Klassifikationssysteme psychischer Störungen Das Kapitel V der ICD-6 schien für den Gebrauch in den USA als ungeeignet, da Störungen Klassifikatorische Diagnostik wie Demenz, Anpassungsstörungen und einige Persönlichkeitsstörungen fehlten. Dies gab Es gibt zwei anerkannte Klassifikationssysteme. Das Diagnostische und Statistische den Anstoß für die Entwicklung des DSM-I (1952) und die APA wurde ermächtigt, ein Manual Psychischer Störungen (DSM) herausgegeben von der American Psychiatric alternatives Klassifkationssystem zur ICD zu entwickeln, welches amerikanischen Association (APA) und das Kapitel V der Internationalen Klassifikation der Krankheiten Bedürfnissen (Kapitel V der ICD), herausgegeben von der WHO (World Health Organisation). Das DSM Klassifikationssystem der US Armee. Ein Entwurf des ersten DSM-I wurde ausgewählten liegt mittlerweile in der vierten Version vor. Die ICD liegt in der zehnten Version vor, wobei Mitgliedern der APA zur Evaluation zugesandt, die anhand eines Fragebogens das System sie ursprünglich nur somatische Krankheiten klassifizierte und erst ab der sechsten Version beurteilten und zu überwiegend positiven Urteilen gelangten (93% begrüßten das psychische Störungen in einem eigenen Kapitel aufgenommen wurden. Die beiden Klassifikationssystem). Nach der Überarbeitung dieses Entwurfes erschien das DSM-I Klassifikationssysteme wurden von ihren Anfängen her parallel entwickelt. Dem DSM liegt 1952. Die zweite Version des DSM wurde 1965 in Auftrag gegeben, mit der klaren eine stärker forschungsorientierte Akzentuierung zugrunde, während man sich bei der Vorgabe, sich möglichst nah an der ICD-8 anzulehnen, ohne amerikanische Bedürfnisse zu WHO besonders darum bemühte, kulturübergreifende Diagnosen zu beschreiben. vernachlässigen. Rechnung trug. Die erste Version stützte sich sehr auf das DSM-II und ICD-8 erschienen noch ohne Berücksichtigung der Forderung Stengels nach Historischer Hintergrund des DSM und der ICD klaren Definitionen als Grundlage von Klassifikationen. Erst in der ICD-9 (1975) und im Die Hintergründe des DSM können bis in das Jahr 1840 zurückverfolgt werden, als in den DSM-III USA ein Bedarf an statistischem Material zum Ausmaß psychischer Störungen entstand diagnostischer Kriterien und notwendige und hinreichende Merkmale für die Diagnose einer und man daraufhin die Frage nach der Verbreitung von ”Idiotie/Geistesstörung” in die Störung festgelegte und damit zu einer operationalisierten Diagnostik überging. Wie schon Volkszählung dieses Jahres aufnahm. Die Volkszählung des Jahres 1880 enthielt dann die Entwicklung der Vorgängerversionen erfolgte auch die Entwicklung von ICD-9 und schon 7 Kategorien psychischer Störungen. Diese frühen Vorläufer der heutigen DSM-III wieder in einem Abstimmungsprozess der jeweiligen Komitees von WHO und APA. Statistischen und Diagnostischen Manuale Psychischer Störungen verfolgten rein Neu war, dass ab dem DSM-III zunehmend Wert auf eine empirische Validierung der statistische und epidemiologische Fragestellungen. An Psychotherapie dachte damals Diagnosen gelegt wurde, ein Aspekt der bis dahin vernachlässigt wurde. In der Umsetzung kaum jemand. (Ach doch, Sigmund Freud machte gerade erste Versuche in Wien.) sah dies so aus, dass 14 Komitees (task forces) mit Forschern und Fachleuten für das Nach dem zweiten Weltkrieg entstand in den USA dann erstmals in größerem Umfang die jeweilige Themengebiet gebildet wurden, die sich regelmäßig in Diskussionsforen trafen, Notwendigkeit, auch nicht hospitalisierte Personen mit psychischen Störungen zu um diagnostische Kriterien zu entwickeln. Diese Arbeitsgruppen versuchten ihre klassifizieren, da Veteranen des zweiten Weltkrieges unter diversen psychischen Vorschläge größtenteils auf Forschungsergebnisse zu stützen, gaben Felduntersuchungen Störungen litten, für die kein Klassifikationssystem vorlag. Die Armee und die mehr Gewicht und forderten Kliniker über Fachzeitschriften auf, sich an der Entwicklung Veteranenadministration entwickelten daraufhin ein umfassendes Klassifikationssystem des DSM-III zu beteiligen. Auf diesem Weg sollte die Grundlagen für möglichst reliable und psychischer Störungen, welches später die Grundlage der Entwicklung des ersten DSM valide Diagnosen geschaffen werden. bildete. 1993 erschien die ICD-10, 1994 das DSM-IV. Das Hauptaugenmerk lag weiterhin darauf, Erst die sechste Ausgabe der ICD, die 1948 erschien, enthielt auch einen Teil zur alle Entwicklungen und Entscheidungen empirisch überprüfbar und nachvollziehbar zu Klassifikation psychischer Störungen: das Kapitel V der ICD. Die ICD-7 erschien 1955, machen und Neutralität bezüglich ätiologischer Vorstellungen zu bewahren. Letzteres jedoch in wenig veränderter Fassung. Die geringe Resonanz in den Mitgliedstaaten der führte z.B. dazu, dass die stark psychoanalytisch geprägte Unterscheidung von Neurosen WHO auf die Taxonomie der ICD-6 und der ICD-7 führte dazu, dass man sich bei der WHO und Psychosen nicht mehr auftaucht. für eine grundlegende Überarbeitung einsetzte, die der britische Psychiater Stengel Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Entwicklung der Diagnosesysteme von übernahm. Dieser kritisierte die ungenaue Beschreibung der Diagnosen und schlug einer typologischen zu einer operationalisierten Diagnostik und von der Vernachlässigung erstmalig vor, klare Definitionen zur Grundlage der klinischen Diagnosestellung zu machen. von Reliabilitäts- und Validitätsgesichtspunkten zu einer konsequenten empirischen Daraufhin wurde die Entwicklung des ICD-8 vorangetrieben. (1980) wurden diese Anregungen aufgenommen, indem man explizite Fundierung und Testung der Diagnosekriterien verläuft. Hinzu kommt eine deutliche Differenzierung der Diagnosen und ihrer Kriterien. Die Entwicklung der Diagnosesysteme verlief und verläuft aber nicht nur kontinuierlich. Sie spiegeln auch die dominierenden Sichtweisen psychischer Störungen ihrer Zeit wider. ICD-10 DSM-IV 10 Oberkategorien + 1 Restkategorie 16 Oberkategorien + 1 Restkategorie Manche Störungen tauchten in einer Version auf, in der nächsten waren sie nicht mehr zu finden, in der übernächsten Version dann aber doch wieder zu klassifizieren. (So geschehen mit der Diagnose „Narzistische Persönlichkeitsstörung“). F0 Die Hauptaufgabe in der Entwicklung neuer Versionen der Klassifikationssysteme Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen psychischer Störungen wird auch weiterhin darin bestehen, die für die jeweilige Diagnose relevanten Merkmale zu definieren, sie in geeigneter Form zu ordnen, zu erfassen und ggf. zu gewichten, um so zu einer möglichst präzisen und handhabbaren Beschreibung psychischer Störungen zu gelangen. Die Anwendung von ICD und DSM Beide Klassifikationssysteme sind so angelegt, dass die Diagnose einer Störung anhand des Vorliegens bestimmter Symptomkomplexe (Syndrome) und Psychische Störungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors Delir, Demenz, Amnestische und andere kognitive Störungen F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen F2 Schizophrenie , schizotype und wahnhafte Störungen Schizophrenie und andere psychotische Störungen F3 Affektive Störungen Affektive Störungen bestimmter Angststörungen Verlaufskriterien erfolgt. Der Begriff Störung bezeichnet einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten und es gibt eindeutige Kriterien, Somatoforme Störungen die erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Störung diagnostiziert wird. Die Störungskategorien sind rein deskriptiv. Für beide Klassifikationssystem gilt, dass die F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Anpassungsstörungen Diagnose einer Störung nur für solche Symptome gestellt wird, die als klinisch bedeutsam eingeschätzt werden. Dies bedeutet, dass nur Symptome relevant sind, die ein Leiden oder eine Beeinträchtigung in der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit Dissoziative Störungen hervorrufen. Eßstörungen Das DSM Name: Diagnostic and statistical Manual of mental disorders F5 Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen Herausgeber: American Psychiatric Association (APA) Schwerpunkt: Forschungsorientierte Akzentuierung Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen oder Faktoren Schlafstörungen (z.Teil) Persönlichkeitsstörungen (Achse II) Die ICD Name: Sexuelle und Geschlechtsidentitätsstörungen International Classifikation of Diseases , Chapter V Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V der ICD Herausgeber: World Health Organisation (WHO) Schwerpunkt: Entwicklung kulturübergreifender Diagnosen F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Vorgetäuschte Störungen Störungen der Impulskontrolle F7 Intelligenzminderung Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder der Adoleszenz diagnostiziert werden (zum Teil) Störungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors sind vorrangig zu klassifizieren, Geistige Behinderung (Achse II) muss ausgeschlossen werden, dass die Symptome (z.B. Wahnvorstellungen) auf den Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder der Adoleszenz diagnostiziert werden (zum Teil) Genuss psychotroper Substanzen oder auf körperliche Ursachen zurückgehen. Lernstörungen Diagnosestellung, so dass der Kliniker die Angaben zur Dauer von Symptomen nur als d.h. dass sie erst ausgeschlossen werden müssen, bevor die Symptome einer anderen Kategorie zugeordnet werden. Bevor z.B. die Diagnose einer Schizophrenie gestellt wird, Diagnostischen Leitlinien geben Anzahl und Gewichtung der Symptome an, die zur Stellung einer sicheren Diagnose nötig sind. Es verbleibt jedoch eine gewisse Flexibilität bei der Richtwerte betrachten darf und eine Diagnose auch dann stellen kann, wenn die F8 Entwicklungsstörungen Kommunikationsstörungen Zeitkriterien nicht eingehalten sind, er aber aufgrund der vorliegenden Symptome und seiner Erfahrungen zu dem Schluss kommt, dass die Diagnose sicher ist. Sind alle Kriterien Störungen der motorischen Fertigkeiten vollständig erfüllt, dann gilt die Diagnose als sicher. Eine unsichere Diagnose, aufgrund des Fehlens bestimmter Informationen kann als „vorläufig“ oder „Verdacht auf“ gekennzeichnet Tiefgreifende Entwicklungsstörungen werden. Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder der Adoleszenz diagnostiziert werden (zum Teil) F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend Störungen der Aufmerksamkeit, der Aktivität und des Sozialverhaltens kann auf fünf Achsen abgebildet werden. Fütter- und Eßstörungen im Säuglings- oder Kleinkindalter Ticstörungen F9 Das DSM zeichnet sich durch eine multi-axiale Diagnostik aus. Die Störung des Patienten Nicht näher bezeichnete psychische Störungen Die fünf Achsen des DSM-IV Achse I Achse II Achse III Achse IV Achse V Aktuelle klinischen überdauernde Medizinische psycho-soziale und Globale Erfassung des Störungen Störungen Krankheitsfaktoren umweltbedingte Funktionsniveaus o PK-Störungen mit Relevanz für die Probleme o Kontinuum von o Geistige psychische Störung psychischer Andere Klinisch relevante Probleme Die in der Tabelle grau unterlegten Störungen werden psychotherapeutisch behandelt. Für diese Störungen wurden dann auch von klinischen Psychologen diagnostische Hilfsmittel Behinderung Gesundheit bis o auffallende PK- Krankheit Züge o psychische, soziale und berufliche entwickelt, die die Diagnose erleichtern. Funktionsbereiche Beschreibungen Beschreibungen im ICD Probleme GAF: Skala zur im DSM DSM Das DSM-4 enthält o mit der Haupt- globalen Erfassung Krankheitsfaktoren oder auf den Genuss psychotroper Substanzen zurückgehen von nicht oder Beschreibung im Anhang die bezugsgruppe des Funktionsniveaus substanzinduzierten oder medizinischen Störungen. Substanzinduzierte Störungen und der auffallenden wichtigsten med. o im soz. Umfeld Skala von 1 bis 100 Beide Klassifikationssysteme unterscheiden psychische Krankheiten, die auf medizinische PK-Züge Krankheitsfaktoren o in Ausbildung/ 0= ständige Gefahr Auch im ICD ist man dazu übergegangen eine multidimensionale Diagnostik zu mit ICD Beruf sich selbst oder ermöglichen. Folgende Achsen sind dabei vorgesehen: Kodierungen o in finanzieller andere zu verletzten Hinsicht oder keine Fähigkeit, Die Achsen der ICD-10 o beim Zugang zu minimale persönliche Ia psychiatrische Diagnosen Kapitel V der ICD-10 Ib somatische Diagnosen alle anderen Kapitel der ICD-10 II soziale Funktions- Kurzfassung der DisabilityAssessment Scale der WHO einschränkungen - individuelle soziale Kompetenzen Krankenversorgung Hygiene aufrecht zu o mit dem Rechts- erhalten system 100= hervorragende (Delinquenz) Leistungsfähigkeit o andere psycho- - berufliche Funktionsfähigkeit soziale Probleme - familiäre Funktionsfähigkeit - soziales Verhalten III Ein Beispiel einer multiaxialen Beurteilung nach DSM-4 besondere psychosoziale - Entwicklung in der Kindheit Situation - Erziehungsprobleme - Schwierigkeiten in der sozialen Umwelt Achse I 296.23 Achse II 301.6 Achse III keine Major Depression, Einzelne Episode - besondere berufliche Probleme Alkoholmissbrauch - juristische und andere psychosoziale Schwierigkeiten Dependente Persönlichkeitsstörung - Familienanamnese psychiatrischer Störungen Jede Achse liefert Informationen über die Person, so dass erst durch eine multi-axiale Diagnostik die Störung in ihrer Komplexität erfasst werden kann und so wichtige Hinweise Achse IV drohender Arbeitsplatzverlust Achse V GAF=35 für die Behandlung gewonnen werden können. Es ist z.B. wichtig zu wissen, ob die familiäre Situation einer Person derart belastet ist, dass vorrangig soziale Unterstützungsmaßnahmen notwendig sind. Auch das Vorliegen einer leichten geistigen Behinderung ist für die Planung des Therapieprozesses bedeutsam und erfordert besondere therapeutische Methoden. Im oben angegebenen Beispiel wäre für die therapeutische Arbeit die Information, dass die Person unter einer dependenten Persönlichkeitsstörung leidet sehr wichtig, da davon auszugehen ist, dass diese überdauernde Störung im Zusammenhang mit dem Alkoholismus steht und einen Ansatzpunkt für das therapeutische Vorgehen bietet. Was bringt die Klassifikatorische Diagnostik mit ICD und DSM? Der Nutzen deskriptiver klassifikatorischer Diagnostik wurde lange bestritten. Einer der Hauptkritikpunkte war, dass die Etikettierung von Störungen noch keine Informationen für deren Behandlung beinhaltet und es im ungünstigsten Fall sogar zu einer negativen Stigmatisierung der Betroffenen kommen kann. Diese Kritik war lange besonders schlagkräftig, da klassische Therapieformen wie Psychoanalyse, Gesprächspsychotherapie und Gestaltpsychotherapie nicht mit störungsspezifischen Therapiemethoden arbeiteten. Die Wirkung dieser Therapieformen kann eher mit der Wirkung eines Breitbandantibiotikums verglichen werden, da das therapeutische Vorgehen im Prinzip bei allen Störungen gleich ist. Für die deskriptive Klassifikation spricht, dass sie die Kommunikation über Störungen durch eine einheitliche und klar definierte Nomenklatur erleichtert. Dieses Argument greift aber nur, wenn das Klassifikationssystem so angelegt ist, dass tatsächlich unterschiedliche Kliniker oder Forscher zu übereinstimmenden Diagnosen bei gleicher Symptomatik kommen. Die Reliabilität der Diagnosen nach ICD und DSM hängt aber nicht nur von Klassifikationssystemen selbst, sondern in erster Linie von den Methoden der Informationserhebung ab, die zur Diagnosestellung eingesetzt werden.