Gürzenich-Chor Köln von 1827 e. V. ...von 1827: Der Gürzenich-Chor in Köln und der Welt Ein Streifzug durch bewegte 185 Jahre In der sogenannten Restaurationszeit, als nach dem Wiener Kongress 1814/15 die konservativen Kräfte herrschten, entstanden in den deutschen Staaten viele Vereine. In den Turn- und Schützenvereinen, Studentenverbindungen, Literaturzirkeln, Karnevalsgesellschaften und Liedertafeln organisierten sich liberal und national gesinnte Bürger, die von politischer Beteiligung ferngehalten wurden. Köln, das seinen Status als freie Reichsstadt 1794 verloren und zehn Jahre später Napoleon mit hoffnungsvoller Begeisterung empfangen hatte, wurde 1815 dem preußischen Staat eingegliedert. In der folgenden Zeit nahm Köln als Verkehrsknotenpunkt, Handelszentrum und Industriestandort einen rasanten Aufschwung. Im Jahre 1827 führten Kölner Bürger die Musikgesellschaft und den Städtischen Singverein zusammen und gründeten so die „Cölner Concert-Gesellschaft“. Das Orchester setzte sich aus Mitgliedern des Theaterorchesters und der Domkapelle, aus Militärmusikern und Laien zusammen. Im Laufe der Zeit entwickelte es sich zum städtischen Berufsorchester, der Chor hingegen blieb stets eine Sache von Laiensängern. Der Domkapellmeister Carl Leibl, Vater des berühmten Malers Wilhelm Leibl, übernahm als erster die Leitung der beiden Musikkörper der Cölner Concert-Gesellschaft. Carl Leibl (1784-1870) 5 Ihm folgte der Komponist, Dirigent und Theatermann Conradin Kreutzer, der 1840 der erste städtische Musikdirektor wurde. Allerdings verließ der unstete Mann diesen Posten bereits zwei Jahre später. Ein herausragendes Ereignis seiner Amtszeit war die Kölner Erstaufführung von Beethovens 9. Sinfonie. Als Leiter des 23. Niederrheinischen Musikfestes setzte er sie 1841 mit einem Chor von insgesamt 500 (!) Sängern und 182 Orchestermusikern ins Werk. Conradin Kreutzer (1780-1849) In die siebenjährige Amtszeit (1843-1849) des rührigen Komponisten, Dirigenten und Musikmanagers Heinrich Dorn als städtischer Musikdirektor und Leiter der Concert-Gesellschaft fielen aufregende Ereignisse. Es war die Zeit des Vormärz. Die politischen Bewegungen, die einen deutschen Nationalstaat mit einer freiheitlichen Verfassung anstrebten, wurden immer lebhafter, es kam zur Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche und zur „Märzrevolution“ von 1848, die zwar weitgehend scheiterte, aber mit ihrer Verfassung eine wesentliche Grundlage unseres Heinrich Dorn (1804-1892) Grundgesetzes hinterließ. Im gleichen Jahr veröffentlichten der frühere Redakteur der Kölner liberal-demokratischen „Rheinische Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe“ Karl Marx und der Gesellschaftstheoretiker und Publizist Friedrich Engels das „Kommunistische Manifest“, das über anderthalb Jahrhunderte hinweg seine politische Wirkung entfalten sollte. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. erfüllte seine romantischen Träume, bemühte sich aber gleichzeitig, sowohl Köln und das Rheinland an den preußischen Staat zu binden als auch die nationale Welle aufzufangen, indem er 1842 den Grundstein für den Weiterbau des Kölner Doms legte. 6 Heinrich Dorn, der in Riga Vorgänger Richard Wagners gewesen war, hinterließ mit der Gründung der Kölner Rheinischen Musikschule 1845 nachhaltige Spuren. Wie seine Vorgänger übernahm er auch die Leitung der Niederrheinischen Musikfeste, die in Köln stattfanden. Auf dem 26. Musikfest 1844 führte er erstmals die Missa solemnis von Beethoven auf. 1849 ging er als Hofkapellmeister nach Berlin. Mit 35 Jahren, von 1850 bis 1884, prägte Ferdinand Hiller die längste Epoche städtischen Musiklebens – eine Zeit mit vielen einschneidenden und widersprüchlichen Ereignissen und Entwicklungen. Mit den Reichseinigungskriegen – zuletzt gegen Frankreich, zu dem Köln unter Napoleon einmal gehört hatte – erreichte Bismarck 1871 die Gründung des von Preußen dominierten Deutschen Kaiserreiches. Anschließend führte er den „Kulturkampf“, um die konservativen und autoritativen Tendenzen in der römisch-katholischen Kirche und deren Einfluss auf die Ferdinand Hiller (1811-1885) deutschen Katholiken zurückzudrängen; dass in diesem Zusammenhang der Kölner Erzbischof Paulus Melchers 1874 verhaftet und ins Exil getrieben wurde, verstärkte die Vorbehalte der katholischen Stadt gegen die protestantisch-preußische Obrigkeit. Diese trieb gleichzeitig den Bau des Domes voran, zu dessen festlicher Einweihung 1880 Kaiser Wilhelm I. aus Berlin kam. Zur gleichen Zeit bekämpfte Bismarck die Sozialdemokraten, setzte aber Sozialreformen durch, deren Grundlagen bis heute nachwirken. Der Sieg über Frankreich löste in Deutschland einen Wirtschaftsboom aus, der Kölns Aufstieg weiter beschleunigte. Der Ausbau des Hafens sowie die Fertigstellung der ersten festen Rheinbrücke seit den Römern und des Hauptbahnhofes bis Ende der 1850er Jahre beschleunigten die Verkehrsentwicklung. Die Bevölkerung stieg, auch dank der Eingemeindung von Nachbargemeinden, rasch an. So wurde es unumgänglich, die aus dem Mittelalter stammenden Stadtmauern niederzulegen (1881), um Raum für Wohnungen und Fabriken zu gewinnen. Bedeutende Unternehmen wie die Schokoladenfabrik Stollwerck, die Deutzer Motorenfabrik oder die Zuckerfabrik Pfeiffer & Langen prägten fortan die Industrielandschaft um Köln. Gleichzeitig wurden die beiden Festungsringe angelegt. 7 Für die Cölner Concert-Gesellschaft brachte Hillers Leitung, die er, vertreten durch Franz Weber, 1851 für zwei Jahre wegen Pariser Engagements unterbrach, einen gewaltigen Aufschwung. Der international renommierte Musikpädagoge, Dirigent und Komponist setzte eine Reihe von Reformen durch, um die Qualität der Konzerte auf ein erstrangiges Niveau zu bringen. Die Proben wurden vom Sonntagvormittag auf den Montagabend verlegt und professionalisiert. Nach den Statuten von 1870 durfte in den Chor nur noch eintreten, wer sich vorher in einem der anderen Chöre wie dem Städt. Gesangverein, Bachverein oder Männergesangverein bewährt hatte. Der stärkste Ansporn ging, wie sollte es anders sein, von der Vorbereitung anspruchsvoller Konzerte aus. Das waren regelmäßig die Niederrheinischen Musikfeste, deren Konzerte meistens mehrere Tage hintereinander ausverkauft waren. Im Jahr 1865 nahm als Sänger Friedrich Nietzsche teil. Begeistert berichtete er von dem Konzert mit „182 Sopranen, 154 Alten, 113 Tenören und 172 Bässen; dazu ein Orchester aus Künstlern bestehend aus etwa 160 Mann […]. Das Ganze wurde von Hiller dirigiert. Von den Damen zeichneten sich viele durch Jugend und Schönheit aus. Bei den drei Hauptkonzerten erschienen sie alle in Weiß, mit blauen Achselschleifen und natürlichen und gemachten Blumen im Haar. Eine jede hielt ein schönes Bukett in der Hand. Wir Herren alle in Frack und weißer Weste. Den Sonntag war das erste Konzert, ‚Israel in Ägypten‘ von Händel. Wir sangen mit unnachahmlicher Begeisterung bei großer Hitze…“. [Zitat aus der Festrede von Hermann Engelhart anlässlich des Jubiläums 125 Jahre Gürzenich-Chor, 1956] Der Beifall war gewaltig. Mit der Aufführung von Bachs Matthäus-Passion, erstmals am Palmsonntag 1859, begründete Hiller eine andauernde, nur selten und aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen unterbrochene Tradition: die jährliche Aufführung in der Karwoche. 1875 dirigierte Hiller die Kölner Erstaufführung von Verdis Requiem, zwei Jahre später übernahm der Komponist selbst das Dirigat bei dem 51. Niederrheinischen Musikfest. Johannes Brahms leitete 1874 die Aufführung seines Triumphlieds, 1878 dirigierte Max Bruch die Uraufführung seines Oratoriums Das Lied von der Glocke. Dass diese führenden Komponisten – wie auch viele international gefeierte Sängerinnen und Sänger sowie Instrumentalsolisten – es sich nicht nehmen ließen, mit Chor und Orchester aufzutreten, zeugt von dem Ansehen, das sich Letztere erworben hatten. 8 Gürzenich um 1900 Einen Meilenstein in der Konzertgeschichte bedeutete der 1855 begonnene Umbau des Gürzenich. Im 15. Jahrhundert als städtisches Festhaus errichtet, hatte das Gebäude später als Waren- und Kaufhaus gedient. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts fanden dort wieder Feste wie Karnevalsbälle und politische Veranstaltungen statt. 1849 hatte hier Karl Marx sein Kommunistisches Manifest verkündet, kurz darauf hatten 500 rheinische Abgeordnete der Paulskirchenverfassung zugestimmt. Am 17. November 1857 gab die ConcertGesellschaft in der neugestalteten Konzert- und Festhalle ihr erstes „Großes Gesellschaftskonzert“. Die regelmäßig folgenden Konzerte wurden als „Gürzenich-Konzerte“ bekannt, und dementsprechend nennt der Chor der „Cölner Concert-Gesellschaft“ sich seither „Gürzenich-Chor“. Der Zusatz „der Stadt Köln“ ergab sich daraus, dass er dem ebenfalls umbenannten städtischen „Gürzenich-Orchester“ als Chor zur Verfügung zu stehen hatte und von der Stadt als offizieller Chor zu ihren festlichen Veranstaltungen herangezogen wurde. 9 Die knappen zwei Jahrzehnte der Ära Franz Wüllner (1884-1902) schienen mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den Aufbruch in eine neue Zeit mit sich zu bringen. Jedoch sollte erst der Erste Weltkrieg zum Zusammenbruch des europäischen Staaten- und Ordnungssystems führen. Bis dahin verschoben sich die Machtverhältnisse in Europa allmählich in Richtung der Konstellation dieses Krieges, der für viele Menschen in Europa in der Luft lag. Im Deutschen Reich brachte das „Dreikaiserjahr“ 1888 Wilhelm II. auf den Thron, der mit seiner politischen GroßmannsFranz Wüllner (1832-1902) sucht und seinen unkontrollierten Reden viel politisches Porzellan zerschlug, ohne es eigentlich zu wollen. Er entließ Bismarck, um mit schwächeren Reichskanzlern ein „persönliches Regiment“ zu führen. Deutschland stieg vom Agrarland zur drittgrößten Industrienation neben Großbritannien und den USA auf, seine Bevölkerungszahl verdoppelte sich, es baute eine große Schlachtflotte auf, um Kolonien zu erwerben und „Weltpolitik“ zu treiben. Die Sozialdemokraten wurden größte Reichstagsfraktion. Köln setzte, wie Berlin oder die Ruhrgebietsstädte, seine rasante Entwicklung fort. Der Rheinauhafen wurde in Betrieb genommen, die Straßenbahn elektrifiziert und das Fahrradfahren erlaubt. Die religiöse und kulturelle Bedeutung der Stadt bezeugten z. B. die große Synagoge in der Roonstraße, die 1899 eingeweiht wurde, oder das 1902 eröffnete Opernhaus am Habsburgerring, mit 1800 Plätzen eines der größten Theater in Deutschland, an dem viele bedeutende Künstler wirkten. Es war Johannes Brahms, der seine eigene Berufung abgelehnt und dafür seinen Freund Franz Wüllner nach Köln empfohlen hatte. Unter dessen Leitung spiegelte das musikalische Leben die Dynamik der Stadt wider. Der Pianist, Komponist und vor allem hoch angesehene Dirigent vollendete in Köln seine Opernhaus Köln um 1902 10 Karriere, die ihn durch viele bedeutende Stationen – u. a. Hofkapellmeister in München und Dresden, dort auch Leiter des Konservatoriums – geführt hatte. Dabei hatte er sich ein Netzwerk aufgebaut, zu dem neben Brahms Richard Strauss, Joseph Joachim, Ignaz Moscheles und viele andere bedeutende Musiker gehörten. Von ihren Auftritten in Köln wie auch etwa von denen Peter Tschajkowskijs, Edvard Griegs, Anton Rubinsteins, Lilli Lehmanns oder Pablo de Sarasates zeugen die Eintragungen in das erhalten gebliebene Goldene Buch des Chores. Konzert 1894 Unter Wüllners Ägide wurde das Gürzenich-Orchester 1888 Berufsorchester im Dienste der Stadt. Besonders intensiv widmete er sich der musikalischen Erziehung des Gürzenich-Chores. Grundlage seiner Arbeit bildete sein eigenes Lehrbuch für Chorgesang, und zur Vorbereitung seiner Konzerte, bei denen er den Chor bevorzugt einsetzte, erhöhte er die Anzahl der Proben von zwei auf bis zu vier pro Woche. Siebenmal leitete er, wie seine Vorgänger, die Niederrheinischen Musikfeste, die außer in Köln auch in Aachen und Düsseldorf stattfanden. Als der Kölner Männergesangverein 1892 die Feier seines Goldenes Buch Eintragung Tschajkowskij 12. Februar 1889 fünfzigjährigen Jubiläums mit einem Festkonzert eröffnete, trat dort auch der Gürzenich-Chor unter Wüllner auf. Mit dem Ersten Weltkrieg, häufig als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet, endete das „lange“ 19. Jahrhundert, das mit der Französischen Revolution begonnen hatte. In den vorausgehenden Jahren steuerte Europa 11 immer rascher auf den Krieg zu, den kaum jemand ernsthaft wollte, aber niemand verhinderte. Nationalistische Überheblichkeit und machtpolitische Rivalität heizten jedoch sowohl in allen Ländern das innenpolitische Klima als auch die internationalen Spannungen an. Pazifistische Bewegungen vermochten dagegen nichts auszurichten. Die beteiligten Mächte formierten sich um die Hauptgegner: die Mittelmächte Deutsches Reich, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich gegen die Ententemächte Frankreich und Großbritannien mit dem verbündeten Russischen Reich. Aus dem von mehreren Kriegen heimgesuchten Balkan kam schließlich der Zündfunke, der Anfang August 1914 den Krieg auslöste. An den kriegswirtschaftlichen Vorbereitungen hatte die Kölner Industrie erheblichen Anteil, beispielsweise die Deutz AG. Da sie seit Jahren Verbrennungsmotoren baute und Dieselmotoren entwickelte, wurden sie ein bedeutender Rüstungsbetrieb. Die zentrale Lage Kölns im Schienen- und Wasserwegenetz förderte den Warenumschlag. Was die Stimmung der Bevölkerung bei Kriegsbeginn betraf, so unterschied sie sich nicht von der allgemeinen Begeisterung im Reich: Man jubelte. Der Badener Fritz Steinbach (1903-1914) kam nach Stationen in Mainz und Frankfurt aus Meiningen, wo er die Leitung der Hofkapelle von Richard Strauss übernommen hatte. Mit Johannes Brahms eng befreundet, hoffte er, Meiningen zu einem Brahms-Zentrum zu machen. Als diese Pläne scheiterten, trat er in Köln die Nachfolge Wüllners an. Als Direktor des Konservatoriums zählte er den später namhaften Dirigenten Hans Knappertsbusch oder den Komponisten und Geiger Adolf Busch zu seinen Schülern. Im Umgang mit dem Gürzenich-Chor trat er Fritz Steinbach (1855-1916) weniger als Musikpädagoge hervor, viel mehr begeisterte er durch seine heitere Wesensart und den mitreißenden Schwung, mit dem er auch die Konzerte dirigierte. Steinbach tat viel, um gesellschaftlichen Kontakt innerhalb des Chores durch Feste und Ausflüge zu beleben und die Bekanntheit des Chores durch Konzertreisen und Beteiligungen an Musikfesten zu fördern. Es traten jedoch Entwicklungen ein, die dem heutigen Leser bekannt vorkommen 12 dürften: Im Chor kam es zu einem Schwund bei den Männerstimmen, und in den Konzerten gingen die Besucherzahlen derart zurück, dass nicht mitwirkende Sängerinnen und Sänger Freikarten mit der Erwartung erhielten, den Saal zu füllen. Das Publikum, das sich ab 1906 statt für ein Konzert auch für einen Besuch im ersten festen Kino Kölns entscheiden konnte, beklagte sich zunehmend über die schlechte Akustik im Gürzenich, über die immer lauter hereindringenden Außengeräusche und nicht zuletzt über schlechten Service und mangelnde Sauberkeit. Es sollte noch runde 80 Jahre dauern, bis Köln mit der Philharmonie einen Konzertsaal baute, der alle Wünsche erfüllte. Konzert unter Leitung von Gustav Mahler und Fritz Steinbach 1904 Unmittelbar vor Kriegsausbruch gab Steinbach seine Ämter auf und ging nach München, wo er zwei Jahre später starb. Die Ära Hermann Abendroth (1915-1934) fiel in eine Zeit, in der das Deutsche Reich nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg erstmals mit der Weimarer Republik die Demokratie probte, der man schließlich nicht gewachsen war. Da gab es zunächst den als „Schmach“ empfundenen Versailler Vertrag mit all seinen Folgen, hinzu kamen hitzige Kämpfe von „rechts“ und „links“; wirtschaftliche Krisen taten das Ihrige dazu: die Inflation (1923) sowie der New Yorker Börsenkrach (1929), der die kurze wirtschaftliche Stabilisierung in den sogenannten „goldenen Zwanzigerjahren“ erschütterte und zu einer Weltwirtschaftskrise führte, infolge derer sich weite Kreise der Gesellschaft enttäuscht von den demokratischen Parteien ab und der NSDAP zuwandten. In Köln, das nach Kriegsende von britischen Truppen besetzt wurde (bis 1926), war 1917 Konrad Adenauer zum Oberbürgermeister gewählt worden, während die Stadt unter Versorgungsmangel, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot litt. Dennoch ging es vorwärts in der Stadt: Nach über 120 Jahren wurde im Juni 1919 die Kölner Universität wiedereröffnet. 1921 begann die Stadt mit der Schleifung der Festungsringe gemäß den Versailler Vertragsbedingungen und legte auf deren Rayons ab 1922 den Grüngürtel an. 1923 wurde das erste Müngersdorfer Stadion 13 fertiggestellt, 1924 stand der Rohbau des seinerzeit höchsten Wolkenkratzers Europas, das (heutige) Hansahochhaus. Im Mai 1924 öffnete die im Backsteinexpressionismus errichtete Kölner Messe ihre Tore, im November desselben Jahres wurde die weltweit größte freischwingende Glocke, der „Decke Pitter“, eingeweiht. Im Kaufhaus Tietz rollte 1925 die erste Treppe Deutschlands. Der Siedlungsbau boomte, der Butzweilerhof entwickelte sich zum zweitgrößten deutschen Flughafen, im Oktober 1928 wurde die Rheinlandhalle eröffnet. 1929 legte der Automobilkonzern Ford den Grundstein für das Werk in Köln-Niehl, und im August 1932 wurde die Kraftwagenstraße Köln-Bonn als erste Reichsautobahn freigegeben. Festakt Messe 1926 Während der Weimarer Republik war Köln eine bedeutende Musikstadt. So wirkten hochrangige Dirigenten wie Otto Klemperer an der Kölner Oper, die nun eigenständige Westdeutsche Rundfunk AG ging 1926 auf Sendung, und nicht zuletzt verfügte die Stadt, ebenfalls seit 1926, über ein Radiorundfunkorchester. Politisch ging es weniger erfreulich zu: 1933 wählten knapp 40% der Kölnerinnen und Kölner die NSDAP bei der Kommunalwahl zur stärksten Ratsfraktion. Konrad Adenauer wurde als Oberbürgermeister entlassen, SS und SA besetzten das Rathaus und schalteten die Stadtverwaltung gleich. Josef Grohé hatte nun als Leiter des NSDAP-Gaues Köln-Aachen das Sagen. Im Mai 1933 fanden vor der Universität inszenierte Bücherverbrennungen statt, im Sommer begann der Terror der Gestapo, die erst im Polizeipräsidium, dann im EL-DE-Haus ihren Sitz hatte. 14 1915 übernahm Hermann Abendroth den Posten des Chefdirigenten des GürzenichOrchesters und 1918 den des Generalmusikdirektors der Stadt Köln. „Liebenswürdig in seinem Wesen - wenn er auch schon mal donnern konnte, gewann er sich schnell die Herzen der Mitglieder, besonders der Chordamen“. So charakterisierte ihn einst Hermann Engelhart in seiner Festrede zum 125jährigen Bestehen des Gürzenich-Chores. Ebenso rasch eroberte er sich das Kölner Publikum. Bewundert wurden die „jugendliche Schwungkraft“ des „ewig zuvorkommenden Kavaliers des Hermann Abendroth (1883-1956) Taktstocks“, sein Maßhalten auch im Dramatischsten sowie die Gabe, Form und Inhalt musikalischer Werke nicht gegeneinander auszuspielen. Abendroth galt als bedeutender Erzieher einer ganzen Dirigentengeneration. Zusammen mit Walter Braunfels, den er sehr schätzte und dessen Werk er (ur-)aufführte, übernahm er 1925 die Direktion der Kölner Musikhochschule, die unter der Leitung des Gespanns bald zu einem der modernsten Konservatorien Deutschlands zählte. Trotz der politischen Wirrnisse nahm das Gürzenich-Chorleben seinen umtriebigen Lauf. Unter Abendroths Leitung wirkten die Chordamen 1918 bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung im Opernhaus zu Gunsten der im Rheinland wohnhaften österreichischen und ungarischen Kriegswitwen und -waisen mit. Konzertankündigung Berlin 1927 15 1925 sang der Chor bei der Trauerfeier der Stadt für Reichspräsident Friedrich Ebert sowie beim Festakt der Jahrtausendfeier der Stadt Köln. 1927 feierten die Concert-Gesellschaft und der Gürzenich-Chor ihr 100-jähriges Bestehen mit einem Fest, auf dem Konrad Adenauer herzliche und lobende Worte fand. Brief von Konrad Adenauer 1925 16 Im Mai desselben Jahres unternahm der Chor eine Konzertreise nach Berlin, zu der die Deutsche Reichregierung und die Preußische Staatsregierung eingeladen hatten: Man reiste mit dem Sonderzug und gab die Große Messe von Braunfels, zusammen mit dem Orchester der Staatsoper im Saal der Philharmonie. Auch zum Festakt zur Eröffnung Konzertreise Berlin 1927 der Internationalen PresseAusstellung 1928 (Pressa) steuerte der Chor Musikalisches bei. Nicht zuletzt wirkte der Chor bei der Aufführung von Verdis Requiem am Bußtag 1928 mit. Einladung von Reichskanzler Marx, Berlin 1927 Die traditionellen 12 Konzerte pro Saison im Gürzenich fanden weiterhin statt, wobei die Matthäus-Passion stets den Abschluss bildete. 1924 hatte die große Messehalle in Deutz eröffnet, in der ab der Konzertsaison 1928/29 die großen Chorwerke aufgeführt wurden. Abendroth beschränkte sich bei seiner musikalischen Arbeit keineswegs nur auf Standardwerke wie die Bach-Passionen oder die Haydn- und Händel-Oratorien, sondern offerierte dem Publikum zahlreiche Urund Erstaufführungen zeitgenössischer Kompositionen. So kamen unter seiner 17 Ägide das Marienleben (1919) von August von Othegraven, das Te deum (1922) und die Große Messe (1927) von Walter Braunfels (Uraufführungen) sowie die Kantate von Egon Wellesz (1932) zur Aufführung. 1923 leitete Otto Klemperer, der Generalmusikdirektor der Oper Köln, die Uraufführung seiner C-Dur-Messe, und Hans Pfitzner dirigierte 1930 die Uraufführung seiner Chorkantate Das dunkle Reich im Gürzenich. Abendroth scheute sich auch nicht davor, politisch unerwünschte Komponisten wie Bartók, Hindemith, Schönberg oder Stravinsky aufzuführen. Das Ende seiner Zeit als GMD war politischer Natur. 1928 hatte Abendroth die Ehrenmitgliedschaft in der deutsch-nationalen Vortragsbühne des Westens abgelehnt mit den Worten, er sei zwar Arier, „aber nicht geneigt, mich an einem Unternehmen zu beteiligen, das das Judentum planmäßig boykottiert.“ Zwar trat er 1933 der Reichsmusikkammer bei, lehnte jedoch die Mitgliedschaft in der NSDAP ab. Sein Einsatz für jüdische Komponisten und Tourneen in die Sowjetunion führten zu Spannungen mit dem Gauleiter Grohé, die darin gipfelten, dass er, kurz nachdem Walter Braunfels als „Halbjude“ aus seinem Amt als Mitdirektor der Musikhochschule entlassen worden war, 1934 ebenfalls seines Amtes enthoben wurde. Abendroth wechselte an das Leipziger Gewandhausorchester. Nach Abendroths Weggang entbehrte Köln bis 1936 einen Generalmusikdirektor und „behalf“ sich mit solch namhaften Gastdirigenten wie Knappertsbusch, Konwitschny oder Hasse sowie auch Eugen Papst, der an der Musikhochschule Köln Dirigieren lehrte und die nächste Ära der Chor- und Orchestergeschichte gestalten sollte. Für die Probenarbeit sprang kurzzeitig die pensionierte Kantorin E.M. Brockmöller-Hofstede ein, eine uneheliche Tochter des legendären Diplomaten und inaktiven Chormitgliedes Edmund Friedemann Dräcker. Zu dieser Zeit war Adolf Hitler dabei, seinen totalitären Führerstaat mit der Verwirklichung seiner nationalsozialistischen Ziele zu schaffen. Unter den Bedingungen einer „arisierten“ und auf den Geschmack Hitlers zugeschnittenen, rigiden Kulturpolitik trat Eugen Papst 1936 mit Unterstützung von Richard Strauss die Nachfolge von Hermann Abendroth an. Zu dieser Zeit marschierte die Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland ein („Rheinlandbesetzung“). Am 9. November 1938 wurden die Synagogen in der Roonstraße, der Glockengasse und der Körnerstraße angezündet, andere verwüstet. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört. 18 Arier-Bescheid 1936 Kurz darauf (ab 1939) brachte man Kölner Juden in „Judenhäusern“ unter, um sie von dort aus später zu deportieren. 1940 wurden in Köln lebende Sinti und Roma verhaftet und deportiert, die „Generalprobe“ für die nachfolgende Verschleppung der Kölner Juden (ab 1941). Im Mai 1940 wurde die Stadt erstmals aus der Luft angegriffen, 1942 begannen die Briten mit dem ersten „Tausend-Bomber-Angriff“ das Bombardement der Stadt. Die Altstadt war Ende des Krieges fast komplett zerstört, die Einwohnerzahl stark dezimiert. Im März 1945 etablierte sich zunächst die amerikanische, dann die britische Militärregierung. Die Stadt bevölkerte sich rasch wieder. Ende Dezember nahm die Universität wieder ihren Betrieb auf - und auch das Chorleben erwachte nach kurzer Pause erneut. 19 Eugen Papst (1886-1956) Eugen Papst leitete seit 1935 bereits den Kölner Männergesangverein, bevor er 1936 als GMD die beiden Gürzenich-Klangkörper übernahm. Dies kam dem Chor insofern zugute, als man jetzt leicht männliche Aushilfen akquirieren konnte und nicht mehr, wie zuvor, auf die Verstärkung durch Opernchorsänger angewiesen war. Immer auf der Suche nach neuen Sängerinnen und vor allem Sängern – es wurden regelmäßig einmal pro Saison Anzeigen in den Tageszeitungen geschaltet – bestrebte man auch eine Verjüngung des Chores. Was die Altersstruktur anbelangte, soll Papst einmal gewitzelt haben über „Damen […], die anscheinend das Requiem bereits unter Verdi mitgesungen hätten.“ [Zitat aus der Festrede von Hermann Engelhart anlässlich des Jubiläums 125 Jahre Gürzenich-Chor, 1956] Das Chorrepertoire bestand zu jener Zeit vor allem aus den großen barocken bis spätromantischen Chorwerken. Ende 1939 wurde das Lied von der Mutter von Joseph Haas uraufgeführt, und zur Matthäus-Passion von Bach kamen 1940 über 4600 Menschen in den Dom. Matthäus-Passion 1940 20 Die Kriegsereignisse erschwerten zunehmend das Chorleben und brachten es schließlich zum Erliegen. Dennoch ist in der Kriegszeit unter widrigsten Umständen geübt und konzertiert worden. Davon berichten u.a. die Rundbriefe, die der Vorstand an die Chormitglieder an der Front verschickte: „Liebe Sangesbrüder im Waffenrock“, beginnen diese Briefe, in denen regelmäßig von der Chorarbeit berichtet wurde und die als „Bindeglied zwischen Heimat und Front“ von den Soldaten interessiert und dankbar empfangen wurden. „Liebe Sangesbrüder im Waffenrock,[…] Ein arbeitsreicher Winter liegt hinter uns. Wir haben durchschnittlich jeden Monat ein großes Chorwerk herausgebracht. Zurückschauend können wir mit Stolz sagen, dass unser Chor seine Aufgabe, in ernster Kriegszeit edelste Musik zu pflegen und hierdurch vielen Volksgenossen Entspannung und seelische Aufmunterung zu bringen, voll und ganz erfüllt hat. Dies ist auch von Publikum und Presse dankbar anerkannt worden, und mit Recht. Denn ungefähr 50 unserer Mitglieder sind totalfliegergeschädigt. Eine ganze Anzahl hat nach auswärts verziehen müssen. Zum Besuche der Proben müssen viele stundenlang fahren und Opfer an Zeit und Geld bringen, und trotz Bombenangriffe und Flakschießens wird pflichtgetreu angetreten! Wenn einmal die Geschichte unseres Chores geschrieben werden wird, so muss diesem Winter ein Ehrenblatt gewidmet werden.“ [Brief vom 2. April 1944; Chor-Archiv] Feldpostbrief vom 15. Januar 1944 21 Die Proben- und Konzertsituation wurde durch das Bombardement der Stadt zunehmend prekär. Nachdem man jahrzehntelang im Saal der Musikhochschule Wolfstraße, dem früheren Konservatorium, und danach in der Wolkenburg geprobt hatte (ab 1936), wechselten nun die Probenorte: von der Aula der Städtischen Oberschule Humboldtstraße in den Chorsaal des Opernhauses, und von dort aus in die Mensa der Kölner Universität. Konzertiert wurde im Opernhaus, nachdem die Messehalle und der Gürzenich zerstört waren. Schließlich lagen alle Räumlichkeiten, die man hätte nutzen können, in Schutt und Asche. Nach dem Luftangriff vom 21. April 1944 kam es in der Mensa der Universität, deren Saal unbenutzbar geworden war, zu folgender Szene: „Man versammelte sich im Flur. Prof. Papst sagte ungefähr Folgendes: Infolge der Kriegsereignisse können die Proben nicht fortgesetzt werden. […] Er, Papst, hoffe aber, dass wir im Herbst wieder zusammenkommen könnten. […] Wenn in der Presse der Ruf an die Mitglieder erginge, zur Probe zu erscheinen, so hoffe er, dass alle wiederkämen. Herr Engelhard betonte nachdrücklichst, dass unter keinen Umständen die Meinung aufkommen dürfe, der Chor hätte sich aufgelöst oder sei auseinandergefallen. Wir wollen jetzt erst recht zusammenhalten und unter allen Umständen wieder zusammenkommen, um unsere herrliche Aufgabe zu erfüllen, edelste Musik zu pflegen. Dann ging die Versammlung still und nachdenklich auseinander.“ [aus der Chronik von H. Engelhart, April 1944] Erst ab August 1945 konnte wieder geprobt werden, nachdem ein Aufruf vom 26. Mai 1945 im Kölner Kurier die Mitglieder des Gürzenich-Chores sowie Interessenten zwecks Neuaufstellung in das Opernhaus zusammengerufen hatte; mit rund 150 Sängerinnen und Sängern startete man in die Saison 1945/46 mit Händels Messias, den Philipp Röhl, der Chordirektor der Oper, einstudierte. Der Theater- und Konzertbetrieb, der im August 1944 per Erlass eingestellt worden war, kam in Köln rasch wieder auf die Beine. Im November 1945 erging ein Bescheid der Militärregierung an die Concert-Gesellschaft, der die weitere Existenz des Chores genehmigte, ohne eine Neugründung zu verlangen. Allerdings mussten Probezeiten und Probenorte angegeben sowie Konzerte von der Militärregierung genehmigt werden. [Schreiben der Concert-Gesellschaft Köln an die Stadt vom 05.12.1945; Chor-Archiv] Zu diesem Zeitpunkt war die Ära Eugen Papst de facto bereits beendet. Die Frage um sein Amt sorgte allerdings noch für erheblichen Wirbel, denn trotz des noch laufenden Vertrags mit Papst hatte die Stadt 1946 Günter Wand zum Generalmusikdirektor berufen. Papst indessen hatte nach Kriegsende seine Dienststelle nicht gleich wieder angetreten, da er annahm, als ehemaliges Parteimitglied suspendiert worden zu sein, aber seine Wiederberufung durch die Stadt erwartete. Papsts Eintritt in die Partei war 1938 „ohne jegliche Bemühung meinerseits“ erfolgt. [Briefabschrift von Eugen Papst an Oberbürgermeister Dr. Suth vom 20.11.1945; Chor-Archiv] 22 Im Gürzenich-Chor entzündeten sich in dieser Angelegenheit heftige Diskussionen. Viele Mitglieder bewerteten ein Ende der Ära Papst als einen großen Verlust für Köln, einige weigerten sich sogar, unter der Leitung von Günter Wand zu singen. Schließlich sprach der Vorstand ein Machtwort: Man singe letztlich, bei aller Verehrung für den Chorleiter, nicht für diesen, sondern für das Publikum, für die Heimatstadt. Zu Beginn der Kölner Amtszeit von Günter Wand (1946-1974) standen die Integration der 15 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen und der Wiederaufbau des zerstörten, in vier Zonen aufgeteilten Landes, an. Nach der Währungsreform wurden 1949 in den westdeutschen Zonen - in „Trizonesien“ - die Bundesrepublik Deutschland, in der Sowjetzone die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Für den Westen wurden die Fünfzigerjahre ein Synonym für Westintegration, Wirtschaftswunder, Nierentisch und Tüten-Design, Schnulze Günter Wand (1912-2002) und Heimatfilm, aber auch für Rock‘n Roll und für die „Halbstarken“. Der Protest gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam, die Hippie-Bewegung mit „Woodstock“ 1969 als Höhepunkt und die jugendliche, vor allem studentische Rebellion gegen die Formen bürgerlicher Ordnung („68er-Bewegung“) verbanden sich zu einer radikalen Bewegung, die viele westliche Länder erfasste. In den siebziger Jahren musste sich der Staat mit linksextremem Terror auseinandersetzen („Deutscher Herbst 1977“). Das in Trümmern liegende Nachkriegsköln, eher rasch als schön wieder aufgebaut, bevölkerte sich schnell wieder. Im Herbst 1953 kam das MillowitschTheater mit einer NWDR- Live-Übertragung des Stückes Der Etappenhase (Karl Bunje) deutschlandweit in die Wohnzimmer; als Ersatz für eine ausgefallene Sportübertragung wurde es mit einem Schlage bekannt. Im Oktober 1955 wurde der Gürzenich unter Mitwirkung des Chores feierlich (neu) eingeweiht. 1956 teilte sich der NWDR in die eigenständigen Sendeanstalten WDR und NDR. Im selben Jahr wurde anlässlich des Katholikentags der restaurierte Dom wiedereröffnet, ein Jahr später, 1957, folgte die Einweihung des neuen Opernhauses am Offenbachplatz. 1962 schaffte es der 1. FC Köln, mit 4:0 gegen den 1. FC Nürnberg Deutscher Fußball-Meister zu werden. 23 Joseph Höffner wurde 1969 Erzbischof von Köln. Der Gründung des RömischGermanischen Museums im Jahr 1974 folgten weitere Museumsgründungen. Im April 1946 übernahm Günter Wand, der bereits seit 1939 der 1. Kapellmeister der Kölner Oper war, das Amt des Generalmusikdirektors und künstlerischen Leiters des Gürzenich-Chores; diese Position behielt er bis zum Jahr 1974. Die aus der „Affäre Papst“ resultierenden anfänglichen Vorbehalte gegen Günter Wand wichen schnell einer Sympathie und respektvollen Begeisterung für den jungen Chorleiter. Die Chor-Chronik erinnert an ihn mit den Worten: Seine „federnd-schlanke Gestalt, seine bei aller Biegsamkeit straffe Dirigentengeste und sein espritvoll-improvisatorisches, dabei letztlich doch bewusst-gebändigtes Naturell suggerieren im Moment eine Erscheinung, die sich ganz ins Gegenwärtige objektiviert: Nerv und Herz beschwören da Klanggestalten wie aus Glas und Stahl, von warmem Licht farbig durchflutet. Überall klare Umrisse, kammermusikalische Zeichnung im Detail, aufs Ganze gesehen großlinige Architektur. Nie ein technisches Versagen, immer im Klangapparat gegenwärtig, und doch das Orchester zu selbstständigem Musizieren animierend, also auch umgekehrt: Der Dirigent als primus inter pares.“ [125 Jahre Gürzenichchor Köln, Chronik, S. 109] Günter Wand 1952 Wands Interesse an moderner Musik und sein Streben nach Perfektion machten das Gürzenich-Orchester zu einem international berühmten Klangkörper und gaben auch dem Chor neue Impulse. In den Jahrzehnten seines Wirkens in Köln prägte der junge Günter Wand nachhaltig das Musikleben der Stadt. Er führte die Tradition der Aufführung großen Messen und Oratorien zwar fort, darüber hinaus fanden jedoch auch zeitgenössische Werke ihren Weg ins Chor-Repertoire: Im Mai 1948 wurde die Burleske Kantate Lob der Torheit von Bernd Alois Zimmermann uraufgeführt, des Weiteren standen das Chant de Naissance von Fortner, das Streitlied von Liebermann, Les Noces und die Psalmensinfonie von StraEintrittskarte 1947 winsky, die Kantate Nr. 1 von Webern, Golgotha von Martin und Liturgien von Messiaen auf den Konzertprogrammen. Mit den Liturgien reisten Günter Wand und einige Chordamen 1952 nach Berlin und führten sie dort mit den Berliner Philharmonikern im Titania-Palast auf. 24 Ein Mitglied an den Vorstand 1954: „[…] über Ihren lieben Glückwunsch zur Geburt unseres Kindes haben wir uns sehr gefreut. Mein erster Versuch, das Kind mit Singen vom Schreien abzuhalten, war ein Erfolg.“ Ein Mitglied an den Vorstand 1956: „[…] darf ich noch erwähnen, dass ich mich gerade an den Gürzenichchor gewandt habe, weil ich annehme, dass hier nicht nur ernsthaft musikalisch gearbeitet wird, sondern auch wirklich gepflegte Geselligkeit anzutreffen ist.“ „Meine Damen! Ich flehe Sie auf den Knien an: s i n g e n S i e!“ [Aus dem Nikolausfest-Heft des Gürzenich-Chors 1948; Zeichnung: Lore Saur] „Meine Herren: Sie singen wie ein alter Staubsauger…!“ [Aus dem Nikolausfest-Heft des Gürzenich-Chors 1948; Zeichnung: Lore Saur] 25 Weitere Stilblüten des Chorlebens aus den 1950er Jahren: Antwort von H. Engelhart: 26 27 Der Gürzenich-Chor hatte trotz aller Nachkriegsmühsale seine Unternehmungslust nicht eingebüßt; man feierte regelmäßig Nikolausfeste und beteiligte sich an Karnevalsfeiern, unternahm Ausflüge und Schiffstouren. Für die Organisation dieser außerchorischen Aktivitäten gab es einen eigens dafür eingerichteten „Vergnügungsausschuss“. Beschwerdebrief 1956 28 Mit Günter Wand begann für den Gürzenich-Chor auch insofern eine neue Ära, als der Chor genötigt war, sich von der Concert-Gesellschaft zu trennen, die zu jener Zeit aufgrund finanzieller Not praktisch nicht mehr bestand, trotz der intensiven Bemühungen seitens des Chores, ihr zu neuem Leben zu verhelfen. 1944 hatte die Direktion der Concert-Gesellschaft Hermann Engelhardt, Mitglied des Chores, gebeten, die „leitende Betreuung“ des Chores zu übernehmen. Von nun an führte der Chor die Verhandlungen mit der Stadt selbst und wählte sich einen Vorstand. Die bisher von der Concert-Gesellschaft veranstalteten Sinfoniekonzerte firmierten nun als „Städtische Konzerte.“ In der Nachkriegszeit probte der Chor im Orchester-Probesaal im Opernhaus und konzertierte in der Aula der Universität. Wiederholt gab es Klagen wegen des Mangels an Sitzgelegenheiten – der Chor war inzwischen auf stolze 200 Personen angewachsen – sowie wegen der Tatsache, dass Stühle und Bänke stets erst aufgestellt werden mussten. Auch über die Konzertsituation in der Aula war der Chor alles andere als glücklich: „Müssen wir noch immer, dicht aneinander gedrängt, manchmal nur auf einem Bein stehend, die Hälse verrenkt und den Körper verdreht, um den Dirigenten überhaupt sehen oder das Notenblatt einigermaßen lesbar halten zu können, auf dem Podium stehen, ohne auch einmal ein wenig sitzen zu können? Das geht jetzt schon 5 Jahre so. […] Gibt es denn noch immer keine Änderung und lässt sich kein Podium schaffen, von dem man, wie es sich gehört, in das Publikum hineinsingen kann und nicht in das Orchester, wie es jetzt der Fall ist? […]Am besten wäre es, wenn eine Musikhalle geschaffen würde, die einer Stadt von der Bedeutung Kölns angemessen ist, sei es der Gürzenich oder ein ähnlicher Raum, und zwar in kürzester Frist.“ [Brief von Engelhardt an den Oberbürgermeister vom 20 August 1950; Chor-Archiv, Nr. 182] „Es ist ganz gleich, ob ich gerade etwas ansage oder nicht; wenn einige Herren den Saal verlassen, dann drehen sich mindestens 90% der Damen um. Das ist die gänz(s)liche Uninteressiertheit.“ [Aus dem Nikolausfest-Heft 1949 des GürzenichChores; Zeichnung: Lore Saur] 29 Der zerstörte Gürzenich Einige Mitglieder des Gürzenich-Chores packten tatkräftig mit Schaufel und Pickel bei der Entschuttung des Gürzenichs an, der „Stätte, wo unser Chor früher durch seine Darbietungen Triumphe gefeiert hat, damit der ehrwürdige Bau bald wieder hergestellt und seiner Bestimmung wieder übergeben werden kann. […]Am vergangenen Freitag, dem 17. Juni, waren auch wir gemeinsam mit dem Orchester an der Reihe. Es wurde in zwei Schichten, von 8-12 und von 12-16 Uhr gearbeitet. […] Die Herren schippten, und die Damen räumten auf. Gegen Ende jeder Schicht wurden aus der Chor- bzw. Orchesterkasse erfrischende Getränke ‚geistigen‘ Inhalts sowie Keks gereicht […]. Es herrschte eine überaus fröhliche Stimmung und ein herzliches Einvernehmen zwischen Chor- und Orchestermitgliedern.“ [Aus der Chronik von H. Engelhart, Mittwoch, 22. Juni 1949] Entschuttung des Gürzenich 30 Entschuttung des Gürzenich Gürzenich, Probe im Mai 1951 Gürzenich, Konzert im Mai 1951 31 Am 25.06.1950 sang der Chor im provisorisch als Festsaal hergerichteten Gürzenich zu der Feier „1900 Jahre Stadt Köln“ die Neunte von Beethoven. Und selbstverständlich wirkte der Chor bei der feierlichen Wiedereröffnung des Gürzenichs am 2. Oktober 1955 mit. Hier erklang unter anderem das „O Fortuna“ aus Carl Orffs Carmina Burana. Einweihung Gürzenich 1955 Oberbürgermeister Ernst Schwering (1886-1962) / Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967) Kardinal Josef Frings (1887-1978) 32 Konzert in Montreux 1956 33 Konzert in Venedig 1964 Häufig konzertierte der Chor mit Günter Wand auswärts: in Leverkusen, Wuppertal, Düsseldorf, Aachen, Recklinghausen, Berlin und anderswo. 1953, 1956 und 1965 folgten der Gürzenich-Chor und das Gürzenich-Orchester Einladungen zum Septembre Musical in Montreux. 1964 reiste der Chor nach Venedig und Bologna, wo die Aufführungen von Beethovens Missa Solemnis zu einem außerordentlichen Erfolg wurden. Auch nach Günter Wands Weggang machte die Geschichte nicht Halt, weder in der großen Politik noch in der Chorgeschichte. Die KSZE in Helsinki (1975) bestätigte die Nachkriegsgrenzen in Europa, sicherte die Menschenrechte und regelte Verständigung und Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg. In der BRD wurde man mit 18 Jahren volljährig. 1977 ermordete die RAF Arbeitgeberpräsident Schleyer, den Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank Ponto und Generalbundesanwalt Buback. Erstmals wurde mit Johannes Paul II. ein Pole Papst (1978). Punkmusik und –mode machten das Leben, die „Grünen“ (seit 1980) die Politik bunter. Mit der neuen Partei erreichte die Protestbewegung gegen Kernkraft 34 in Brokdorf ihren ersten Höhepunkt, Helmut Schmidt besuchte Honecker am Werbellinsee, ein Jahr später (1982) wurde er gestürzt und Helmut Kohl für 16 Jahre Bundeskanzler. Eine umfassende Eingemeindung machte zum Jahresbeginn 1975 Köln zur Millionenstadt. 1976 gab Wolf Biermann in Köln sein legendäres Konzert und wurde daraufhin von der DDR ausgebürgert. 1980 besuchte Papst Johannes Paul II. die Stadt. Der Menschenrechtler und Germanist Lew Kopelew, ein Freund Heinrich Bölls, ließ sich nach seiner Ausbürgerung aus der Sowjetunion 1982 in Köln nieder. 1977 eröffnete das Museum für Ostasiatische Kunst seine Pforten. Eigentlich sollte im September 1974 der ungarische Dirigent István Kertész (1929-1973) das Amt des Gürzenichkapellmeisters antreten. Die Aufführung von Bruckners Te Deum, mit dem er seine Arbeit beginnen wollte, fand schließlich ohne ihn statt: Kertész war im April 1973 während einer Konzerttournee vor der israelischen Küste ertrunken. Der Gürzenich-Chor und das Gürzenich-Orchester widmeten ihm dieses erste Konzert der Saison, dessen Leitung Fenando Previtali übernahm. Auf Günter Wand folgte der in Leningrad geborene russisch-israelische Dirigent Yuri Ahronovitch als Leiter des Gürzenich-Orchesters (1975-1986), nachdem er verschiedene Opernhäuser und Orchester in der Sowjetunion geleitet, 1972 nach Israel emigriert war und die Israelischen Philharmoniker dirigiert hatte. Zum 150-jährigen Bestehen des Chores lud die Stadt Köln im Dezember 1977 zum feierlichen Empfang ins Rathaus ein. Der Chor sang unter der Leitung von Karl Josef Görgen das Exultate Deo von Alessandro Scarlatti, und der Oberbürgermeister John Yuri Ahronovitch (1932-2002) van Nes Ziegler fand die anerkennenden Worte, der Chor sei nicht der veränderten Zeit zum Opfer gefallen und habe „dem städtischen Konzertwesen Niveau vermittelt.“ [Kölner Stadt-Anzeiger vom 07.12.1977]. Ein wenig enttäuscht war man im Chor dennoch, weil „aus organisatorischen Gründen“ kein Festkonzert zum Jubiläum ermöglicht werden konnte. 35 In den Jahren von 1983 bis 1994 drängte sich so viel Geschichte zusammen, wie man es sich bis dahin nicht hatte vorstellen können. Michail Gorbatschows atemberaubender Versuch, die Sowjetunion zu reformieren (Perestrojka), endete am Jahresende 1991 mit deren Zusammenbruch, nach ihm wurde Boris Jelzin als russischer Präsident der starke Mann. Im Zusammenhang damit löste sich, unter Führung der Solidarność-Bewegung in Polen mit Lech Wałęsa an der Spitze, der Ostblock auf, und die friedliche Revolution der Montagsdemonstrationen 1989 führte zum Ende der DDR und mit Zustimmung der sowjetischen Regierung, gefördert durch die USA und mit Einverständnis der Nachbarstaaten, 1990 zur deutschen Vereinigung. In dieser Zeit zerfiel Jugoslawien unter blutigen Kämpfen, und die USA führten 1990/91 den zweiten Golfkrieg. Im wiedervereinigten Deutschland beschäftigte man sich mit dem Aufbau der neuen Bundesländer, die „Treuhand“ wurde zum Begriff. Die Havarie des Kernkraftwerks Tschernobyl (1986) erschütterte das Vertrauen in die Atomindustrie, und der Computer trat seinen Siegeszug durch die Büros, Haushalte, Schulen und Betriebe an. In Köln wurde 1986 das Wallraf-Richartz-Museum/Museum Ludwig eröffnet, und mit der Philharmonie erhielt die Musikstadt Köln endlich ihren lange ersehnten, international stark beachteten und seither rege bespielten Konzertsaal. 1987 besuchte Papst Johannes Paul II. Köln und sprach am 1. Mai Edith Stein als jüdisch-christliche Märtyrerin selig. 1988 wurde das NS-Dokumentationszentrum im EL-DE-Haus eröffnet. Etwa zeitgleich wurde der Rathausturm mit Steinfiguren bestückt, die direkten Bezug zur Kölner Stadtgeschichte hatten. Im Rahmen dieser Aktion schuf die Bildhauerin Marianne Lüdicke 1989 die Steinfigur von Katharina Henot, einer reichen Patrizierin und Vorfahrin der Künstlerin, die 1627 der Hexerei beschuldigt und hingerichtet worden war. Ihr Prozess war der Auftakt einer verschärften Hexenverfolgung in der Reichsstadt Köln, die bis etwa 1630 andauerte und der mindestens 24 Frauen zum Opfer fielen. Erst im Juni 2012 beschloss der Kölner Stadtrat auf Antrag ihrer Nachfahren die Rehabilitierung von Katharina Henot. In Köln erinnern eine nach ihr benannte Straße und Gesamtschule an sie, und die Bläck Fööss widmeten ihr das Lied „Katharina Henot“. Katharina Henot am Rathausturm 36 Bezeichnend für das kölsche „Rechts“-Empfinden war das 1992 auf dem Chlodwigplatz stattfindende „Arsch hu, Zäng ussenander“-Konzert, bei dem auch die Bläck Fööss (wieder einmal) Position gegen Fremdenfeindlichkeit bezogen, u. a. mit dem Titel „Unser Stammbaum“. In den 90er Jahren investierte die Stadt in den Bau des Mediaparks, um sich in Deutschland als „Medienstadt“ zu positionieren. 1994 bezog das von Alice Schwarzer 1984 als Stiftung initiierte feministische Archiv und Dokumentationszentrum den mittelalterlichen Kölner Bayenturm und hieß von nun an FrauenMedia Turm. Für den Gürzenich-Chor trat 1983 eine wichtige Veränderung ein: Mit Volker Hempfling übernahm erstmals ein Musiker die künstlerische Leitung des Chores, der nicht gleichzeitig Kapellmeisters des Gürzenich-Orchester war. Die Verpflichtung des Chores, dem Orchester weiterhin für Konzerte zur Verfügung zu stehen, blieb jedoch bestehen. So kam es, dass Hempfling es in seiner Amtszeit als künstlerischer Leiter des Gürzenich-Chores (1983-1994) mit drei Kapellmeistern zu tun hatte: mit Yuri Ahronovitch, Marek Janowski und James Conlon. Yuri Ahronovitch war während seiner Kölner Zeit (1975-1986) gleichzeitig Chefdirigent der Stockholmer Philharmoniker (1982-1987) und nahm viele internationale Gastdirigate wahr. Mit dem Gürzenich-Chor arbeitete er konzentriert unmittelbar vor den Konzerten, in deren Programmen sich regelmäßig seine Herkunft widerspiegelte: So fanden sich dort slawische Kompositionen von Schostakowitsch, Glinka, Mussorgsky, Prokofjew oder Stravinsky. Daneben stand weiterhin die traditionelle Chorliteratur von Haydn, Beethoven, Mahler, Puccini, Verdi und Schubert. Der in Warschau geborene und in Wuppertal aufgewachsene Marek Janowski amtierte von 1986 bis 1991 als Chefdirigent des GürzenichOrchester. Seine Amtsperiode begann mit einem Highlight: die Eröffnung der Philharmonie im September 1986 mit Mahlers Sinfonie Nr. 8, der Sinfonie der Tausend. Selbstverständlich wirkte auch der Gürzenich-Chor bei diesem „Großevent“ mit. In besonderer Erinnerung bleiben auch die Aufführung der Gurrelieder von Arnold Schönberg sowie der (Männer-)Schlusschor in Ferruccio Busonis Klavierkonzert, die der GürzenichChor unter Janowskis Stabführung sang. Marek Janowski (*1939) 37 Eröffnung der Kölner Philharmonie September 1986 Der New Yorker James Conlon, damals Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters Rotterdam und seit 1989 Chef der Kölner Oper, löste Marek Janowski 1991 als GMD der Stadt Köln ab (bis 2002). Conlon dirigiert(e) in allen großen europäischen und us-amerikanischen Opernhäusern und Konzerthallen, und viele seiner Einspielungen (Mahler, Schreker, Zemlinsky, Schulhoff, Ullmann, Martinů u. a.) sind ausgezeichnet worden. James Conlon (*1950) 38 „Ich war stolz, Leiter des Gürzenich-Chores zu sein“, erinnert sich Volker Hempfling. Einen schriftlichen Vertrag habe es nie gegeben: „Karl-Heinz Ebrecht, der langjährige 1. Vorsitzende des Chores, der stets das Schiff in aller Ruhe durch die notwendigen Verhandlungen mit der Stadt und mit den jeweiligen GMDs lenkte, ist zu mir gekommen, und wir haben den Vertrag auf der Wiese in meinem Garten per Handschlag besiegelt. Das war damals so, und es stand immer außer Frage, dass dieser Vertrag gültig war. Ebrecht war ein sehr seriöser Mensch.“ [Hempfling, Telefonat vom 06.10.2012] Volker Hempfling (*1944) Hempfling, Domorganist und Kantor der Evangelischen Kirchengemeinde Altenberg (1972-1997) sowie Gründer der Kölner Kantorei (1968), führte mit seinen Chören innerhalb eines Frank Martin-Zyklus zum 100. Geburtstag des Schweizer Komponisten dessen große chorsinfonische und A-cappella-Werke in acht Konzerten in der Kölner Philharmonie und im Altenberger Dom auf, darunter die Oratorien Golgotha, In Terra Pax sowie das Requiem und die doppelchörige Messe. Die Übernahme des Gürzenich-Chores ermöglichte Hempfling die Verwirklichung einer Idee, die er schon länger hegte: Mit seinen drei Chören konnte er 1985 die Lukas-Passion des polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki in St. Maria im Kapitol aufführen. Diese vom WDR in Auftrag gegebene, Anfang der 1960er Jahre entstandene Komposition sollte ursprünglich in Köln uraufgeführt werden. Da sich der damalige Kölner Erzbischof wegen der avantgardistischen Ausdrucksmittel des Werkes gegen die Aufführung gesperrt hatte, fand die Uraufführung - dank des damaligen Bischofs von Münster und späteren Kardinalerzbischofs von Köln Joseph Höffner - 1966 im St.-Paulus-Dom zu Münster (Westfalen) statt. 1985 also setzte Hempfling bewusst der bundesweiten Jubiläumsprogrammgestaltung zum „Bach-Schütz-Händel-Jahr“ mit Pendereckis Lukas-Passion sein eigenes Programm entgegen. Es war die erste und bisher einzige Kölner Aufführung des äußerst aufwendigen Werkes, und unter den Zuhörern befand sich Kardinal Höffner, den Hempfling persönlich eingeladen hatte. Ein weiteres herausragendes Erlebnis im Jahr 1985 war die Teilnahme des Gürzenich-Chores am Festakt zum „Jahr der Romanischen Kirchen“, in dem die Stadt Köln den endlich vollendeten Wiederaufbau der zwölf kriegsgeschädigten Kirchen feierte. Einzeln und in Grüppchen postiert zwischen den Säulen und oben 39 in Groß St. Martin sang der Gürzenich-Chor gemeinsam mit der Kölner Kantorei, sodass die Zuhörer, unter ihnen Ministerpräsident Johannes Rau, von Klang umrundet waren mit mehrchörigen Werken von Michael Praetorus, Heinrich Schütz und anderen Komponisten. Hempfling stellte an den Chor höchste Ansprüche an Präzision und Präsenz, die so manches Mal mit einer gewissen Strenge bei der Einstudierung verbunden waren. Die Erfolge der vielen Konzerte bestätigten seine Arbeitsweise und trugen letztlich zu einer guten Stimmung im Chor bei. Unter seiner Stabführung standen auf dem Programm Leonard Bernsteins Chichester Psalms, die Passionen, das Weihnachtsoratorium und die Hohe Messe von Bach, die Cäcilienmesse von Joseph Haydn, das Gloria von Francis Poulenc, das Weihnachtsoratorium, die Messe und das Requiem von Camille Saint-Saëns, das Requiem von Franz von Suppé, Giuseppe Verdis Requiem sowie das Deutsche Requiem von Brahms. Von Puccinis Messa die Gloria (1986) und Charles Widors Symphonie Antique (1994) gibt es CD-Einspielungen. Während dieser Ära wurde zu Hempflings großem Bedauern zunehmend der Brauch beschnitten, dass der Chorleiter mindestens einmal jährlich das Gürzenich-Orchester selbst dirigiert, dass also das Orchester dem Chor zu Verfügung steht. „Es ist wichtig, dass der Chor seinen Leiter nicht nur als Einstudierer erlebt, sondern mit ihm und dem Orchester auch gemeinsame Konzerterlebnisse hat“. [Hempfling, Telefonat vom 06.10.2012] 1994, zum Ende seiner Amtszeit, unternahm Volker Hempfling mit dem GürzenichChor eine sehr erfolgreiche Konzertreise nach Pécs in Südungarn: Mit dem Pécser Symphonieorchester kam Golgotha von Frank Martin zur Aufführung. Es waren bewegte Jahre um die zweite Jahrtausendwende n. Chr. Die deutsche Politik hatte unter den Blicken der Weltöffentlichkeit die neue Einheit des fast ein halbes Jahrhundert geteilten Landes zu bewerkstelligen. Die Sorge vieler Menschen, der Übergang ins Jahr 2000 werde mindestens Computer zum Absturz und Kraftwerke zum Stillstand bringen, bewahrheitete sich denn doch nicht. Die Einführung des Euro zum Jahresbeginn 2002 als Gemeinschaftswährung in 17 europäischen Staaten, ein historisch einmaliges Experiment, wurde sowohl mit Euphorie als auch mit Skepsis aufgenommen. In Köln brachte das Jahr 1995 den Hochwasserrekord des 20. Jahrhunderts. 1998 öffnete in Deutz die KölnArena (Lanxess-Arena) ihre zahlreichen Türen, eine Mehrzweckhalle der Superlative und Aushängeschild der „Eventstadt“ Köln. Im Dom wurde 2007 das „Richter-Fenster“ eingebaut, das weltweit Aufsehen erregte. Spektakulär war der Einsturz des Stadtarchivs Jahr 2009. Ein Jahr später wurde Köln wieder Millionenstadt. 40 Was nur in Köln möglich ist: 1996 hatten Diebe wertvolle Gegenstände aus der Domschatzkammer gestohlen. Als die Suche der Polizei ergebnislos blieb, wandte sich der damalige Dompropst Bernard Henrichs an „Schäfers Nas“, eine originelle Größe des Kölner Rotlichtmilieus, Dank dessen Verbindungen wurden die wertvollsten Stücke zurückgegeben. Der Dompropst las im Gegenzug eine Dankmesse für den etwas ungewöhnlichen Helfer. Während der 16 Jahre, in denen Michael Reif den Gürzenich-Chor leitete (1994-2010), arbeitete er mit zwei Kapellmeistern des Gürzenich-Orchesters und Generalmusikdirektoren der Stadt Köln zusammen: James Conlon (1989-2003) und Markus Stenz (seit 2003). Markus Stenz (*1965) Auf deren Anforderung hin übernahm Reif die Einstudierung für die mit dem GürzenichOrchester gemeinsamen Konzerte. Zu den Höhepunkten in dieser Zusammenarbeit zählten die Bach‘schen Passionen, die konzertante Aufführung der Meistersinger von Nürnberg, das Te Deum von Walter Braunfels und das Requiem von Gabriel Fauré. Ein weiteres Highlight war die Mitwirkung des Gürzenich-Chores bei der Aufführung von Gustav Mahlers 8. Sinfonie 2009 in der Kölner Philharmonie, die Heinz Walter Florin, der Leiter des Deutz-Chores, dirigierte. Der engagierte Chorleiter Michael Reif setzte sich auch dafür ein, sängerischen Nachwuchs heranzuziehen. So gründete er einen Kinderchor und zog zu dem Konzert The Armed Man Studenten und Schüler hinzu. Neben zahlreichen Verpflichtungen im In- und Ausland im Laufe der Zeit, übernahm er auch die künstlerische Leitung der Kölner Kurrende und des Europäischen Kammerchores und nutzte seine Verbindungen, insbesondere zu seiner früheren Michael Reif (*1959) 41 Wirkungsstätte Trier, um mit auswärtigen Chören zusammenzuarbeiten. In den choreigenen Konzertprogrammen verband er Klassik mit moderner, zeitgenössischer Musik. Beispielhaft waren die Aufführungen von Brahms´ Deutschem Requiem (ein Benefizkonzert zu Gunsten der Kinder von Tschernobyl), Bachs Weihnachtsoratorium, Messen von Mozart und Puccini, Oratorien von Haydn und Casals oder Kodálys Psalmus Hungaricus, Rutters Psalmfest sowie das Konzert zum 175. Jubiläum des Gürzenich-Chores mit Bernsteins Kaddish (Sinfonie Nr. 3) und The Cloud Messenger von Gustav Holst. Chorreisen nach Italien, Japan und in die USA machten den Chor auch im Ausland bekannt. Der gebürtige Solinger Christian Jeub übernahm die Chorleitung zu Beginn des Jahres 2011. Bis dahin hatte ihn sein Weg nach München an das Staatstheater am Gärtnerplatz und anschließend nach Gelsenkirchen ans Musiktheater im Revier (MiR) geführt, dessen Chordirektor er ist. Zu seinem Kölner Antrittskonzert in St. Aposteln wählte Jeub Rossinis Petite Messe Solennelle, die ein Jahr später, im Mai 2012, auch auf der Konzertreise nach Dießen am Ammersee mit im Gepäck war. Im Januar 2012 musizierte Christian Jeub (*1970) der Gürzenich-Chor im MiR und im Ruhrfestspielhaus Recklinghausen mit der Neuen Philharmonie Westfalen Beethovens 9. Sinfonie, im Februar 2012 erklangen in der Kölner Philharmonie Haydns Harmonie-Messe und Nicolais Te Deum. Die stimmbildnerische Arbeit während der Proben hat mit Unterstützung von Claudia Nüsse wieder größeres Gewicht erhalten. Christian Jeub sieht den Gürzenich-Chor fest verankert im traditionellen philharmonischen Chorrepertoire, und so wird am Karfreitag 2013 in der Trinitatiskirche die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach zur Aufführung kommen. Ein weiteres kleines Highlight: Für Oktober nächsten Jahres konnte der renommierte Gastdirigent Simon Carrington (25 Jahre King‘s Singer, Professor für Chorleitung an der Yale University) für die Einstudierung eines englisch-amerikanischen Chorprogrammes gewonnen werden. Tradition bedeutet Weitergabe des Feuers, nicht Anbetung der Asche. (Gustav Mahler) 42