Hochschule Magdeburg-Stendal Fachbereich: Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien Wintersemester 2016/ 17 Vorlesung: Soziale Arbeit als Profession Dozent: Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt Name: Nicole Bertram Datum: 31.12.2016 Handout zu den Themen: „Separation - Integration - Inklusion - Assimilation“ 1. Separation Lateinisch: separatio = Absonderung, Trennung Definition: „(In der Pädagogik) wird (…) (die) Schülerschaft nach bestimmten Kriterien in unterschiedliche Gruppen aufgeteilt. Diese Kriterien werden vorher festgelegt. Es erfolgt also eine Art künstliche Harmonisierung (bei näherer Betrachtung müsste man von einer "Pseudoharmonisierung" sprechen) anhand der Hauptkriterien Schulleistung und Alter. Hintergrund dabei ist die Einstellung oder der Glaube, dass Schüler in möglichst harmonischen (homogenen) Gruppen die optimalen Lernvoraussetzungen haben“ (Scholz 2007). Ausgangspunkt ist die bestehende Mehrheitsgesellschaft mit vielen ähnlichen Individuen Außerhalb dieser Gesellschaft bestehen weitere Milieus, Kulturen, Gruppierungen etc., die freiwillig oder unfreiwillig abgesondert von der Mehrheitsgesellschaft leben Es entstehen möglichst homogene Gruppen, die jeweils unter sich bleiben Abb. 1: Separation Beispiele: Die Hochhaussiedlung „Kölnberg“ im Kölner Stadtteil Meschenich – in diesem sozialen Brennpunkt leben über 4.000 Menschen aus über 40 Nationen am Stadtrand → es herrschen eigene Gesetze und Strukturen → Justiz kann nur begrenzt einwirken Separation ist bis heute überwiegend im deutschen Schulsystem zu finden → Trennung nach Leistung in möglichst homogene Gruppen (Gymnasium, Realschule, Hauptschule) → Ziel: besserer Lernerfolg Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen besuchen Förderschulen mit speziellen Angeboten → ein gemeinsames Lernen mit Kindern ohne Beeinträchtigung findet nicht statt Problem: Als Folge der Separation können bspw. „Ghettos“ oder Parallelgesellschaften in Großstädten entstehen → Segregation 2. Integration Lateinisch: integratio = Wiederherstellung eines Ganzen, gegenwärtig = Eingliederung Definition: „Im sozialwissenschaftlichen Diskurs gibt es keine einheitliche Definition des Begriffs Integration. (Dennoch) (…) beziehen sich (zentrale Elemente) auf Prozesse der Herstellung eines Zusammenhaltes unterschiedlicher aufeinander verwiesener Gruppen in einer Gesellschaft, der umso schwieriger wird, je heterogener die einzelnen Teilbereiche sind. Als Voraussetzung zur Schaffung eines derartigen Zusammenhaltes werden auf Gerechtigkeit zielende Herrschafts- und Sozialstrukturen gesehen, die einen Interessenausgleich ermöglichen, Konfliktbewältigungsmechanismen vorsehen und eine soziale Praxis gegenseitiger Anerkennung fördern“ (Brückner 2012: 131f.). 1 Der Zustand der Separation wird durch Integration aufgehoben → ausgeschlossene oder separierte Menschen oder Gruppen werden in die Mehrheitsgesellschaft einbezogen/ aufgenommen Integration ist zugleich Prozess und Ergebnis der (Wieder-)Eingliederung Es erfolgt eine unterwerfende Anpassung (siehe 5. Assimilation) an das mehrheitlich geteilte Lebensmodell (z. B. Behinderte) Abb. 2: Integration Die Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben setzen sowohl bei dem Desintegrierten als auch bei der Mehrheitsgesellschaft einen Integrationswillen sowie Kenntnisse und Fähigkeiten zur Integration bzw. Aufnahme voraus Es können jedoch innerhalb der Gesellschaft abgegrenzte Gruppen bestehen bleiben → „Gemeinsam, aber nebeneinander“ Beispiele: Die Etablierung integrierter Gesamtschulen (IGS) in Deutschland o 1991 Gründung der IGS „Willy Brandt“ in Magdeburg mit der Maxime „Fördern statt Auslesen“ Größere Chancengleichheit, da Schüler/Innen aller Begabungen und aus unterschiedlichen Schichten individuell beim Lernen gefördert werden sollen Voraussetzung ist dabei der gegenseitige Respekt der Unterschiedlichkeit und die Bereitschaft voneinander zu Lernen Die Schaffung von über 550 Mehrgenerationenhäusern in Deutschland, die am Bundesprogramm teilnehmen o Offener Begegnungsort für Menschen mit unterschiedlicher Herkunft oder kulturellem Hintergrund o Generationsübergreifender Ansatz: „Jüngere helfen Älteren und umgekehrt“ o Vielfältiges Angebot für jedes Alter und für alle Lebenslagen (z. B. Lern- und Kreativangebot für Kinder und Jugendliche, Unterstützungsangebote für Pflegebedürftige oder Sprachkurse für Migranten/Innen) Probleme: Herrschen starke soziale Spannungen aufgrund von Strukturproblemen in einer Gesellschaft, ist diese prinzipiell integrationsfeindlich → Leistungsdruck steigt, wirtschaftliche Unsicherheit wächst, Toleranz schwindet, Jagd auf Sündenböcke beginnt → Ausgrenzung steigt 3. Inklusion Lateinisch: inclusio; in der Soziologie = Miteinbezogensein, gleichberechtigte Teilhabe an etwas Definition: „Inklusion (…) lässt sich als soziale Teilhabeform verstehen, die mit einer modernen Gesellschaft entstanden ist, und die zum Ausdruck bringt, dass Menschen von den Funktionssystemen der Gesellschaft (etwa der Wirtschaft, der Politik, dem Recht, der Bildung, der Wissenschaft, dem Gesundheitssystem etc.) und ihren Organisationen teilweise und ausschnitthaft in Form rollenkonformer Verhaltensweisen (etwa als Konsument_in, Arbeitnehmer_in, Staatsbürger_in, Wähler_in (…)) einbezogen werden. Der Rest der Persönlichkeit, alle anderen für die funktionssystemische Inklusion nicht relevanten Persönlichkeitsanteile bleiben außen vor, mithin ganz individuell bzw. sichern möglicherweise erst Individualität (…)“ (Kleve 2016: 116f.). 2 Wird oft als Nachfolgebegriff von Integration verwendet Teilung ist gar nicht erst entstanden, da niemand ausgegrenzt wird und keiner integriert werden muss Es wird eine umfassende Teilhabe an allen gesellschaftlichen Teilsystemen ermöglicht, die die persönliche Entwicklung und Mitbestimmung fördert → Menschen haben einen Rechtsanspruch darauf Jeder Mensch wird in seiner Verschiedenartigkeit (Unterschiede sind Abb. 3: Inklusion Normalität) akzeptiert und ist ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft → erfordert soziale Gerechtigkeit Die gesellschaftliche Struktur passt sich flexibel den individuellen Bedürfnissen der Menschen an, nicht andersherum → ermöglicht vielfältige Gesellschaft → keine Gruppen → kein „Schubladen-Denken“ Beispiel: Maria-Montessori-Schule in Halle (Saale) o Nach den Prinzipien der Montessori-Pädagogik werden Grundschulbildung, soziale Integration und Ganztagsbetreuung angeboten o Hier lernen Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam mit- und voneinander → Schule und Unterricht werden dementsprechend angepasst Probleme: Inklusion stellt sowohl Lehrer/Innen als auch die Schule vor große Herausforderungen → Mangel an Ressourcen (fehlende Gelder für Barrierefreiheit und Fortbildungen für Pädagogen/Innen, fehlende Konzepte) Grenzen bei Kindern mit schwerster Behinderung? Inklusion ist in vielen Bereichen der Gesellschaft knapp neun Jahre nach Einführung in Deutschland immer noch eine Wunschvorstellung → Theorie-Praxis-Problem 4. Unterschied Integration und Inklusion Integration setzt auf die Bereitschaft der Desintegrierten und die Annahme der Mehrheitsgesellschaft – setzt also Humanität und Freiwilligkeit voraus → Zu Integrierende/r muss sich an Mehrheitsgesellschaft anpassen und erhält besondere Förderung Inklusion begreift sich als Selbstverständlichkeit und ist ein einklagbares Recht (seit 2008) → rechtliche Gleichwertigkeit → Umwelt reagiert flexibel und passt sich auf die Bedürfnisse des Individuums an Weiterführende Literatur: Oehme, A.: Inklusion als „Nachfolge“ von Integration aus Sicht der Schule; in: Sozialmagazin 11-12/2014: 32-38 Wocken, H.: Inklusion & Integration. Ein Versuch, die Integration von der Abwertung und die Inklusion vor Träumereien zu bewahren, Frankfurt 2009; http://www.inklusion20.de/material/inklusion/Inklusion%20vs%20Integration_Wocken.pdf (29.12.2016) 3 5. Assimilation Lateinisch: assimulare = ähnlich machen, nachahmen, Angleichung Definition: „(Wird) als Anpassung von Minderheiten und ethnisch-kulturellen Gruppen oder Migranten/ Migrantinnen an die vorherrschende Kultur und Gesellschaft verstanden (…)“ (Groenemeyer 2011: 38). Häufiger Ausgangspunkt: ethnisch und kulturell homogene Gesellschaft als politische Leitvorstellung Wird in der Migrationssoziologie als neutrales-deskriptives Konzept verwendet, um kulturelle und soziale Anpassungsprozesse zu beschreiben o Meint hier: Auflösung von systemischen Unterschieden in der Merkmalsverteilung zwischen verschiedenen Gruppen (z. B. Sprache und wirtschaftliche Selbstständigkeit) o Meint nicht: die „komplette“ Gleichheit der Gesellschaft – also völlige Selbstaufgabe der kulturellen, sozialen und ökonomischen Eigenarten Ist häufig mit der Übernahme von Werten und Normen der Kultur verbunden → Chance der Integration und neuen Identitätsentwicklung Beispiel: Gastarbeiter/Innen, die seit den 1955er Jahren nach Deutschland kamen, um den Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken o Für viele Arbeiter/Innen wurde aus einem vorrübergehenden Aufenthalt ein dauerhafter, mit dem auch die Übernahme von Sprache, Gebräuchen und Werten einherging Probleme: Dauern die Angleichungsprozesse der ausländischen Gruppe über einen längeren Zeitraum → Gefahr des Identitätsverlustes sowie den Verlust der kulturellen Eigenart Fehlinterpretation von Integration und Assimilation → „Dominanzkultur“ 6. Zusammenfassung am Beispiel der Behindertenpädagogik Exklusion: Ausschluss von behinderten Kindern aus dem Bildungs- und Erziehungssystem. → „Theorie der Bildungsunfähigkeit“ Separation: Behinderte Kinder werden ausgegliedert und in speziellen Bildungseinrichtungen separat unterrichtet. → „Zwei-Schulen-Theorie“ (Regelschule – Sonderschule) Integration: Behinderte Kinder werden in einer allgemeinen Schule wieder aufgenommen, erhalten jedoch sonderpädagogische Unterstützung. → „Zwei-Gruppen-Theorie“ (Nichtbehinderte – Behinderte) Inklusion: Kinder mit Behinderung verlieren ihren besonderen Status der Andersartigkeit (Vielfalt ist Normalität) und lernen gemeinsam und voneinander. → „Theorie der egalitären Differenz“ (Die Schule muss sich anpassen – nicht die Kinder) (Vgl. Wocken 2011: 4; Sander 2002: 61f.) 4 7. Literaturverzeichnis Sekundärliteratur: Brückner, M.: Integration; in: Höblich, D., und Thole, W., und Ahmed, S. (Hg.): Taschenwörterbuch Soziale Arbeit, Bad Heilbrunn 2012: 131-132 Groenemeyer, A.: Anpassung; in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hg.): Fachlexikon der Sozialen Arbeit, 7. überarb. und akt. Aufl. Baden-Baden 2011: 37-38 Kleve, H.: Inklusion und Integration. Die beiden Formen sozialer Partizipation und ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit; in: Früchtel, F., und Straßner, M., und Schwarzloos, C. (Hg.): Relationale Sozialarbeit. Versammelnde, vernetzende und kooperative Hilfeformen, Weinheim und Basel 2016: 111124 Mollenhauer, K.: Soziale Integration; in: Kreft, D., und Mielenz, I. (Hg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, 7. überarb. und akt. Aufl. Weinheim u. a. 2013: 441-442 Sander, A.: Über die Dialogfähigkeit der Sonderpädagogik: Neue Anstöße durch Inklusive Pädagogik; in Warzecha, B. (Hg.): Zur Relevanz des Dialogs in Erziehungswissenschaft, Behindertenpädagogik, Beratung und Therapie, Hamburg 2002: 59-68 Schaub, H., und Zenke, K.G.: Wörterbuch zur Pädagogik, München 1995: 37 Wagner, M.: Soziale Ausgrenzung; in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hg.): Fachlexikon der Sozialen Arbeit, 7. überarb. und akt. Aufl. Baden-Baden 2011: 782-783 Internetquellen: Behinderung.org: Inklusion, o.O. 2016; http://behinderung.org/inklusion.htm (29.12.2016) Behinderung.org: Integration, o.O. 2016; http://behinderung.org/integration.htm (29.12.2016) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Mehrgenerationenhäuser, Berlin 2016; https://www.mehrgenerationenhaeuser.de/ (29.12.2016) Integrierte Gesamtschule „Willy Brandt“ Magdeburg: Startseite, Magdeburg 2016; http://www.igsbrandt.bildung-lsa.de/ (29.12.2016) Koordinierungsstelle zur Umsetzung des Strukturierten Dialogs in Deutschland: Inklusion; o.O. o.J.; https://www.strukturierter-dialog.de/mitmachen/article/show/kid/9/aid/107 (29.12.2016) Montessori-Gesellschaft Halle e. V.: Konzept; o.O. 2003; http://montessori-halle.de/cms/wpcontent/uploads/2015/11/montessori_paedkonzept_hdg_kurz.pdf (29.12.2016) Scholz, M.: Integration und Inklusion – zwischen theoretischem Anspruch und Realität; o.O. 2007; http://bidok.uibk.ac.at/library/scholz-integration.html#idm2018048 (30.12.2016) Wocken, H.: Qualitätsstufen der Behindertenpolitik und –pädagogik, Bad Boll 2010: 1-4; http://www.ev-akademie-boll.de/fileadmin/res/otg/501909-Wocken.pdf (29.12.2016) Wocken, H.: Inklusion; Hamburg 2011; http://www.hans-wocken.de/PDF/Wocken-Basics.pdf (29.12.2016) Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF): Polizei im Einsatz. Brennpunkt Kölnberg, Mainz 2014; https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/polizei-im-einsatz-brennpunkt-koelnberg-104.html (29.12.2016) Bildquellen: Abbildungen 1, 2 und 3: Deutscher Bildungsserver: Inklusion; 2016; http://wiki.bildungsserver.de/bilder/upload/Schritte_zur_Inklusion_RobertAehnelt_bearbeitet1.png (29.12.2016) 5