Das Spannungsfeld zwischen Ethik, Ökonomie und Medizin auf

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Das Spannungsfeld zwischen Ethik, Ökonomie und Medizin auf
neonatologischen Intensivstationen
Vortrag im Arbeitskreis “Welche gesellschaftlichen Einstellungen und Werthaltungen prägen
die Urteile über den Wert menschlichen Lebens?“
Christian Enke, Angela Kribs, Christiane Woopen
Einleitung
Die medizinischen Möglichkeiten zur Versorgung Frühgeborener konnten in den vergangenen
Jahrzehnten kontinuierlich weiterentwickelt werden. Derzeit können Frühgeborenen mit
einem Geburtsgewicht um 500 Gramm zunehmend Überlebenschancen eingeräumt werden.
Medienwirksame Fälle von Frühgeborenen, welche mit einem Gewicht von unter 300 Gramm
geboren und im Anschluss an die Krankenhausbehandlung in die Obhut ihrer Eltern entlassen
werden konnten, häufen sich und können ein verändertes gesellschaftliches Anspruchsdenken
in Bezug auf die Erfolgschancen der Behandlung Frühgeborener bewirken. In Deutschland
sinken Gesamtgeburtenzahl und Säuglingssterblichkeit stetig, während die “Anzahl
Neugeborener mit extrem niedrigem Geburtsgewicht“ (P07.0 der ICD-10: Geburtsgewicht
unter 1000g) von 1.795 Fällen im Jahr 2000 um 65% auf 2.967 Fälle im Jahr 2009 anstieg
[11]. Mit der Reduzierung der Mortalität Frühgeborener geht zunächst ein Anstieg der
Morbidität Frühgeborener einher [18], wobei konkrete Prognosen im Rahmen der Therapie
eines Frühgeborenen häufig nur sehr vage ausfallen können. Die Prognosesicherheit auf
neonatologischen Intensivstationen (NICUs) ist aus zweierlei Gründen stark eingeschränkt.
Valide Outcome-Daten über mittel- bis langfristige Prognosen sind aufgrund der zügigen
medizinischen und medizin-technischen Entwicklung nur begrenzt verfügbar, und zudem
besteht bei Frühgeborenen häufig ein hohes Maß variierender Komorbiditäten, so dass der
Vergleich zwischen verschiedenen Behandlungsfällen nur schwer möglich ist [14]. Das
Risiko sehr schwerer neurologischer und kognitiver Defizite liegt bei Frühgeborenen umso
höher, je früher die Geburt stattfindet [28, 5].
Im klinischen Alltag auf NICUs können Entscheidungen notwendig werden, die eine
Auseinandersetzung mit der Frage notwendig machen, ob es im besten Interesse des Kindes
sein kann eine lebenserhaltende Therapie zu begrenzen. In Fällen, in denen über die
Anwendung, bzw. Nicht-Anwendung lebenserhaltener Maßnahmen entschieden werden muss,
befinden sich beteiligte Entscheidungsträger in einem Dilemma. Die Entscheidung für eine
Therapiebegrenzung ist unwiderruflich und hat in der Regel den Tod des Kindes oder aber in
einigen Fällen das Überleben des Kindes mit schwersten zusätzlichen Einschränkungen zur
Folge. Bei einer Entscheidung für eine Maximaltherapie ist es möglich, dass einzig der
Zustand des Sterbens verlängert wird. Zudem kann es unter Umständen durch schwerste
Einschränkungen zu Leid in dem Maße kommen, dass der Tod gegenüber diesem
Lebenszustand präferiert würde, wobei dies in der Ethik eine höchst umstrittene
Argumentation darstellt. Ein Wille des Patienten ist hierbei nicht bestimmbar und ein
mutmaßlicher Wille kann nicht auf der Basis früherer Wahlentscheidungen oder Handlungen
ermittelt werden [12, 29]. Die Eltern des Kindes sind in der Regel stark belastet, so dass ihre
Fähigkeiten ihren Pflichten als alleinige gesetzliche Vertreter ihres Kindes nachzukommen,
indem beispielsweise Behandlungsalternativen gegeneinander abgewogen werden müssen,
eingeschränkt sein können. Das behandelnde ärztliche und pflegerische Personal steht vor der
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komplexen Herausforderung die Eltern hierbei zu unterstützen und zu informieren, sodass
ethisch begründete Behandlungsentscheidungen getroffen werden können [4, 29].
Die Ausweitung medizinischer Möglichkeiten bringt neben komplexen medizinethischen
Fragestellungen auch Fragen der Finanzierbarkeit mit sich. Schätzungen zufolge machen die
Behandlungskosten von Frühgeborenen die Hälfte der Kosten in der Hospitalisierung von
Säuglingen und ein Viertel der gesamten pädiatrischen Behandlungskosten aus [17]. Im
deutschen Gesundheitswesen kann von einer minimalen Kostendifferenz zwischen Früh- und
Nichtfrühgeburt von 10.550€ je Fall ausgegangen werden, wobei die Kosten stark vom
Zeitpunkt der Geburt abhängen. Je früher dieser liegt, desto unreifer ist das Kind und desto
teurer ist die Behandlung [15]. Das in Deutschland gültige System der Vergütung stationärer
Behandlungskosten über Fallpauschalen (Diagnoses Related Groups, kurz: DRGs) ermöglicht
es Krankenhäusern in der intensivmedizinischen Versorgung Frühgeborener, relativ zu
anderen Behandlungsfällen, hohe Erlöse zu erwirtschaften. Hierin wird einer der Gründe für
die flächendeckende Ausweitung von 2.149 NICU-Betten im Jahr 2002 auf 2.408 im Jahr
2009 vermutet [22]. Der entstandene Kostendruck auf das solidarisch finanzierte
Gesundheitssystem spiegelt sich in der so genannten “Mindestmengen-Debatte“ wider [6]. In
dieser kontrovers geführten Debatte fordern Befürworter die Einführung einer Mindestmenge
zu behandelnder Frühgeborener pro Jahr und Krankenhaus als Bedingung für die Zulassung
zur Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung. Die Einführung könnte eine
Möglichkeit zur Qualitätssteigerung der Versorgung durch die anzunehmende Zunahme von
Behandlungserfahrung und -routine einer zentralisierten Versorgung bewirken und
gleichzeitig Ausgaben durch entstehende Synergieeffekte senken. Gegner sehen hierin die
Gefahr einer verdeckten Rationierung durch Einschränkungen in der flächendeckenden
Versorgung Frühgeborener und bezweifeln die Mengenabhängigkeit der Versorgungsqualität
[13].
Der medizinische Fortschritt eröffnet neben den Chancen in der Behandlung Frühgeborener
ein Spannungsfeld, in dem medizinische und medizinethische Ansprüche miteinander zu
vereinen sind, wobei die ökonomische Wirklichkeit nicht außer Acht gelassen werden darf.
Zudem kann vermutet werden, dass die Berücksichtigung ethisch relevanter Aspekte bei der
Behandlung Frühgeborener wie beispielsweise Empathie und Partizipation bei
Behandlungsentscheidungen positive Auswirkungen auf das medizinische und ökonomische
Outcome haben. Vor diesem Hintergrund sehen sich behandelnde Ärzte 1 und Pflegekräfte
sowie die Eltern Frühgeborener im klinischen Alltag komplexen Entscheidungssituationen
gegenübergestellt. Darüber hinaus müssen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene neue Aufgaben
im Rahmen gesundheitspolitischer und -ökonomischer Fragestellungen angegangen werden.
Das Forschungsprojekt “NICU - Management, Effizienz und medizinischer Erfolg auf
neonatologischen Intensivstationen“
In dem, durch die RheinEnergie-Stiftung geförderten, Forschungsprojekt “NICU Management, Effizienz und medizinischer Erfolg auf neonatologischen Intensivstationen“
konnte ein interdisziplinäres Forschungskonzept umgesetzt werden. Unter Beteiligung
medizinischer, medizinethischer, betriebswirtschaftlicher und gesundheitsökonomischer
1Die
weibliche Form ist der männlichen Form in diesem Vortrag gleichgestellt, lediglich aus Gründen
der Vereinfachung des Leseflusses wird einzig die männliche Form aufgeführt.
2
Fachbereiche der Universität zu Köln, der Uniklinik Köln und der Rheinischen
Fachhochschule Köln 2 konnten die Perspektiven von Medizin, Ethik, Ökonomie und
Management berücksichtigt werden. Ziel des Projekts war es, Einflussfaktoren in der
Versorgung Frühgeborener auf NICUs in Bezug auf verschiedene Outcome-Variablen und
das entsprechende Outcome zu untersuchen. Ein Teilprojekt dieses Gesamtprojektes bestand
in der qualitativen Erhebung ethisch relevanter Einstellungen von ärztlichem und
pflegerischem Personal des Perinatalzentrums der Uniklinik Köln, sowie von Müttern
Frühgeborener. Von jeder der drei Akteursgruppen wurden fünf Probanden im Rahmen semistrukturierter Interviews befragt und die Ergebnisse mithilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse
ausgewertet [25]. In den Interviews wurden neben Einstellungen zur Partizipation in der
Entscheidungsfindung die Einstellungen in Bezug auf die Anwendung lebenserhaltener
Maßnahmen und einem Leben mit einem Kind mit Behinderung ermittelt. Die Interviews
wurden anschließend, unter anderem mit Blick auf die subjektive Bewertung antizipierter
Lebensqualität, ausgewertet.
In der Einstellungsforschung existieren vielerlei Definitionen des Einstellungsbegriffs.
Einigkeit besteht hierbei in der Auffassung darüber, dass zwischen den Einstellungen einer
Person ein Zusammenhang zu deren, die entsprechenden Einstellungsbereiche betreffenden,
Handlungen besteht [1, 16, 24]. Hieraus wäre ableitbar, dass die Einstellungen der
Akteursgruppen auf NICUs einen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse und somit auf
die Behandlung Frühgeborener nehmen. In Bezug auf die medizinische Versorgung auf
NICUs hat Wallner dies wie folgt ausgedrückt: "Da dennoch entschieden werden muss,
kommt es vielfach auf eine[m] niedrigeren Evidenz-Level, insbesondere auf die
Einschätzungen erfahrener Kliniker (...) an. Die Indikationsstellung als Bewertung von
Nutzen und Belastung/Schaden kann letztlich (ebenso wie das ‘Wohl des Kindes‘) niemals
eine bloß deskriptive, objektiv feststellbare Angelegenheit sein, sondern impliziert stets
Werturteile (...)." [29].
Ergebnisse der Erhebung ethisch relevanter Einstellungen
Im Bereich der partizipativen Entscheidungsfindung gaben bis auf zwei befragte Pflegekräfte
alle 15 befragten Akteure an, dass die Verantwortung für die letztliche Entscheidung über die
Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen bei den behandelnden Ärzten liegen sollte.
Mehrere Teilaspekte der Befragung haben deutlich gemacht, dass das Maß der Bürde der
Verantwortung als sehr hoch eingeschätzt wird. Alle Mütter wünschten sich vom klinischen
Fachpersonal eine deutliche Führung in Entscheidungsprozessen, wobei gleichzeitig das sehr
hohe Informationsbedürfnis betont wurde. Eine eigenständige Verantwortungsübernahme im
Sinne eines Shared-Decision-Making-Prozesses lehnten alle befragten Mütter ab.
Alle Probanden gaben in Bezug auf Entscheidungsprozesse im Zusammenhang mit
Entscheidungen zur Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen an, dass hierbei die oberste
Priorität im “Wohl des Kindes“ zu sehen sei. Kriterien zur Einschätzung, was dem Wohl des
Kindes am ehesten entspräche, fielen hierbei zum Teil sehr unterschiedlich aus. Die Kriterien
2Prof.
Dr. Ludwig Kuntz (Projektkoordinator) Universität zu Köln, Seminar für Allgemeine BWL und
Management im Gesundheitswesen; Prof. Dr. Bernhard Roth Uniklinik Köln, Bereich Neonatologie &
pädiatrische Intensivmedizin; Prof. Dr. Christiane Woopen Uniklinik Köln, Institut für Geschichte und Ethik der
Medizin, Forschungsstelle Ethik; Prof. Dr. med. Dipl.-Kfm. (FH) Rainer Riedel Rheinische Fachhochschule
Köln, Institut für Medizin-Ökonomie & Medizinische Versorgungsforschung.
3
zur Bestimmung des “Wohl des Kindes“ lassen sich drei Wertkategorien zuordnen:
1. Einschätzung der (antizipierten) Lebensqualität und -dauer
2. Einschätzung des “vermuteten Willens“ des Kindes
3. Berücksichtigung der familiären Situation
Unter die erste Wertkategorie fallen zunächst Aussagen darüber, ob eine Therapiebegrenzung
mit Blick auf das Wohl des Kindes grundsätzlich eine Option darstellen kann. Mit Ausnahme
einer befragten Mutter teilten alle Probanden die Auffassung, dem Wohl des Kindes könne in
bestimmten Fällen am ehesten durch eine Therapiebegrenzung entsprochen werden. Diese
Befragten zeigten Einigkeit darüber, dass die Anwendung lebenserhaltener Maßnahmen zur
künstlichen Verlängerung des Sterbeprozesses abzulehnen sei, wenn der Tod des Patienten
innerhalb weniger Tage unumgänglich ist. Es zeigte sich, dass insbesondere die Einstellungen
gegenüber einem Leben mit einem Kind mit Behinderung eng mit Einschätzungen zur
antizipierten Lebensqualität verknüpft sind. Während nur ein befragter Arzt in einer sehr
wahrscheinlichen schweren Behinderung des Kindes einen möglichen Grund für eine
Therapiebegrenzung sah, sahen hierin die deutliche Mehrheit von vier der befragten
Pflegekräfte einen möglichen Grund. Entsprechend formulierten drei der befragten
Pflegekräfte, dass in manchen Fällen "zu viel behandelt" werde. Die Mehrheit der Ärzte sagte
aus, eine Entscheidung für eine Therapiebegrenzung werde mit zunehmender Berufserfahrung
eher abgelehnt. Hierfür ließen sich aus der Auswertung der Interviews mit den Ärzten drei
Ursachen ableiten. Die durch Erfahrung belegte Gewissheit eine Therapiebegrenzung nicht
widerrufen zu können wird als sehr prägendes Ereignis geschildert und führe auf ärztlicher
Seite dazu, Therapiebegrenzungen eher abzulehnen als zu befürworten. Zudem nehme die
Skepsis gegenüber gestellten Prognosen zu, da sich als sicher geltende Prognosen im Laufe
des bisherigen Berufslebens immer wieder als falsch herausgestellt hätten. Drittens änderten
sich Einschätzungen über die Lebensqualität eines Kindes mit einer Behinderung durch den
Kontakt mit als lebensfroh eingeschätzten ehemaligen Patienten mit einer Behinderung und
deren Eltern, auch wenn den befragten Ärzten nach eigenen Aussagen klar war, dass es sich
hierbei um ein nicht-repräsentatives Patientenkollektiv handeln kann. Die Mehrheit der
Probanden in allen Akteursgruppen gab an, dass Menschen mit Behinderung zu wenig
gesellschaftliche Akzeptanz erfahren würden. Einzig die Mehrheit der befragten Ärzte sieht
die Ursache hierfür in einer stark zunehmenden gesellschaftlichen Leistungsorientierung und
einer damit einhergehenden Diskriminierung von in der Produktivität eingeschränkten
Menschen. Als besonders schwerwiegende Folge einer Behinderung wurde die
gesellschaftliche Exklusion genannt, die beispielsweise durch Bettlägerigkeit oder geistige
Einschränkungen verursacht werde. Hervorgehoben wurde zudem eine vermutete
gesellschaftliche Ausgrenzung der betroffenen Eltern, die mit einem Kind mit einer
Behinderung gezwungen seien in “einer Seifenblase“ oder “Parallelwelt“ zu leben.
Bei der Auswertung der Kriterien der zweiten Wertkategorie zeigte sich, dass die Mehrzahl
befragter Probanden angab bei vielen Patienten bereits einen “eigenen Willen“ erkennen zu
können. Dieser werde in der Folge als eine der Einflussvariablen auf die zu treffende
Entscheidung für oder gegen die Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen in den
Entscheidungsprozess einbezogen. Die besondere ethische Problematik, dem Neugeborenen
einen "Willen" zu unterstellen, wird später im Rahmen der Diskussion aufgegriffen.
4
In die dritte Wertkategorie fallen Kriterien in denen die familiäre Situation zur Bestimmung
des Wohles des Kindes berücksichtigt wird. Die Notwendigkeit dieses Einbezugs, wurde von
allen Probanden des klinischen Personals betont. In der Praxis der Entscheidungsfindung sei
es beispielsweise sehr wichtig, dem Vorhandensein starker psychischer und sozialer
Ressourcen im Umfeld des Kindes Rechnung tragen zu können. Bei dieser Wertkategorie
betreffenden Kriterien betonten einzig alle befragten Ärzte, dass der Einbezug dieser Kriterien
durch das Kindeswohl begrenzt sein müsse. Im Anschluss an die Krankenhausbehandlung
kann bei Folgeerkrankungen oder einer Behinderung des Kindes von einer hohen finanziellen
Belastung durch Therapie- und gesteigerte Lebensunterhaltskosten sowie durch
Einkommenseinschränkungen auf Seiten des direkten sozialen Umfelds ausgegangen werden.
Während dieser finanzielle Aspekt von einigen befragten Müttern thematisiert, aber nicht als
Einflussvariable im Entscheidungsprozess benannt wurde, wurde die hohe ökonomische
Bedeutung der Behandlung Frühgeborener im Kontext eines solidarisch finanzierten
Gesundheitswesens nur am Rande thematisiert.
Sowohl bei allen befragten Müttern, als auch bei allen befragten Pflegekräften wurde der
Wunsch nach der Befriedigung hoher Informationsbedürfnisse betont. Bei den Müttern war
die Zufriedenheit mit dem Krankenhausaufenthalt ihres Kindes eng an diesen Aspekt
gekoppelt. Dieses Ergebnis bestätigte sich in der parallel durchgeführten quantitativen
Erhebung. Hier zeigte sich ein deutlich höherer signifikant positiver Zusammenhang
zwischen “Zufriedenheit mit der Informationsvermittlung auf der Station“ und der
gemessenen Gesamtzufriedenheit als bei dem Item “Zufriedenheit mit dem medizinischen
Erfolg der Behandlung“. Auf Seiten der Pflegekräfte war die Zufriedenheit mit
Entscheidungsprozessen in Bezug auf die Anwendung lebenserhaltener Maßnahmen eng an
die Qualität der Informationsvermittlung durch das ärztliche Personal gekoppelt.
Diskussion
Eine Therapiebegrenzung als grundsätzlich mögliche Option wird in der Regel von keiner
Akteursgruppe kategorisch im Vorhinein ausgeschlossen [26, 7, 23]. Analog zu anderen
Untersuchungen wird der Wunsch der Eltern deutlich die Verantwortung für entsprechende
Entscheidungen den behandelnden Ärzten zuzusprechen. Das befragte Pflegepersonal gibt in
der Regel an, zu wenig in den Entscheidungsprozess einbezogen zu werden, sich aber einen
stärkeren Einbezug zu wünschen [27]. In Bezug auf die Rolle der Eltern entsprechen die
Einschätzungen der großen Mehrheit aller Befragten der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der
Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), nach der eine
Entscheidungsautonomie der Eltern in einer solch belasteten Situation nicht vorausgesetzt
werden kann und ihnen die Bürde der Verantwortung keinesfalls alleine übertragen werden
sollte [3]. Jedoch stellen die Eltern die alleinigen gesetzlichen Vertreter des Kindes dar und
sind somit verpflichtet, Entscheidungen durch ihre informierte Einwilligung zu tragen.
Während die Aussage Entscheidungen zur Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen“ im
besten Interesse des Kindes“ treffen zu wollen, ebenso wie in vorliegender Untersuchung
auch in internationalen Forschungssettings als zentrale Werthaltung befragter Probanden
genannt wird, ist strittig ob das “best-interest-principle“ [21] als Hilfe in
Entscheidungssituationen betrachtet werden kann oder letztlich nur auf rechtliche Standards
ergänzt durch individuelle Wertvorstellungen zurückwirft [20, 30, 19]. In Deutschland gibt
die maßgebliche Leitlinie der AWMF Empfehlungen zum speziellen Vorgehen der
5
Entscheider in Fragen der Therapiebegrenzungen und verweist dabei letztlich auf den
notwendigen, an rechtlichen und ethischen Grundsätzen orientierten, Dialog der beteiligten
Akteure. Dieser erscheint notwendig, um eine Distanz zu eigenen Werthaltungen zu
ermöglichen und Entscheidungen über die gemeinsame Reflektion ethisch verantwortbar
begründen zu können. Die Untersuchung zeigte, dass die Einschätzung der antizipierten
Lebensqualität (erste Wertkategorie), insbesondere vor dem Hintergrund drohender
Behinderung, innerhalb und insbesondere zwischen den Akteursgruppen, sehr unterschiedlich
ausfallen kann. Verschiedene Entscheider können bei derselben Fallkonstellation zu
verschiedenen Entscheidungen über die Durchführung einer Therapiebegrenzung gelangen
[4]. Die Einschätzungen darüber, den Willen des Kindes als Entscheidungskriterium
hinzuzuziehen, wurden in der zweiten Wertkategorie zusammengefasst und sind kritisch zu
betrachten, da ein Wille des Kindes nicht vorhanden und ein mutmaßlicher Wille nicht
ermittelbar ist [29, 2]. In der Möglichkeit einem Frühgeborenen dennoch einen Willen im
Sinne eines starken, schwachen oder fehlenden Überlebenswillens zu unterstellen, könnte eine
unbewusste Strategie zur Vermeidung der als sehr hoch eingeschätzten Verantwortungsbürde
liegen [12]. Die in der dritten Wertkategorie gesammelten Kriterien zur Bestimmung des
Wohles des Kindes über die Berücksichtigung der familiären Situation, sind in der Praxis
durch das rechtlich fixierte Kriterium des Kindeswohls begrenzt. In den Fällen, in denen ein
Entscheidungsspielraum für eine Therapiebegrenzung besteht, besitzt dieser Einbezug ein
höheres Gewicht als außerhalb dieses Bereiches.
Die Anerkennung einer grundsätzlichen Nicht-Ermittelbarkeit eines konkreten Willens des
Kindes und das Zugeständnis, in Bezug auf Fragen nach dem “Wohl des Kindes“
zwangsläufig auf eigene Werthaltungen zurückgeworfen zu sein, bietet die Grundlage zur
Bereitschaft, sich auf einen strukturierten und kommunikativ anspruchsvollen
Entscheidungsfindungsprozess einzulassen. Über die gemeinsame Auseinandersetzung aller
beteiligten Akteure wird eine Distanz zu den eigenen Werthaltungen möglich [3, 2]. Diese
sollte durch einen strukturierten Dialog sichergestellt werden, so dass im Abwägungsprozess
keine entscheidungsrelevanten Kriterien unberücksichtigt bleiben. Hierüber ist das
bestmögliche, sich am Wohl des Kindes orientierende Behandlungsergebnis zu erzielen. Die
vermeintliche Abkürzung, eine Entscheidungsfindung ausschließlich über die
Zugrundelegung der eigenen Wertvorstellungen herzuleiten, kann durch die gemeinsame
Reflektion ausgeschlossen werden. Es kann angenommen werden, dass Barrieren eines
strukturierten Vorgehens im Entscheidungsprozess ihren Ursprung in den zu bewältigenden
hohen Kommunikationsanforderungen zwischen den heterogenen Akteursgruppen zu finden
sind [27, 8]. Eine zentrale Rolle spielt hierbei der Umgang mit Informationen und der
Erfüllung von Informationsbedürfnissen Beteiligter [8, 9, 31].
Ausblick
Sowohl in der direkten medizinischen Versorgung der Frühgeborenen als auch im
gesamtgesellschaftlichen Kontext besteht Handlungsbedarf in Form einer fortwährenden
Anpassung der Rahmenbedingungen an den raschen medizinischen Fortschritt und den damit
verbundenen Wandel. Eine systematische, ethisch begründete Entscheidungsfindung in der
zunehmenden Zahl zu treffender Behandlungsentscheidungen bei Frühgeborenen an der
Grenze zur Lebensfähigkeit sollte im Interesse aller beteiligten Akteure liegen und scheint
auch vor dem Hintergrund der zu erwartenden Zunahme ökonomischen Drucks auf diesen
6
Versorgungsbereich erforderlich. Vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung von
Entscheidungsprozessen zur Begrenzung oder Fortführung lebenserhaltener Maßnahmen bei
Frühgeborenen, gilt es den Bereich der Kommunikation auf NICUs, auch im Hinblick auf das
zentrale Element der Informationsvermittlung, zu untersuchen und so eine empirische
Grundlage für Verbesserungen der Versorgungsstrukturen und damit der Qualität der
medizinischen Behandlung gewinnen zu können, gerade für diese oft auch langfristig
besonders vulnerable Patientengruppe. Das, durch das Bundesministerium für Bildung und
Forschung ab Februar 2012 geförderte, Projekt: “Health Service Research in care of verylow-birth-weight-infants in NICUs - The impact of human and organizational factors on
performance“ wird an gewonnene Erkenntnisse anknüpfen und im Rahmen einer ebenfalls
interdisziplinären Analyse die Versorgungssituation auf 60 neonatologischen
Intensivstationen in Deutschland erheben. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen dazu dienen,
fundierte gesundheitspolitische und gesundheitsökonomische Entscheidungen treffen zu
können und so einerseits Chancen nutzen und andererseits Grenzen in der neonatologischen
Intensivversorgung wissenschaftlich begründet und klar abstecken zu können.
7
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