Reportage Psychoonkologie

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Spezial ı Psychoonkologie
»Mein Leben
mit dem Krebs«
Vor fünf Jahren erfuhr Petra Bugar von ihrer Tumorerkrankung – und die Prognosen sind
Mehr zum thema
schlecht. Heute sagt sie: »Obwohl ich unheilbar krank bin, lebe ich gerne.« Doch das war
>D
en Tod im Leib (S. 36)
Psychoonkologen unter­
nicht immer so, wie sie Gehirn&Geist-Redakteurin Rabea Rentschler bei einem Besuch in
suchen den Zusammenhang
einer Freiburger Tumorklinik erzählt.
zwischen Psyche und Krebs
(S. 36)
text: Rabea Rentschler I Fotos: Manfred Zentsch
Im Einklang mit sich
Anfangs fühlte sich die
53-jährige Petra Bugar ihrer
Tumorerkrankung hilflos
ausgeliefert. Trotz mehrerer
Rückfälle hat sie im Lauf
der letzten fünf Jahre
gelernt, mit dem Krebs zu
Gehirn&Geist / Manfred Zentsch / Mit frdl. Gen. der Sanafontis Tumorklinik, Freiburg
leben.
D
ie Überlebensrate von Krebspatienten hat
sich dank verbesserter Diagnostik und
neuer Behandlungsmöglichkeiten in den letzten vier Jahrzehnten verdoppelt: In den 1970er
Jahren starben drei Viertel aller Patienten innerhalb von fünf Jahren, heute ist es nur noch jeder
zweite – statistisch betrachtet ein großer Erfolg.
In der Realität nehmen solche Zahlen der Diagnose Krebs aber nicht den Schrecken: Als ein
Onkologe Petra Bugar 2004 mitteilte, dass sich
in ihrem Unterleib ein Rektumkarzinom gebildet habe, kam das für sie einem Todesurteil
gleich. Heute, fünf Jahre später, ist sie 53 Jahre
alt und hat so viele Klinikaufenthalte hinter
sich, dass sie aufgehört hat zu zählen. Die nächste Chemotherapie in einer privaten Krebsklinik
in Freiburg im Breisgau steht kurz bevor. Angst
habe sie mittlerweile nicht mehr.
»Mein Leben mit dem Krebs«, wie sie es
nennt, »begann vor fünf Jahren.« Die Beamtin
und Kommunalpolitikerin aus Magdeburg fuhr
wie jedes Jahr mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern zum Skifahren. Nach einem Tag
auf der Piste entdeckte sie abends Blut im Stuhl.
Am folgenden Montag konsultierte sie ihren
Hausarzt. Der schickte sie umgehend zu einem
Spezialisten. Die 48-jährige wurde gründlich
untersucht, eine Stuhlprobe an ein externes
­Labor geschickt – dann hieß es abwarten. Zwei
Tage später der Anruf: Die Befunde seien da,
und Petra Bugar solle in die Praxis kommen. Der
Arzt hatte keine guten Nachrichten für sie: »Der
Krebs ist bereits fortgeschritten, Sie müssen
dringend operiert werden.«
Während der Onkologe, den sie an diesem
Vormittag zum zweiten Mal in ihrem Leben sah,
ihr sichtlich verlegen die nächsten Therapieschritte erklärte, hatte Petra Bugar das Gefühl,
ihn aufmuntern zu müssen: »Machen Sie sich
keine Gedanken, Sie können ja nichts dafür.«
Das Ganze dauerte kaum eine Viertelstunde.
Vielen Ärzten fällt es schwer, Patienten eine
schlimme Diagnose mitzuteilen. Zwar befür-
worten die meisten Mediziner heute den offenen Umgang mit schlechten Nachrichten – in
den 1980er Jahren galt das noch als unverantwortlich –, aber aus Angst, nicht den richtigen
Ton zu treffen, weichen manche auf die Sach­
ebene aus, ohne die emotionale Verfassung
ihrer Patienten zu berücksichtigen. »Das ist
auch nicht verwunderlich«, sagt Monika Keller
von der Universität Heidelberg, »denn kaum ein
Arzt hat gelernt, wie man solche Gespräche
führt.«
Die Psychotherapeutin setzt sich dafür ein,
dass Onkologen schon während der Facharztausbildung üben, niederschmetternde Dia­g­
nosen einfühlsam mitzuteilen. Unter ihrer
­Leitung wird seit 2008 an sieben deutschen
Universitätskliniken das Trainingsprogramm
KoMPASS (Kommunikative Kompetenz zur
­Verbesserung der Arzt-Patienten-Beziehung) erprobt. Ärzte aus Leipzig, Köln, Düsseldorf, Mainz,
Heidelberg, Tübingen und Nürnberg lernen in
Rollenspielen, denen reale Fälle zu Grunde liegen, wie sie sich nicht nur fachlich, sondern
auch psychologisch bewähren. Die Gespräche
mit speziell geschulten Schauspielern, welche
die Patienten mimen, werden auf Video aufgezeichnet und später analysiert.
Die Unsicherheit der Ärzte
»Anfangs denken viele: Oh nein, ich habe alles
falsch gemacht!«, beschreibt Keller die Reaktion
einiger Onkologen zu Beginn der Schulung.
Doch mit der Zeit empfänden sie die Hilflosigkeit, die Gesprächspausen oder auch die emotionalen Ausbrüche ihrer Patienten als weniger
belastend. Dafür spricht ebenfalls der Vergleich
der 150 bislang trainierten Mediziner mit einer
Kontrollgruppe – Fachärzten, die nicht an dem
Kurs teilgenommen haben. Fast alle Absolventen melden zurück, dank des Trainings weniger
Angst vor schwierigen Begegnungen zu haben
und besser auf die Bedürfnisse der Patienten
eingehen zu können.
43
er Denkstil
mentale Hilfestellung
Von allein wäre Petra Bugar
nicht auf die Idee gekommen,
sich psychologische Unterstützung zu suchen. »Krebspatien­
ten kommen nur selten von
sich aus auf uns zu«, sagt die
Psychotherapeutin Nina Rose.
»Dabei können wir helfen,
mit der aktuellen Krise umzugehen.«
Acht Minuten
… Zeit haben Ärzte in
Deutschland im Schnitt
dafür, ihren Patienten eine
Krebsdiagnose mitzuteilen – in anderen europäischen Ländern dauert ein
solcher Patientenkontakt
zwischen elf und 19 Minuten. Wenn sie wirtschaftlich arbeiten wollen,
müssen Onkologen jährlich rund 4000 emotional
belastende Gespräche
führen.
(Untersuchung des Instituts
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in
Köln, 2007)
44
dern und Fokussieren
Vier Monate nach der Schulung findet ein
Anschlussseminar statt. »Hier zeichnet sich ab,
dass die meisten Onkologen – und damit indirekt auch ihre Patienten – von einer berufs­
begleitenden Supervision profitieren würden«,
so Keller. »Doch dafür fehlt schlicht das Geld.«
KoMPASS wird von der Deutschen Krebshilfe finanziert, die 2008 an die 100 Millionen Euro für
174 Forschungsprojekte ausgab. Doch nur ein
Bruchteil der Gelder fließt in psychologische
Projekte; das meiste kommt der Grundlagensowie der somatischen Therapieforschung zugute. »Das ist ja auch verständlich«, sagt Keller.
Das Beste, was einem Patienten passieren kann,
ist, dass er geheilt wird. Doch obwohl sich die
Prognosen für viele der über 200 verschiedenen
Krebsarten ständig verbessert haben, stürzt eine
Tumorerkrankung praktisch jeden in eine existenzielle Krise.
Damit Onkologen von Anfang an auf die
damit einhergehenden emotionalen Probleme
eingehen können, wollen Keller und ihr Team
die KoMPASS-Daten bis Ende 2009 vollständig
auswerten, um die positiven Effekte des Trainings auf das Empathievermögen, die Kommunikationsfähigkeit und die berufsbedingten
Belastungen der Ärzte schwarz auf weiß prä­sen­tieren zu können, was wiederum der ganzheitlichen Behandlung von Tumorpatienten
zugutekommen soll. »Dies ist ein erster Schritt
dahin, dass ein Kommunikationstraining für
Onkologen auch in Deutschland verpflichtend
in die Facharztausbildung integriert wird. In
England und der Schweiz ist das schon üblich.«
Dass solche Maßnahmen nötig sind, zeigt
nicht nur die Erfahrung von Petra Bugar. 2008
veröffentlichte das Wissenschaftliche Institut
der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (WINHO) die Ergebnisse einer Studie, bei
der über 15 000 Tumorpatienten in 145 Krebs­
kliniken und -praxen in Deutschland befragt
wurden. Auf den ersten Blick klingen die Resultate ganz gut: Die meisten Patienten sind ins­
gesamt zufrieden mit ihrer ärztlichen Versorgung. Im Detail betrachtet schnitten allerdings
drei Punkte relativ schlecht ab: geringe ärztliche
Kompetenz bei Fragen zu alternativen Behandlungsmethoden, zu wenig Aufklärung und Mitspracherecht bei Therapieentscheidungen –
und vor allem eine mangelhafte psychosoziale
Betreuung, auch für die Angehörigen.
Drei Punkte, die massive Konsequenzen für
die Lebensqualität der Betroffenen haben können, wie eine weitere Umfrage des Instituts er­
gab: Nicht ausreichend unterrichtete und betreute Patienten fühlen sich dem Krebs stärker
ausgeliefert. Sie sind unsicherer, ängstlicher
und häufiger depressiv. Sowohl ihre psychischen Belastungen als auch ihre körperlichen
Schmerzen oder Nebeneffekte der Therapie werden oft übersehen.
Krebserkrankung zum Anlass, neu über ihr Leben nachzudenken«, bestätigt Nina Rose. Manche fühlen sich schuldig, weil sie vielleicht sterben und ihre Lieben dann ohne sie zurecht­
kommen müssen, andere verzweifeln an der
Frage: Warum gerade ich? Wieder andere treffen
die Entscheidung, etwas Grundlegendes zu ändern – so auch Petra Bugar. Sie verließ ihren
Mann samt Eigenheim und zog in eine kleine
Zwei-Zimmer-Wohnung in der Magdeburger Innenstadt.
»Wir bewerten die Situation nicht, in der sich
ein Patient befindet, sondern unterstützen ihn
da, wo er gerade steht«, sagt Rose. »Dabei versuchen wir, den Partner und die Familie mit einzubeziehen, denn Krebs betrifft in den seltensten
Fällen nur den Erkrankten allein.« Auch die Angehörigen seien dabei gefordert. »Oft stehen sie
unter dem Druck, für den Patienten stark sein
zu müssen, und bagatellisieren ihre eigenen Belastungen, um den Kranken nicht zu beunruhi-
gen«, fährt die Psychologin fort. Deshalb lehnen
Familienmitglieder solche Gespräche häufig ab.
»Sehr viele Leute stecken Psychoonkologie in
eine Schublade mit einer problemorientierten
Einzel-, Familien- oder Paartherapie. Dabei wollen wir den Menschen ganz einfach helfen, mit
dem Sturz aus ihrer bisherigen Wirklichkeit
klarzukommen«, so Rose.
Die Diagnose Krebs löst oft nicht nur ein
emotionales Chaos aus, sondern auch ein organisatorisches. Vielfach kommen Geldsorgen
hinzu. Psychoonkologen versuchen das Thema
Krebs zu enttabuisieren und ermutigen Patienten und Angehörige, ihre Bedürfnisse auszusprechen. Scheinbar banale oder lieblose Fragen
kommen zur Sprache: Sind finanzielle Engpässe
zu erwarten, und wie kann man ihnen begegnen? Welche staatlichen und gemeinnützigen
Hilfeleistungen gibt es? Wer kann sich um Kinder, Eltern oder Haustiere kümmern? Darf man
überhaupt schon darüber nachdenken, wie es
Krebs in Deutschland
Jedes Jahr erkranken 436 000
Menschen in Deutschland
an Krebs, 211 500 Patienten
sterben jährlich daran. Experten schätzen, dass die Zahl
der Tumorerkrankungen bis
zum Jahr 2030 um 50 Prozent
zunehmen wird. Der Grund:
Die Lebenserwartung steigt –
und Krebs ist eine Erkrankung,
von der insbesondere ältere
Menschen betroffen sind.
Wege aus der Angst: Die Zukunft zulassen
Hilflose Angehörige
Auch Petra Bugar sah sich dem Krebs anfangs
hilflos ausgeliefert. Verstärkt hatte dieses Ohnmachtsgefühl nicht nur die ungenügende medizinisch-psychologische Betreuung. Auch privat fand sie wenig Unterstützung. Als sie nach
dem Termin beim Onkologen nach Hause kam
und ihrem Mann von der Diagnose erzählte,
fehlten ihm die Worte. Er wusste nicht, wie er
mit der Schreckensnachricht umgehen sollte,
und ignorierte fortan schlicht die Tatsache, dass
seine Frau schwer krank war.
Auch am Arbeitsplatz zogen sich die meisten
zurück, als sie von der Krankheit ihrer Kollegin
hörten. »Die Diagnose schockiert nicht nur die
Betroffenen selbst, auch Freunde und enge Angehörige wissen oft nicht, wie sie sich nun verhalten sollen«, erklärt Nina Rose, Psychologin
an der Freiburger Tumorklinik SanaFontis. Die
Krankheit stelle Beziehungen auf die Probe;
manche Paare schweiße der Krebs fester zusammen, andere zerbrechen daran.
Bei Petra Bugar und ihrem Mann war Letzteres der Fall. »So schrecklich die Zeit war, rückblickend bin ich froh, dass es so gekommen ist«,
sagt sie heute. Bei Gesprächen mit Psychologen
merkte Petra Bugar, dass sie ihr Leben lang versucht hat, den Erwartungen anderer gerecht zu
werden – ihre eigenen Bedürfnisse hatte sie
hintangestellt. »Viele Patienten nehmen eine
G&G 9_2009
Eine bösartige Tumorerkrankung wird von vielen Menschen als
die gefährlichste aller Krankheiten angesehen, ungeachtet der
verbesserten Behandlungsmöglichkeiten. Mangelhaftes Wissen darüber, was sich hinter der Diagnose Krebs verbirgt – etwa
die Tatsache, dass es rund 200 verschiedene Tumorarten mit
jeweils unterschiedlichen Verläufen gibt –, ist eine Ursache.
Hinzu kommen häufig Erfahrungen mit Krebskranken im weiteren Umfeld. Die Erinnerung kann dabei trügerisch sein: Ungünstige Krankheitsverläufe bleiben besonders in Erinnerung
und prägen die eigenen Erwartungen.
Wer einmal an Krebs erkrankt war, kennt die Angst vor
einem Rückfall (Rezidiv). Die Gewissheit, endgültig geheilt zu
sein, stellt sich auch nach einer längeren krankheitsfreien Zeit
kaum ein. Ein Rest von Unsicherheit und Angst bleibt.
Was kann man gegen Angst tun?
Alles, was dem Gefühl von Unsicherheit entgegenwirkt oder
die Bedeutung der ängstigenden Situation verringert, kann die
Furcht bannen oder erträglicher machen. Dazu gehört:
ó Informationen einholen. Über die Krankheit allgemein
ebenso wie über erprobte Behandlungsmöglichkeiten und darüber, wie man selbst die eigene Gesundung unterstützen
kann. Fragen des individuellen Krankheitsverlaufs wie auch
des Risikos für ein Wiederauftreten der Krankheit sollten mit
einem Arzt besprochen werden, der alle Untersuchungsbefunde kennt.
ó Die Angst möglichst genau »ansehen«. Was ängstigt
am meisten? Die Furcht vor Schmerzen, vor der Behandlung,
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vor der Abhängigkeit von anderen oder die Angst zu sterben?
Die Befürchtungen sollten zu Ende gedacht werden, denn
wenn die Furcht greifbar wird, lässt sich eher Abhilfe finden.
Auch Verleugnung kann in bestimmten Phasen eine sinnvolle
Reaktion darstellen, wenn die Angst sonst unerträglich wäre.
ó Die Angst Ausdrücken. Schreiben, malen oder mit an­
deren schöpferischen Mitteln der Furcht eine Gestalt geben,
hilft oft, sie besser zu verstehen, was wiederum entlastend wirken kann.
ó SICH Erinnern. An schwierige Situationen zurückdenken,
die man schon erfolgreich durchgestanden hat, stärkt das Gefühl für die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten.
ó Planen. Was man im Fall einer Verschlechterung konkret
tun kann und wer dabei helfen könnte. Dazu gehört die Mit­
verantwortung für Behandlungsmethoden, das Ausschöpfen
der Schmerztherapie, Vereinbarungen mit Familienangehörigen etwa in Form einer Vorsorgevollmacht und möglicherweise eine Patientenverfügung.
ó Entspannen. Innere und äußere Verkrampfungen sind eine
Begleiterscheinung der Angst. Sie lassen sich mit Entspannungsverfahren abbauen oder, soweit es die körperliche Verfassung zulässt, mit körperlicher Bewegung (spazieren gehen,
Rad fahren, schwimmen oder anderer Sport).
ó DEN SCHÖNEN SEITEN DES LEBENS GEWICHT GEBEN. Was ist
in meinem Leben sinnvoll, wo kann ich meine besonderen Fähigkeiten einbringen, was macht mir Freude, und was sollte ich
erweitern oder ausbauen? Wie kann ich mir dabei von anderen
helfen lassen?
45
Krebszahlen
weltweit
Weltweit erkranken jedes
Jahr mehr als 11 Millionen
Menschen erstmals an
Krebs. 7,9 Millionen sterben daran. Damit ist Krebs
die zweithäufigste Todesursache überhaupt nach
Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Im Jahr 2030 werden
voraussichtlich 16 Millio­
nen Menschen jährlich an
Krebs erkranken.
weitergeht, falls der geliebte Mensch tatsächlich
stirbt?
»Tumorpatienten und ihre Angehörigen haben in der Regel bereits genug Belastungen, deshalb wird prinzipiell auch nicht ›aufdeckend‹
gearbeitet, also nach Defiziten aus der Kindheit
gesucht«, erklärt Rose. Vielmehr wird gemeinsam besprochen, welche Ressourcen vorhanden
sind und welche noch aktiviert werden können:
Welche Form der Unterstützung durch Familienmitglieder oder Freunde ist sinnvoll? Was hat
allen Betroffenen seit Diagnosestellung gutgetan? Wie kommt der Patient zur Ruhe?
Petra Bugar entspannt sich beim Malen. Deshalb nahm sie die Einladung der Kunsttherapeu­
tin Wendy Routen-Hardy, gemeinsam kreativ zu
werden, gerne an. Sie freut sich auf ihre zwei
Stunden Kunsttherapie pro Woche während
ihres Aufenthalts in der Freiburger Tumorklinik. Die Sitzungen basieren auf einer Methode
der italienischen Psychiater Gaetano Benedetti
und Maurizio Peciccia, die das »progressive therapeutische Spiegelbild (PTS)« 1986 ursprünglich im Umgang mit psychotischen Menschen
erfanden. Auf Basis der PTS-Methode entwickelte Wendy Routen-Hardy eine Kunsttherapie­
form speziell für Tumorpatienten: Therapeut
und Patient malen dabei gemeinsam ein Bild,
wobei Letzterer das Thema vorgibt. »Die Spiegelbild-Methode«, so Wendy Routen-Hardy, »ist
wie das PTS eine Art nonverbaler Kommunika­
tion, bei der der Therapeut versucht, in die Ge-
fühlswelt des Patienten einzutauchen und in
seinen Skizzen spiegelt oder gar verstärkt, was
er in den Zeichnungen des Patienten sieht.«
Ziele der Übung können sein: Emotionen, Sorgen oder Konflikte ausdrücken und verarbeiten,
Entspannung erfahren sowie die Selbst- und
Körperwahrnehmung verbessern.
Petra und Wendy setzen sich gemeinsam vor
einen weißen Bogen Papier, und die Patientin
beginnt: Sie wählt blaue Kreide und malt einen
großen Kreis. Wendy zeichnet einen kleinen
hellblauen daneben. Danach nimmt Petra eine
andere Farbe und zeichnet einen Stamm in die
Mitte ihres Kreises – Wendy einen in ihren. So
geht es hin und her.
vorsichtige Kontaktaufnahme
Die meisten Bilder von Petra Bugar dominiert ein blauer Kreis. Er symbolisiert ihre »kleine heile Welt«. Zu
Beginn der Kunsttherapie spielte sich alles darin ab (links). Erst nach und nach verband sie ihren Kreis mit
dem kleineren der Therapeutin (Mitte) und öffnete ihn schließlich der Außenwelt (rechts).
Emotionen Gestalt geben
Während sie malen, sprechen Therapeutin und
Patientin nicht miteinander. Ab und zu müssen
beide lachen, weil eine Figur nicht so gelingt,
wie sie es sich vorstellen. Sonst sind sie ernst
und konzentriert bei der Sache. Zum Schluss
fragt Wendy ihre Patientin, wie sie sich beim
Malen gefühlt hat, und ob sie mit dem Bild etwas Bestimmtes verbindet. Petra sagt, dass die
Farben und Motive ihrer Werke immer etwas damit zu tun haben, was sie gerade beschäftigt.
»Andere Patienten«, so Routen-Hardy, »verbinden nicht sofort etwas mit ihren Zeich­nungen.« In solchen Fällen versucht die Therapeutin auch nicht, eine besondere Bedeutung herauszulesen. Nach ein paar Sitzungen werden
alle Bilder nochmals auf den Tisch gelegt und
betrachtet. Dann erkennen viele Patienten
plötz­lich doch eine tiefere Bedeutung darin: Sie
entdecken Gefühle wie Angst oder Wut oder
fangen an zu weinen – unterdrückte Emotionen
kommen an die Oberfläche. Manchen fällt auf,
dass ein Motiv plötzlich nicht mehr vorkommt
oder eines im Lauf der Zeit besonders dominant
geworden ist.
Für Petra Bugar symbolisiert der Kreis, der
sich in fast allen ihren Bildern wiederfindet, ihre
»kleine heile Welt«. Anfangs platziert sie kein
Motiv außerhalb der blauen Linie. Statt der
zarten Pflanze, die sie meist hineinmalt, zeigen
einige neuere Bilder einen starken Baum oder
ein lachendes Gesicht (siehe Bilderserie oben).
Für Petra spiegelt dies eine Sorge der letzten
Monate: Sie fragt sich, wie sie auch außerhalb
des geschützten Umfelds der Klinik mit der Tatsache klarkommen soll, dass sie nicht mehr wie
früher zur Mehrheit der Gesunden in der Gesellschaft gehört. Sie möchte ihren Körper trotz
seines Versagens wieder lieb gewinnen.
Im Hier und Jetzt leben
Hass auf den eigenen kranken Körper empfinden sehr viele Krebskranke irgendwann. »Wir
haben die Erfahrung gemacht, dass diesen Patienten neben der Kunsttherapie auch Achtsamkeitsübungen sehr guttun«, sagt Nina Rose. Sie
helfen Betroffenen, im Hier und Jetzt zu leben
und sich in ihrer Verletzlichkeit zu akzeptieren,
statt unablässig über die Vergangenheit zu trauern oder sich in Zukunftsängsten zu verlieren.
Zwar hat die Kunsttherapie eine lange Geschichte in der Psychoonkologie, ihre Erforschung steckt aber tatsächlich noch in den Kinderschuhen. »In den letzten 25 Jahren wurden
In Bildern sprechen
Worte sind nicht erlaubt, wenn
Kunsttherapeutin Wendy
Routen-Hardy und Petra Bugar
gemeinsam kreativ werden.
Hingegen sind Lachen und
andere Gefühlsregungen nicht
nur geduldet, sondern sogar
gewünscht.
46
G&G 9_2009
www.gehirn-und-geist.de
unzählige Fallbeispiele beschrieben und analysiert und auch kleinere kontrollierte Studien
durchgeführt«, sagt Harald Gruber, Leiter des
Fachbereichs Kunst und Therapie an der Alanus
Hochschule bei Bonn. So ergab eine im Januar
2009 veröffentlichte schwedische Studie von
der Umeå-Universität, dass bereits eine Stunde
Kunsttherapie pro Woche die Lebensqualität
von Brustkrebspatientinnen deutlich erhöhte.
Untersucht wurden 41 zufällig ausgewählte
Frauen unmittelbar vor einer Bestrahlung sowie zwei und sechs Wochen danach. Jene, die
künstlerisch aktiv wurden, fühlten sich sowohl
psychisch als auch körperlich besser als die 21
Patientinnen, die nicht an den Sitzungen teilgenommen hatten. Erstere hatten weniger Angst
vor der Zukunft und ein positiveres Selbstbild.
Eine Leipziger Studie aus demselben Jahr
kam zu ähnlichen Ergebnissen. Bei dieser
Untersuchung nahmen 18 Männer und Frauen
mit unterschiedlichen Tumorerkrankungen an
einem wöchentlichen Gestaltungskurs teil. 22
Wochen lang beschäftigten sie sich zunächst
mit unterschiedlichen Maltechniken und -materialien. »In der Anfangsphase sollten sich die
Patienten einfach nur mit den kreativen Gestaltungsmöglichkeiten vertraut machen«, erklärt
Heide Götze von der Universität Leipzig. In
einem zweiten Schritt wurden die Teilnehmer
ermutigt, ein Thema ihrer Wahl künstlerisch
umzusetzen. War dies gefunden, sollten sie die
verbleibenden Wochen dazu nutzen, eine Art
Bildband zu erstellen, in dem neben den im
Kurs entstandenen Werken auch erklärende
Texte einfließen konnten. In praktisch allen
»Büchern« thematisierten die Patienten ihre
Krebserkrankung, wobei dies nicht vorgegeben
war. Die psychische Belastung der Erkrankten
Die häufigsten
Krebs­
erkrankungen
Frauen erkranken vorrangig an Brust-, Lungen-,
Magen- und Darmkrebs.
Bei Männern treten vor
allem Lungen-, Magen-,
Leber-, Darm-, Speiseröhren- und Prostatakrebs
auf. Lungen-, Magen-,
Leber-, Darm- und Brustkrebs verlaufen in besonders vielen Fällen tödlich.
Rauchen ist der größte
Risikofaktor, der zu einer
Tumorerkrankung führt.
47
abhängig, was sie beschämt und nicht selten
dazu führt, dass sie sich zurückziehen und ihre
Krankheit und deren Konsequenzen verdrängen. Dabei leiden Männer wahrscheinlich ähnlich stark wie Frauen unter den psychischen Folgen einer Krebserkrankung – und diese können
zu einer schweren Depression oder gar zu Selbstmordgedanken führen.
Vanessa Strong und Kollegen von der University of Edinburgh untersuchten 2007 über 3000
Tumorpatienten. Knapp ein Viertel von ihnen
litt unter klinisch relevanten Belastungen wie
Angstzuständen und Depressionen. 2008 untersuchten die Forscher eine zweite Stichprobe
von mehr als 2900 Krebserkrankten. Ergebnis:
Knapp acht Prozent von ihnen quälten Gedanken wie »Tot wäre ich besser dran« oder »Vielleicht tue ich mir selbst etwas an«. Zwei Faktoren korrespondierten überdurchschnittlich
stark mit den Selbstmordgedanken: emotionaler Stress und chronische Schmerzen.
Vergänglich, aber Schön
Beim Anblick der Gänseblümchen muss Petra Bugar daran
denken, wie verletzlich ihr
Körper ist. Die Kunsttherapie
hat ihr geholfen, ihn dennoch
lieb zu haben.
Krebs bei Kindern
Jährlich erkranken in
Deutschland ungefähr
1800 Kinder und Jugend­
liche unter 15 Jahren an
Krebs. Diese Zahl ist seit
vielen Jahren konstant.
Die Heilungschancen
liegen mittlerweile bei
80 Prozent. Die häufigsten
Krebserkrankungen im
Kindesalter sind Leukämien (Blutkrebs), Tumoren
des Gehirns und des Rückenmarks sowie Lymphknotenkrebs.
(Quelle aller statistischen
Angaben: Robert Koch-Institut,
2008)
48
war im Anschluss an den Kurs wesentlich geringer als zuvor und zugleich deutlich niedriger als
bei den Krebspatienten der zufällig ausgewählten Vergleichsgruppe.
»Welche Künstlerische Therapieform für welchen Patienten in welchem Krankheitsstadium
am besten geeignet ist, können wir derzeit noch
nicht sagen«, so Gruber weiter. Er arbeitet gerade an einer vergleichenden Überblicksstudie zu
den Wirkfaktoren in den Künstlerischen Therapien (Musik-, Tanz- und Kunsttherapie). Seiner
Einschätzung nach scheinen soziale Herkunft
und Bildungsgrad keine Rolle zu spielen. Es
komme vermutlich eher auf die Charaktereigenschaften eines Menschen an. »Generell öffnen sich mehr Frauen als Männer kreativen
Behandlungsmethoden«, ergänzt Gruber. Ein
Umstand, der in der Psychotherapie allgemein
bekannt sei.
»Dass Männer eine Krebserkrankung grundsätzlich anders verarbeiten als Frauen, lässt sich
daraus nicht ableiten«, betont Monika Keller.
»Erfahrungsgemäß kommunizieren sie ihre mit
dem Krebs verbundenen Ängste aber auf unterschiedliche Weise.« Deshalb würden emotional
stark belastete Männer oft übersehen. Für sie sei
es besonders wichtig zu wissen, dass sie nicht
etwa deshalb Unterstützung brauchen, weil sie
psychisch krank sind. »Diese Männer standen
vor ihrer Erkrankung mitten im Leben und hatten alles im Griff«, so die Leiterin der psycho­
onkologischen Abteilung der Heidelberger Uniklinik. Jetzt sind sie in hohem Maß von anderen
Die Angst im Nacken
Auch Petra Bugar hat immer wieder starke
Schmerzen und weiß, dass sie – statistisch gesehen – an ihrer Krankheit sterben wird, weil die
Wahrscheinlichkeit für ein Rezidiv, eine erneute
Tumorbildung, in ihrem Fall hoch ist. Drei Jahre
lang zog sie von einer Kontrolluntersuchung
zur anderen, immer mit der Angst im Nacken,
der Krebs könnte trotz mehrerer Operationen
und Chemotherapien zurückkommen. Im Sommer 2007 hatte sie die Nase voll davon. Sie erfüllte sich einen lang gehegten Wunsch und
machte eine Reise durch Indien. »Krebserkrankte, die in ihrem Alltag immer nur funktioniert
haben, wollen nun endlich einmal etwas nur für
sich tun«, sagt Nina Rose. Viele beginnen ein
neues Hobby oder planen Unternehmungen für
die Zeit, wenn es ihnen wieder besser geht.
Nach ihrer Heimkehr lebte Petra Bugar, als
sei nie etwas gewesen – nur viel bewusster: »Ich
regte mich nicht mehr wegen Kleinigkeiten auf,
besuchte meine Kinder öfter und meditierte
viel«, sagt sie. Zu Kontrolluntersuchungen ging
sie nicht mehr. Endlich wuchsen die Haare nach,
heilten die Schleimhäute, schmeckte das Essen
wieder. Den Krebs schloss sie einfach aus ihrem
Leben aus. »Positiv denken«, lautete ihr Motto.
Wie schön, wenn die Geschichte hier zu Ende
wäre. Doch Anfang August 2008 erkältete sich
Petra Bugar. Sie wurde immer schwächer, verdrängte aber den Gedanken an Krebs: »Alles,
nur nicht wieder ins Krankenhaus.« Im Januar
2009 brach ihr Immunsystem zusammen, sie
G&G 9_2009
konnte nicht mehr laufen und sehen. Der Notarzt brachte die geschwächte Frau in die Uniklinik Magdeburg. »Sie haben Metastasen im Gehirn«, teilte ihr ein Arzt mit; übermorgen werde
operiert, danach Chemotherapie und Reha. »Ihr
könnt mich alle mal!«, dachte Petra Bugar da.
Sie wollte einfach nicht mehr.
Damals fragte sie sich, ob sie womöglich
nicht genug gekämpft hätte und selbst die
Schuld für den Rückfall trage. »1989 und zu Beginn der 1990er Jahre sorgten ein paar Studien
für Aufsehen in der Onkologie«, sagt Monika
Keller. Die Untersuchungen stellten einen Zusammenhang zwischen einer optimistischen
Einstellung und einem positiven Krankheitsverlauf bei Tumorpatienten fest. »Doch die Ergebnisse ließen sich nicht replizieren«, betont die
Expertin. Heute gelte als gesichert, dass eine besonders kämpferische Einstellung die Krebsheilung nicht nachweisbar beeinflusse. »Dieser Mythos kursiert aber immer noch in den Köpfen
der Menschen«, so Keller weiter. Problematisch
daran sei nicht die Hoffnung auf Genesung, sondern der Druck, unter den Menschen geraten,
wenn ihr Körper trotz guten Willens nicht auf
Therapiemaßnahmen anspricht oder der Krebs
erneut ausbricht. Nach Kellers Einschätzung
vermittelt auch das Umfeld vielen Betroffenen,
sie hätten nicht stark genug an ihre Genesung
geglaubt oder sich zu sehr hängen lassen.
Die Kinder von Petra Bugar machten ihrer
Mutter keine derartigen Vorwürfe, sondern ermutigten sie, die Situation anzunehmen und
das Beste daraus zu machen. »Das ist enorm
wichtig, damit Betroffene nicht in Hoffnungs­
losigkeit versinken und resignieren«, sagt auch
die Psychologin Rose. Dank der Unterstützung
durch ihre Kinder, Therapeuten und Ärzte fasste
Petra Bugar neuen Mut. Sie willigte in die erneute Operation ein. Für die Nach- und Weiterbehandlung reist sie jedes Mal in die Privatklinik
nach Freiburg. Die Kosten für den Aufenthalt
muss sie teilweise selbst tragen, aber sie fühlt
sich hier gut aufgehoben. Es stehen mehrere
Chemotherapien auf dem Plan. Das heißt pro
Behandlung drei Tage lang Erbrechen und wunde Schleimhäute, meist gepaart mit Hautausschlag und Haarausfall, danach folgen elf Tage
Pause. Wie oft sie diese Tortur in ihrem Leben
noch aushalten muss, weiß sie nicht. »Sterben
will ich so bald jedenfalls nicht.« Ÿ
Ein weiter Weg
Beim Interview vertraute Petra
Bugar G&G-Redakteurin Rabea
Rentschler viele persönliche
Details an. Doch es dauerte
lange, bis die 53-Jährige so
offen mit einer Fremden über
ihre Krebserkrankung sprechen
konnte.
Quellen
Götze, H. et al.: Gestaltungs­
kurs für Krebspatienten in
der ambulanten Nachsorge.
In: Forschende Komplementär­
medizin 16(1), S. 28 – 33, 2009.
Oster, I. et al.: Art Therapy
Improves Experienced Qua­
lity of Life Among Women
Undergoing Treatment for
Breast Cancer: a Randomized
Controlled Study. In: Euro­
pean Journal of Cancer Care.
18(1), S. 69 – 77, 2009.
Strong V. A. et al.: Better off
Dead: Suicidal Thoughts in
Cancer Patients. In: Journal
of Clinical Oncology: Official
Journal of the American
So­ciety of Clinical Oncology
26(29), S. 4725 – 4730, 2008.
Weitere Quellen unter:
www.gehirn-und-geist.de/
artikel/1002094
Weblinks
Informationsseiten für Krebspatienten:
www.krebsinformations
dienst.de
www.krebsgesellschaft.de
www.frauenselbsthilfe.de
www.prostatakrebs-bps.de
Rabea Rentschler ist G&G-Redakteurin.
Training für Ärzte:
www.kompass-o.de
www.gehirn-und-geist.de/audio
www.gehirn-und-geist.de
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