185 Jahre Gürzenich

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Gürzenich-Chor Köln
von 1827 e. V.
...von 1827: Der Gürzenich-Chor in Köln und der Welt
Ein Streifzug durch bewegte 185 Jahre
In der sogenannten Restaurationszeit, als nach dem Wiener Kongress 1814/15
die konservativen Kräfte herrschten, entstanden in den deutschen Staaten viele
Vereine. In den Turn- und Schützenvereinen, Studentenverbindungen, Literaturzirkeln, Karnevalsgesellschaften und Liedertafeln organisierten sich liberal und
national gesinnte Bürger, die von politischer Beteiligung ferngehalten wurden.
Köln, das seinen Status als freie Reichsstadt 1794 verloren und zehn Jahre später
Napoleon mit hoffnungsvoller Begeisterung empfangen hatte, wurde 1815 dem
preußischen Staat eingegliedert. In der folgenden Zeit nahm Köln als Verkehrsknotenpunkt, Handelszentrum und Industriestandort einen rasanten Aufschwung.
Im Jahre 1827 führten Kölner Bürger die Musikgesellschaft und den Städtischen
Singverein zusammen und gründeten so die „Cölner Concert-Gesellschaft“.
Das Orchester setzte sich aus Mitgliedern des Theaterorchesters und der
Domkapelle, aus Militärmusikern und Laien zusammen.
Im Laufe der Zeit entwickelte es sich zum städtischen
Berufsorchester, der Chor
hingegen blieb stets eine
Sache von Laiensängern.
Der Domkapellmeister
Carl Leibl, Vater des berühmten Malers Wilhelm
Leibl, übernahm als erster
die Leitung der beiden
Musikkörper der Cölner
Concert-Gesellschaft.
Carl Leibl (1784-1870)
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Ihm folgte der Komponist, Dirigent und
Theatermann Conradin Kreutzer, der 1840
der erste städtische Musikdirektor wurde.
Allerdings verließ der unstete Mann diesen
Posten bereits zwei Jahre später. Ein herausragendes Ereignis seiner Amtszeit war
die Kölner Erstaufführung von Beethovens
9. Sinfonie. Als Leiter des 23. Niederrheinischen Musikfestes setzte er sie 1841 mit
einem Chor von insgesamt 500 (!) Sängern
und 182 Orchestermusikern ins Werk.
Conradin Kreutzer (1780-1849)
In die siebenjährige Amtszeit (1843-1849) des
rührigen Komponisten, Dirigenten und Musikmanagers Heinrich Dorn als städtischer
Musikdirektor und Leiter der Concert-Gesellschaft fielen aufregende Ereignisse. Es war die
Zeit des Vormärz. Die politischen Bewegungen, die einen deutschen Nationalstaat mit
einer freiheitlichen Verfassung anstrebten,
wurden immer lebhafter, es kam zur Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche
und zur „Märzrevolution“ von 1848, die zwar
weitgehend scheiterte, aber mit ihrer Verfassung eine wesentliche Grundlage unseres
Heinrich Dorn (1804-1892)
Grundgesetzes hinterließ.
Im gleichen Jahr veröffentlichten der frühere Redakteur der Kölner liberal-demokratischen „Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe“ Karl Marx und
der Gesellschaftstheoretiker und Publizist Friedrich Engels das „Kommunistische
Manifest“, das über anderthalb Jahrhunderte hinweg seine politische Wirkung
entfalten sollte. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. erfüllte seine romantischen Träume, bemühte sich aber gleichzeitig, sowohl Köln und das Rheinland
an den preußischen Staat zu binden als auch die nationale Welle aufzufangen,
indem er 1842 den Grundstein für den Weiterbau des Kölner Doms legte.
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Heinrich Dorn, der in Riga Vorgänger Richard Wagners gewesen war, hinterließ
mit der Gründung der Kölner Rheinischen Musikschule 1845 nachhaltige Spuren.
Wie seine Vorgänger übernahm er auch die Leitung der Niederrheinischen Musikfeste, die in Köln stattfanden. Auf dem 26. Musikfest 1844 führte er erstmals die
Missa solemnis von Beethoven auf. 1849 ging er als Hofkapellmeister nach Berlin.
Mit 35 Jahren, von 1850 bis 1884, prägte
Ferdinand Hiller die längste Epoche städtischen Musiklebens – eine Zeit mit vielen
einschneidenden und widersprüchlichen Ereignissen und Entwicklungen. Mit den Reichseinigungskriegen – zuletzt gegen Frankreich,
zu dem Köln unter Napoleon einmal gehört
hatte – erreichte Bismarck 1871 die Gründung
des von Preußen dominierten Deutschen
Kaiserreiches. Anschließend führte er den
„Kulturkampf“, um die konservativen und
autoritativen Tendenzen in der römisch-katholischen Kirche und deren Einfluss auf die
Ferdinand Hiller (1811-1885)
deutschen Katholiken zurückzudrängen;
dass in diesem Zusammenhang der Kölner Erzbischof Paulus Melchers 1874 verhaftet und ins Exil getrieben wurde, verstärkte die Vorbehalte der katholischen
Stadt gegen die protestantisch-preußische Obrigkeit. Diese trieb gleichzeitig den
Bau des Domes voran, zu dessen festlicher Einweihung 1880 Kaiser Wilhelm I.
aus Berlin kam. Zur gleichen Zeit bekämpfte Bismarck die Sozialdemokraten,
setzte aber Sozialreformen durch, deren Grundlagen bis heute nachwirken.
Der Sieg über Frankreich löste in Deutschland einen Wirtschaftsboom aus, der
Kölns Aufstieg weiter beschleunigte. Der Ausbau des Hafens sowie die Fertigstellung der ersten festen Rheinbrücke seit den Römern und des Hauptbahnhofes
bis Ende der 1850er Jahre beschleunigten die Verkehrsentwicklung. Die Bevölkerung stieg, auch dank der Eingemeindung von Nachbargemeinden, rasch an.
So wurde es unumgänglich, die aus dem Mittelalter stammenden Stadtmauern
niederzulegen (1881), um Raum für Wohnungen und Fabriken zu gewinnen.
Bedeutende Unternehmen wie die Schokoladenfabrik Stollwerck, die Deutzer
Motorenfabrik oder die Zuckerfabrik Pfeiffer & Langen prägten fortan die Industrielandschaft um Köln. Gleichzeitig wurden die beiden Festungsringe angelegt.
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Für die Cölner Concert-Gesellschaft brachte Hillers Leitung, die er, vertreten
durch Franz Weber, 1851 für zwei Jahre wegen Pariser Engagements unterbrach,
einen gewaltigen Aufschwung. Der international renommierte Musikpädagoge,
Dirigent und Komponist setzte eine Reihe von Reformen durch, um die Qualität
der Konzerte auf ein erstrangiges Niveau zu bringen. Die Proben wurden vom
Sonntagvormittag auf den Montagabend verlegt und professionalisiert. Nach
den Statuten von 1870 durfte in den Chor nur noch eintreten, wer sich vorher
in einem der anderen Chöre wie dem Städt. Gesangverein, Bachverein oder
Männergesangverein bewährt hatte. Der stärkste Ansporn ging, wie sollte es
anders sein, von der Vorbereitung anspruchsvoller Konzerte aus. Das waren
regelmäßig die Niederrheinischen Musikfeste, deren Konzerte meistens mehrere
Tage hintereinander ausverkauft waren. Im Jahr 1865 nahm als Sänger Friedrich
Nietzsche teil. Begeistert berichtete er von dem Konzert mit „182 Sopranen, 154
Alten, 113 Tenören und 172 Bässen; dazu ein Orchester aus Künstlern bestehend aus
etwa 160 Mann […]. Das Ganze wurde von Hiller dirigiert. Von den Damen zeichneten sich viele durch Jugend und Schönheit aus. Bei den drei Hauptkonzerten
erschienen sie alle in Weiß, mit blauen Achselschleifen und natürlichen und gemachten Blumen im Haar. Eine jede hielt ein schönes Bukett in der Hand. Wir Herren alle
in Frack und weißer Weste. Den Sonntag war das erste Konzert, ‚Israel in Ägypten‘
von Händel. Wir sangen mit unnachahmlicher Begeisterung bei großer Hitze…“.
[Zitat aus der Festrede von Hermann Engelhart anlässlich des Jubiläums 125 Jahre Gürzenich-Chor, 1956]
Der Beifall war gewaltig.
Mit der Aufführung von Bachs Matthäus-Passion, erstmals am Palmsonntag
1859, begründete Hiller eine andauernde, nur selten und aus nicht immer
nachvollziehbaren Gründen unterbrochene Tradition: die jährliche Aufführung in der Karwoche. 1875 dirigierte Hiller die Kölner Erstaufführung von
Verdis Requiem, zwei Jahre später übernahm der Komponist selbst das Dirigat
bei dem 51. Niederrheinischen Musikfest. Johannes Brahms leitete 1874 die
Aufführung seines Triumphlieds, 1878 dirigierte Max Bruch die Uraufführung
seines Oratoriums Das Lied von der Glocke. Dass diese führenden Komponisten – wie auch viele international gefeierte Sängerinnen und Sänger sowie
Instrumentalsolisten – es sich nicht nehmen ließen, mit Chor und Orchester
aufzutreten, zeugt von dem Ansehen, das sich Letztere erworben hatten.
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Gürzenich um 1900
Einen Meilenstein in der Konzertgeschichte bedeutete der 1855 begonnene
Umbau des Gürzenich. Im 15. Jahrhundert als städtisches Festhaus errichtet,
hatte das Gebäude später als Waren- und Kaufhaus gedient. Seit Anfang des
19. Jahrhunderts fanden dort wieder Feste wie Karnevalsbälle und politische Veranstaltungen statt. 1849 hatte hier Karl Marx sein Kommunistisches
Manifest verkündet, kurz darauf hatten 500 rheinische Abgeordnete der
Paulskirchenverfassung zugestimmt. Am 17. November 1857 gab die ConcertGesellschaft in der neugestalteten Konzert- und Festhalle ihr erstes „Großes Gesellschaftskonzert“. Die regelmäßig folgenden Konzerte wurden als
„Gürzenich-Konzerte“ bekannt, und dementsprechend nennt der Chor der
„Cölner Concert-Gesellschaft“ sich seither „Gürzenich-Chor“. Der Zusatz „der
Stadt Köln“ ergab sich daraus, dass er dem ebenfalls umbenannten städtischen
„Gürzenich-Orchester“ als Chor zur Verfügung zu stehen hatte und von der Stadt
als offizieller Chor zu ihren festlichen Veranstaltungen herangezogen wurde.
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Die knappen zwei Jahrzehnte der Ära Franz
Wüllner (1884-1902) schienen mit der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert den Aufbruch
in eine neue Zeit mit sich zu bringen. Jedoch
sollte erst der Erste Weltkrieg zum Zusammenbruch des europäischen Staaten- und
Ordnungssystems führen. Bis dahin verschoben sich die Machtverhältnisse in Europa allmählich in Richtung der Konstellation dieses
Krieges, der für viele Menschen in Europa
in der Luft lag. Im Deutschen Reich brachte
das „Dreikaiserjahr“ 1888 Wilhelm II. auf den
Thron, der mit seiner politischen GroßmannsFranz Wüllner (1832-1902)
sucht und seinen unkontrollierten Reden viel
politisches Porzellan zerschlug, ohne es eigentlich zu wollen. Er entließ Bismarck,
um mit schwächeren Reichskanzlern ein „persönliches Regiment“ zu führen.
Deutschland stieg vom Agrarland zur drittgrößten Industrienation neben Großbritannien und den USA auf, seine Bevölkerungszahl verdoppelte sich, es baute eine
große Schlachtflotte auf, um Kolonien zu erwerben und „Weltpolitik“ zu treiben.
Die Sozialdemokraten wurden größte Reichstagsfraktion.
Köln setzte, wie Berlin oder die Ruhrgebietsstädte, seine rasante Entwicklung
fort. Der Rheinauhafen wurde in Betrieb genommen, die Straßenbahn elektrifiziert und das Fahrradfahren erlaubt. Die religiöse und kulturelle Bedeutung der
Stadt bezeugten z. B. die große Synagoge in der Roonstraße, die 1899 eingeweiht
wurde, oder das 1902 eröffnete Opernhaus am Habsburgerring, mit 1800 Plätzen
eines der größten Theater in
Deutschland, an dem viele
bedeutende Künstler wirkten.
Es war Johannes Brahms, der
seine eigene Berufung abgelehnt und dafür seinen Freund
Franz Wüllner nach Köln empfohlen hatte. Unter dessen Leitung spiegelte das musikalische
Leben die Dynamik der Stadt
wider. Der Pianist, Komponist
und vor allem hoch angesehene
Dirigent vollendete in Köln seine
Opernhaus Köln um 1902
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Karriere, die ihn durch viele bedeutende Stationen – u. a.
Hofkapellmeister in München
und Dresden, dort auch Leiter
des Konservatoriums – geführt
hatte. Dabei hatte er sich ein
Netzwerk aufgebaut, zu dem
neben Brahms Richard Strauss,
Joseph Joachim, Ignaz Moscheles und viele andere bedeutende
Musiker gehörten. Von ihren
Auftritten in Köln wie auch etwa
von denen Peter Tschajkowskijs,
Edvard Griegs, Anton Rubinsteins, Lilli Lehmanns oder Pablo
de Sarasates zeugen die Eintragungen in das erhalten gebliebene Goldene Buch des Chores.
Konzert 1894
Unter Wüllners Ägide wurde das
Gürzenich-Orchester 1888
Berufsorchester im Dienste der
Stadt. Besonders intensiv widmete er sich der musikalischen
Erziehung des Gürzenich-Chores.
Grundlage seiner Arbeit bildete sein
eigenes Lehrbuch für Chorgesang,
und zur Vorbereitung seiner Konzerte, bei denen er den Chor bevorzugt
einsetzte, erhöhte er die Anzahl der
Proben von zwei auf bis zu vier pro
Woche. Siebenmal leitete er, wie
seine Vorgänger, die Niederrheinischen Musikfeste, die außer in Köln
auch in Aachen und Düsseldorf
stattfanden. Als der Kölner Männergesangverein 1892 die Feier seines
Goldenes Buch Eintragung Tschajkowskij 12. Februar 1889
fünfzigjährigen Jubiläums mit einem Festkonzert eröffnete, trat dort auch der Gürzenich-Chor unter Wüllner auf.
Mit dem Ersten Weltkrieg, häufig als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts
bezeichnet, endete das „lange“ 19. Jahrhundert, das mit der Französischen
Revolution begonnen hatte. In den vorausgehenden Jahren steuerte Europa
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immer rascher auf den Krieg zu, den kaum jemand ernsthaft wollte, aber niemand verhinderte. Nationalistische Überheblichkeit und machtpolitische Rivalität
heizten jedoch sowohl in allen Ländern das innenpolitische Klima als auch die
internationalen Spannungen an. Pazifistische Bewegungen vermochten dagegen
nichts auszurichten. Die beteiligten Mächte formierten sich um die Hauptgegner:
die Mittelmächte Deutsches Reich, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich
gegen die Ententemächte Frankreich und Großbritannien mit dem verbündeten Russischen Reich. Aus dem von mehreren Kriegen heimgesuchten Balkan
kam schließlich der Zündfunke, der Anfang August 1914 den Krieg auslöste.
An den kriegswirtschaftlichen Vorbereitungen hatte die Kölner Industrie erheblichen Anteil, beispielsweise die Deutz AG. Da sie seit Jahren Verbrennungsmotoren baute und Dieselmotoren entwickelte, wurden sie ein bedeutender Rüstungsbetrieb. Die zentrale Lage Kölns im Schienen- und Wasserwegenetz
förderte den Warenumschlag. Was die Stimmung der Bevölkerung bei Kriegsbeginn betraf, so unterschied sie sich nicht von der allgemeinen Begeisterung
im Reich: Man jubelte.
Der Badener Fritz Steinbach (1903-1914)
kam nach Stationen in Mainz und Frankfurt
aus Meiningen, wo er die Leitung der Hofkapelle von Richard Strauss übernommen hatte. Mit Johannes Brahms eng befreundet,
hoffte er, Meiningen zu einem Brahms-Zentrum zu machen. Als diese Pläne scheiterten,
trat er in Köln die Nachfolge Wüllners an.
Als Direktor des Konservatoriums zählte
er den später namhaften Dirigenten Hans
Knappertsbusch oder den Komponisten und
Geiger Adolf Busch zu seinen Schülern. Im
Umgang mit dem Gürzenich-Chor trat er
Fritz Steinbach (1855-1916)
weniger als Musikpädagoge hervor, viel
mehr begeisterte er durch seine heitere Wesensart und den mitreißenden
Schwung, mit dem er auch die Konzerte dirigierte. Steinbach tat viel, um gesellschaftlichen Kontakt innerhalb des Chores durch Feste und Ausflüge zu beleben
und die Bekanntheit des Chores durch Konzertreisen und Beteiligungen an
Musikfesten zu fördern.
Es traten jedoch Entwicklungen ein, die dem heutigen Leser bekannt vorkommen
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dürften: Im Chor kam es zu einem
Schwund bei den Männerstimmen,
und in den Konzerten gingen die
Besucherzahlen derart zurück, dass
nicht mitwirkende Sängerinnen und
Sänger Freikarten mit der Erwartung
erhielten, den Saal zu füllen. Das
Publikum, das sich ab 1906 statt für
ein Konzert auch für einen Besuch im
ersten festen Kino Kölns entscheiden
konnte, beklagte sich zunehmend
über die schlechte Akustik im Gürzenich, über die immer lauter hereindringenden Außengeräusche und
nicht zuletzt über schlechten Service
und mangelnde Sauberkeit. Es sollte
noch runde 80 Jahre dauern, bis Köln
mit der Philharmonie einen Konzertsaal baute, der alle Wünsche erfüllte.
Konzert unter Leitung von Gustav Mahler und Fritz Steinbach 1904
Unmittelbar vor Kriegsausbruch
gab Steinbach seine Ämter auf und
ging nach München, wo er zwei
Jahre später starb.
Die Ära Hermann Abendroth (1915-1934) fiel in eine Zeit, in der das Deutsche
Reich nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg erstmals mit der Weimarer Republik die Demokratie probte, der man schließlich nicht gewachsen war. Da gab
es zunächst den als „Schmach“ empfundenen Versailler Vertrag mit all
seinen Folgen, hinzu kamen hitzige Kämpfe von „rechts“ und „links“; wirtschaftliche Krisen taten das Ihrige dazu: die Inflation (1923) sowie der New
Yorker Börsenkrach (1929), der die kurze wirtschaftliche Stabilisierung in den
sogenannten „goldenen Zwanzigerjahren“ erschütterte und zu einer Weltwirtschaftskrise führte, infolge derer sich weite Kreise der Gesellschaft enttäuscht von den demokratischen Parteien ab und der NSDAP zuwandten.
In Köln, das nach Kriegsende von britischen Truppen besetzt wurde (bis 1926),
war 1917 Konrad Adenauer zum Oberbürgermeister gewählt worden, während
die Stadt unter Versorgungsmangel, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot litt. Dennoch ging es vorwärts in der Stadt: Nach über 120 Jahren wurde im Juni 1919 die
Kölner Universität wiedereröffnet. 1921 begann die Stadt mit der Schleifung der
Festungsringe gemäß den Versailler Vertragsbedingungen und legte auf deren
Rayons ab 1922 den Grüngürtel an. 1923 wurde das erste Müngersdorfer Stadion
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fertiggestellt, 1924 stand der Rohbau des seinerzeit höchsten Wolkenkratzers Europas, das (heutige) Hansahochhaus. Im Mai 1924 öffnete die im Backsteinexpressionismus errichtete Kölner Messe ihre Tore, im November desselben Jahres wurde die weltweit größte freischwingende Glocke, der „Decke Pitter“, eingeweiht.
Im Kaufhaus Tietz rollte 1925 die erste Treppe Deutschlands. Der Siedlungsbau
boomte, der Butzweilerhof entwickelte sich zum zweitgrößten deutschen Flughafen, im Oktober 1928 wurde die Rheinlandhalle eröffnet. 1929 legte der Automobilkonzern Ford den Grundstein für das Werk in Köln-Niehl, und im August 1932
wurde die Kraftwagenstraße Köln-Bonn als erste Reichsautobahn freigegeben.
Festakt Messe 1926
Während der Weimarer Republik war Köln eine bedeutende Musikstadt. So
wirkten hochrangige Dirigenten wie Otto Klemperer an der Kölner Oper, die nun
eigenständige Westdeutsche Rundfunk AG ging 1926 auf Sendung, und nicht
zuletzt verfügte die Stadt, ebenfalls seit 1926, über ein Radiorundfunkorchester.
Politisch ging es weniger erfreulich zu: 1933 wählten knapp 40% der Kölnerinnen
und Kölner die NSDAP bei der Kommunalwahl zur stärksten Ratsfraktion. Konrad
Adenauer wurde als Oberbürgermeister entlassen, SS und SA besetzten das
Rathaus und schalteten die Stadtverwaltung gleich. Josef Grohé hatte nun als
Leiter des NSDAP-Gaues Köln-Aachen das Sagen. Im Mai 1933 fanden vor der Universität inszenierte Bücherverbrennungen statt, im Sommer begann der Terror
der Gestapo, die erst im Polizeipräsidium, dann im EL-DE-Haus ihren Sitz hatte.
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1915 übernahm Hermann Abendroth den
Posten des Chefdirigenten des GürzenichOrchesters und 1918 den des Generalmusikdirektors der Stadt Köln. „Liebenswürdig in
seinem Wesen - wenn er auch schon mal donnern konnte, gewann er sich schnell die Herzen
der Mitglieder, besonders der Chordamen“. So
charakterisierte ihn einst Hermann Engelhart
in seiner Festrede zum 125jährigen Bestehen
des Gürzenich-Chores. Ebenso rasch eroberte er sich das Kölner Publikum. Bewundert
wurden die „jugendliche Schwungkraft“
des „ewig zuvorkommenden Kavaliers des
Hermann Abendroth (1883-1956)
Taktstocks“, sein Maßhalten auch im Dramatischsten sowie die Gabe, Form und Inhalt
musikalischer Werke nicht gegeneinander auszuspielen.
Abendroth galt als bedeutender Erzieher einer ganzen Dirigentengeneration.
Zusammen mit Walter Braunfels, den
er sehr schätzte und dessen Werk er
(ur-)aufführte, übernahm er 1925 die
Direktion der Kölner Musikhochschule,
die unter der Leitung des Gespanns
bald zu einem der modernsten Konservatorien Deutschlands zählte.
Trotz der politischen Wirrnisse nahm
das Gürzenich-Chorleben seinen umtriebigen Lauf. Unter Abendroths Leitung
wirkten die Chordamen 1918 bei einer
Wohltätigkeitsveranstaltung im Opernhaus zu Gunsten der im Rheinland
wohnhaften österreichischen und ungarischen Kriegswitwen und -waisen mit.
Konzertankündigung Berlin 1927
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1925 sang der Chor bei der Trauerfeier der Stadt für Reichspräsident Friedrich
Ebert sowie beim Festakt der Jahrtausendfeier der Stadt Köln. 1927 feierten
die Concert-Gesellschaft und der Gürzenich-Chor ihr 100-jähriges Bestehen mit
einem Fest, auf dem Konrad Adenauer herzliche und lobende Worte fand.
Brief von Konrad Adenauer 1925
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Im Mai desselben Jahres
unternahm der Chor eine Konzertreise nach Berlin, zu der
die Deutsche Reichregierung
und die Preußische Staatsregierung eingeladen hatten:
Man reiste mit dem Sonderzug
und gab die Große Messe von
Braunfels, zusammen mit dem
Orchester der Staatsoper im
Saal der Philharmonie. Auch
zum Festakt zur Eröffnung
Konzertreise Berlin 1927
der Internationalen PresseAusstellung 1928 (Pressa) steuerte der Chor Musikalisches bei. Nicht zuletzt
wirkte der Chor bei der Aufführung von Verdis Requiem am Bußtag 1928 mit.
Einladung von Reichskanzler Marx, Berlin 1927
Die traditionellen 12 Konzerte pro Saison im Gürzenich fanden weiterhin statt,
wobei die Matthäus-Passion stets den Abschluss bildete. 1924 hatte die große
Messehalle in Deutz eröffnet, in der ab der Konzertsaison 1928/29 die großen
Chorwerke aufgeführt wurden. Abendroth beschränkte sich bei seiner musikalischen Arbeit keineswegs nur auf Standardwerke wie die Bach-Passionen oder die
Haydn- und Händel-Oratorien, sondern offerierte dem Publikum zahlreiche Urund Erstaufführungen zeitgenössischer Kompositionen. So kamen unter seiner
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Ägide das Marienleben (1919) von August von Othegraven, das Te deum (1922)
und die Große Messe (1927) von Walter Braunfels (Uraufführungen) sowie die
Kantate von Egon Wellesz (1932) zur Aufführung. 1923 leitete Otto Klemperer,
der Generalmusikdirektor der Oper Köln, die Uraufführung seiner C-Dur-Messe,
und Hans Pfitzner dirigierte 1930 die Uraufführung seiner Chorkantate Das dunkle
Reich im Gürzenich. Abendroth scheute sich auch nicht davor, politisch
unerwünschte Komponisten wie Bartók, Hindemith, Schönberg oder Stravinsky
aufzuführen.
Das Ende seiner Zeit als GMD war politischer Natur. 1928 hatte Abendroth die
Ehrenmitgliedschaft in der deutsch-nationalen Vortragsbühne des Westens
abgelehnt mit den Worten, er sei zwar Arier, „aber nicht geneigt, mich an einem
Unternehmen zu beteiligen, das das Judentum planmäßig boykottiert.“ Zwar trat
er 1933 der Reichsmusikkammer bei, lehnte jedoch die Mitgliedschaft in der
NSDAP ab. Sein Einsatz für jüdische Komponisten und Tourneen in die Sowjetunion führten zu Spannungen mit dem Gauleiter Grohé, die darin gipfelten, dass
er, kurz nachdem Walter Braunfels als „Halbjude“ aus seinem Amt als Mitdirektor der Musikhochschule entlassen worden war, 1934 ebenfalls seines Amtes
enthoben wurde. Abendroth wechselte an das Leipziger Gewandhausorchester.
Nach Abendroths Weggang entbehrte Köln bis 1936 einen Generalmusikdirektor und „behalf“ sich mit solch namhaften Gastdirigenten wie Knappertsbusch,
Konwitschny oder Hasse sowie auch Eugen Papst, der an der Musikhochschule
Köln Dirigieren lehrte und die nächste Ära der Chor- und Orchestergeschichte
gestalten sollte. Für die Probenarbeit sprang kurzzeitig die pensionierte Kantorin E.M. Brockmöller-Hofstede ein, eine uneheliche Tochter des legendären
Diplomaten und inaktiven Chormitgliedes Edmund Friedemann Dräcker.
Zu dieser Zeit war Adolf Hitler dabei, seinen totalitären Führerstaat mit
der Verwirklichung seiner nationalsozialistischen Ziele zu schaffen. Unter
den Bedingungen einer „arisierten“ und auf den Geschmack Hitlers zugeschnittenen, rigiden Kulturpolitik trat Eugen Papst 1936 mit Unterstützung
von Richard Strauss die Nachfolge von Hermann Abendroth an. Zu dieser Zeit marschierte die Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland ein
(„Rheinlandbesetzung“). Am 9. November 1938 wurden die Synagogen in
der Roonstraße, der Glockengasse und der Körnerstraße angezündet, andere verwüstet. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört.
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Arier-Bescheid 1936
Kurz darauf (ab 1939) brachte man Kölner Juden in „Judenhäusern“ unter,
um sie von dort aus später zu deportieren. 1940 wurden in Köln lebende Sinti
und Roma verhaftet und deportiert, die „Generalprobe“ für die nachfolgende Verschleppung der Kölner Juden (ab 1941). Im Mai 1940 wurde die Stadt
erstmals aus der Luft angegriffen, 1942 begannen die Briten mit dem ersten
„Tausend-Bomber-Angriff“ das Bombardement der Stadt. Die Altstadt war
Ende des Krieges fast komplett zerstört, die Einwohnerzahl stark dezimiert.
Im März 1945 etablierte sich zunächst die amerikanische, dann die britische
Militärregierung. Die Stadt bevölkerte sich rasch wieder. Ende Dezember nahm
die Universität wieder ihren Betrieb auf - und auch das Chorleben erwachte
nach kurzer Pause erneut.
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Eugen Papst (1886-1956)
Eugen Papst leitete seit 1935 bereits den
Kölner Männergesangverein, bevor er 1936
als GMD die beiden Gürzenich-Klangkörper
übernahm. Dies kam dem Chor insofern zugute, als man jetzt leicht männliche Aushilfen
akquirieren konnte und nicht mehr, wie zuvor,
auf die Verstärkung durch Opernchorsänger
angewiesen war. Immer auf der Suche nach
neuen Sängerinnen und vor allem Sängern –
es wurden regelmäßig einmal pro Saison Anzeigen in den Tageszeitungen geschaltet –
bestrebte man auch eine Verjüngung des
Chores. Was die Altersstruktur anbelangte,
soll Papst einmal gewitzelt haben
über „Damen […], die anscheinend das Requiem bereits unter
Verdi mitgesungen hätten.“
[Zitat aus der Festrede von
Hermann Engelhart anlässlich
des Jubiläums 125 Jahre Gürzenich-Chor, 1956]
Das Chorrepertoire bestand zu
jener Zeit vor allem aus den großen
barocken bis spätromantischen
Chorwerken. Ende 1939 wurde das
Lied von der Mutter von Joseph
Haas uraufgeführt, und zur Matthäus-Passion von Bach kamen 1940
über 4600 Menschen in den Dom.
Matthäus-Passion 1940
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Die Kriegsereignisse erschwerten zunehmend das Chorleben und brachten
es schließlich zum Erliegen. Dennoch ist in der Kriegszeit unter widrigsten
Umständen geübt und konzertiert worden. Davon berichten u.a. die Rundbriefe, die der Vorstand an die Chormitglieder an der Front verschickte: „Liebe
Sangesbrüder im Waffenrock“, beginnen diese Briefe, in denen regelmäßig
von der Chorarbeit berichtet wurde und die als „Bindeglied zwischen Heimat
und Front“ von den Soldaten interessiert und dankbar empfangen wurden.
„Liebe Sangesbrüder im Waffenrock,[…] Ein arbeitsreicher Winter liegt hinter uns.
Wir haben durchschnittlich jeden Monat ein großes Chorwerk herausgebracht. Zurückschauend können wir mit Stolz sagen, dass unser Chor seine Aufgabe, in ernster
Kriegszeit edelste Musik zu pflegen und hierdurch vielen Volksgenossen Entspannung und seelische Aufmunterung zu bringen, voll und ganz erfüllt hat. Dies ist auch
von Publikum und Presse dankbar anerkannt worden, und mit Recht. Denn ungefähr 50 unserer Mitglieder sind totalfliegergeschädigt. Eine ganze Anzahl hat nach
auswärts verziehen müssen. Zum Besuche der Proben müssen viele stundenlang
fahren und Opfer an Zeit und Geld bringen, und trotz Bombenangriffe und Flakschießens wird pflichtgetreu angetreten! Wenn einmal die Geschichte unseres Chores geschrieben werden wird, so muss diesem Winter ein Ehrenblatt gewidmet werden.“
[Brief vom 2. April 1944; Chor-Archiv]
Feldpostbrief vom 15. Januar 1944
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Die Proben- und Konzertsituation wurde durch das Bombardement der Stadt
zunehmend prekär. Nachdem man jahrzehntelang im Saal der Musikhochschule Wolfstraße, dem früheren Konservatorium, und danach in der Wolkenburg geprobt hatte (ab 1936), wechselten nun die Probenorte: von der Aula
der Städtischen Oberschule Humboldtstraße in den Chorsaal des Opernhauses, und von dort aus in die Mensa der Kölner Universität. Konzertiert wurde
im Opernhaus, nachdem die Messehalle und der Gürzenich zerstört waren.
Schließlich lagen alle Räumlichkeiten, die man hätte nutzen können, in Schutt
und Asche. Nach dem Luftangriff vom 21. April 1944 kam es in der Mensa der
Universität, deren Saal unbenutzbar geworden war, zu folgender Szene:
„Man versammelte sich im Flur. Prof. Papst sagte ungefähr Folgendes: Infolge der Kriegsereignisse können die Proben nicht fortgesetzt werden. […] Er,
Papst, hoffe aber, dass wir im Herbst wieder zusammenkommen könnten. […]
Wenn in der Presse der Ruf an die Mitglieder erginge, zur Probe zu erscheinen,
so hoffe er, dass alle wiederkämen. Herr Engelhard betonte nachdrücklichst,
dass unter keinen Umständen die Meinung aufkommen dürfe, der Chor hätte
sich aufgelöst oder sei auseinandergefallen. Wir wollen jetzt erst recht zusammenhalten und unter allen Umständen wieder zusammenkommen, um unsere
herrliche Aufgabe zu erfüllen, edelste Musik zu pflegen. Dann ging die Versammlung still und nachdenklich auseinander.“ [aus der Chronik von H. Engelhart, April 1944]
Erst ab August 1945 konnte wieder geprobt werden, nachdem ein Aufruf vom
26. Mai 1945 im Kölner Kurier die Mitglieder des Gürzenich-Chores sowie Interessenten zwecks Neuaufstellung in das Opernhaus zusammengerufen hatte;
mit rund 150 Sängerinnen und Sängern startete man in die Saison 1945/46 mit
Händels Messias, den Philipp Röhl, der Chordirektor der Oper, einstudierte.
Der Theater- und Konzertbetrieb, der im August 1944 per Erlass eingestellt worden
war, kam in Köln rasch wieder auf die Beine. Im November 1945 erging ein Bescheid der Militärregierung an die Concert-Gesellschaft, der die weitere
Existenz des Chores genehmigte, ohne eine Neugründung zu verlangen.
Allerdings mussten Probezeiten und Probenorte angegeben sowie Konzerte
von der Militärregierung genehmigt werden.
[Schreiben der Concert-Gesellschaft Köln an die Stadt vom 05.12.1945; Chor-Archiv]
Zu diesem Zeitpunkt war die Ära Eugen Papst de facto bereits beendet. Die
Frage um sein Amt sorgte allerdings noch für erheblichen Wirbel, denn trotz
des noch laufenden Vertrags mit Papst hatte die Stadt 1946 Günter Wand zum
Generalmusikdirektor berufen. Papst indessen hatte nach Kriegsende seine
Dienststelle nicht gleich wieder angetreten, da er annahm, als ehemaliges
Parteimitglied suspendiert worden zu sein, aber seine Wiederberufung durch
die Stadt erwartete. Papsts Eintritt in die Partei war 1938 „ohne jegliche
Bemühung meinerseits“ erfolgt.
[Briefabschrift von Eugen Papst an Oberbürgermeister Dr. Suth vom 20.11.1945; Chor-Archiv]
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Im Gürzenich-Chor entzündeten sich in dieser Angelegenheit heftige Diskussionen. Viele Mitglieder bewerteten ein Ende der Ära Papst als einen großen
Verlust für Köln, einige weigerten sich sogar, unter der Leitung von Günter Wand
zu singen. Schließlich sprach der Vorstand ein Machtwort: Man singe letztlich,
bei aller Verehrung für den Chorleiter, nicht für diesen, sondern für das
Publikum, für die Heimatstadt.
Zu Beginn der Kölner Amtszeit von
Günter Wand (1946-1974) standen die
Integration der 15 Millionen Flüchtlinge und
Vertriebenen und der Wiederaufbau des
zerstörten, in vier Zonen aufgeteilten Landes,
an. Nach der Währungsreform wurden 1949
in den westdeutschen Zonen - in „Trizonesien“ - die Bundesrepublik Deutschland, in
der Sowjetzone die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Für den Westen
wurden die Fünfzigerjahre ein Synonym
für Westintegration, Wirtschaftswunder,
Nierentisch und Tüten-Design, Schnulze
Günter Wand (1912-2002)
und Heimatfilm, aber auch für Rock‘n Roll
und für die „Halbstarken“. Der Protest gegen den amerikanischen Krieg in
Vietnam, die Hippie-Bewegung mit „Woodstock“ 1969 als Höhepunkt und die
jugendliche, vor allem studentische Rebellion gegen die Formen bürgerlicher
Ordnung („68er-Bewegung“) verbanden sich zu einer radikalen Bewegung, die
viele westliche Länder erfasste. In den siebziger Jahren musste sich der Staat
mit linksextremem Terror auseinandersetzen („Deutscher Herbst 1977“).
Das in Trümmern liegende Nachkriegsköln, eher rasch als schön wieder aufgebaut, bevölkerte sich schnell wieder. Im Herbst 1953 kam das MillowitschTheater mit einer NWDR- Live-Übertragung des Stückes Der Etappenhase
(Karl Bunje) deutschlandweit in die Wohnzimmer; als Ersatz für eine ausgefallene Sportübertragung wurde es mit einem Schlage bekannt. Im Oktober
1955 wurde der Gürzenich unter Mitwirkung des Chores feierlich (neu) eingeweiht. 1956 teilte sich der NWDR in die eigenständigen Sendeanstalten
WDR und NDR. Im selben Jahr wurde anlässlich des Katholikentags der restaurierte Dom wiedereröffnet, ein Jahr später, 1957, folgte die Einweihung
des neuen Opernhauses am Offenbachplatz. 1962 schaffte es der 1. FC Köln,
mit 4:0 gegen den 1. FC Nürnberg Deutscher Fußball-Meister zu werden.
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Joseph Höffner wurde 1969 Erzbischof von Köln. Der Gründung des RömischGermanischen Museums im Jahr 1974 folgten weitere Museumsgründungen.
Im April 1946 übernahm Günter Wand, der bereits seit 1939 der 1. Kapellmeister
der Kölner Oper war, das Amt des Generalmusikdirektors und künstlerischen
Leiters des Gürzenich-Chores; diese Position behielt er bis zum Jahr 1974.
Die aus der „Affäre Papst“ resultierenden anfänglichen Vorbehalte gegen Günter
Wand wichen schnell einer Sympathie und respektvollen Begeisterung für den
jungen Chorleiter. Die Chor-Chronik erinnert an ihn mit den Worten: Seine
„federnd-schlanke Gestalt, seine bei aller Biegsamkeit straffe Dirigentengeste
und sein espritvoll-improvisatorisches, dabei letztlich doch bewusst-gebändigtes
Naturell suggerieren im Moment eine Erscheinung, die sich ganz ins Gegenwärtige
objektiviert: Nerv und Herz beschwören da Klanggestalten wie aus Glas und Stahl,
von warmem Licht farbig durchflutet. Überall klare Umrisse, kammermusikalische
Zeichnung im Detail, aufs Ganze gesehen großlinige Architektur. Nie ein technisches Versagen, immer im Klangapparat gegenwärtig, und doch das Orchester
zu selbstständigem Musizieren animierend, also auch umgekehrt: Der Dirigent
als primus inter pares.“ [125 Jahre Gürzenichchor Köln, Chronik, S. 109]
Günter Wand 1952
Wands Interesse an moderner Musik und
sein Streben nach Perfektion machten das
Gürzenich-Orchester zu einem international
berühmten Klangkörper und gaben auch
dem Chor neue Impulse. In den Jahrzehnten seines Wirkens in Köln prägte der junge
Günter Wand nachhaltig das Musikleben
der Stadt. Er führte die Tradition der
Aufführung großen Messen und Oratorien
zwar fort, darüber hinaus fanden jedoch
auch zeitgenössische Werke ihren Weg ins
Chor-Repertoire: Im Mai 1948 wurde die
Burleske Kantate Lob der Torheit von
Bernd Alois Zimmermann uraufgeführt, des Weiteren standen das
Chant de Naissance von Fortner, das
Streitlied von Liebermann, Les Noces
und die Psalmensinfonie von StraEintrittskarte 1947
winsky, die Kantate Nr. 1 von Webern,
Golgotha von Martin und Liturgien von Messiaen auf den Konzertprogrammen.
Mit den Liturgien reisten Günter Wand und einige Chordamen 1952 nach Berlin
und führten sie dort mit den Berliner Philharmonikern im Titania-Palast auf.
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Ein Mitglied an den Vorstand 1954:
„[…] über Ihren lieben Glückwunsch
zur Geburt unseres Kindes haben
wir uns sehr gefreut. Mein erster
Versuch, das Kind mit Singen vom
Schreien abzuhalten, war ein Erfolg.“
Ein Mitglied an den Vorstand 1956:
„[…] darf ich noch erwähnen,
dass ich mich gerade an den Gürzenichchor gewandt habe, weil
ich annehme, dass hier nicht nur
ernsthaft musikalisch gearbeitet
wird, sondern auch wirklich gepflegte Geselligkeit anzutreffen ist.“
„Meine Damen!
Ich flehe Sie auf den Knien an: s i n g e n S i e!“
[Aus dem Nikolausfest-Heft des Gürzenich-Chors 1948;
Zeichnung: Lore Saur]
„Meine Herren: Sie singen wie ein alter Staubsauger…!“
[Aus dem Nikolausfest-Heft des Gürzenich-Chors 1948; Zeichnung: Lore Saur]
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Weitere Stilblüten des Chorlebens aus den 1950er Jahren:
Antwort von H. Engelhart:
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27
Der Gürzenich-Chor hatte trotz aller Nachkriegsmühsale seine Unternehmungslust nicht eingebüßt; man feierte regelmäßig Nikolausfeste und beteiligte sich an
Karnevalsfeiern, unternahm Ausflüge und Schiffstouren. Für die Organisation
dieser außerchorischen Aktivitäten gab es einen eigens dafür eingerichteten
„Vergnügungsausschuss“.
Beschwerdebrief 1956
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Mit Günter Wand begann für den Gürzenich-Chor auch insofern eine neue Ära,
als der Chor genötigt war, sich von der Concert-Gesellschaft zu trennen, die
zu jener Zeit aufgrund finanzieller Not praktisch nicht mehr bestand, trotz der
intensiven Bemühungen seitens des Chores, ihr zu neuem Leben zu verhelfen. 1944 hatte die Direktion der Concert-Gesellschaft Hermann Engelhardt,
Mitglied des Chores, gebeten, die „leitende Betreuung“ des Chores zu übernehmen. Von nun an führte der Chor die Verhandlungen mit der Stadt selbst
und wählte sich einen Vorstand. Die bisher von der Concert-Gesellschaft veranstalteten Sinfoniekonzerte firmierten nun als „Städtische Konzerte.“
In der Nachkriegszeit probte der Chor im Orchester-Probesaal im Opernhaus und
konzertierte in der Aula der Universität. Wiederholt gab es Klagen wegen des Mangels an Sitzgelegenheiten – der Chor war inzwischen auf stolze 200 Personen angewachsen – sowie wegen der Tatsache, dass Stühle und Bänke stets erst aufgestellt
werden mussten. Auch über die Konzertsituation in der Aula war der Chor alles
andere als glücklich: „Müssen wir noch immer, dicht aneinander gedrängt, manchmal
nur auf einem Bein stehend, die Hälse verrenkt und den Körper verdreht, um den Dirigenten überhaupt sehen oder das Notenblatt einigermaßen lesbar halten zu können,
auf dem Podium stehen, ohne auch einmal ein wenig sitzen zu können? Das geht jetzt
schon 5 Jahre so. […] Gibt es denn noch immer keine Änderung und lässt sich kein
Podium schaffen, von dem man, wie es sich gehört, in das Publikum hineinsingen kann
und nicht in das Orchester, wie es jetzt der Fall ist? […]Am besten wäre es, wenn eine
Musikhalle geschaffen würde, die einer Stadt von der Bedeutung Kölns angemessen ist, sei es der Gürzenich oder ein ähnlicher Raum, und zwar in kürzester Frist.“
[Brief von Engelhardt an den Oberbürgermeister vom 20 August 1950; Chor-Archiv, Nr. 182]
„Es ist ganz gleich,
ob ich gerade etwas
ansage oder nicht;
wenn einige Herren
den Saal verlassen,
dann drehen sich
mindestens 90% der
Damen um. Das
ist die gänz(s)liche
Uninteressiertheit.“ [Aus dem
Nikolausfest-Heft
1949 des GürzenichChores; Zeichnung:
Lore Saur]
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Der zerstörte Gürzenich
Einige Mitglieder des Gürzenich-Chores packten tatkräftig mit Schaufel und
Pickel bei der Entschuttung des Gürzenichs an, der „Stätte, wo unser Chor früher
durch seine Darbietungen Triumphe gefeiert hat, damit der ehrwürdige Bau bald
wieder hergestellt und seiner Bestimmung wieder übergeben werden kann. […]Am
vergangenen Freitag, dem 17. Juni, waren auch wir gemeinsam mit dem Orchester
an der Reihe. Es wurde in zwei Schichten, von 8-12 und von 12-16 Uhr gearbeitet.
[…] Die Herren schippten, und die Damen räumten auf. Gegen Ende jeder Schicht
wurden aus der Chor- bzw. Orchesterkasse erfrischende Getränke ‚geistigen‘
Inhalts sowie Keks gereicht […]. Es herrschte eine überaus fröhliche Stimmung
und ein herzliches Einvernehmen zwischen Chor- und Orchestermitgliedern.“
[Aus der Chronik von H. Engelhart, Mittwoch, 22. Juni 1949]
Entschuttung des Gürzenich
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Entschuttung des Gürzenich
Gürzenich, Probe im Mai 1951
Gürzenich, Konzert im Mai 1951
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Am 25.06.1950 sang der Chor im provisorisch als Festsaal hergerichteten
Gürzenich zu der Feier „1900 Jahre Stadt Köln“ die Neunte von Beethoven.
Und selbstverständlich wirkte der Chor bei der feierlichen Wiedereröffnung
des Gürzenichs am 2. Oktober 1955 mit. Hier erklang unter anderem das
„O Fortuna“ aus Carl Orffs Carmina Burana.
Einweihung Gürzenich 1955
Oberbürgermeister Ernst Schwering (1886-1962) /
Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967)
Kardinal Josef Frings (1887-1978)
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Konzert in Montreux 1956
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Konzert in Venedig 1964
Häufig konzertierte der Chor mit Günter Wand auswärts: in Leverkusen,
Wuppertal, Düsseldorf, Aachen, Recklinghausen, Berlin und anderswo.
1953, 1956 und 1965 folgten der Gürzenich-Chor und das Gürzenich-Orchester
Einladungen zum Septembre Musical in Montreux. 1964 reiste der Chor nach
Venedig und Bologna, wo die Aufführungen von Beethovens Missa Solemnis
zu einem außerordentlichen Erfolg wurden.
Auch nach Günter Wands Weggang machte die Geschichte nicht Halt, weder in
der großen Politik noch in der Chorgeschichte. Die KSZE in Helsinki (1975) bestätigte die Nachkriegsgrenzen in Europa, sicherte die Menschenrechte und regelte
Verständigung und Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg. In der BRD wurde
man mit 18 Jahren volljährig. 1977 ermordete die RAF Arbeitgeberpräsident
Schleyer, den Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank Ponto und Generalbundesanwalt Buback. Erstmals wurde mit Johannes Paul II. ein Pole Papst (1978).
Punkmusik und –mode machten das Leben, die „Grünen“ (seit 1980) die Politik
bunter. Mit der neuen Partei erreichte die Protestbewegung gegen Kernkraft
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in Brokdorf ihren ersten Höhepunkt, Helmut Schmidt besuchte Honecker am
Werbellinsee, ein Jahr später (1982) wurde er gestürzt und Helmut Kohl für
16 Jahre Bundeskanzler.
Eine umfassende Eingemeindung machte zum Jahresbeginn 1975 Köln zur Millionenstadt. 1976 gab Wolf Biermann in Köln sein legendäres Konzert und wurde
daraufhin von der DDR ausgebürgert. 1980 besuchte Papst Johannes Paul II. die
Stadt. Der Menschenrechtler und Germanist Lew Kopelew, ein Freund Heinrich
Bölls, ließ sich nach seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion 1982 in Köln
nieder. 1977 eröffnete das Museum für Ostasiatische Kunst seine Pforten.
Eigentlich sollte im September 1974 der ungarische Dirigent István Kertész
(1929-1973) das Amt des Gürzenichkapellmeisters antreten. Die Aufführung
von Bruckners Te Deum, mit dem er seine Arbeit beginnen wollte, fand
schließlich ohne ihn statt: Kertész war im April 1973 während einer Konzerttournee vor der israelischen Küste ertrunken. Der Gürzenich-Chor und das
Gürzenich-Orchester widmeten ihm dieses erste Konzert der Saison, dessen
Leitung Fenando Previtali übernahm.
Auf Günter Wand folgte der in Leningrad
geborene russisch-israelische Dirigent
Yuri Ahronovitch als Leiter des Gürzenich-Orchesters (1975-1986), nachdem
er verschiedene Opernhäuser und Orchester in der Sowjetunion geleitet, 1972
nach Israel emigriert war und die Israelischen Philharmoniker dirigiert hatte.
Zum 150-jährigen Bestehen des Chores
lud die Stadt Köln im Dezember 1977 zum
feierlichen Empfang ins Rathaus ein. Der
Chor sang unter der Leitung von Karl Josef
Görgen das Exultate Deo von Alessandro
Scarlatti, und der Oberbürgermeister John
Yuri Ahronovitch (1932-2002)
van Nes Ziegler fand die anerkennenden Worte, der Chor sei nicht der veränderten Zeit zum Opfer gefallen und habe „dem
städtischen Konzertwesen Niveau vermittelt.“ [Kölner Stadt-Anzeiger vom 07.12.1977].
Ein wenig enttäuscht war man im Chor dennoch, weil „aus organisatorischen
Gründen“ kein Festkonzert zum Jubiläum ermöglicht werden konnte.
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In den Jahren von 1983 bis 1994 drängte sich so viel Geschichte zusammen,
wie man es sich bis dahin nicht hatte vorstellen können. Michail Gorbatschows
atemberaubender Versuch, die Sowjetunion zu reformieren (Perestrojka), endete
am Jahresende 1991 mit deren Zusammenbruch, nach ihm wurde Boris Jelzin als
russischer Präsident der starke Mann. Im Zusammenhang damit löste sich, unter
Führung der Solidarność-Bewegung in Polen mit Lech Wałęsa an der Spitze, der
Ostblock auf, und die friedliche Revolution der Montagsdemonstrationen 1989
führte zum Ende der DDR und mit Zustimmung der sowjetischen Regierung,
gefördert durch die USA und mit Einverständnis der Nachbarstaaten, 1990 zur
deutschen Vereinigung. In dieser Zeit zerfiel Jugoslawien unter blutigen Kämpfen, und die USA führten 1990/91 den zweiten Golfkrieg. Im wiedervereinigten
Deutschland beschäftigte man sich mit dem Aufbau der neuen Bundesländer,
die „Treuhand“ wurde zum Begriff. Die Havarie des Kernkraftwerks Tschernobyl (1986) erschütterte das Vertrauen in die Atomindustrie, und der Computer
trat seinen Siegeszug durch die Büros, Haushalte, Schulen und Betriebe an.
In Köln wurde 1986 das Wallraf-Richartz-Museum/Museum Ludwig eröffnet,
und mit der Philharmonie erhielt die Musikstadt Köln endlich ihren lange
ersehnten, international stark beachteten und seither rege bespielten Konzertsaal. 1987 besuchte Papst Johannes Paul II. Köln und sprach am 1. Mai Edith Stein
als jüdisch-christliche Märtyrerin selig. 1988 wurde das NS-Dokumentationszentrum im EL-DE-Haus eröffnet.
Etwa zeitgleich wurde der Rathausturm mit Steinfiguren
bestückt, die direkten Bezug zur Kölner Stadtgeschichte
hatten. Im Rahmen dieser Aktion schuf die Bildhauerin
Marianne Lüdicke 1989 die Steinfigur von Katharina
Henot, einer reichen Patrizierin und Vorfahrin der Künstlerin, die 1627 der Hexerei beschuldigt und hingerichtet
worden war. Ihr Prozess war der Auftakt einer verschärften Hexenverfolgung in der Reichsstadt Köln, die bis
etwa 1630 andauerte und der mindestens 24 Frauen zum
Opfer fielen. Erst im Juni 2012 beschloss der Kölner Stadtrat auf Antrag ihrer Nachfahren die Rehabilitierung
von Katharina Henot. In Köln erinnern eine nach ihr
benannte Straße und Gesamtschule an sie, und die
Bläck Fööss widmeten ihr das Lied „Katharina Henot“.
Katharina Henot am Rathausturm
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Bezeichnend für das kölsche „Rechts“-Empfinden war das 1992 auf dem
Chlodwigplatz stattfindende „Arsch hu, Zäng ussenander“-Konzert, bei dem
auch die Bläck Fööss (wieder einmal) Position gegen Fremdenfeindlichkeit
bezogen, u. a. mit dem Titel „Unser Stammbaum“. In den 90er Jahren investierte die Stadt in den Bau des Mediaparks, um sich in Deutschland als
„Medienstadt“ zu positionieren. 1994 bezog das von Alice Schwarzer 1984
als Stiftung initiierte feministische Archiv und Dokumentationszentrum den
mittelalterlichen Kölner Bayenturm und hieß von nun an FrauenMedia Turm.
Für den Gürzenich-Chor trat 1983 eine wichtige Veränderung ein: Mit Volker
Hempfling übernahm erstmals ein Musiker die künstlerische Leitung des Chores,
der nicht gleichzeitig Kapellmeisters des Gürzenich-Orchester war. Die Verpflichtung des Chores, dem Orchester weiterhin für Konzerte zur Verfügung zu
stehen, blieb jedoch bestehen. So kam es, dass Hempfling es in seiner Amtszeit
als künstlerischer Leiter des Gürzenich-Chores (1983-1994) mit drei Kapellmeistern zu tun hatte: mit Yuri Ahronovitch, Marek Janowski und James Conlon.
Yuri Ahronovitch war während seiner Kölner Zeit (1975-1986) gleichzeitig
Chefdirigent der Stockholmer Philharmoniker (1982-1987) und nahm viele internationale Gastdirigate wahr. Mit dem Gürzenich-Chor arbeitete er konzentriert
unmittelbar vor den Konzerten, in deren Programmen sich regelmäßig seine
Herkunft widerspiegelte: So fanden sich dort slawische Kompositionen von
Schostakowitsch, Glinka, Mussorgsky, Prokofjew oder Stravinsky. Daneben
stand weiterhin die traditionelle Chorliteratur von Haydn, Beethoven, Mahler,
Puccini, Verdi und Schubert.
Der in Warschau geborene und in Wuppertal
aufgewachsene Marek Janowski amtierte von
1986 bis 1991 als Chefdirigent des GürzenichOrchester. Seine Amtsperiode begann mit
einem Highlight: die Eröffnung der Philharmonie im September 1986 mit Mahlers Sinfonie
Nr. 8, der Sinfonie der Tausend. Selbstverständlich wirkte auch der Gürzenich-Chor
bei diesem „Großevent“ mit. In besonderer
Erinnerung bleiben auch die Aufführung
der Gurrelieder von Arnold Schönberg sowie der (Männer-)Schlusschor in Ferruccio
Busonis Klavierkonzert, die der GürzenichChor unter Janowskis Stabführung sang.
Marek Janowski (*1939)
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Eröffnung der Kölner Philharmonie September 1986
Der New Yorker James Conlon, damals
Chefdirigent des Philharmonischen
Orchesters Rotterdam und seit 1989 Chef
der Kölner Oper, löste Marek Janowski
1991 als GMD der Stadt Köln ab (bis 2002).
Conlon dirigiert(e) in allen großen europäischen und us-amerikanischen Opernhäusern und Konzerthallen, und viele
seiner Einspielungen (Mahler, Schreker,
Zemlinsky, Schulhoff, Ullmann, Martinů
u. a.) sind ausgezeichnet worden.
James Conlon (*1950)
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„Ich war stolz, Leiter des Gürzenich-Chores zu
sein“, erinnert sich Volker Hempfling. Einen
schriftlichen Vertrag habe es nie gegeben:
„Karl-Heinz Ebrecht, der langjährige 1. Vorsitzende des Chores, der stets das Schiff in aller
Ruhe durch die notwendigen Verhandlungen
mit der Stadt und mit den jeweiligen GMDs
lenkte, ist zu mir gekommen, und wir haben
den Vertrag auf der Wiese in meinem Garten
per Handschlag besiegelt. Das war damals so,
und es stand immer außer Frage, dass dieser
Vertrag gültig war. Ebrecht war ein sehr
seriöser Mensch.“ [Hempfling, Telefonat vom 06.10.2012]
Volker Hempfling (*1944)
Hempfling, Domorganist und Kantor der Evangelischen Kirchengemeinde Altenberg (1972-1997) sowie Gründer der Kölner Kantorei (1968), führte mit seinen Chören innerhalb eines Frank Martin-Zyklus zum
100. Geburtstag des Schweizer Komponisten dessen große chorsinfonische und
A-cappella-Werke in acht Konzerten in der Kölner Philharmonie und im Altenberger Dom auf, darunter die Oratorien Golgotha, In Terra Pax sowie das Requiem
und die doppelchörige Messe.
Die Übernahme des Gürzenich-Chores ermöglichte Hempfling die Verwirklichung
einer Idee, die er schon länger hegte: Mit seinen drei Chören konnte er 1985 die
Lukas-Passion des polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki in St. Maria
im Kapitol aufführen. Diese vom WDR in Auftrag gegebene, Anfang der 1960er
Jahre entstandene Komposition sollte ursprünglich in Köln uraufgeführt werden.
Da sich der damalige Kölner Erzbischof wegen der avantgardistischen Ausdrucksmittel des Werkes gegen die Aufführung gesperrt hatte, fand die Uraufführung
- dank des damaligen Bischofs von Münster und späteren Kardinalerzbischofs
von Köln Joseph Höffner - 1966 im St.-Paulus-Dom zu Münster (Westfalen) statt.
1985 also setzte Hempfling bewusst der bundesweiten Jubiläumsprogrammgestaltung zum „Bach-Schütz-Händel-Jahr“ mit Pendereckis Lukas-Passion
sein eigenes Programm entgegen. Es war die erste und bisher einzige Kölner
Aufführung des äußerst aufwendigen Werkes, und unter den Zuhörern befand sich Kardinal Höffner, den Hempfling persönlich eingeladen hatte.
Ein weiteres herausragendes Erlebnis im Jahr 1985 war die Teilnahme des Gürzenich-Chores am Festakt zum „Jahr der Romanischen Kirchen“, in dem die Stadt
Köln den endlich vollendeten Wiederaufbau der zwölf kriegsgeschädigten
Kirchen feierte. Einzeln und in Grüppchen postiert zwischen den Säulen und oben
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in Groß St. Martin sang der Gürzenich-Chor gemeinsam mit der Kölner Kantorei,
sodass die Zuhörer, unter ihnen Ministerpräsident Johannes Rau, von Klang
umrundet waren mit mehrchörigen Werken von Michael Praetorus, Heinrich
Schütz und anderen Komponisten.
Hempfling stellte an den Chor höchste Ansprüche an Präzision und Präsenz, die so
manches Mal mit einer gewissen Strenge bei der Einstudierung verbunden waren.
Die Erfolge der vielen Konzerte bestätigten seine Arbeitsweise und trugen letztlich
zu einer guten Stimmung im Chor bei. Unter seiner Stabführung standen auf dem
Programm Leonard Bernsteins Chichester Psalms, die Passionen, das Weihnachtsoratorium und die Hohe Messe von Bach, die Cäcilienmesse von Joseph Haydn, das Gloria
von Francis Poulenc, das Weihnachtsoratorium, die Messe und das Requiem von
Camille Saint-Saëns, das Requiem von Franz von Suppé, Giuseppe Verdis Requiem
sowie das Deutsche Requiem von Brahms. Von Puccinis Messa die Gloria (1986)
und Charles Widors Symphonie Antique (1994) gibt es CD-Einspielungen.
Während dieser Ära wurde zu Hempflings großem Bedauern zunehmend der Brauch
beschnitten, dass der Chorleiter mindestens einmal jährlich das Gürzenich-Orchester
selbst dirigiert, dass also das Orchester dem Chor zu Verfügung steht. „Es ist wichtig,
dass der Chor seinen Leiter nicht nur als Einstudierer erlebt, sondern mit ihm und
dem Orchester auch gemeinsame Konzerterlebnisse hat“. [Hempfling, Telefonat vom 06.10.2012]
1994, zum Ende seiner Amtszeit, unternahm Volker Hempfling mit dem GürzenichChor eine sehr erfolgreiche Konzertreise nach Pécs in Südungarn: Mit dem Pécser
Symphonieorchester kam Golgotha von Frank Martin zur Aufführung.
Es waren bewegte Jahre um die zweite Jahrtausendwende n. Chr. Die deutsche Politik hatte unter den Blicken der Weltöffentlichkeit die neue Einheit des fast ein halbes
Jahrhundert geteilten Landes zu bewerkstelligen. Die Sorge vieler Menschen, der
Übergang ins Jahr 2000 werde mindestens Computer zum Absturz und Kraftwerke
zum Stillstand bringen, bewahrheitete sich denn doch nicht. Die Einführung des
Euro zum Jahresbeginn 2002 als Gemeinschaftswährung in 17 europäischen Staaten,
ein historisch einmaliges Experiment, wurde sowohl mit Euphorie als auch mit
Skepsis aufgenommen.
In Köln brachte das Jahr 1995 den Hochwasserrekord des 20. Jahrhunderts.
1998 öffnete in Deutz die KölnArena (Lanxess-Arena) ihre zahlreichen Türen, eine
Mehrzweckhalle der Superlative und Aushängeschild der „Eventstadt“ Köln.
Im Dom wurde 2007 das „Richter-Fenster“ eingebaut, das weltweit Aufsehen
erregte. Spektakulär war der Einsturz des Stadtarchivs Jahr 2009. Ein Jahr später
wurde Köln wieder Millionenstadt.
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Was nur in Köln möglich ist: 1996 hatten Diebe wertvolle Gegenstände aus der
Domschatzkammer gestohlen. Als die Suche der Polizei ergebnislos blieb, wandte
sich der damalige Dompropst Bernard Henrichs an „Schäfers Nas“, eine originelle
Größe des Kölner Rotlichtmilieus, Dank dessen Verbindungen wurden die wertvollsten Stücke zurückgegeben. Der Dompropst las im Gegenzug eine Dankmesse
für den etwas ungewöhnlichen Helfer.
Während der 16 Jahre, in denen Michael
Reif den Gürzenich-Chor leitete (1994-2010),
arbeitete er mit zwei Kapellmeistern des
Gürzenich-Orchesters und Generalmusikdirektoren der Stadt Köln zusammen:
James Conlon (1989-2003) und
Markus Stenz (seit 2003).
Markus Stenz (*1965)
Auf deren Anforderung hin übernahm Reif
die Einstudierung für die mit dem GürzenichOrchester gemeinsamen Konzerte. Zu den
Höhepunkten in dieser Zusammenarbeit
zählten die Bach‘schen Passionen, die konzertante Aufführung der Meistersinger von
Nürnberg, das Te Deum von Walter Braunfels und das Requiem von Gabriel Fauré.
Ein weiteres Highlight war die Mitwirkung
des Gürzenich-Chores bei der Aufführung
von Gustav Mahlers 8. Sinfonie 2009 in der
Kölner Philharmonie, die Heinz Walter Florin,
der Leiter des Deutz-Chores, dirigierte.
Der engagierte Chorleiter Michael Reif setzte
sich auch dafür ein, sängerischen Nachwuchs heranzuziehen. So gründete er einen
Kinderchor und zog zu dem Konzert The
Armed Man Studenten und Schüler hinzu.
Neben zahlreichen Verpflichtungen im
In- und Ausland im Laufe der Zeit, übernahm er auch die künstlerische Leitung der
Kölner Kurrende und des Europäischen
Kammerchores und nutzte seine Verbindungen, insbesondere zu seiner früheren
Michael Reif (*1959)
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Wirkungsstätte Trier, um mit auswärtigen Chören zusammenzuarbeiten. In
den choreigenen Konzertprogrammen verband er Klassik mit moderner, zeitgenössischer Musik. Beispielhaft waren die Aufführungen von Brahms´ Deutschem Requiem (ein Benefizkonzert zu Gunsten der Kinder von Tschernobyl),
Bachs Weihnachtsoratorium, Messen von Mozart und Puccini, Oratorien von
Haydn und Casals oder Kodálys Psalmus Hungaricus, Rutters Psalmfest sowie
das Konzert zum 175. Jubiläum des Gürzenich-Chores mit Bernsteins Kaddish
(Sinfonie Nr. 3) und The Cloud Messenger von Gustav Holst. Chorreisen nach
Italien, Japan und in die USA machten den Chor auch im Ausland bekannt.
Der gebürtige Solinger Christian Jeub
übernahm die Chorleitung zu Beginn des
Jahres 2011. Bis dahin hatte ihn sein Weg
nach München an das Staatstheater am
Gärtnerplatz und anschließend nach
Gelsenkirchen ans Musiktheater im Revier
(MiR) geführt, dessen Chordirektor er ist.
Zu seinem Kölner Antrittskonzert in St.
Aposteln wählte Jeub Rossinis Petite
Messe Solennelle, die ein Jahr später,
im Mai 2012, auch auf der Konzertreise nach Dießen am Ammersee mit im
Gepäck war. Im Januar 2012 musizierte
Christian Jeub (*1970)
der Gürzenich-Chor im MiR und im Ruhrfestspielhaus Recklinghausen mit der Neuen Philharmonie Westfalen Beethovens 9. Sinfonie, im Februar 2012 erklangen in der Kölner Philharmonie
Haydns Harmonie-Messe und Nicolais Te Deum.
Die stimmbildnerische Arbeit während der Proben hat mit Unterstützung
von Claudia Nüsse wieder größeres Gewicht erhalten. Christian Jeub sieht
den Gürzenich-Chor fest verankert im traditionellen philharmonischen
Chorrepertoire, und so wird am Karfreitag 2013 in der Trinitatiskirche die
Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach zur Aufführung kommen.
Ein weiteres kleines Highlight: Für Oktober nächsten Jahres konnte der renommierte Gastdirigent Simon Carrington (25 Jahre King‘s Singer, Professor für Chorleitung an der Yale University) für die Einstudierung eines
englisch-amerikanischen Chorprogrammes gewonnen werden.
Tradition bedeutet Weitergabe des Feuers, nicht Anbetung der Asche. (Gustav Mahler)
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