Rasche Hilfe in seelischer Not

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Portrait
Rasche Hilfe in seelischer Not
Der Klinik- und Notfallseelsorger Jochen M. Heinecke
Ein Motorradfahrer wacht nach der
Operation auf, beide Beine wurden amputiert. Wer sagt ihm das? Szenenwechsel: Der Notarzt hat eine halbe
Stunde lang vergeblich versucht, einen
82-jährigen Mann in seiner Wohnung
wiederzubeleben. Wer bleibt bei der
Ehefrau, spricht mit ihr und tröstet sie?
In beiden Fällen ist die Hilfe des Klinikseelsorgers Jochen M. Heinecke gefragt. Pfarrer Heinecke arbeitet im Auftrag der evangelisch-lutherischen Landeskirche Thüringen als einer von vier
Seelsorgern für das Jenaer Uni-Klinikum
und ist zuständig für die Kinderklinik, die
Kliniken für Chirurgie und Neurochirurgie, die Intensivmedizin und die Notfallseelsorge.
Besonders die Notfallseelsorge liegt
Pfarrer Heinecke am Herzen. Den
„Dienst auf der Straße“ hat er vor sechs
Jahren als erster in Mitteldeutschland
eingeführt, nachdem durch seine Arbeit
auf der Intensivstation und aus Gesprächen mit betroffenen Notärzten deutlich
geworden war, dass es auch bei Noteinsätzen im häuslichen Bereich oder bei
schweren Verkehrsunfällen einen Bedarf für sofortige seelische Betreuung
von Verletzten, Angehörigen und Rettungskräften gibt. Gerade auf diesem
Gebiet sieht Heinecke seine Begabungen optimal umgesetzt: „Ich fühle mich
zu dieser Arbeit nicht berufen, aber ich
halte mich für geeignet, weil ich Situationen sehr schnell erfassen und angemessen reagieren kann.“
Alarmiert wird der Notfallseelsorger
von der zentralen Rettungsleitstelle der
Feuerwehr, wenn die Notärzte vor Ort
ihn angefordert haben. In den meisten
Fällen ist plötzlich ein Familienmitglied
zu Hause gestorben, aber auch zu psychischen Ausnahmesituationen wird
Pfarrer Heinecke gerufen. Nur etwa 25
Prozent der Einsätze betreffen Verkehrsunfälle. Die Arbeit des Seelsorgers
ist unspektakulär, findet eher im Stillen
statt, „da, wo niemand mehr hinschaut“. Pfarrer Heinecke bleibt, wenn
Notärzte und Sanitäter längst wieder
unterwegs sind.
„Meine Brust eignet sich zum Weinen.“ Dem Mann, der dies sagt, glaubt
man seine Worte sofort. Gut über zwei
Meter groß ist der 43-jährige Pfarrer und
nicht gerade schwächlich gebaut. Sein
Gesicht, seine Hände sind immer in Bewegung, und der neugierig verschmitzte Blick durch die Brille vermittelt Zuversicht und Optimismus. Eigenschaften,
die er für seine Arbeit dringend braucht.
Uni-Journal Jena 12/00
Pfarrer Jochen M.
Heinecke (re.) und
Dr. Herbert Freesemann am Krankenbett eines Patienten:
Der eine leistet die
ärztliche Betreuung,
der andere den seelsorgerischen Beistand.
Foto: Günther
Weinen, schreien, reden, schweigen –
auf Krisensituationen reagieren Menschen unterschiedlich. Allen gemeinsam
ist das traumatische Erlebnis.
Für Seelsorger Heinecke ist es zunächst wichtig, den Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind, er bietet
Solidarität an. „Darüber hinaus versuche
ich, Trittsteine zu finden, um aus dem
Chaos, dem Orientierungsverlust, den
der Mensch erleidet, wenn jemand ganz
plötzlich gestorben ist, wieder auf festen Boden zu kommen.“ Generell sieht
Heinecke keine Unterschiede darin, wie
sich Christen und ,Ungläubige’ in akuten Schocksituationen verhalten. Das
Leid ist zunächst einmal für alle gleich
groß, allerdings findet Pfarrer Heinecke
mit Christen leichter eine gemeinsame
Sprache. Neben der Bereitschaft zum
Gespräch gehört es auch zu seinen Aufgaben, durch Aussegnung oder andere
Riten das Abschiednehmen zu gestalten, Verwandte und Freunde zu verständigen und bei Bedarf professionelle
Hilfsorganisationen zu vermitteln.
Selbstverständnis und Motivation des
vierfachen Vaters in allen zu bewältigenden Krisensituationen haben ein kirchliches Fundament, basieren auf dem
Glauben daran, dass trotz allen momentanen Elends, da „noch mehr ist“, es immer weitergeht. „Gott kommt zu denen,
die in Not sind, er bringt Licht ins Dunkel. Ich bin nicht das göttliche Licht, aber
vielleicht der Laternenträger.“
18 Jahre Berufserfahrung als Pfarrer
und eine Zusatzausbildung in klinischer
Seelsorge geben Jochen M. Heinecke
die nötige Routine und Sicherheit. Aber
auch er muss sich schützen, Erlebtes
aushalten und verarbeiten. Dabei helfen
Gespräche mit Kollegen, in der Familie,
aber vor allem auch mit den an den Einsätzen beteiligten Rettungskräften und
Ärzten. Das ist ein wichtiger Erfahrungsaustausch, der beiden Seiten die Möglichkeit gibt, gesehenes Leid zu bewältigen.
Rund 100 Einsätze haben Pfarrer Heinecke und seine drei Kollegen aus dem
Notfallseelsorgedienst im Jahr, und sie
sind rund um die Uhr einsatzbereit. „Leider ist die Finanzierung dieses Dienstes
der Qualität und Professionalität, die wir
bieten, nicht angemessen“, bedauert
Heinecke. Es gibt keinen festen Etat,
drei der Notfallseelsorger arbeiten ehrenamtlich, und die Sachkosten, zum
Beispiel für die Alarmierung, die Fahrten
zum Einsatzort und die Ausrüstung müssen aus Spenden bestritten werden.
„Ohne einzelne Förderer aus der Klinik,
ohne die Aufgeschlossenheit und Unterstützung vieler Ärzte, vor allem aus dem
Bereich Notfall- und Intensivmedizin,
gäbe es den Dienst gar nicht“, sagt der
Pfarrer.
Dabei glaubt Heinecke, dass der Bedarf an Notfallseelsorge steigen wird,
solange die Gesellschaft fortfährt, den
Menschen in verschiedene Bereiche
aufzuspalten und deren Betreuung ausschließlich Spezialisten zu überlassen.
„Überflüssig wird unsere Arbeit erst
werden“, meint Heinecke, „wenn es
wieder Ärzte gibt, die Schamanen sind,
Medizinmänner, die den Menschen als
Ganzes betrachten können.“
Betina Meißner
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