Das Spannungsfeld zwischen Ethik, Ökonomie und Medizin auf neonatologischen Intensivstationen Vortrag im Arbeitskreis “Welche gesellschaftlichen Einstellungen und Werthaltungen prägen die Urteile über den Wert menschlichen Lebens?“ Christian Enke, Angela Kribs, Christiane Woopen Einleitung Die medizinischen Möglichkeiten zur Versorgung Frühgeborener konnten in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich weiterentwickelt werden. Derzeit können Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht um 500 Gramm zunehmend Überlebenschancen eingeräumt werden. Medienwirksame Fälle von Frühgeborenen, welche mit einem Gewicht von unter 300 Gramm geboren und im Anschluss an die Krankenhausbehandlung in die Obhut ihrer Eltern entlassen werden konnten, häufen sich und können ein verändertes gesellschaftliches Anspruchsdenken in Bezug auf die Erfolgschancen der Behandlung Frühgeborener bewirken. In Deutschland sinken Gesamtgeburtenzahl und Säuglingssterblichkeit stetig, während die “Anzahl Neugeborener mit extrem niedrigem Geburtsgewicht“ (P07.0 der ICD-10: Geburtsgewicht unter 1000g) von 1.795 Fällen im Jahr 2000 um 65% auf 2.967 Fälle im Jahr 2009 anstieg [11]. Mit der Reduzierung der Mortalität Frühgeborener geht zunächst ein Anstieg der Morbidität Frühgeborener einher [18], wobei konkrete Prognosen im Rahmen der Therapie eines Frühgeborenen häufig nur sehr vage ausfallen können. Die Prognosesicherheit auf neonatologischen Intensivstationen (NICUs) ist aus zweierlei Gründen stark eingeschränkt. Valide Outcome-Daten über mittel- bis langfristige Prognosen sind aufgrund der zügigen medizinischen und medizin-technischen Entwicklung nur begrenzt verfügbar, und zudem besteht bei Frühgeborenen häufig ein hohes Maß variierender Komorbiditäten, so dass der Vergleich zwischen verschiedenen Behandlungsfällen nur schwer möglich ist [14]. Das Risiko sehr schwerer neurologischer und kognitiver Defizite liegt bei Frühgeborenen umso höher, je früher die Geburt stattfindet [28, 5]. Im klinischen Alltag auf NICUs können Entscheidungen notwendig werden, die eine Auseinandersetzung mit der Frage notwendig machen, ob es im besten Interesse des Kindes sein kann eine lebenserhaltende Therapie zu begrenzen. In Fällen, in denen über die Anwendung, bzw. Nicht-Anwendung lebenserhaltener Maßnahmen entschieden werden muss, befinden sich beteiligte Entscheidungsträger in einem Dilemma. Die Entscheidung für eine Therapiebegrenzung ist unwiderruflich und hat in der Regel den Tod des Kindes oder aber in einigen Fällen das Überleben des Kindes mit schwersten zusätzlichen Einschränkungen zur Folge. Bei einer Entscheidung für eine Maximaltherapie ist es möglich, dass einzig der Zustand des Sterbens verlängert wird. Zudem kann es unter Umständen durch schwerste Einschränkungen zu Leid in dem Maße kommen, dass der Tod gegenüber diesem Lebenszustand präferiert würde, wobei dies in der Ethik eine höchst umstrittene Argumentation darstellt. Ein Wille des Patienten ist hierbei nicht bestimmbar und ein mutmaßlicher Wille kann nicht auf der Basis früherer Wahlentscheidungen oder Handlungen ermittelt werden [12, 29]. Die Eltern des Kindes sind in der Regel stark belastet, so dass ihre Fähigkeiten ihren Pflichten als alleinige gesetzliche Vertreter ihres Kindes nachzukommen, indem beispielsweise Behandlungsalternativen gegeneinander abgewogen werden müssen, eingeschränkt sein können. Das behandelnde ärztliche und pflegerische Personal steht vor der 1 komplexen Herausforderung die Eltern hierbei zu unterstützen und zu informieren, sodass ethisch begründete Behandlungsentscheidungen getroffen werden können [4, 29]. Die Ausweitung medizinischer Möglichkeiten bringt neben komplexen medizinethischen Fragestellungen auch Fragen der Finanzierbarkeit mit sich. Schätzungen zufolge machen die Behandlungskosten von Frühgeborenen die Hälfte der Kosten in der Hospitalisierung von Säuglingen und ein Viertel der gesamten pädiatrischen Behandlungskosten aus [17]. Im deutschen Gesundheitswesen kann von einer minimalen Kostendifferenz zwischen Früh- und Nichtfrühgeburt von 10.550€ je Fall ausgegangen werden, wobei die Kosten stark vom Zeitpunkt der Geburt abhängen. Je früher dieser liegt, desto unreifer ist das Kind und desto teurer ist die Behandlung [15]. Das in Deutschland gültige System der Vergütung stationärer Behandlungskosten über Fallpauschalen (Diagnoses Related Groups, kurz: DRGs) ermöglicht es Krankenhäusern in der intensivmedizinischen Versorgung Frühgeborener, relativ zu anderen Behandlungsfällen, hohe Erlöse zu erwirtschaften. Hierin wird einer der Gründe für die flächendeckende Ausweitung von 2.149 NICU-Betten im Jahr 2002 auf 2.408 im Jahr 2009 vermutet [22]. Der entstandene Kostendruck auf das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem spiegelt sich in der so genannten “Mindestmengen-Debatte“ wider [6]. In dieser kontrovers geführten Debatte fordern Befürworter die Einführung einer Mindestmenge zu behandelnder Frühgeborener pro Jahr und Krankenhaus als Bedingung für die Zulassung zur Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung. Die Einführung könnte eine Möglichkeit zur Qualitätssteigerung der Versorgung durch die anzunehmende Zunahme von Behandlungserfahrung und -routine einer zentralisierten Versorgung bewirken und gleichzeitig Ausgaben durch entstehende Synergieeffekte senken. Gegner sehen hierin die Gefahr einer verdeckten Rationierung durch Einschränkungen in der flächendeckenden Versorgung Frühgeborener und bezweifeln die Mengenabhängigkeit der Versorgungsqualität [13]. Der medizinische Fortschritt eröffnet neben den Chancen in der Behandlung Frühgeborener ein Spannungsfeld, in dem medizinische und medizinethische Ansprüche miteinander zu vereinen sind, wobei die ökonomische Wirklichkeit nicht außer Acht gelassen werden darf. Zudem kann vermutet werden, dass die Berücksichtigung ethisch relevanter Aspekte bei der Behandlung Frühgeborener wie beispielsweise Empathie und Partizipation bei Behandlungsentscheidungen positive Auswirkungen auf das medizinische und ökonomische Outcome haben. Vor diesem Hintergrund sehen sich behandelnde Ärzte 1 und Pflegekräfte sowie die Eltern Frühgeborener im klinischen Alltag komplexen Entscheidungssituationen gegenübergestellt. Darüber hinaus müssen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene neue Aufgaben im Rahmen gesundheitspolitischer und -ökonomischer Fragestellungen angegangen werden. Das Forschungsprojekt “NICU - Management, Effizienz und medizinischer Erfolg auf neonatologischen Intensivstationen“ In dem, durch die RheinEnergie-Stiftung geförderten, Forschungsprojekt “NICU Management, Effizienz und medizinischer Erfolg auf neonatologischen Intensivstationen“ konnte ein interdisziplinäres Forschungskonzept umgesetzt werden. Unter Beteiligung medizinischer, medizinethischer, betriebswirtschaftlicher und gesundheitsökonomischer 1Die weibliche Form ist der männlichen Form in diesem Vortrag gleichgestellt, lediglich aus Gründen der Vereinfachung des Leseflusses wird einzig die männliche Form aufgeführt. 2 Fachbereiche der Universität zu Köln, der Uniklinik Köln und der Rheinischen Fachhochschule Köln 2 konnten die Perspektiven von Medizin, Ethik, Ökonomie und Management berücksichtigt werden. Ziel des Projekts war es, Einflussfaktoren in der Versorgung Frühgeborener auf NICUs in Bezug auf verschiedene Outcome-Variablen und das entsprechende Outcome zu untersuchen. Ein Teilprojekt dieses Gesamtprojektes bestand in der qualitativen Erhebung ethisch relevanter Einstellungen von ärztlichem und pflegerischem Personal des Perinatalzentrums der Uniklinik Köln, sowie von Müttern Frühgeborener. Von jeder der drei Akteursgruppen wurden fünf Probanden im Rahmen semistrukturierter Interviews befragt und die Ergebnisse mithilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet [25]. In den Interviews wurden neben Einstellungen zur Partizipation in der Entscheidungsfindung die Einstellungen in Bezug auf die Anwendung lebenserhaltener Maßnahmen und einem Leben mit einem Kind mit Behinderung ermittelt. Die Interviews wurden anschließend, unter anderem mit Blick auf die subjektive Bewertung antizipierter Lebensqualität, ausgewertet. In der Einstellungsforschung existieren vielerlei Definitionen des Einstellungsbegriffs. Einigkeit besteht hierbei in der Auffassung darüber, dass zwischen den Einstellungen einer Person ein Zusammenhang zu deren, die entsprechenden Einstellungsbereiche betreffenden, Handlungen besteht [1, 16, 24]. Hieraus wäre ableitbar, dass die Einstellungen der Akteursgruppen auf NICUs einen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse und somit auf die Behandlung Frühgeborener nehmen. In Bezug auf die medizinische Versorgung auf NICUs hat Wallner dies wie folgt ausgedrückt: "Da dennoch entschieden werden muss, kommt es vielfach auf eine[m] niedrigeren Evidenz-Level, insbesondere auf die Einschätzungen erfahrener Kliniker (...) an. Die Indikationsstellung als Bewertung von Nutzen und Belastung/Schaden kann letztlich (ebenso wie das ‘Wohl des Kindes‘) niemals eine bloß deskriptive, objektiv feststellbare Angelegenheit sein, sondern impliziert stets Werturteile (...)." [29]. Ergebnisse der Erhebung ethisch relevanter Einstellungen Im Bereich der partizipativen Entscheidungsfindung gaben bis auf zwei befragte Pflegekräfte alle 15 befragten Akteure an, dass die Verantwortung für die letztliche Entscheidung über die Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen bei den behandelnden Ärzten liegen sollte. Mehrere Teilaspekte der Befragung haben deutlich gemacht, dass das Maß der Bürde der Verantwortung als sehr hoch eingeschätzt wird. Alle Mütter wünschten sich vom klinischen Fachpersonal eine deutliche Führung in Entscheidungsprozessen, wobei gleichzeitig das sehr hohe Informationsbedürfnis betont wurde. Eine eigenständige Verantwortungsübernahme im Sinne eines Shared-Decision-Making-Prozesses lehnten alle befragten Mütter ab. Alle Probanden gaben in Bezug auf Entscheidungsprozesse im Zusammenhang mit Entscheidungen zur Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen an, dass hierbei die oberste Priorität im “Wohl des Kindes“ zu sehen sei. Kriterien zur Einschätzung, was dem Wohl des Kindes am ehesten entspräche, fielen hierbei zum Teil sehr unterschiedlich aus. Die Kriterien 2Prof. Dr. Ludwig Kuntz (Projektkoordinator) Universität zu Köln, Seminar für Allgemeine BWL und Management im Gesundheitswesen; Prof. Dr. Bernhard Roth Uniklinik Köln, Bereich Neonatologie & pädiatrische Intensivmedizin; Prof. Dr. Christiane Woopen Uniklinik Köln, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Forschungsstelle Ethik; Prof. Dr. med. Dipl.-Kfm. (FH) Rainer Riedel Rheinische Fachhochschule Köln, Institut für Medizin-Ökonomie & Medizinische Versorgungsforschung. 3 zur Bestimmung des “Wohl des Kindes“ lassen sich drei Wertkategorien zuordnen: 1. Einschätzung der (antizipierten) Lebensqualität und -dauer 2. Einschätzung des “vermuteten Willens“ des Kindes 3. Berücksichtigung der familiären Situation Unter die erste Wertkategorie fallen zunächst Aussagen darüber, ob eine Therapiebegrenzung mit Blick auf das Wohl des Kindes grundsätzlich eine Option darstellen kann. Mit Ausnahme einer befragten Mutter teilten alle Probanden die Auffassung, dem Wohl des Kindes könne in bestimmten Fällen am ehesten durch eine Therapiebegrenzung entsprochen werden. Diese Befragten zeigten Einigkeit darüber, dass die Anwendung lebenserhaltener Maßnahmen zur künstlichen Verlängerung des Sterbeprozesses abzulehnen sei, wenn der Tod des Patienten innerhalb weniger Tage unumgänglich ist. Es zeigte sich, dass insbesondere die Einstellungen gegenüber einem Leben mit einem Kind mit Behinderung eng mit Einschätzungen zur antizipierten Lebensqualität verknüpft sind. Während nur ein befragter Arzt in einer sehr wahrscheinlichen schweren Behinderung des Kindes einen möglichen Grund für eine Therapiebegrenzung sah, sahen hierin die deutliche Mehrheit von vier der befragten Pflegekräfte einen möglichen Grund. Entsprechend formulierten drei der befragten Pflegekräfte, dass in manchen Fällen "zu viel behandelt" werde. Die Mehrheit der Ärzte sagte aus, eine Entscheidung für eine Therapiebegrenzung werde mit zunehmender Berufserfahrung eher abgelehnt. Hierfür ließen sich aus der Auswertung der Interviews mit den Ärzten drei Ursachen ableiten. Die durch Erfahrung belegte Gewissheit eine Therapiebegrenzung nicht widerrufen zu können wird als sehr prägendes Ereignis geschildert und führe auf ärztlicher Seite dazu, Therapiebegrenzungen eher abzulehnen als zu befürworten. Zudem nehme die Skepsis gegenüber gestellten Prognosen zu, da sich als sicher geltende Prognosen im Laufe des bisherigen Berufslebens immer wieder als falsch herausgestellt hätten. Drittens änderten sich Einschätzungen über die Lebensqualität eines Kindes mit einer Behinderung durch den Kontakt mit als lebensfroh eingeschätzten ehemaligen Patienten mit einer Behinderung und deren Eltern, auch wenn den befragten Ärzten nach eigenen Aussagen klar war, dass es sich hierbei um ein nicht-repräsentatives Patientenkollektiv handeln kann. Die Mehrheit der Probanden in allen Akteursgruppen gab an, dass Menschen mit Behinderung zu wenig gesellschaftliche Akzeptanz erfahren würden. Einzig die Mehrheit der befragten Ärzte sieht die Ursache hierfür in einer stark zunehmenden gesellschaftlichen Leistungsorientierung und einer damit einhergehenden Diskriminierung von in der Produktivität eingeschränkten Menschen. Als besonders schwerwiegende Folge einer Behinderung wurde die gesellschaftliche Exklusion genannt, die beispielsweise durch Bettlägerigkeit oder geistige Einschränkungen verursacht werde. Hervorgehoben wurde zudem eine vermutete gesellschaftliche Ausgrenzung der betroffenen Eltern, die mit einem Kind mit einer Behinderung gezwungen seien in “einer Seifenblase“ oder “Parallelwelt“ zu leben. Bei der Auswertung der Kriterien der zweiten Wertkategorie zeigte sich, dass die Mehrzahl befragter Probanden angab bei vielen Patienten bereits einen “eigenen Willen“ erkennen zu können. Dieser werde in der Folge als eine der Einflussvariablen auf die zu treffende Entscheidung für oder gegen die Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen in den Entscheidungsprozess einbezogen. Die besondere ethische Problematik, dem Neugeborenen einen "Willen" zu unterstellen, wird später im Rahmen der Diskussion aufgegriffen. 4 In die dritte Wertkategorie fallen Kriterien in denen die familiäre Situation zur Bestimmung des Wohles des Kindes berücksichtigt wird. Die Notwendigkeit dieses Einbezugs, wurde von allen Probanden des klinischen Personals betont. In der Praxis der Entscheidungsfindung sei es beispielsweise sehr wichtig, dem Vorhandensein starker psychischer und sozialer Ressourcen im Umfeld des Kindes Rechnung tragen zu können. Bei dieser Wertkategorie betreffenden Kriterien betonten einzig alle befragten Ärzte, dass der Einbezug dieser Kriterien durch das Kindeswohl begrenzt sein müsse. Im Anschluss an die Krankenhausbehandlung kann bei Folgeerkrankungen oder einer Behinderung des Kindes von einer hohen finanziellen Belastung durch Therapie- und gesteigerte Lebensunterhaltskosten sowie durch Einkommenseinschränkungen auf Seiten des direkten sozialen Umfelds ausgegangen werden. Während dieser finanzielle Aspekt von einigen befragten Müttern thematisiert, aber nicht als Einflussvariable im Entscheidungsprozess benannt wurde, wurde die hohe ökonomische Bedeutung der Behandlung Frühgeborener im Kontext eines solidarisch finanzierten Gesundheitswesens nur am Rande thematisiert. Sowohl bei allen befragten Müttern, als auch bei allen befragten Pflegekräften wurde der Wunsch nach der Befriedigung hoher Informationsbedürfnisse betont. Bei den Müttern war die Zufriedenheit mit dem Krankenhausaufenthalt ihres Kindes eng an diesen Aspekt gekoppelt. Dieses Ergebnis bestätigte sich in der parallel durchgeführten quantitativen Erhebung. Hier zeigte sich ein deutlich höherer signifikant positiver Zusammenhang zwischen “Zufriedenheit mit der Informationsvermittlung auf der Station“ und der gemessenen Gesamtzufriedenheit als bei dem Item “Zufriedenheit mit dem medizinischen Erfolg der Behandlung“. Auf Seiten der Pflegekräfte war die Zufriedenheit mit Entscheidungsprozessen in Bezug auf die Anwendung lebenserhaltener Maßnahmen eng an die Qualität der Informationsvermittlung durch das ärztliche Personal gekoppelt. Diskussion Eine Therapiebegrenzung als grundsätzlich mögliche Option wird in der Regel von keiner Akteursgruppe kategorisch im Vorhinein ausgeschlossen [26, 7, 23]. Analog zu anderen Untersuchungen wird der Wunsch der Eltern deutlich die Verantwortung für entsprechende Entscheidungen den behandelnden Ärzten zuzusprechen. Das befragte Pflegepersonal gibt in der Regel an, zu wenig in den Entscheidungsprozess einbezogen zu werden, sich aber einen stärkeren Einbezug zu wünschen [27]. In Bezug auf die Rolle der Eltern entsprechen die Einschätzungen der großen Mehrheit aller Befragten der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), nach der eine Entscheidungsautonomie der Eltern in einer solch belasteten Situation nicht vorausgesetzt werden kann und ihnen die Bürde der Verantwortung keinesfalls alleine übertragen werden sollte [3]. Jedoch stellen die Eltern die alleinigen gesetzlichen Vertreter des Kindes dar und sind somit verpflichtet, Entscheidungen durch ihre informierte Einwilligung zu tragen. Während die Aussage Entscheidungen zur Anwendung lebenserhaltender Maßnahmen“ im besten Interesse des Kindes“ treffen zu wollen, ebenso wie in vorliegender Untersuchung auch in internationalen Forschungssettings als zentrale Werthaltung befragter Probanden genannt wird, ist strittig ob das “best-interest-principle“ [21] als Hilfe in Entscheidungssituationen betrachtet werden kann oder letztlich nur auf rechtliche Standards ergänzt durch individuelle Wertvorstellungen zurückwirft [20, 30, 19]. In Deutschland gibt die maßgebliche Leitlinie der AWMF Empfehlungen zum speziellen Vorgehen der 5 Entscheider in Fragen der Therapiebegrenzungen und verweist dabei letztlich auf den notwendigen, an rechtlichen und ethischen Grundsätzen orientierten, Dialog der beteiligten Akteure. Dieser erscheint notwendig, um eine Distanz zu eigenen Werthaltungen zu ermöglichen und Entscheidungen über die gemeinsame Reflektion ethisch verantwortbar begründen zu können. Die Untersuchung zeigte, dass die Einschätzung der antizipierten Lebensqualität (erste Wertkategorie), insbesondere vor dem Hintergrund drohender Behinderung, innerhalb und insbesondere zwischen den Akteursgruppen, sehr unterschiedlich ausfallen kann. Verschiedene Entscheider können bei derselben Fallkonstellation zu verschiedenen Entscheidungen über die Durchführung einer Therapiebegrenzung gelangen [4]. Die Einschätzungen darüber, den Willen des Kindes als Entscheidungskriterium hinzuzuziehen, wurden in der zweiten Wertkategorie zusammengefasst und sind kritisch zu betrachten, da ein Wille des Kindes nicht vorhanden und ein mutmaßlicher Wille nicht ermittelbar ist [29, 2]. In der Möglichkeit einem Frühgeborenen dennoch einen Willen im Sinne eines starken, schwachen oder fehlenden Überlebenswillens zu unterstellen, könnte eine unbewusste Strategie zur Vermeidung der als sehr hoch eingeschätzten Verantwortungsbürde liegen [12]. Die in der dritten Wertkategorie gesammelten Kriterien zur Bestimmung des Wohles des Kindes über die Berücksichtigung der familiären Situation, sind in der Praxis durch das rechtlich fixierte Kriterium des Kindeswohls begrenzt. In den Fällen, in denen ein Entscheidungsspielraum für eine Therapiebegrenzung besteht, besitzt dieser Einbezug ein höheres Gewicht als außerhalb dieses Bereiches. Die Anerkennung einer grundsätzlichen Nicht-Ermittelbarkeit eines konkreten Willens des Kindes und das Zugeständnis, in Bezug auf Fragen nach dem “Wohl des Kindes“ zwangsläufig auf eigene Werthaltungen zurückgeworfen zu sein, bietet die Grundlage zur Bereitschaft, sich auf einen strukturierten und kommunikativ anspruchsvollen Entscheidungsfindungsprozess einzulassen. Über die gemeinsame Auseinandersetzung aller beteiligten Akteure wird eine Distanz zu den eigenen Werthaltungen möglich [3, 2]. Diese sollte durch einen strukturierten Dialog sichergestellt werden, so dass im Abwägungsprozess keine entscheidungsrelevanten Kriterien unberücksichtigt bleiben. Hierüber ist das bestmögliche, sich am Wohl des Kindes orientierende Behandlungsergebnis zu erzielen. Die vermeintliche Abkürzung, eine Entscheidungsfindung ausschließlich über die Zugrundelegung der eigenen Wertvorstellungen herzuleiten, kann durch die gemeinsame Reflektion ausgeschlossen werden. Es kann angenommen werden, dass Barrieren eines strukturierten Vorgehens im Entscheidungsprozess ihren Ursprung in den zu bewältigenden hohen Kommunikationsanforderungen zwischen den heterogenen Akteursgruppen zu finden sind [27, 8]. Eine zentrale Rolle spielt hierbei der Umgang mit Informationen und der Erfüllung von Informationsbedürfnissen Beteiligter [8, 9, 31]. Ausblick Sowohl in der direkten medizinischen Versorgung der Frühgeborenen als auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext besteht Handlungsbedarf in Form einer fortwährenden Anpassung der Rahmenbedingungen an den raschen medizinischen Fortschritt und den damit verbundenen Wandel. Eine systematische, ethisch begründete Entscheidungsfindung in der zunehmenden Zahl zu treffender Behandlungsentscheidungen bei Frühgeborenen an der Grenze zur Lebensfähigkeit sollte im Interesse aller beteiligten Akteure liegen und scheint auch vor dem Hintergrund der zu erwartenden Zunahme ökonomischen Drucks auf diesen 6 Versorgungsbereich erforderlich. Vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung von Entscheidungsprozessen zur Begrenzung oder Fortführung lebenserhaltener Maßnahmen bei Frühgeborenen, gilt es den Bereich der Kommunikation auf NICUs, auch im Hinblick auf das zentrale Element der Informationsvermittlung, zu untersuchen und so eine empirische Grundlage für Verbesserungen der Versorgungsstrukturen und damit der Qualität der medizinischen Behandlung gewinnen zu können, gerade für diese oft auch langfristig besonders vulnerable Patientengruppe. Das, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung ab Februar 2012 geförderte, Projekt: “Health Service Research in care of verylow-birth-weight-infants in NICUs - The impact of human and organizational factors on performance“ wird an gewonnene Erkenntnisse anknüpfen und im Rahmen einer ebenfalls interdisziplinären Analyse die Versorgungssituation auf 60 neonatologischen Intensivstationen in Deutschland erheben. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen dazu dienen, fundierte gesundheitspolitische und gesundheitsökonomische Entscheidungen treffen zu können und so einerseits Chancen nutzen und andererseits Grenzen in der neonatologischen Intensivversorgung wissenschaftlich begründet und klar abstecken zu können. 7 Quellen: [1] Allport, G. (1935): Attitudes. In: Murchison, C. (Hrsg.): Handbook of social psychology. Worcester: Clark University Press. S. 798-844. [2] Anderweit, S.; Licht, C.; Kribs, A.; Woopen, C.; Bergdolt, K.; Roth, B. 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