W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen www.med-eng.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. Prothetik Embedded-Messsysteme Kommunikation setzt gutes Hören voraus. Ein Forscherteam der Universität Stuttgart hat daher das Zusammenspiel der Gehörknöchelchenkette im Mittelohr untersucht, um herauszufinden, wie sich Mittelohrprothesen verbessern lassen. Schon gehört? Bessere Mittelohrprothesen in Sicht D er Hörvorgang setzt sich aus einer komplexen Kette funktional ineinandergreifender Elemente zusammen. Einfach ausgedrückt gelangen Schallwellen als Druckschwankungen der Luft in den Gehörgang und verursachen im Mittelohr eine Bewegung der Gehörknöchelchen, also von Hammer, Amboss und Steigbügel (Bild 1). Der Steigbügel grenzt mit seiner Fußplatte an das Innenohr. Hinter der Fußplatte befindet sich die Innenohrflüssigkeit, die das Gleichgewichtsorgan und die Hörschnecke ausfüllt. Durch die Bewegung der Steigbügelfußplatte kommt die Flüssigkeit im Innenohr in Bewegung, was wiederum die Haarsinneszellen reizt. Deren Deformation erzeugt elektrische Signale, die über den Hörnerv in das Gehirn geleitet werden und den eigentlichen Höreindruck hervorrufen. Um Hörprothesen verbessern zu können, hat das Forscherteam der Universität Stuttgart erforscht, wie die Gehörknöchelchenkette stimuliert werden muss, damit der Mikroelektronik erlaubt Mensch möglichst Messen der Kippbewegung gut hört. Der Steigbügel führt je nach Frequenz kolbenartige und kippende Bewegungen aus. Im niederfrequenten Bereich kommt es hauptsächlich zu einer Kolbenbewegung. Im hochfrequenten Bereich kommen auch Kippbewegungen hinzu. Die klassische These des Hörens besagt, dass lediglich die kolbenartige Bewegung der Steigbügelfußplatte das Hören unmittelbar beeinflusst, nicht jedoch die kippende. Forscher der Universität Stuttgart und am Universitätsspital Zürich haben in In-vivo-Versuchen an Meerschweinchen getestet, ob und inwieweit auch die Kippbewegungen die Haarzellen reizen, sowie Signale an das Ge- 88 MED engineering 2010 Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. www.med-eng.de W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen 1 Die Anatomie des menschlichen Gehörs hirn senden und ob dabei ein Höreindruck entsteht. Der Versuchsaufbau (Bild 2) besteht aus dem Narkose- und Überwachungs-gerät für das Versuchstier und dem schwingungsgedämpften Versuchsstand in einer vor akustiSteigbügel gezielt schen Nebengeräuschen und mit Piezoaktoren elektromagnetischer Einstrahlung bewegen isolierten Kabine. Die mechanische Steigbügelerregung über einen piezoelektrischen Aktor sowie die Messgrößenerfassung der Steigbügelbewegungen und des Nervenpotenzials übernimmt das Embedded-System Auto Box. »Aufgrund unzureichender Messmethoden hat man angenommen, dass die Kippbewegungen der Steigbügelfußplatte keine Nervenreizung zur Folge haben«, so Dr. Albrecht Eiber (Bild 3, rechts) vom Institut für Technische und Numerische Mechanik an der Universität Stuttgart. »Erst die moderne Mikrosystemtechnik ermöglicht es, die Kippbewegung und ihre Auswirkungen im hochfrequenten Bereich zu messen.« Bei der Untersuchung von Schwingungen der Gehörknöchelchen im Nanometerbereich werden häufig LaserKontakt Doppler-Vibrometer eingesetzt. Bei diesem VerdSPACE GmbH such erfasst der 3D-Laser 33102 Paderborn die Geschwindigkeiten Tel. +49 (0)5251 1638-540 Fax +49 (0)5251 16198-540 des Steigbügelkopfs in www.dspace.de allen Raumrichtungen simultan. Ein hochohmiInstitut für Technische ger Biosignalverstärker und Numerische Mechanik Universität Stuttgart verstärkt die elektrische 70569 Stuttgart Spannung der elektrophyTel. +49 (0)711 685-66393 siologischen Antwort vom Fax +49 (0)711 685-66400 Hörnerv des Versuchswww.itm-uni-stuttgart.de tiers. MED engineering 2010 89 Unter Aufrechterhaltung der Innenohrfunktion wird der Steigbügel des Versuchstiers chirurgisch freigelegt. Somit haben Aktor und Laserstrahlen direkten Zugang zum Steigbügelkopf. Die Kopplung des piezoelektrischen Aktors an den Steigbügelkopf erfolgt mit einer speziell gefertigten Nadel und feinstem Augenoperationsfaden. Den chirurgischen Eingriff und die Überwachung des Versuchstiers in der Narkose hat PD Dr. med. Alexander Huber vom Universitätsspital Zürich übernommen. Im Unterschied zur akustischen Erregung über einen Lautsprecher lässt sich durch die mechanische Anregung des isolierten Steigbügels am Steigbügelkopf die Bewegung der Steigbügelfußplatte vorgeben. Der Aktor mit drei unabhängigen Piezoaktoren kann jede beliebige räumlich komplexe Bewegung ausführen (Bild 4), also auch rein kolbenförmige Bewegungen des Steigbügels oder reine Kippbewegungen. Demgegenüber steht bei der akustischen Anregung das Verhältnis von Kipp- und Kolbenbewegung des Steigbügels in einem festen frequenzabhängigen Verhältnis, das durch die Dynamik der Kette bestimmt wird. Es kann am Steigbügelkopf auch eine Bewegung aufgeprägt werden, die der akustischen Anregung entspricht. Damit lassen sich die gemessenen Nervenpotenziale mit den Ergebnissen anderer Forschungsgruppen vergleichen. W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen www.med-eng.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. Prothetik Embedded-Messsysteme Der zeitliche Verlauf der Steigbügelbewegung bestimmt den Frequenzinhalt des Signals und somit die Erregung der inneren und äußeren Haarzellen am frequenzspezifischen Ort der Basilarmembran. Der üblicherweise in der Elektrocochleografie verwendete akustische Klickreiz besitzt ein breites Frequenzspektrum. Durch die Dynamik des schwingungsfähigen Systems bei akustischer Anregung, besteElektrophysiologische hend aus Lautsprecher, Antwort auch Übertragungsschlauch, auf Kippbewegung Ohrkanal und Mittelohr, tritt der zeitliche Verlauf der Anregung am Innenohr deutlich tiefpassgefiltert auf. Dabei wird ein kurzer hochfrequenter Klick am Schallwandler in der Bandbreite eingeschränkt und erfährt eine Verzögerung durch die Signallaufzeit. Dies ermöglich es, einen akustischen Klick durch die direkte Anregung am Steigbügelkopf mit einem trägeren mechanischen Antriebssystem nachzustellen. »Im Experiment wird der Aktor vom DS1005 PPC Board von dSPACE gesteuert«, erklärt Dipl.-Ing. Michael Lauxmann (Bild 3, links), vom Institut für Technische und Numerische Mechanik der Universität Stuttgart. »Wir rechnen unter Berücksichtigung der Dynamik der Gehörknöchelchenkette und des Aktors im Vorfeld aus, wie wir den Aktor betreiben müssen, damit wir die gewollte Anregung am Steigbügelkopf erhalten. Zur Identifikation der Systemdynamik nutzen wir ein Multisinussignal.« Ein Verstärker mit hochohmigem Eingang und großem Verstärkungsfaktor misst die Signale der Reizantwort. Diese enthält je- doch einen hohen Störanteil resultierend aus Versuchsumgebung und Grundaktivität der Nerven. Daher werden viele Reizantworten aufgezeichnet und durch Mittelung die unkorrelierten Störanteile verringert. Klicks werden hierzu in Abständen von beispielsweise 50 ms ausgegeben. Um konsistente Messdaten zu erhalten, müssen sowohl der physische Zustand des Versuchstiers als auch die Position der Elektroden wie bei einer realen Operation überwacht werden und sollten möglichst konstant bleiben. Durch das Einprägen von elementaren kolbenförmigen Bewegungen und elementaren Kippbewegungen ließen sich die aus der Elektrocochleografie bekannten Nervenpotenziale nachweisen. Die Versuche zeigten, dass auch die Kippbewegungen einen Ner- „Bei einem Implantat muss man die optimale Befestigung finden.” venreiz auslösen. Antworten der Sinneszellen auf Kippbewegungen stimmen in Form und Latenzzeitverschiebung abhängig von der Intensität des Stimulus mit der Antwort der Nerven überein, wie sie bisher nur bei kolbenförmigen Bewegungen beobachtet wurden. Die AutoBox betreibt den Versuchsstand und wertet die Daten aus. Auf dem DS1005 PPC Board läuft das Messprogramm in Echtzeit. Die analogen Werte des Messprogramms gibt Kabine das High Resolution D/A-Board DS2102 aus, Versuchsstand und das DS2003 3D-Laser Das DS1005 Board Multi-Channel A/D Board übermisst in Echtzeit Mikromanipulator nimmt das EinVorverstärker lesen analoger Signale. Aufgrund des moduAktor Versuchstier laren Aufbaus lässt sich das System flexibel und schnell an biomechanische Anwendungen anpassen. Das Messprogramm auf dem EchtzeitLinearverschiebe rechner wird über die Experimentiersoftware tische ControlDesk bedient. Automatisieren und beschleunigen lässt sich die Versuchsdurchführung mit MATLAB 2008a. Die Bibliothek MLib stellt Funktionen für den DaBiosignal Verstärker verstärker tentransfer zwischen dem Messrechnerspeicher und dem Arbeitsspeicher von MATLAB bereit. AutoBox Computer Nach der Versuchsdurchführung werden die Daten nach MATLAB übertragen, was die Zeit DS1005 zwischen zwei Messzyklen minimiert, weil sich DS2102 DS2003 die Anzahl der manuellen Schritte reduziert und die Dokumentation von Parametern der Versuchseinstellung entfällt. Der automatisierte Messablauf verläuft in folgenden Schrit2 Komponenten im Versuchsaufbau und Signalfluss ten: Anregung in ControlDesk eingeben, Messprozedur aus der Kommandozeile in 90 MED engineering 2010 W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen www.med-eng.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. Prothetik Kurzinterview 3 Dr.-Ing. Albrecht Eiber (rechts) und Dipl.-Ing. Michael Lauxmann (links) vom Institut für Technische und Numerische Mechanik haben herausgefunden, dass die Kippbewegung des Steigbügels wie die Kolbenbewegung eine elektrophysiologische Antwort hervorruft Mikromechanische Aktoren bieten Potenzial MED: Herr Dr. Eiber, was moti- EIBER: Wenn man eine Hörprothese verbessern will, muss man viert einen Maschinenbauer dazu an Mittelohrprothesen zu forschen? nicht nur den Hörvorgang verstehen, sondern auch herausfinden, wo sich der optimale Befestigungspunkt für ein Implantat befindet. Das Implantat muss mechanisch halten. Schließlich werden Kräfte und Bewegungen beispielsweise auf den Steigbügel übertragen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Anregungsrichtung der Ohrknöchelchen. Wählt man eine ungünstige Richtung, verschlechtert sich die Schallübertragung. Kurz gesagt, es handelt sich um Mechanik, Aktorik und Schwingungstechnik, was typische Maschinenbauthemen sind. MED: Sie haben mit Ihrem Team EIBER: Das bedeutet, dass sich das Hörvermögen nicht nur über die künstlich erzeugte Kolbenbewegung des Steigbügels, sondern auch über Kippbewegungen verbessern lässt. nachweisen können, dass das Hörvermögen auch durch die Kippbewegung des Steigbügels beeinflusst wird. Welche Konsequenz hat das für eine Hörprothese? MED: Lässt sich das so einfach steuern? EIBER: Nein, es handelt sich hier um einen komplexen dynamischen Prozess. Wir können jedoch sehr viele Möglichkeiten über die Schwingungssimulation testen. Natürlich hat auch die Anatomie einen entscheidenden Einfluss. Man muss wissen, wie man das Implantat chirurgisch ankoppelt. Daher lässt sich eine Lösung nur in Zusammenarbeit mit den Chirurgen finden. MED: Wie versorgen Sie die EIBER: Bei passiven Prothesen, also dem Ersatz der Knöchelchen, Prothese mit Strom? ist keine Versorgung erforderlich. Bei den aktiven Prothesen unterscheidet man zwischen teilweise und vollständig implantierten Typen. Die Stromversorgung und das Mikro lassen sich bei Ersteren hinter dem Ohr anbringen. Vollständig implantierte Prothesen haben absolut versiegelte Komponenten. Die Batterie wird beispielsweise nachts über eine induktive Spule durch die Haut aufgeladen. MED: Wie sehen Ihre nächsten EIBER: In Kooperation mit Ärzten und Prothesenherstellern Schritte aus? haben wir bereits Grundsatzversuche im Labor und Versuche an Meerschweinchen gemacht. Der nächste Schritt wird der Test unserer Entwicklung an menschlichen Felsenbeinpräparaten sein. Da man heutzutage in der Lage ist, mikromechanische Aktoren zu fertigen, sehe ich noch ein großes Verbesserungspotenzial bei Hörprothesen in der Zukunft. 92 MED engineering 2010 Nervenpotential CAP [µV] Verschiebung [nm] 150 100 50 0 -50 x x x y z y z y z 20 0 -20 -40 -60 0 2 Zeit [ms] 4 0 2 Zeit [ms] 4 0 2 Zeit [ms] 4 Quellenangabe: Dissertation Christian Breuninger, Institut für Technische und Numerische Mechanik, Universität Stuttgart 4 Compound Action Potential (CAP) für kolbenförmige und kippende Bewegungen der Steigbügelfußplatte. Die durchgängige Linie stellt eine starke Anregung dar, die gestrichelte Linie eine weniger starke Anregung [1] Aktivierung des Innenohrs und somit zu einem Hörereignis führt – und zwar sowohl die kolbenförmigen als auch die kippenden Bewegungen der Steigbügelfußplatte. Zur statistischen Auswertung der Versuche müssen weitere Versuchstiere untersucht werden. Sollten weitere Untersuchungen beweisen, dass auch Kippbewegungen des Steigbügels einen Hörreiz auslösen, ließe sich die Bewertung eines Implantats nicht mehr ausschließlich anhand der mit dem Implantat erzeugten kolbenförmigen Steigbügelbewegung festmachen, sondern die komplexe räumliche Steigbügelbewegung würde der neue Maßstab für die Bewertung der Leistungsfähigkeit eines Implantats werden. Literatur MATLAB starten und anschließend die Messdaten und Kontrolle der Messung in MATLAB speichern. Die gesammelten Daten stellen die These infrage, dass lediglich kolbenförmige Bewegungen des Steigbügels, nicht aber die kippenden das Hören beeinflussen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine komplexe Bewegungsstruktur der Steigbügelfußplatte zu einer W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen www.med-eng.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. Kippbewegung um die kurze Achse [x] Kolbenförmige Bewegung [y] Kippbewegung um die lange Achse [z] MED engineering 2010 93 [1] Huber A., Sequeira D., Breuninger C., Eiber A.: The effects of complex stapes motion on the response of the cochlea; Otol Neurotol, 2008 Dec., 29 (8),1187-92. Albrecht eiber ist am Institut für Technische und Numerische Mechanik an der Universität Stuttgart tätig. [email protected] MD110011 www.med-eng.de @