Thieme: Zoologie

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502
6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
terleukine, Interferon-γ sowie IGF1 (Insulin-artiger Wachstumsfaktor) wird die sogenannte
Gliose oder Glianarbe induziert.
6.4
6
Sinnesorgane und -systeme
Nervensysteme sind mit vielfältigen Nah- und Fernsinnen ausgestattet, die entweder mehr Bedeutung für die unmittelbare sensomotorische Umsetzung haben
oder aber aufgrund des größeren räumlichen Abstandes des Reizauslösers eher
für die weitere Planung wichtig sind. Die Körperinnervation unterscheidet sich
im Vergleich zu Sinnesorganen wie Auge, Ohr und Riechepithel vor allem in der
Organisation ihrer Afferenzen: Das phylogenetisch ältere spinothalamische System unterhält eine direkte Verschaltung auf zentrale Verarbeitungsstrukturen,
während die jüngeren Afferenzen in Rückenmark und Hirnstamm umgeschaltet
werden, bevor sie im Gehirn verarbeitet werden können. Lichtsinnesorgane
sind in so gut wie allen Tiergruppen vertreten. Die verschiedenen im Tierreich verwirklichten Augentypen sind ein eindrucksvolles Beispiel, wie sich im Laufe der
Evolution aus einfachen Hell-Dunkel-Rezeptoren hochauflösende komplexe Linsenaugen entwickelten.
6.4.1
Somatosensorisches System
Jede Sinneszelle und jedes Neuron, das Sinnesinformation verarbeitet, verfügt über
ein rezeptives Feld. Der Begriff wurde ursprünglich dazu benutzt, Ausschnitte von
Sinnesoberflächen zu beschreiben, deren Stimulation eine neuronale Antwort hervorruft. Der Begriff lässt sich aber auch für die Empfindlichkeit in abstrakten, nicht
räumlichen Reizdimensionen verwenden. Die Grundverschaltung aller somatosensorischen Afferenzen von Wirbeltieren besteht aus Rezeptoren und Ganglienzellen, die als erste zentrale Neurone die Signale zentripetal in das zentrale Nervensystem weiterleiten. Rezeptoren finden sich in der Haut, den Muskeln, Knochen
und Gelenkkapseln sowie allen inneren Organen und deren Hüllen mit Ausnahme
des Gehirns, das nur über eine Innervation seiner Hüllen und zuleitenden Gefäße
verfügt. Die Axone der meisten Afferenzen des Körpers verlaufen zunächst in peripheren Nerven, die meist nicht nur afferente, sondern auch efferente Fasern enthalten. Eine besondere Form der Innervation besteht für das Gesicht, das von einem
dreistämmigen Hirnnerv (N. trigeminus) versorgt wird, der zwar auch über ein besonderes Ganglion führt, dann aber direkt auf die sensorischen Kerne im Hirnstamm verschaltet ist. Periphere Nerven bestehen aus mehreren Faserbündeln,
die durch Hüllen aus Bindegewebe zusammengehalten werden (S. 405). Je näher
die Nerven am ZNS liegen, umso mehr Faserbündel sind zu Nerven zusammengefasst, die sich kurz vor dem Eintritt in das Rückenmark in Form von Geflechten (Plexus) in die Spinalnerven umsortieren, wobei oft Fasern aus verschiedenen peri-
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6.4 Sinnesorgane und -systeme
graue Substanz
503
Hinterhorn
wei§e Substanz
Hinterhornwurzel
Vorderhorn
Vorderhornwurzel
Spinalganglion
a
Fascilus gracilis
Fascilus cuneatus
Hinterstrangbahnen
Tr. spinocerebellaris
posterior
Tr. corticospinalis
lateralis
Tr. spinocerebellaris
anterior
Tr. rubrospinalis
Kleinhirnseitenstrangbahnen
Tr. reticulospinalis
Tr. spinothalamicus
lateralis
Tr. corticospinalis
anterior
Tr. oliviospinalis
b
Tr. vestibulospinalis
Tr. spinoolivaris
Tr. spinothalamicus
anterior
sensible Vorderseitenstrangbahnen
Abb. 6.6 Rückenmark. Im Querschnitt sind die äußere weiße und die innere graue Substanz
zu erkennen. Die weiße Substanz besteht aus markhaltigen Nervenfasern, die die Verbindungen über große Strecken herstellen. a Die schmetterlingsförmige graue Substanz besteht aus
Zellkörpern und marklosen Fortsätzen. In den Vorderhörnern der grauen Substanz liegen die
Zellkörper der efferenten Neurone, z.B. der Motoneurone. Die efferenten Fasern verlassen das
Rückenmark durch die Vorderwurzeln. Afferente Fasern treten über die Hinterwurzeln in das
Rückenmark ein. Die Zellkörper der sensorischen Fasern liegen nicht im Rückenmark selbst,
sondern außerhalb in den Spinalganglien. b Links: efferente (absteigende) Bahnsysteme,
rechts: afferente (aufsteigende) Bahnsysteme. Afferente und efferente Bahnen sind komplementär angeordnet und nur aus Gründen der Vereinfachung einseitig dargestellt.
pheren Nerven auf verschiedene Rückenmarkssegmente verteilt werden. Über die
Spinalganglien führen die Spinalnerven durch Öffnungen in den Wirbelbögen in
den Wirbelkanal, wo sie schließlich als vordere (motorisch) und hintere (sensorisch) Wurzel in das Rückenmark eintreten (Abb. 6.6). Nach Eintritt durch die hintere Wurzel kreuzen einige Fasern zur Gegenseite oder führen direkt in verschiedenen aufsteigenden Fasersträngen bis in den Hirnstamm oder, bei den phylogenetisch älteren Bahnen, sogar direkt bis zum Thalamus empor.
Aufsteigende Bahnsysteme unterscheiden sich nach ihren Zielen: Der phylogenetisch älteste ist der Vorderseitenstrang, in dem Axone verlaufen, die auf der
Höhe des Eintritts in das Rückenmark zur Gegenseite kreuzen und dann ohne Um-
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504
6
6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
schaltung bis zum Thalamus aufsteigen. Alle zentralen sensorischen und motorischen Verbindungen, auch die von den Seh- und Hörorganen wechseln zur Gegenseite und werden in der gegenüberliegenden Hirnseite verarbeitet. Der Vorderseitenstrang leitet die protopathischen Qualitäten: Schmerz und Temperatur. Der
etwas jüngere Kleinhirn-Seitenstrang enthält sowohl (weniger) gekreuzte als
auch (mehr) ungekreuzte Fasern, er zieht direkt zum Kleinhirn und dient als direkte
sensorische Informationsquelle für die Feinsteuerung der Motorik. Der phylogenetisch jüngste Hinterstrang leitet epikritische (Tastsinn, Vibration) und propriozeptive (Tiefensensibilität: Muskellänge und Gelenkstellung) Information und enthält ausschließlich ungekreuzte Fasern. Sie ziehen bis in die Hinterstrangkerne im
verlängerten Mark und kreuzen erst dann in Form des Lemniscus medialis (Schleifenbahn) im Hirnstamm auf die Gegenseite. Von dort gelangen sie über den Thalamus ins Endhirn, wo mehrere topographisch organisierte Repräsentationen der
Körperoberfläche existieren.
Das höchste Integrationszentrum für somatosensorische Information ist bei
Primaten die Inselrinde, die neben der Integration mit anderen Modalitäten Aufgaben für die Selbstwahrnehmung hat.
6.4.2
Mechanische Sinne
Das somatosensorische System verfügt über verschiedene mechanische Rezeptoren für Druck, Berührung, Vibration und Strömung sowie Rezeptoren für Schmerz
und Temperatur. Die z. T. sehr kurze Transduktionszeit der meisten Mechanorezeptoren (∼10 µs) legt nahe, dass die mechanischen Reize direkt auf die Ionenkanäle
wirken. Die Aufgaben von Mechanorezeptoren sind sehr vielfältig und reichen
von internen Messungen (Propriozeptoren) der Gewebespannung, Muskellänge
und Gelenkstellung und des Blutdrucks bis zu äußeren Reizen (Exterozeptoren)
wie Berührung, Druck, Gravitation, Strömung, Schall und Vibration. Außerdem unterscheidet man (nach ihrem Ursprung) epitheliale (sekundäre Sinneszellen, z. B.
Haarzellen) von ganglionären Rezeptoren (primäre Sinneszellen, z. B. freie Nervenendigungen, Haarsensillen).
Bei wirbellosen Tieren und Vertebraten besitzen Mechanorezeptoren eine Haarstruktur: Bei wirbellosen Tieren handelt es sich um das mehrzellige Haarsensillum
(s. u.), bei den Vertebraten um die Haarzelle. Durch Abwandlungen der Hilfsstrukturen werden sie in beiden Gruppen in sehr verschiedenen Sinnessystemen verwendet.
Bei Wirbeltieren sind Haarzellen bei der Transduktion sehr verschiedener Reize
beteiligt. Dazu gehören Strömung im Seitenlinienorgan der Fische, Gravitation im
Schwere- und Gleichgewichtssinn und Schall im Gehörsinn. Haarzellen sind epithelialen Ursprungs (sekundäre Sinneszelle) ohne eigenen axonalen Fortsatz. Am
apikalen Ende sind modifizierte Mikrovilli, die Stereovilli, und ein echtes Cilium,
das Kinocilium. Das Kinocilium ist an dem eigentlichen Transduktionsprozess
nicht beteiligt und fehlt z. B. in den Haarzellen im Hörsinnesorgan. Die Mikrovilli
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6.4 Sinnesorgane und -systeme
Tip Links
Kinocilie
Stereovilli
Mitochondrium
Basalkšrper
Myosin-Motorkomplex
K+
K+
a
505
Synapse
Neuron:
afferentes
efferentes
b
gespannt
Actinfilamente
mechanoelektrischer
K+-/Ca2+-Kanal
6
Gallerte
Aktivierung
c
RuheaktivitŠt
Hemmung
afferentes
Neuron
Abb. 6.7 Die Stereovilli sind durch Tip Links verbunden. a Die sekundären Sinneszellen
stehen mit afferenten und efferenten Synapsen in Kontakt. b Bei einer länger anhaltenden
Auslenkung adaptieren die Sinneszellen. Das Motorprotein Myosin verschiebt den Kanal entlang der Actinfilamente, wodurch die Tip Links entspannt und die mechanosensorischen
Kanäle geschlossen werden. c In Ruhe entstehen einzelne Aktionspotentiale (Ruheaktivität).
Bei Auslenkung in Richtung des Kinocilums wird das afferente Neuron aktiviert, bei Auslenkung in der anderen Richtung gehemmt.
einer Haarzelle, sie sind durch Actinfilamente versteift, besitzen unterschiedliche
Längen, wobei die dem Kinocilium unmittelbar benachbarten Stereovilli am längsten sind, während die kürzesten am weitesten vom Kinocilium entfernt sind. Die
Stereovilli sind mit den benachbarten Stereovilli durch Tip Links, Spitzenverbindungen, verbunden (Abb. 6.7).
Bei einer Auslenkung der starren Stereovilli werden an den Spitzen K+-/Ca2+-Kanäle mechanisch geöffnet. Der so ausgelöste Kationen-Einstrom depolarisiert die
Haarzelle. Die Tip Links zwischen den Stereovilli sind gespannt, d. h. bei einer Auslenkung reagieren alle Stereovilli gleichzeitig, sodass schon geringe Auslenkungen
für einen großen Kationen-Einstrom sorgen. Der Haarzellrezeptor besitzt eine gewisse Richtungsspezifität. Nur wenn die Sterovilli in Richtung auf das Kinocilium
ausgelenkt werden, wird die Haarzelle depolarisiert. Bei einer Scherung in die entgegengesetzte Richtung werden die Kanäle geschlossen und es erfolgt Hyperpolarisierung.
Die Haarsensillen bei wirbellosen Tieren mit Exoskelett sind anders gebaut als
die Vertebraten-Haarzelle. Ein Sensillum besteht aus fünf Zellen: Trichogenzellen
bilden den Schaft, Tormogenzellen den Sockel, das Neuron (primäre Sinneszelle)
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6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
506
Tubularkšrper
Chitinborste
(Seta)
Gelenk
Cuticula
Kappe
Dendrit
(Au§ensegment)
Lymphraum
tormogene
Zelle
Basalkšrper
Tight
Junctions
trichogene
Zelle
6
thecogene
Zelle
Gliazelle
a Cuticularborste
Axon
Sinneszelle
b campaniformes Sensillum
Endocuticulakugel
Spalte
RezeptorLymphraum
Rezeptorau§ensegment
Rezeptorinnensegment
Sinneszelle
c lyraformes Organ
d
tormogene Zelle
trichogene Zelle
thecogene Zelle
Abb. 6.8 Mechano- und Thermorezeptoren der Arthropoden. a Cuticularborste. Epithelzellen bilden Chitinfäden, in deren Basis ein oder auch mehrere Dendriten einwachsen. Die
Chitinfäden dienen als Hebel, die am Gelenk mit der Cuticula den mechanischen Reiz auf
das Außensegment der Sinneszelle übertragen. Das Außenglied gleicht einem starren Cilium.
Es bildet zur Kraftübertragung an die Chitinstrukturen des Gelenks den Tubularkörper aus besonders vielen Mikrotubuli aus. b Campaniformes Sensillum der Insekten. Überträger des mechanischen Reizes können in vielfältiger Weise abgewandelt werden, beispielsweise zu Kappen, Platten oder Stiften. c Das lyraforme Organ auf den Spinnenbeinen in der Nähe von Gelenken setzt sich aus über 20 Spaltsinnesorganen zusammen. Die Spaltsinnesorgane von
Spinnen sind so empfindlich, dass sie bei nur 10–25 Ǻ Auslenkung schon mit neuronaler Aktivierung reagieren. d Das Infrarotsensillum ähnelt einem campaniformen Sensillum, hier hat
sich die Kappe zu einer Endocuticulakugel umgewandelt, sie absorbiert Infrarotstrahlung
und dehnt sich in Bruchteilen von Sekunden aus, sodass der Tubularkörper komprimiert
wird. Mit den Infrarotsensillen können Käfer (z. B. Melanophila acuminata) kilometerweit entfernte Waldbrände lokalisieren.
ist von einer Begleitzelle (Thecogenzelle) und einer Gliazelle umgeben (Abb. 6.8a
und b).
Neben den Haarzellen besitzen Vertebraten noch weitere Mechanorezeptoren,
die jedoch einen völlig anderen Bau aufweisen.
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6.4 Sinnesorgane und -systeme
507
Der adäquate Reiz für die meisten Tastrezeptoren ist eine Verformung (Scherund Biegungskräfte), die nur wenige µm betragen muss. Die Tastempfindlichkeit
variiert erheblich für verschiedene Körperteile: Fühler oder Schnabel- und Schnauzenspitzen von wühlenden Säugern oder die Fingerbeeren von Primaten sind sehr
viel empfindlicher als z. B. die Rückenhaut. Die Tastempfindlichkeit kann beim
Menschen durch die 2-Punkt-Diskrimination quantitativ untersucht werden und
erreicht bis zu 200 Tastpunkte/cm2. Außerdem reagieren die meisten Organismen
sehr schnell auf Berührung, was voraussetzt, dass die Lokalisierbarkeit der gereizten Stelle sehr gut funktioniert. Hohe Empfindlichkeit muss auch die Schwimmblase von Fischen haben, wenn diese für die vertikale Orientierung verwendet werden kann.
Bei Wirbeltieren kann man verschiedene Tastrezeptoren unterscheiden, deren
verschiedene Hilfsstrukturen die Eigenschaften der Rezeptoren bestimmen: beginnend bei Nervenendigungen, die frei im Gewebe oder um Haar- oder Federwurzeln
liegen, wie bei Schnurr- (Vibrissen) und Nasenhaaren, über Endkörperchen (VaterPacini-Körperchen), die von Hüllzellen umgebene marklose Nervenendigungen
enthalten, bis hin zu noch spezialisierteren Anordnungen wie die Merkel-Scheiben
der Säuger und Meissner- und Ruffini-Körperchen bei Primaten (Abb. 6.9).
Tastrezeptoren reagieren entweder primär auf Beschleunigung und dann meist
schnell adaptierend oder phasisch oder aber sind langsam adaptierend, phasischtonisch und wirken als Proportional- bzw Intensitätsdetektoren.
Vibrissen sind für viele Tiere überlebenswichtige Sinnesorgane. Die nachwachsenden Tasthaare bestehen aus leblosem Material. Sie sind in einen speziellen Haarbalg eingebettet. In
der zweilagigen Haarbalgwand ist ein dünner Blutfilm, Blutsinus, der Bewegung auf die
zahlreichen freien Nervenenden in der Haarbalgwand überträgt. Auch bei im Wasser lebenden Arten kommen Vibrissen zum Einsatz, deren Haarfollikel von über 1000 Nervenfasern innerviert werden und deren Empfindlichkeit ausreicht, um hydrodynamische Spuren
von schwimmenden Fischen verfolgen zu können. Ein weiteres Beispiel sehr hoher Empfindlichkeit von Mechanorezeptoren sind die Spaltsinnesorgane von Spinnen (Abb. 6.8 c)
Der Vibrationssinn ist ein Spezialfall des Tastsinns und überträgt Information über
schwingende mechanische Reize. Er wird oft als Ergänzung zum Hören (S. 51) eingesetzt.
Strömung wird mithilfe von Haarzellen, deren Stereovilli häufig in eine Gallertkappe (Cupula) eingebettet sind, in elektrische Signale umgewandelt. Das Seitenlinienorgan von Aalen, Neunaugen, Fischen und Amphibien kann so empfindlich
sein, dass es Wasserbewegungen mit einer Amplitude von 10 nm rezipiert. Dazu
werden allerdings mehrere tausend Sinneszellen benötigt, die auf Rumpf und
Kopf verteilt sind. Ihre afferenten Nervenfasern sind spontan aktiv und antworten
proportional zur Reizstärke. Die Haarzellen in Seitenlinienorganen sind teilweise
auch von efferenten Fasern innerviert, die ähnlich wie im Ohr von Säugern die Aufgabe haben, die Empfindlichkeit der Rezeptoren zu steuern. Seitenlinienorgane
sind häufig in ein Epidermal- und ein Kanalsystem differenziert, wodurch in fließendem Wasser unterschiedliche Reizeigenschaften registriert werden, die bei
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6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
Epidermis
MeissnerKšrper
Corium
6
Subcutis
MerkelTastkšrper
RuffiniKšrper
HaarbalgRezeptor
PaciniKšrperchen
Abb. 6.9 Mechanorezeptoren in der menschlichen Haut. In der Tiefe und an der Oberfläche gibt es jeweils einen schnell adaptierenden Rezeptortyp, der dynamische Reize in guter
zeitlicher Auflösung codiert, und einen langsam adaptierenden, tonischen Rezeptor, der
mit besserer räumlicher Auflösung Druckreize codiert. Pacini-Körperchen in der Subcutis
sind Nervenendigungen, die von einer in Schalen angeordneten Lamellenkapsel eingehüllt
sind. Bei Reizung verschieben sich die Lamellen gegeneinander und dämpfen anhaltenden
Druck weg. Dadurch antwortet der schnell adaptierende Pacini-Rezeptor richtungsunspezifisch nur auf Druckbeschleunigungen im Frequenzbereich von 20 bis 1000 Hz mit einer
On- und Off-Antwort. Bei den langsam adaptierenden Ruffini-Körperchen verzweigen sich
Nervenenden in eine Bindegewebskapsel. Diese Rezeptoren antworten auf rasche Drücke,
aber auch auf Zug an der Haut. Die beiden oberflächlichen Rezeptortypen sind die schnell
adaptierenden Meissner- und die langsam adaptierenden Merkel-Körperchen.
der zentralen Verarbeitung benötigt werden. Seitenlinienkanäle können auch
Druckgradienten messen. Durch den Staudruck, der beim Anschwimmen von Objekten entsteht, können Fische bereits auf mehrere Zentimeter Entfernung die
Größe, Form und Oberflächenbeschaffenheit erkennen (Ferntastsinn).
6.4.3
Temperatur- und Infrarotsinn
Besonders gut ist der Temperatursinn beim Mensch untersucht. Die Rezeptoren für
Temperatur (Temperaturpunkte) liegen verstreut als freie Nervenendigungen
(ohne akzessorische Hilfsstrukturen) in der Haut, die Kaltrezeptoren dicht unter
der Epidermis und die Warmrezeptoren tiefer in der Unterhaut. Die Rezeptorzellen sind primäre Sinnesnervenzellen, deren Somata in den Spinalganglien des
Rückenmarks liegen. Die beiden Thermorezeptortypen überlappen in ihren Temperaturbereichen. Die Kaltrezeptoren registrieren Temperaturen zwischen etwa
18 und 35 °C, die Warmrezeptoren Temperaturen im Bereich zwischen 30 und
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6.4 Sinnesorgane und -systeme
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42 °C. Unterhalb von 18 °C antworten die Kaltrezeptoren nicht mehr, die Warmrezeptoren oberhalb von 42 °C. Die Rezeptoren senden fortwährend Signale und
ändern ihre Entladungsfrequenz sprunghaft (überschießende Erregung), wenn es
zu einer schnellen Änderung der Temperatur kommt. Durch Temperaturen über
42–45 °C werden Schmerzrezeptoren aktiviert, sie werden deshalb als Schmerz
wahrgenommen. Weitere Thermorezeptoren liegen beim Menschen im Bereich
des Hypothalamus. Es handelt sich dabei um Propriozeptoren, die die Temperatur
des Blutes messen und der Regulation und Kontrolle der Körpertemperatur dienen.
Maximal empfindlich ist der Temperatursinn bei Arthropoden. Thermotaktische
Orientierung spielt z. B. für Insekten, die Blut von Warmblütern saugen, bei der
Wirtsfindung eine wichtige Rolle.
Infrarotrezeptoren kommen in Gruben- und Lippenorganen von Schlangen und
in Sinnesgruben von Käfern vor. Das Grubenorgan enthält eine 15 µm dünne
Membran, die von Fasern des N. trigeminus innerviert ist. Die Empfindlichkeit ist
für Infrarotstrahlung mit einer Wellenlänge von 1 bis 3 µm, also im kurzwelligen
Infrarotbereich, am höchsten. Die freien Nervenendigungen enthalten sehr viele
Mitochondrien, deren Proteine die Infrarotstrahlen absorbieren, wodurch Ca2+
aus den Mitochondrien freigesetzt wird und ein Ca2+-abhängiger Ca2+-Kanal die
Zellmembran depolarisiert. Die Rezeptoren signalisieren schnelle Temperaturänderungen, die bei der Klapperschlange nur 0,003°C betragen müssen, um detektiert
zu werden. Bei Käfern handelt es sich teilweise um Mechanorezeptoren, die schon
nach 2 ms Strahlungswirkung ansprechen (Abb. 6.8d).
6.4.4
Schmerz (Nozizeptoren, Verarbeitung, Pharmakologie)
„Schmerz ist eine unangenehme Sinnesempfindung, die mit körperlicher Schädigung verbunden ist oder die so beschrieben wird, als ob sie mit einer Schädigung
verbunden wäre“. Diese Definition der internationalen Gesellschaft zum Studium
des Schmerzes zeigt, dass Schmerzwahrnehmung und -empfindung sehr schwer
zu objektivieren ist. Schmerz wird durch freie Nervenendigungen rezipiert (Nozizeption, lat. nocere: schaden) und über ein hochspezifisches arbeitsteiliges System
in die zentralen Verarbeitungsstrukturen übertragen. Für die Schmerzwahrnehmung spielen aber nicht nur afferente Bahnen eine Rolle, sondern das zentrale
Opioidsystem ebenso wie Rückverbindungen vom Gehirn zu den ersten Umschaltstellen im Rückenmark. Bei allen Säugetieren und Vögeln gibt es schmerzverarbeitende Systeme.
Die rezeptiven Eigenschaften von Nozizeptoren werden in drei Gruppen unterteilt:
– Rezeptoren für starke mechanische Reize, mit hoher Schwelle, die langsam adaptieren, durch Aδ-Fasern vermittelt werden und Schutzreflexe auslösen,
– polymodale Nozizeptoren, die durch schädigende mechanische, thermische und
chemische Reize aktiviert werden,
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6
6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
– schlafende Nozizeptoren, die im gesunden Gewebe überhaupt nicht zu aktivieren sind, sondern nur erwachen, wenn entzündliche Prozesse ablaufen.
Zusätzlich gibt es besondere Rezeptoren für Juckreize, die vor allem durch Histaminfreisetzung vermittelt werden. Substanzen, die nach Gewebsschädigung Entzündungsreaktionen hervorrufen, nennt man noxische Entzündungsmediatoren.
Dazu gehören ATP und K+. Bradykinin (S. 906) stimuliert nicht nur Nozizeptoren,
sondern aktiviert auch Phospholipase A und fördert so die Produktion von Prostaglandin E2, dessen Synthese aber auch durch Thrombin und Serotonin aus aktivierten Thrombocyten stimuliert wird. Die nicht steroidalen Antiphlogistika (Entzündungshemmer, wie Acetylsalicylsäure) wirken schmerzreduzierend, indem sie die
Cylcooxigenase, ein Schlüsselenzym der Prostaglandinsynthese, hemmen.
Auf Rezeptorebene ist noch viel unbekannt. Die Transduktion erfolgt ionotrop oder metabotrop. Für mechanische Reize scheint es dehnungsempfindliche Ionenkanäle zu geben. Die
meisten Nozizeptoren enthalten einen unspezifischen Kationenkanal TRPV1 (früher als
Capsicain-Rezeptor bezeichnet). Chemosensitive Nozizeptoren sind großenteils polymodal,
d. h. sie sind nicht nur chemisch, sondern auch thermisch aktivierbar. Viele der oben erwähnten Entzündungsmediatoren wirken über G-Proteine, wobei die Proteinkinasen
dann Ionenkanäle phosphorylieren und somit ihre Empfindlichkeit im Sinne einer Sensibilisierung verändern.
Perzeptuell werden zwei Qualitäten von Schmerz unterschieden, die sich durch
die Eigenschaften der vermittelnden Fasern erklären lassen: Hell stechend und
schnell (Aδ-Fasern) sowie dumpf brennend und langsam (C-Fasern, Abb. 6.10a).
Bevor die afferenten Fasern in das dorsale Horn der grauen Substanz des Rückenmarks eintreten, verzweigen sie sich in Kollateralen, die in Form des Lissauer-Trakts
ein oder zwei Rückenmarkssegmente auf- oder absteigen. Im dorsalen Horn kontaktieren sie die 2. Neurone der Schmerzbahn (second order neurons), wobei es
vom peripheren Fasertyp abhängt, in welcher der 10 Schichten (I–X, nach Rexed)
der grauen Rückenmarkssubstanz dies geschieht: C-Fasern innervieren Neurone
der Schichten I und II (Substantia gelantinosa), während Aδ-Fasern ihre Signale
über Glutamat und Neuropeptide an Zellen der Schichten I und V und evtl. auch
IV übertragen.
Die Axone der 2. Neurone der Schmerzbahn verlassen die graue Substanz ventral und kreuzen durch die Commissura alba zur Gegenseite. Die Axone der Schicht I
(und II) steigen im Tractus spinothalamicus lateralis bis in den medialen (MD) und
posterolateralen Thalamus (VPI, VM) auf und werden dort auf die 3. Neurone der
Schmerzbahn verschaltet, die dann die rostrale Inselrinde und das vordere Cingulum innervieren, wo die affektiven und unangenehmen Empfindungen von
Schmerzsignalen verarbeitet werden. Die Axone der tieferen spinalen Schichten
IV und V kreuzen ebenfalls, aber steigen im Tractus spinothalamicus anterior
zum lateralen Thalamus (VPL, VPI, CL) auf, werden dort auf thalamocorticale Neurone umgeschaltet, die zur primären (SI) und sekundären somatosensorischen
Hirnrinde (SII) projizieren, um diskriminative und lokalisierende Aspekte der
Schmerzinformation zu verarbeiten (Abb. 6.10b).
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6.4 Sinnesorgane und -systeme
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a
SchmerzintensitŠt
Aδ
C
1. Schmerz
SI
2. Schmerz
1s
Stimulation
Cing.
CL
MD
6
Insula
SII
VPx
VMpo
NcI. raphe magnus
zentrales Hšhlengrau
NcI. tegmentalis lat.
NcII. cuneatus,
gracilis
MechanosensibilitŠt,
Propriozeption
Aδ, C
Aδ, C
Schmerz,
Temperatur,
viszerale
SensibilitŠt
hemmende Synapse
(Opioide)
Tractus spinothalamicus anterior
IV
V
VI
zum
Vorderseitenstrang
b
Hinterstrang
Tractus spinothalamicus lateralis
LissauerI
Trakt
Laminae
II
nach Rexed
III
Hinterhorn im
RŸckenmark
Aβ
Abb. 6.10 Schmerzbahn. a Schmerzqualität
und Zeitverlauf der Empfindung. b Auf- (rot
und blau: schmerzleitende Fasern; grün: somatosensorische Fasern) und absteigende (lila. efferente schmerzmodulierende Fasern) Verbindungen des Schmerzsystems. VMpo: Pars posterior des Ncl. ventromedialis. (Nach Duale
Reihe Physiologie, Thieme Verlag, 2010.)
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6
6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
Die Innervation des Gesichtes erfolgt vorrangig durch den V. Hirnnerv (N. trigeminus), aber auch durch Fasern, die mit den Ganglien des VII. (N. facialis), IX. (N.
glossopharyngeus) und X. (N. vagus) Hirnnervs assoziiert sind. Die afferente Weiterverschaltung erfolgt über die entsprechenden sensorischen Kerne dieser Hirnnerven und von dort nach Kreuzung zur kontralateralen Hirnseite über dieselben
Thalamuskerne zur Hirnrinde.
Für viszerale Afferenzen (Eingeweideschmerz) ist die Trennung zwischen Vorderseiten- und Hinterstrangbahnen nicht so eindeutig wie für somatosensorische
Afferenzen. Head’sche Zonen sind Abschnitte der Körperoberfläche, auf die Eingeweideschmerzen projiziert werden. Sie beruhen auf der Mehrfachverwendung von
spinothalamischen Projektionsneuronen für sowohl viszerale als auch somatische
Afferenzen.
Für das Verständnis der absteigenden Kontrolle über die Weiterleitung von
Schmerzsignalen war es von besonderer Wichtigkeit, verschiedene Strukturen
des Mittelhirns elektrisch und pharmakologisch zu stimulieren. Dazu gehören
das „zentrale Höhlengrau“ des Mittelhirns, der „Parabrachialkern“ (neben den
Armen des Kleinhirns), Locus coeruleus, der dorsale Raphekern und die medulläre
Formatio reticularis. Diese Kerne senden efferente Axone ins Hinterhorn (Schichten I–VI), wo sie durch Steuerung der Aktivität von Interneuronen die Übertragung
zwischen peripheren Afferenzen (C- und Aδ-Fasern) und spinothalamischen Zellen
durch präsynaptische Hemmung drosseln können. Aber die Modulation der Weiterleitung von Schmerzsignalen verfügt noch über einen wichtigen zweiten lokalen
Mechanismus, der die Grundlage der „Gate Control“-Theorie des Schmerzes bildet:
Aktivierung von mechanosensitiven Afferenzen (Aβ-Fasern), durch starkes
Drücken oder Reiben benachbarter Hautbezirke kann die wahrgenommene
Schmerzintensität stark reduzieren, weil diese Afferenzen ebenfalls exzitatorisch
auf hemmende Interneurone verschaltet sind, die direkt die Aktivität der
spinothalamischen Projektionsneurone reduzieren. Opiate und endogene Opioide
wirken sowohl auf die deszendierenden Projektionskerne (Abb. 6.10) als auch
direkt auf spinale Interneurone.
6.4.5
Elektrischer und magnetischer Sinn
Es gibt Fische mit starken und schwachen elektrischen Organen. Stark elektrische
Fische wie Zitteraale haben umgestaltete Schwanzmuskeln, die mehrere tausend
Elektroplaxen, also Einheiten zur extrazellulären Spannungserzeugung, enthalten.
Diese sind teilweise seriell verschaltet und können auf diese Weise bis zu 1000 V
und, bei allerdings niedrigerer Spannung (∼60 V) beim gefleckten Zitterrochen,
bis zu 50 A Strom erzeugen. Solche Organe werden als Waffe, vor allem zum Beutefang, verwendet. Bei den schwach elektrischen Fischen werden in der Schwanzregion Spannungen von einigen Volt gemessen, was nur zu Kommunikation und Ortung eingesetzt werden kann. Diese schwachen elektrischen Signale können nur in
Süßwasser, dessen Leitfähigkeit meist weit unter 100 µS liegt, zum Einsatz kom-
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6.4 Sinnesorgane und -systeme
513
men. Je niedriger die Leitfähigkeit, umso weiter können sich die elektrischen Felder
ausdehnen.
Die Orientierung mittels elektrischer Signale könnte eine Anpassung an Leben
in trüben Gewässern darstellen. Aktive Elektroorter erzeugen mit ihren elektrischen Organen selbst elektrische Felder, deren Änderung sie detektieren. Man unterscheidet zwei Großgruppen: Mormyriden sind afrikanische Süßwasserfische,
die bis zu einige 100 pulsförmige Entladungen pro s erzeugen. Gymnotiden, südamerikanische Süßwasserfische, erzeugen sinusförmige elektrische Entladungen
zwischen 20 und 4000 Hz.
Passive Elektroortung führen Rochen, Haie, Aale, Welse, einige Lungenfische
sowie Schnabeltiere und Ameisenigel durch. Fische wie Katzenhaie verwenden
Elektroortung, um gut getarnte Beutetiere auszumachen, z. B. im Schlick versteckte
Schollen, indem sie die elektrischen Felder von Herzschlag und Muskelbewegungen detektieren.
Das Prinzip der biologischen Feldmessung beruht auf Elektrosensoren, die in
Vertiefungen (ampulläre Organe) oder Hohlräumen (tuberöse Organe) der Haut
liegen und sich ursprünglich vom Seitenlinienorgan ableiten, was sich auch darin
zeigt, dass sie vom VIII. Hirnnerv, dem N. statoacusticus, innerviert werden. Bei
den ampullären Organen (z. B. Lorenzinische Ampulle des Katzenhais) befinden
sich sekundäre Sinneszellen am Grund eines gallertgefüllten Ganges, dessen
Lumen wie bei einem Ausführungsgang einer Drüse mit Epithel bedeckt ist.
Durch die hohe Leitfähigkeit der Gallerte kann sich eine hohe elektrische Spannung
zwischen der Hautoberfläche und den Rezeptorzellen aufbauen. Die Rezeptoren
der ampullären Organe sind tonische Rezeptoren, die niederfrequente Felder (bis
∼40Hz) mit wenigen µV/cm-1 detektieren können. Sie dienen der passiven Elektroortung. Bei den tuberösen Organen ist anstelle des gallertgefüllten Ganges ein
Pfropfen aus locker gepackten, durch leitende Desmosomen gekoppelten epithelialen Zellen, vorhanden, die wie eine Linse die Spannungsgradienten auf die Sinneszellen fokussieren. Die Rezeptoren der tuberösen Organe sind im Gegensatz zu
denen der ampullären Organe nur kapazitiv mit dem Außenmedium gekoppelt,
weswegen sie vorzugsweise phasisch auf lokale Änderungen von mehreren mV/
cm-1 hochfrequenter, selbsterzeugter Felder (10 Hz bis mehrere kHz) reagieren.
Sie dienen der aktiven Elektroortung. Die Frequenz der selbsterzeugten Signale
kann zur Vermeidung von Interferenzen mit Signalen von herannahenden Artgenossen schnell verändert werden.
Magnetfeldabhängige Fortbewegung ist bei Bakterien und auch bei Wirbellosen (Planarien,
Schnecken, Langusten) bekannt. Bei Insekten kann die Ruhelage, die Orientierung von Bauten (Kompasstermiten) und die Präzision des Schwänzeltanzes der Bienen magnetfeldabhängig sein. Die Mechanismen zur Orientierung mithilfe des Erdmagnetfeldes sind bisher
nur sehr unvollständig untersucht. Magnetitkristalle (Fe3O4), die in magnetotaktischen Bakterien (
Mikrobiologie) und einigen Algen für die Ausrichtung im Magnetfeld der Erde
verantwortlich sind, hat man auch in Vögeln, Fischen und Bienen nachgewiesen. Bei Vögeln
konnte man durch experimentelle Manipulation des Magnetfeldes regelhafte Änderungen
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514
6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
ihrer Orientierung beobachten. Bei einigen Arten ließ sich sogar nachweisen, dass die Magnetorientierung genetisch determiniert ist und nicht erlernt werden muss, im Gegensatz zu
anderen Orientierungsstrategien. Außerdem wurde beobachtet, dass die Magnetwahrnehmung von der Wellenlänge des verfügbaren Lichts abhing, was darauf schließen lässt, dass
photobiochemische Prozesse beteiligt sein könnten.
6.4.6
6
Vestibuläres System
Schwerkraft wird grundsätzlich mithilfe von Statolithen erfasst, die über Scherkräfte Haarzellen reizen.
Bei wirbellosen Tieren sind die Schweresinnesorgane vielfach blasenartige
Strukturen, Statocysten, in denen Statolithen auf Sensillenpolstern liegen. Bei
einer Verlagerung des Statolithen kommt es zu einer Auslenkung des Außensegments und damit Reizung der Sinneszelle. Als Statolithen dienen Kalkstatholithen,
Sandkörner oder Chitinkügelchen.
Bei den Wirbeltieren befinden sich die Schweresinnesorgane im Labyrinth im
Innenohr (Abb. 6.11). Im Utriculus und Sacculus lagert ein Kalkstatolith auf einem
Haarzellenpolster, der Macula. Bei einer Verlagerung des Statolithen werden die
Stereovilli abgebogen. D. h. in den Statolithenorganen löst nicht die vertikale
Druckkomponente des Reizes ein Signal aus, sondern die horizontale Komponente,
d. h. Scherkräfte, durch die die Stereovilli bei Lageänderung ausgelenkt werden.
In den Bogengängen des Labyrinths liegen die Drehsinnesorgane. Das Bogengangsystem des Labyrinthes lässt sich phylogenetisch vom Seitenlinienorgan ab-
Drehsinnesorgan
Ampullen
BogengŠnge
Corti-Organ
Hšrsinnesorgan
Cochlea
Sacculus
Schweresinnesorgan
Utriculus
a
Statolith
Cupula
b
Tektorialmembran
afferentes
Neuron
Abb. 6.11 Labyrinth. a Im Labyrinth des Innenohrs sind Dreh-, Schwere und Hörsinnesorgan
lokalisiert. b Die Haarzellen sind zur Perzeption der verschiedenen Reize mit unterschiedlichen akzessorischen Strukturen ausgestattet.
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6.4 Sinnesorgane und -systeme
515
leiten. Die drei Bogengänge stehen senkrecht aufeinander, kugelige Auswölbungen
bilden die Ampullen, in denen die eigentlichen Sinnesorgane, die Cristae, liegen
(Abb. 6.11). Die Fortsätze der Haarzellgruppe sind hier ebenfalls in eine gallertige
Kappe (Cupula) eingebettet. Bei Drehbewegungen in einer Bogengangsebene bleibt
die Endolymphe in dem betreffenden Bogengang aufgrund ihrer Massenträgheit
zurück, während die Haarzellen, die auf der Wand des Bogenganges sitzen, mit diesem bewegt und die in die Cupula eingebetteten Stereovilli der Haarzellen ausgelenkt werden. Da die Relativbewegung nur in der Beschleunigungs- oder Abbremsphase auftritt, werden anhaltende Drehbewegungen nicht registriert. Schweresinnes- und Drehsinnesorgane werden zum Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan) zusammengefasst.
Somatisches Nervensystem: Ist für Funktionen in Wechselwirkung mit der Außenwelt zuständig, Vorgänge zum Teil willkürlich und bewusst gesteuert.
adäquater Reiz: Reiz, auf dessen Transduktion eine Sinneszelle spezialisiert ist. Geringe Reizintensität ist ausreichend, um die Reizschwelle zu überwinden. Bei einem
inadäquaten Reiz kann in seltenen Fällen infolge hoher Reizstärke ebenfalls eine
Reizantwort erfolgen.
Haarzelle: Mechanorezeptor der Vertebraten. Sekundäre Sinneszelle mit apikalen
Stereovilli und einem Kinocilium (nicht im Innenohr), Spitzen der Stereovilli sind
durch Tip Links verbunden; sind an der Transduktion im Seitenlinienorgan der Fische,
am Schwere- und Gleichgewichtssinn und am Gehörsinn beteiligt.
Haarsensillen: Haarförmige Rezeptoren der Arthropoden.
Scolopidium: Mechanorezeptor bei Arthropoden, der sich vom Haarsensillum ableitet, jedoch kein Haar ausbildet.
Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan): Drehsinnesorgan in den Bogengängen,
Schweresinnesorgan: Utriculus und Sacculus mit Statolith.
Nozizeption: Schmerzwahrnehmung, bewahrt den Organismus vor Schädigungen,
kann durch Reizformen sehr unterschiedlicher Natur hervorgerufen werden.
6.4.7
Auditorisches System
Hörsinnesorgane sind im Tierreich nur bei Tetrapoden, bei einigen Fischen und Insektengruppen z. B. Grillen zu finden, d. h. sie sind viel weniger weit verbreitet als
Sehorgane. Schallsignale können aus großer Entfernung wahrgenommen werden
(Fernsinn) und dienen meist der innerartlichen Kommunikation, werden aber
auch zur Orientierung herangezogen. Fledermäuse und Delphine besitzen ein
Echoortungssystem, bei dem (Ultra-)Schallsignale ausgesendet und die Echos zur
Orientierung verwendet werden.
Physikalisch sind Schallwellen Druckwellen, die sich über schwingende Trägermedien wie Luft und Wasser ausbreiten. Wenn sich Schallwellen von einer Schallquelle ausbreiten, verdichten sich die Trägermoleküle periodisch in Ausbreitungsrichtung (longitudinal) und verdünnen sich wieder. Eine Schallwelle lässt sich
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6
6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
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140
Schmerzschwelle
120
Schalldruckpegel (dB)
6
durch mehrere Schallgrößen charakterisieren. Die Frequenz ist die Häufigkeit der
periodischen Druckänderungen pro Sekunde (Hz), sie ist für die Wahrnehmung
der Tonhöhe ausschlaggebend. Je höher die Frequenz, desto höher wird ein Ton
wahrgenommen. Neben der Frequenz ist der Schalldruck für die Hörwahrnehmung entscheidend. Er wird in Pascal (1 Pa= 1N/m2) gemessen und bestimmt die
Lautstärke, mit der ein Schallereignis wahrgenommen wird.
Wie laut ein Ton gehört wird, hängt zusätzlich von der subjektiven Schallwahrnehmung und von der Frequenz ab. Als Maß der subjektiven Schallwahrnehmung
wurde daher der Schalldruckpegel eingeführt. Als Bezugspunkt wird die Hörschwelle gesunder junger Erwachsener gewählt, d. h. der notwendige Schalldruck,
bei dem im Schnitt ein Ton mit einer Frequenz von etwa 1000 Hz gerade noch wahrgenommen wird, und der mit 2×10–5 Nm–2 (Po) festgesetzt wurde. Einheit des relativen Messsystems ist das Dezibel. Die Hörleistung wird als Vielfaches der so festgelegten Hörschwelle angegeben.
Schalldruckpegel (dB SPL, Dezibel sound pressure level) = 20 log PPxo [dB].
Ein Schallreiz mit P = 2×10–5 Nm–2 hätte danach einen Schalldruckpegel von 0 dB
SPL. Bei einem Schallreiz von 100 dB SPL beträgt P das Hunderttausendfache des
Referenzreizes. Als Schmerzgrenze für den Menschen gelten abhängig von der Frequenz 90–130 dB SPL. Eine Schädigung des Gehörs erfolgt allerdings schon etwa ab
90 dB. Solche Werte werden in Diskotheken durchaus überschritten.
Bei gleichem Schalldruck werden zumindest in einem bestimmten Bereich Töne
niedrigerer Frequenz leiser wahrgenommen als Töne höherer Frequenz. Die größte
Empfindlichkeit hat das menschliche Gehör in einem Bereich von 2–5 kHz, was sich
in einer Hörschwellenkurve zeigen lässt, bei der man die Hörbarkeit einzelner Frequenzen überprüft (Abb. 6.12). Bei Tieren weichen die Frequenzbereiche, die ein-
Unbehaglichkeitsschwelle
100
80
60
40
Hauptsprachbereich
20
0
Hšrschwelle
P0
20
31,5 63
125
250
500 1000 2000 4000 8000
16000
Frequenz (Hz)
Abb. 6.12 Hörschwellenkurve. P0 entspricht dem Schalldruck, bei dem ein Ton bei 1000 Hz
gerade noch wahrgenommen wird.
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6.4 Sinnesorgane und -systeme
Tympanalmembran
tormogene Zelle
trichogene Zelle (Kappenzelle)
Wandrippen
Kappe
thecogene Zelle
Cilium
Dendrit
Lymphraum
Basalkšrper
517
Abb. 6.13 Scolopidium
im Tympanalorgan der
Grille.
Gliazelle
Sinneszelle
zelne Arten wahrnehmen, oft erheblich von dem des Menschen ab. Fledermäuse
und Delphine, z. B. aber auch die meisten anderen Säugetiere, hören Ultraschall.
Bei Insekten liegen die Hörorgane, Tympanalorgane, an sehr unterschiedlichen
Stellen des Körpers. Bei Grillen und Laubheuschrecken sitzen sie in den Tibien der
Vorderbeine, bei Feldheuschrecken und Zikaden bzw. manchen Schmetterlingen
am Rumpf. Eine verdünnte Region der Cuticula bildet das Trommelfell, Tympanum.
Auf der Rückseite liegt eine Tracheenblase, sodass die Membran beidseitig von Luft
umgeben ist und ungehindert schwingen kann. Das Tympanum ist mit Rezeptorzellen, Scolopidien, besetzt, die der Transduktion dienen (Abb. 6.13). Die Hörorgane
der Grillen, Zikaden und Heuschrecken sind Druckempfänger. Die vom Körper abstehenden Antennengeißeln der Mücken nehmen dagegen die Luftbewegung wahr,
d. h. die aufgrund der Schallwelle gerichteten Bewegungen der Luftmoleküle. Die
Geißelschwingung überträgt sich auf die als Johnston-Organ ausgebildeten Scolopidien. Über diese Bewegungsdetektoren erkennt eine männliche Mücke ein herannahendes Weibchen anhand des Flugtons mit einer Frequenz von 380s–1. Hörhaare
als Bewegungsdetektoren sitzen auch auf den Cerci vieler Insekten.
Das Ohr der Wirbeltiere besteht aus mehreren Anteilen (Abb. 6.14): Ein Außenohr mit Ohrmuschel, die der Schallaufnahme und der Lokalisation einer Schallquelle im Raum dient, ist allerdings nur bei den Säugetieren ausgebildet. Das Mittelohr ist nach außen durch das Trommelfell abgeschlossen. In dem luftgefüllten
Raum übertragen die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel die
Schwingungen des Trommelfells auf das flüssigkeitsgefüllte Innenohr. Bei dem direkten Übergang würden über 90 % der Schallenergie durch Reflexion verloren
gehen. Eine wichtige Funktion des Mittelohrs ist daher die eines mechanischen Verstärkers. Die Verstärkung erfolgt einerseits durch die Hebelwirkung der Gehörknöchelchenkette und andererseits durch das Flächenverhältnis (Druck = Kraft/Fläche)
des Trommelfells (50 mm2) zum kleinen ovalen Fenster (4 mm2). Die beiden Mecha-
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6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
Au§enohr
Mittelohr
Innenohr
ovales Fenster
Hammer
SteigbŸgel
BogengŠnge
Amboss
Hšrnerv
(N. vestibulocochlearis)
Šu§erer
Gehšrgang
Vorhof
Schnecke
6
Trommelfell
Paukenhšhle
Ohrmuschel
rundes
Fenster
Eustachische
Ršhre
Abb. 6.14 Ohr des Menschen.
nismen kompensieren den Energieverlust bei der Übertragung Luft-zu-Lymphflüssigkeit fast vollständig.
Das Innenohr enthält das Labyrinth, das aus Gleichgewichtsorgan und Schnecke
(Cochlea) mit dem eigentlichen Hörsinnesorgan, dem Corti-Organ, besteht. Die
Schnecke besteht aus drei übereinander liegenden Kanälen: Scala tympani, Scala
media und Scala vestibuli. Sie sind durch dünne Membranen voneinander getrennt.
Scala tympani und Scala vestibuli sind am äußeren Ende der Schnecke durch das
Schneckenloch (Helicotrema) miteinander verbunden. Sie enthalten Perilymphe,
die Scala media ist mit Endolymphe gefüllt. In ihr befindet sich das Hörorgan.
Frequenzkodierung der Cochlea
Vom ovalen Fenster ausgehend breiten sich die Schwingungen des Schallsignals in
Form einer Wanderwelle entlang der Scala vestibuli in Richtung Helicotrema aus
(Abb. 6.15). Die Ausbreitungsgeschwindigkeit entlang der Basilarmembran und
die Wellenlänge nehmen dabei ab, während die Amplitude zunimmt. An einer
Stelle auf dem Weg zum Helicotrema kommt es zu einer maximalen Auslenkung
der Membran, sodass der Druck auf die Scala tympani übertragen wird. Je nach
der Frequenz der Schallwelle liegt dabei das Schwingungsmaximum der Wanderwelle an einer anderen Stelle. Die Stelle, an der es zur Maximalauslenkung
kommt, hängt von der Breite und Elastizität der Basilarmembran, d. h. von deren
Eigenfrequenz, ab. Nahe des ovalen Fensters ist die Basilarmembran fest und elastisch und (beim Menschen) nur 0,1 mm breit. Sie wird durch hohe Töne bis 16 000
Hz maximal ausgelenkt. Zum Helicotrema hin nimmt die Elastizität ab, die Membran wird weicher und breiter (am Helicotrema 0,5 mm), hier kommt es bei tiefen
Tönen (bis minimal 20 Hz) zur Auslenkung.
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6.4 Sinnesorgane und -systeme
Gehšrknšchelchen
Basilarmembran
ovales Fenster
rundes Fenster
519
Reissner-Membran
Scala media
Scala vestibuli
Scala tympani
Helicotrema
20 Hz
16 000 Hz
6
Scala
vestibuli
Reissner-Membran
Scala media
innere Haarzellen Tektorialmembran
(Rezeptoren)
(Deckmembran)
Šu§ere
Haarzellen
Stria vascularis
Scala tympani
0,5 mm
Spiralganglion
(1. Schaltstation der Hšrbahn)
0,05 mm
Hšrnerv
Basilarmembran
Deiterzellen
Abb. 6.15 Cochleaquerschnitt und Corti-Organ. (Aus Duale Reihe, Phsyiologie, Thieme
Verlag, 2010 und Wehner, Gehring, Thieme Verlag, 2007.)
Das Corti-Organ besteht aus der Basilarmembran, auf der etwa 25 000 Haarzellen, umgeben von Stützzellen, sitzen. Jede Haarzelle trägt etwa 50–120 Stereovilli.
Die apikalen Enden der Stereovilli berühren die gallertige Tektorialmembran.
Wenn die Basilarmembran ausgelenkt wird, verschiebt sich die Tektorialmembran
und damit werden die Stereovilli der Haarzellen geschert. Diese Scherung ist der
adäquate Reiz für die Sinneszellen und führt zur Transduktion.
Die Haarsinneszellen bilden mit den benachbarten Epithelzellen Tight Junctions
aus, so dass nur die Stereovilli mit der Endolymphe der Scala media in Kontakt ste-
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6 Nervensysteme: Entwicklung, Organisationsebenen und Subsysteme
hen. Während die Ionenzusammensetzung der Perilymphe der Ionenzusammensetzung anderer Extrazellulärflüssigkeit entspricht, enthält die Endolymphe eine
hohe K+-Konzentration und eine niedrige Na+-Konzentration. Da die Zusammensetzung der Endolymphe in etwa derjenigen des Zellinnenraums entspricht, besteht ein K+-Gleichgewichtspotential von etwa 0 mV. Wenn durch Auslenkung
der Tektorialmembran die K+-Kanäle geöffnet werden, fließt K+ nur deswegen in
die Zelle, weil es eine Potentialdifferenz zwischen Endolymphe (+80 mV) und Zellinnerem (–70 mV) gibt. Durch diese Depolarisation kommt es zu einem Ca2+-Einstrom, der zur Freisetzung von Glutamat führt, wodurch die afferenten Nervenfasern erregt werden.
Innere und äußere Haarzellen haben unterschiedliche Funktionen bei der
Schalltransformation. Die Reizaufnahme erfolgt vor allem durch die inneren Haarzellen. Den äußeren Haarzellen, die auch von efferenten Fasern aus dem oberen Olivenkomplex (S. 521) innerviert sind, wird hingegen die Funktion zugeschrieben,
durch aktive Zellbewegungen die Schwingungseigenschaften des Corti-Organs zu
beeinflussen. Sie verstärken die Wanderwelle im Bereich des Schwingungsmaximums, indem sie zusätzliche Schwingungsenergie einbringen. Diese wird durch
potentialabhängige oszillierende Kontraktionen eines spannungsabhängigen kontraktilen Proteins (Prestin) in den Haarzellen verursacht. Dadurch können sich
scharfe Maxima der Wanderwelle ausbilden, die der Frequenzunterscheidung zugrunde liegen. Die Funktion der efferenten Verbindungen zu den äußeren Haarzellen besteht im Einstellen der Empfindlichkeit des Corti-Organs: Schutz vor sehr
lautem Schall, Verbesserung des Verhältnisses von Nutz- und Störsignal und Erzielen hoher Empfindlichkeit während der frühen ontogenetischen Entwicklung.
Durch die Auslenkung der Basilarmembran werden die Haarsinneszellen, die auf
der Basilarmembran angeordnet sind, gereizt. Hohe Schallfrequenzen erregen
Haarzellen an der Basis der Cochlea, niedrigere Schallfrequenzen Haarzellen an
der Schneckenspitze. In der Cochlea erfolgt auf diese Weise also eine Frequenzcodierung aufgrund des Ortes auf der Basilarmembran, an dem die Haarzellen bei
einer bestimmten Frequenz am stärksten gereizt werden. Man spricht von einer
Frequenz-Orts-Transformation und bezeichnet die Organisation der Cochlea als
tonotop. Im Hörsystem erfolgt die Tonhöhen- oder Frequenzcodierung also direkt
im Sinnesorgan. Wegen dieser einfachen tonotopen Organisation führte der Einsatz
von Cochlea-Implantaten schnell zum Erfolg.
Hörbahn der Säugetiere
Die Verarbeitung akustischer Reize beginnt bei Wirbeltieren erst im ZNS
(Abb. 6.16). Das Corti-Organ und der Hörnerv, dessen Zellkörper (1. Neuron der
Hörbahn) im Ganglion spirale sitzen, übertragen Aktivität proportional zur mechanischen Schwingung. Die erste Station im ZNS (2. Neuron der Hörbahn) sind
die Nuclei cochleares (ventralis und dorsalis), von denen der ventrale Kern auch Fasern an die nächste Umschaltstation derselben Seite (ipsilateral) schickt, der dor-
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