklung Curriculum mit Spezifizierung auf individuelle/ebenenbezogene Kenntnisse und Fähigkeiten
- Identifizierung von bisherigen ethischen Bildungsmodulen; Verbindung mit
schon vorhandenem Element in der ethischen Bildung.
- Identifizierung von Lücken/Mängeln im bisherigem Spektrum und Erarbeitung von internen/externen Lösungsmöglichkeiten
- Aus-/Fortbildung von Lehr-/Ausbildungspersonal/Trainern
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- Entwicklung eines Handbuches/Ausbildungs- und Referenzhilfen
- Auswahl und Aufbereitung zweckdienlicher Methoden
Empfehlung
Integrativer Ansatz mit Theoretikern und Praktikern in Grundausbildung und
lehrgangsgebundener Aus- und Fortbildung, ergänzt durch den LKU.
Umsetzung
Geschätzte Vorbereitung und Umsetzung unter Nutzung schon vorhandener
Institutionen und Konzepte ab Entschlussfassung zumindest ein Jahr.
In der Umsetzung Verwendung von Pilotprojekten mit vergleichenden Ansätzen und dokumentierten Adaptierungen (damit könnte auch die Erprobung
der ZDv 10/1 innerhalb von 3 Jahren zielgerichtet möglich sein).
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Autorenverzeichnis
Alois Bach, Brigadegeneral, Jahrgang 1951, ist Kommandeur des Zentrums
Innere Führung. Zuvor war er Beauftragter für Erziehung und Ausbildung
des Generalinspekteurs der Bundeswehr sowie Kommandeur einer mechanisierten Brigade und der multinationalen Brigade Süd im Kosovo.
Uto Meier, Prof. Dr. theol., geb. 1955, lehrt und forscht an der an der Fakultät für Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit der Katholischen
Universität Eichstätt-Ingolstadt. Von 2002 bis 2012 Leiter des Masterstudienganges „Ethisches Management“; seit 2011 berufenes Mitglied im wissenschaftlichen Beirat im Zentrum für Ethische Bildung in den Streitkräften
der Militärbischofsämter Deutschlands. Zahlreiche Publikationen und Vortragstätigkeiten zu Fragen eines präventiven Risikomanagements und der
Implementierung von Ethik-Standards in die Funktionszwänge von Unternehmen und Institutionen.
Edwin R. Micewski, Dr. phil., geb. 1953, ist Sozialphilosoph und Militärethiker. Vor seiner Ruhestandsversetzung war er Direktor des Instituts für Human- und Sozialwissenschaften an der Landesverteidigungsakademie in
Wien, Vortragender an in- und ausländischen Universitäten sowie Leiter
internationaler Konferenzen zu Themenstellungen der politisch-militärischen
Beziehungen und politischen sowie militärischen Ethik. Autor zahlreicher
deutsch- und englischsprachiger Publikationen zu Fragen der politischen
Philosophie, Kulturpolitik, (militärischen) Ethik, zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Themenstellungen sowie zu militärischer Führung und
Bildung.
Thomas Schirrmacher, Prof., Dr. phil., Dr. theol., PhD, DD, geb. 1960, ist
Ethiker und Religionssoziologe; Professor für Religionssoziologie an der
Staatlichen Universität des Westens in Timisoara, Rumänien, Distinguished
Professor of Global Ethics an der William Carey University, Shillong,
Meghalaya, Indien, Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit
(Bonn, Kapstadt, Colombo) und Sprecher für Menschenrechte der Weltweiten Evangelischen Allianz, die 600 Mio. Christen vertritt. Er ist häufig als
Gutachter für den UN-Menschenrechtsrat, das EU-Parlament, den Deutschen Bundestag und andere Parlamente tätig. Seine Bücher wurden in 17
177
Sprachen übersetzt; zu den neuesten gehören Menschenrechte (2012),
Menschenhandel (2011), Fundamentalismus (2010), Rassismus (2009), Die
neue Unterschicht (2007) und Hitlers Kriegsreligion (2007).
178
Publikationen des Instituts für Religion und Frieden:
Ethica. Jahrbuch des Instituts für Religion und Frieden
2012: Militärseelsorgliche Optionen in unterschiedlichen Wehrsystemen
2011: Seelsorger im Dienst des Friedens: 50 Jahre Militärseelsorge im Auslandseinsatz
2010: Nie allein gelassen. Verwundung – Trauma – Tod im Einsatz
2009: Säkularisierung in Europa – Herausforderungen für die Militärseelsorge
2008: Der Soldat der Zukunft – Ein Kämpfer ohne Seele?
2007: Herausforderungen der Militärseelsorge in Europa
2006: 50 Jahre Seelsorge im Österreichischen Bundesheer. Rückblick – Standort –
Perspektiven
2005: Familie und Nation – Tradition und Religion. Was bestimmt heute die moralische
Identität des Soldaten?
2004: Sicherheit und Friede als europäische Herausforderung. Der Beitrag christlicher
Soldaten im Licht von „Pacem in Terris“
2003: Das ethische Profil des Soldaten vor der Herausforderung einer Kultur des
Friedens. Erfahrungen der Militärordinariate Mittel- und Osteuropas
2002: Internationale Einsätze
2000: Solidargemeinschaft Menschheit und humanitäre Intervention – Sicherheits- und
Verteidigungspolitik als friedensstiftendes Anliegen
Ethica Themen
Christian WAGNSONNER/ Stefan GUGEREL (Hg.): Krieg mit der Natur? Militärische Einsätze
zwischen Beherrschung des Geländes und Bewahrung der Umwelt (2012)
Gerhard MARCHL/ Christian WAGNSONNER (Hg.): Westliche, universelle oder christliche Werte?
Menschenrechte, Migration, Friedenspolitik im Europa des 21. Jahrhunderts (2012)
Christian WAGNSONNER/ Petrus BSTEH (Hg.): Vom „christlichen Abendland“ zum „Europa der
vielen Religionen“ (2012)
Christian WAGNSONNER/ Stefan GUGEREL (Hg.): Militärische Kulturen (2011)
Christian WAGNSONNER/ Stefan GUGEREL (Hg.): Star Trek für Auslandseinsätze? Konfliktstrategien und Lösungsansätze für reale Probleme in Science Fiction (2011)
Stefan GUGEREL/ Christian WAGNSONNER (Hg.): Bio-Tötung (2011)
Gerhard MARCHL (Hg.): Der Klimawandel als Gefahr für Frieden und Sicherheit (2011)
Petrus BSTEH/ Werner FREISTETTER/ Astrid INGRUBER (Hg.): Die Vielfalt der Religionen im Nahen
und Mittleren Osten. Dialogkultur und Konfliktpotential an den Ursprüngen (2010)
Gerhard MARCHL (Hg.): Die EU auf dem Weg zur Militärmacht? (2010)
Gerhard DABRINGER (Hg.): Ethical and Legal Aspects of Unmanned Systems. Interviews (2010)
Werner FREISTETTER/ Christian WAGNSONNER: Friede und Militär aus christlicher Sicht I (2010)
Stefan GUGEREL/ Christian WAGNSONNER (Hg.): Astronomie und Gott? (2010)
Werner FREISTETTER/ Christian WAGNSONNER (Hg.): Raketen – Weltraum – Ethik (2010)
Werner FREISTETTER/ Bastian Ringo PETROWSKI/ Christian WAGNSONNER: Religionen und
militärische Einsätze I (2009)
179
ISBN: 978-3-902761-18-7
180
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