18. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung 4. Juni 2014 Einführung Soll Technik den Menschen perfektionieren? Welche Technik darf im Menschen eingesetzt werden? Wo entstehen neue Abhängigkeiten, welche Ängste sind berechtigt? Die Verschmelzung von Mensch und Maschine steht beim 18. Berliner Kolloquium im interdisziplinären Brennpunkt. Die Daimler und Benz Stiftung lädt Experten aus Medizin und Neurowissenschaften, Technik und Recht sowie Ethik und Philosophie zum kritischen Diskurs. Vor dem Hintergrund transhumanistischer Entwicklungen nehmen sie einen Tag lang unter anderem Neuroimplantate und Eingriffe ins Gehirn unter ihre fachliche Lupe. Technische Geräte, die im menschlichen Körper implantiert und mit dem Nervensystem verbunden sind, eröffnen neue Dimensionen für moderne Diagnose- und Therapieverfahren. Sie bieten Aussicht auf Vorbeugung, Linderung oder Heilung, sogar bei bislang als hoffnungslos eingeschätzten Erkrankungen. Dabei haben die Wissenschaftler des Berliner Kolloquiums auch die Schattenseiten der Mensch-Maschine-Schnittstelle vor Augen: Dazu gehören die ungeklärten Fragen nach medizinischen Kriterien und rechtlichen Rahmenbedingungen, die Abschätzung von Nutzen und Risiken für den Betroffenen und nicht zuletzt unser Selbstverständnis als Menschen. MenschMaschine-Visionen. Technik, die unter die Haut geht 3 Schnittstelle Neuron & Prothese Thomas Stieglitz Neuroimplantate – Technische Systeme an der Material-Gewebe-Schnittstelle Technische Systeme zur Aufnahme elektrischer Signale und Stimulation von Nervenzellen stellen ein wesentliches Entwicklungsziel in einem relativ neuen Forschungsgebiet dar. So hat sich die Neurotechnik an der Schnittstelle von Medizin, Neuro- und Materialwissenschaften, Elektrotechnik, Maschinen­ bau und physikalischer Chemie entwickelt. Als Erfolgsgeschichte von Neuroimplantaten können Cochlea-Implantate zur Wiederherstellung des Hörsinns, Rückenmarkstimulatoren zur Behandlung chronischer Schmerzen und Dranginkontinenz sowie Tiefenhirnstimulatoren zur Behandlung der Symptome von Morbus Parkinson genannt werden. Durch die (neue) Entdeckung, dass weite Teile des menschlichen Nervensystems elektrisch beeinflussbar sind, hat die Neurotechnik seit circa zehn Jahren einen Entwicklungsschub erfahren. Erfolgreiche Beispiele dafür sind die Stimulation des Vagusnervs zur Epilepsietherapie und die Erweiterung der Krankheitsbilder, bei denen Tiefenhirnstimulation als Therapieoption gilt. Technische Entwicklungs- Prof. Dr. Thomas Stieglitz Universität Freiburg Institut für Mikrosystemtechnik Thomas Stieglitz studierte Elektrotechnik mit dem Schwerpunkt Biomedizinische Technik. Er promovierte 1998 und habilitierte sich 2002 an der Universität des Saarlandes. Von 1993 bis 2004 war er am Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik in St. Ingbert/Saar tätig und etablierte dort die Neuroprothetik als Forschungsrichtung. Seit 2004 4 18. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung grenzen werden derzeit jedoch bei der Wiederherstellung des Sehsinns über Retinaimplantate oder der Gedankensteuerung von Prothesen und Hilfsmitteln zur Kommunikation erreicht. Die wichtigsten Anforderungen: Der Körper darf das (Neuro-)Implantat und die Technik das Nervengewebe nicht schädigen oder gar Krankheiten auslösen. Die technischen Materialien müssen ihre Festigkeit und elektrische Isolationseigenschaft beibehalten – ohne vom Körper aufgelöst zu werden. Die Gehäuse für die Elektronik müssen über Jahrzehnte gasund wasserdicht sein, zugleich aber eine Vielzahl elektrischer Durchführungen aufweisen. Es werden Materialien, Fertigungsverfahren, Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten für eine langfristig funktionale, bidirektionale Nervengewebe-MaterialKopplung vorgestellt. Auch Fragen der Energieversorgung und Paradigmen zur Datenübertragung werden diskutiert, um die Wirkungsweisen unterschiedlicher Anwendungen mit ihren ganz spezifischen Besonderheiten vorzustellen. ◆ ist Stieglitz Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und leitet dort den Lehrstuhl für Biomedizinische Mikrotechnik an der Technischen Fakultät im Institut für Mikrosystemtechnik. Er ist Mitglied des Bernstein Centers Freiburg, des Exzellenzclusters BrainLinks-BrainTools und Miterfinder von 12 Patenten. Weiterhin ist Stieglitz Mitglied in der IEEE-EMBS, IFESS und der DGBMT im VDE. Er leitet dort den Fachausschuss Intelligente Implantate und Neuroprothetik und ist stellvertretender Fachgruppenleiter für Intelligente Implantate im Cluster MicroTEC Südwest. Er ist Mitgründer und Beiratsmitglied der Firma CorTec GmbH. Bernhard Graimann Von der Prothetik zur Neuroprothetik Einen Gegenstand zu ergreifen, ist ein komplexer natürlicher Vorgang. Das zentrale und periphere Nervensystem spielen dabei mit dem muskuloskelettalen System zusammen. Wie schwierig die Nachahmung dieses Systems ist, zeigt sich in der Prothetik. Die einschränkende Komponente ist hier die MenschMaschine-Schnittstelle – also der ansteuernde Teil eines Prothesensystems. Typischerweise werden Hand- oder Armprothesen durch myoelektrische Signale gesteuert, die durch die Kontraktion bestimmter Muskeln erzeugt und von Elektroden auf der Haut erfasst werden. Bei konventionellen Prothesen können darüber jedoch nicht mehrere Funktionen gleichzeitig gesteuert werden. Durch die Forschung wurden in den letzten Jahren insbesondere die Signalverarbeitung und invasive Methoden zur Erfassung myoelektrischer oder neuronaler Aktivität verbessert. Eine spezielle chirurgische Intervention, genannt Targeted Muscle Reinnervation (TMR), ermöglicht das selektive Umlenken von Nerven auf bestimmte Muskeln, die dann als Dr. Bernhard Graimann Otto Bock HealthCare GmbH Translational Research & Knowledge Management, Duderstadt Bernhard Graimann studierte an der Technischen Universität Graz in Österreich und schloss 1999 als Diplom-Ingenieur für Telematik ab. Im Jahr 2002 absolvierte er seine Promotion in den technischen Wissenschaften. Von 2002 bis 2006 arbeitete er in Graz als Postdoktorand im Laboratory of Brain-Computer Interfaces am Institute for Knowledge Discovery. Seine Habilitation und Lehrbefugnis für das biologische Verstärker der Nervensignale dienen. Dies erlaubt auch die myoelektrische Steuerung bei hohen Amputationsniveaus. Während die invasive Signalerfassung und die direkte Anbindung an das periphere Nervensystem noch einen weiten Weg bis zur klinischen Anwendung vor sich haben, versprechen TMR und moderne Signalverarbeitungsansätze eine schnellere kommerzielle Umsetzung. Zusammen mit dem Rehabilitation Institute of Chicago und der Medizinischen Universität Wien ist es der Otto Bock HealthCare GmbH gelungen, TMR in die klinische Anwendung zu bringen. Menschen, die einen oder beide Arme verloren haben, können durch diese Technologie wieder ein eigenständiges Leben führen. In Kooperation mit der Universitätsmedizin Göttingen wurde die Leistungsfähigkeit der Prothesensteuerung mittels moderner Signalverarbeitung verbessert. Damit ist nun auch eine intuitive und simultane Steuerung von multifunktionalen Prothesen zuverlässig möglich. ◆ wissenschaftliche Fach Angewandte Informatik erwarb er 2006. Seitdem lehrt er dort als Universitätsdozent. Nach seiner zweijährigen Zeit als Experienced Researcher der geförderten Marie-Curie-Maßnahme am Institute of Automation der Universität Bremen übernahm er von 2008 bis 2014 die wissenschaftliche Koordination für Neurotechnologie im Strategic Technology Management der Otto Bock HealthCare GmbH. Seit 2010 wirkt Graimann im Unternehmen als führender Experte für Neurotechnologie. In diesem Jahr übernahm er die Leitung des Translational Research & Knowledge Management. MenschMaschine-Visionen. Technik, die unter die Haut geht 5 Schnittstelle Ethik & Gesellschaft Christopher Coenen Human Enhancement: Historischer Hintergrund und aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen Aktuelle Anzeichen für die Entstehung einer neuen Qualität des Mensch-Artefakt-Verhältnisses, in der Humanes und Technologisches auch zum Zweck menschlicher Leistungssteigerung verschmolzen werden, befeuern die Debatte über das sogenannte Human Enhancement. Dieser Begriff bezeichnet die Steigerung menschlicher Leistungsfähigkeit oder eine Verbesserung der menschlichen Gattung – bis hin zu ihrer Überwindung bzw. Ablösung durch trans- oder posthumane Wesen. Menschsein ist seit jeher dadurch gekennzeichnet, dass Kultur unsere „zweite Natur“ ist. Technik gehört als zentrales Element dazu. Mittels Wissenschaft und Technik verbessern oder erweitern wir unsere natürlichen Begabungen und Fähigkeiten. Artefakte wie Brillen, Bücher, Medikamente, Fahrzeuge und zuletzt die digitalen Technologien haben uns von allen anderen Säugetieren abgehoben. Auch avancierte körperinvasive Technologien haben bereits eine längere Geschichte. Dennoch spricht einiges für die These, dass durch aktuelle naturwissenschaft- Christopher Coenen Karlsruher Institut für Technologie Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse Christopher Coenen ist seit 2003 wissenschaftlicher Mit­ar­ be­iter des mittlerweile zum Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gehörenden Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS). Zunächst am Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) und ab 2009 in Karlsruhe hat er als Diplom-Politologe an 6 18. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung lich-technische Entwicklungen menschliche Körperlichkeit („Haben“ eines Körpers) und Leiblichkeit („Leibsein“) grundlegend verändert werden. Angesichts dieser zu erwartenden Veränderung sollen vor dem Hintergrund der ideengeschichtlichen Entwicklung von Enhancement- und Cyborg-Visionen die heutigen Diskussionen sowie einzelne Körpermodifikationsvisionen und -praktiken reflektiert werden. Dazu wird auf die Geschichte des Transhumanismus eingegangen. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist er im Zuge verschiedener Konjunkturen von der Peripherie in das Zentrum des Wissenschafts- und Innovationssystems sowie des gesellschaftlichen Diskurses über Naturwissenschaft und Technik vorgedrungen. Der Transhumanismus hat den aktuellen Human-Enhancement-Diskurs stark geprägt. Es werden gesellschaftliche und politische Herausforderungen diskutiert, die sich aus den heutigen Zukunftsvisionen, wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und kulturellen Praktiken der Mensch-Maschine-Verschmelzung ergeben. ◆ zahlreichen ITAS-Projekten zu gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und philosophischen Aspekten neuer naturwissenschaftlich-technischer Felder und Themen mitgewirkt. Seine Tätigkeiten zum Thema „Human Enhancement“ um­ fassen unter anderem die Leitung eines Projekts im Auftrag des Europäischen Parlaments, die maßgebliche Mitwirkung im Projekt EPOCH (Europäische Kommission) und die Arbeit als zentraler Ansprechpartner des KIT für Medien und Öffent­ lichkeit. Coenen gibt die Springer-Zeitschrift „NanoEthics“ heraus und hat, auch international, zum Thema „Human Enhancement“ vielfältig publiziert und vorgetragen. Jens Clausen Verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Technik? Ethische und anthropologische Implikationen aktueller Neurotechnologien Fortschritte in den Neurowissenschaften eröffnen ein immer besseres Verständnis des menschlichen Gehirns. Durch die weitergehende Miniaturisierung mikroelektronischer Bauteile wird die direkte Verbindung zwischen Gehirn und Computern möglich. Neurotechnologien sind bereits seit einigen Jahren im klinischen Einsatz. Besonders bekannt sind CochleaImplantate zur Behandlung von Gehörlosigkeit und Elektroden zur Tiefenhirnstimulation. Erstere werden zur Stimulation des Hörnervs in das Innenohr implantiert. Bei der Tiefenhirnstimulation werden die Elektroden hingegen in eng umgrenzte Bereiche direkt ins Gehirn eingesetzt, um beispielsweise motorische Dysfunktionssymptome bei schweren Formen von Morbus Parkinson zu behandeln. Jüngeren Datums sind ableitende Verfahren wie der Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen zur Ansteuerung motorischer Neuroprothesen. Diese Geräte befinden sich derzeit im Übergang von der tierexperimentellen Grundlagenforschung zu ersten Einsätzen beim Menschen. Die neurotechnischen Innovationen Prof. Dr. Jens Clausen Universität Tübingen Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Jens Clausen studierte Biologie und Philosophie. Nach seiner Promotion über die Ethik des Klonens habilitierte er sich mit der Schrift „Technik im Gehirn: Ethische, theoretische und historische Aspekte moderner Neurotechnolo­ gien“ (Deutscher Ärzteverlag 2010). Als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeitete er in Freiburg zwischen 2002 und 2004 im Verbundprojekt zum Status des extrakorporalen werfen zahlreiche ethische Fragen auf, die von der Nutzen-Risiko-Abwägung und Informed Consent über die Auswahl der Probanden für die erforderlichen Versuche bis hin zu den geeigneten und ethisch vertretbaren Einsatzgebieten der Neurotechnologie reichen. Die künftige Etablierung moderner Neurotechnologien wird zudem eine Herausforderung für klassische Begrifflichkeiten und unser Verständnis des Menschen darstellen. Bereits jetzt ist abzusehen, dass die fortschreitende Annäherung von Mensch und Technik die Grenzen der aristotelischen Unterscheidung zwischen Natur und Technik mehr und mehr verschwimmen lässt. Wird die Technik ein Teil des Selbstkonzepts des Menschen, wenn sie ins Gehirn implantiert und funktional integriert wird? Welche Bedeutung hätte dies für unser Verständnis von moralischem Handeln, Zurechnungsfähigkeit, Verantwortung und Selbstbestimmung? Wird der Mensch durch Neurotechnologien gar zum Cyborg und müssten wir uns davor fürchten? ◆ Embryos am Zentrum für Ethik und Recht in der Medizin. Von 2004 bis 2008 leitete er die vom BMBF geförderte Nachwuchsgruppe „Zur Relevanz der Natur des Menschen“ an der Universität Freiburg. Clausen ist außerplanmäßiger Professor und Leiter der Arbeitsgruppe Neuroethik am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Eberhard Karls Universität Tübingen. Darüber hinaus ist er Mitglied des „Centre for Integrative Neuroscience“ und des „Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften“ sowie Geschäftsführer des „Klinischen Ethik-Komitees“ am Universitätsklinikum Tübingen. MenschMaschine-Visionen. Technik, die unter die Haut geht 7 Reinhard Merkel Neuroenhancement – Eingriffe ins Gehirn zur Verbesserung des Menschen In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind zahlreiche neurotechnische Methoden zur tiefen Intervention ins Gehirn und damit zugleich ins „Ich“ des Menschen entwickelt worden. Waren die Methoden zunächst allein therapeutischen Zielen verpflichtet, wurden die meisten von ihnen inzwischen jedoch auch als Möglichkeiten eines mentalen Enhancements erkannt – als Mittel zur Steigerung kognitiver, emotionaler und volitionaler Fähigkeiten bei gesunden Menschen. Verschiedene Formen der Hirnstimulation, technologische und biologische Hirnimplantate oder Brain-Computer-Interfaces ermöglichen schon heute profunde Veränderungen des Gehirns und damit der Persönlichkeit des Menschen. Nicht mehr ausgeschlossen erscheint in absehbarer Zukunft sogar ein Überschreiten der mentalen Gattungsgrenzen des Homo sapiens mittels neurotechnischer Eingriffe. Wollen wir eine solche Evolution des Menschen? Welche prinzipiellen Argumente dafür oder dagegen lassen sich erkennen? Welche Rolle sollte das Recht bei der Regulierung der Risi- Prof. Dr. Reinhard Merkel Universität Hamburg Institut für Kriminalwissenschaften Reinhard Merkel studierte Rechtswissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft. Nach zwei juristischen Staatsexamina promovierte er 1992 in München. Im Jahr 1996 habilitierte er sich in Frankfurt am Main zum Thema „Früh­ euthanasie. Ärztliche Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin“. Danach wurde er Professor an den Universitäten Bielefeld und Rostock. Seit 2000 hat Merkel 8 18. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung ken oder Chancen dieser Entwicklung spielen? Bei diesen grundsätzlichen normativen Fragen wird es maßgeblich auf eine hinreichend genaue Unterscheidung der Eingriffsformen und -adressaten sowie der denkbaren Einwände gegen Neuroenhancements ankommen. Trotz langjähriger Diskussionen in der Neuroethik sind konsensfähige Lösungen derzeit weltweit nicht in Sicht. Wer die Interventionen durch neurotechnische Enhancements verwirft, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, was genau sie normativ von erlaubten und erwünschten Formen mentaler Verbesserung unterscheidet und was sie verwerflich macht. Wer sie bejaht, muss sich fragen lassen, ob er die individuellen und sozialen Folgen einer massenhaften Verbreitung von Methoden der technologischen Hochrüstung menschlicher Gehirne zu übersehen vermag. Der Vortrag will zu diesen Fragen Stellung nehmen und zeigen, dass wir ein neues subjektives Menschenrecht brauchen. Provisorisch sei es hier „Recht auf mentale Selbstbestimmung“ genannt. ◆ den Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Dogmatik des Strafrechts, rechtsphilosophische Grundlagenforschung, Theorien der Gerechtigkeit, Ethik und Recht der Medizin und Neurowissenschaften sowie die Philosophie des Völkerrechts von Krieg und Frieden. Merkel ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der transatlantischen Forschergruppe „The Hinxton Group: An International Consortium on Stem Cells, Ethics & Law“. 2012 berief ihn die Bundesregierung in den Deutschen Ethikrat. Schnittstelle Zukunft & Heilung Volker Sturm Hirnstimulation mit Schrittmachern – überlegene Therapie oder Manipulation? Bereits seit den 1970er-Jahren werden elektrische Impulsgeber, die Schrittmachern ähnlich sind, im menschlichen Gehirn eingesetzt: Sie werden mit dünnen, in tiefen Hirnarealen implantierten Elek­ troden verbunden. Angewandt werden sie vor allem zur Behandlung neurologischer Erkrankungen, die mit üblichen Verfahren nicht therapierbar sind, und seit einigen Jahren auch bei psychiatrischen Erkrankungen. Durch die schwachen elektrischen Impulse werden dysfunktionale Regelkreise neu reguliert – die sogenannte Tiefe Hirnstimulation. Ziel ist es, schwere Bewegungsstörungen wie bei Morbus Parkinson, bestimmte Tremorformen und Dystonie wirkungsvoll zu behandeln. Darüber hinaus wird die Tiefe Hirnstimulation heute bei Schmerzerkrankungen und psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt, die nicht auf andere Therapien ansprechen: unter anderem Zwangskrankheit, Tourette-Syndrom, Depression Prof. Dr. Volker Sturm Neurochirurgische Klinik und Poliklinik Universitätsklinikum Würzburg Volker Sturm studierte Medizin an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, wo er 1971 promovierte. Von 1972 bis 1978 folgte seine Facharztausbildung in Neurochirurgie an der Neurochirurgischen Klinik des Universitätsklinikums Heidelberg sowie eine Spezialausbildung in Stereotaxie und funktioneller Neurochirurgie am Universitätsklinikum des 10 18. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung und Drogenabhängigkeit. Volker Sturm führte 1978 die Tiefe Hirnstimulation in Deutschland ein. In der Klinik für Stereotaxie und Funktionelle Neuro­chirurgie des Universitätsklinikums Köln wurden zwischen 1988 und 2012 rund 1.200 Implantationen durchgeführt und neue Anwendungsgebiete insbesondere bei psychiatrischen Erkrankungen erschlossen. Aus dieser Serie werden illustrative Fallbeispiele referiert und die medizinischen und ethischen Grenzen des Verfahrens diskutiert. Die oft erstaunlich guten Behandlungsergebnisse dürfen den Blick auf potenzielle ethische, rechtliche und soziale Probleme nicht verstellen, die bei Missbrauch des Verfahrens entstehen könnten. Besonders relevant ist hierbei der Problemkreis des Neuro­ enhancements, also des möglichen Einsatzes der Tiefen Hirnstimulation zur mentalen oder physischen Leistungssteigerung gesunder Personen. ◆ Saarlandes in Homburg/Saar. Weiterbildungen in Stereotaxie nahm er zwischen 1979 und 1983 am Karolinska Institutet in Stockholm und dem Centre hospitalier Sainte-Anne in Paris vor. Im Anschluss übernahm er die Professur für Neurochirurgie in Heidelberg. Von 1988 bis 2012 wirkte er als Lehrstuhlinhaber und Direktor der Klinik für Stereotaxie und Funktionelle Neurochirurgie des Universitätsklinikums Köln. Sturm ist seit 2007 Leibniz Chair für Neuromodulation des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg und seit 2012 Seniorprofessor für Neurochirurgie an der Neurochirurgischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg. Thomas Metzinger Virtual Embodiment and Robotic Re-Embodiment Neue Fragen für Gesetzgebung und Angewandte Ethik Unter „virtueller Verkörperung“ und „robotischer Wiederverkörperung“ versteht man neue technische Verfahren, bei denen ein Mensch nicht nur die Bewegungen eines Avatars in einer virtuellen Realität oder eines wirklichen Roboters kontrolliert, sondern diesen zunehmend auch zur Wahrnehmung benutzt. Er beginnt sich erlebnismäßig mit ihm zu identifizieren. Teilweise wird dieser Vorgang heute schon durch Gehirn-Maschine-Schnittstellen realisiert, worüber die Versuchsperson den Avatar sozusagen direkt mit ihrem eigenen Geist kontrolliert. In diesem „heißen“ Forschungsbereich arbeiten Neurowissenschaftler, Informatiker, Ingenieure und Philosophen zusammen, sodass sich die moderne Philosophie fragen muss: Was sind die ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen dieser neuen Handlungsmöglichkeiten? Ein Beispiel sind unerwünschte militärische Anwendungen – etwa durch nicht demokratisch legitimierte Staaten, Geheimdienste, Terroristen oder das organisierte Verbrechen. Ein weiteres Feld der Risikoabschätzung sind die psychologischen Prof. Dr. Thomas Metzinger Universität Mainz Philosophisches Seminar, Forschungsstelle Neuroethik Thomas Metzinger studierte Philosophie, Religionswissenschaften und Ethnologie in Frankfurt am Main, wo er 1985 promovierte. 1992 habilitierte er sich am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft an der Universität Gießen und hielt sich 1998 für ein Jahr an der University of California in San Diego auf. Im Jahr 1999 wurde er Professor Folgen dieser Technologien: Könnten neue Formen der Unterhaltungstechnologie ein wesentlich höheres Suchtpotenzial haben als bislang bekannt? Könnten Depersonalisationsstörungen oder unerwünschte Langzeiteffekte auf die Persönlichkeit hervorgerufen werden, wenn das Ich-Gefühl tatsächlich vorübergehend in einen Avatar hinüberspringt? Es gibt aber auch rein juristische Aspekte. Dazu gehören etwa Haftungsfragen oder die persönliche Verantwortung des Handelnden in der virtuellen Welt. Auf der Positivseite zeichnen sich neue Optionen in der Neuroprothetik, Psychotherapie und Rehabilitierung von Straftätern ab. Zu den soziokulturellen Konsequenzen von „virtueller Verkörperung“ und „robotischer Wiederverkörperung“ gehört schließlich die Frage: Sind wir bereit für die Veränderungen in unserem Menschenbild, die mit dem schrittweisen Eindringen dieser neuen Technologien in die Lebens­ welt der allgemeinen Bevölkerung einhergehen werden? ◆ für Philosophie der Kognition an der Universität Osnabrück. Ein halbes Jahr später wechselte Metzinger an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er leitet den Arbeitsbereich Theoretische Philosophie und ist Direktor der Forschungsstelle Neuroethik am Philosophischen Seminar. In seiner Rolle als Adjunct Fellow ist er unter anderem Leiter der MIND-Group am Frankfurt Institute for Advanced Study. Von 2005 bis 2007 war er Präsident der Gesellschaft für Kogni­ tionswissenschaft, von 2009 bis 2011 Präsident der Association for the Scientific Study of Consciousness. Seit April 2014 ist Metzinger Fellow am Gutenberg Research College. MenschMaschine-Visionen. Technik, die unter die Haut geht 11 Anke Lesinski-Schiedat Hat das Cochlea-Implantat bei Gehörlosen Einfluss auf die Gebärdensprache? Obwohl bereits im 18. Jahrhundert Erkenntnisse über die Möglichkeit vorlagen, durch elektrischen Strom Höreindrücke zu erzeugen, ist es erst vor circa 30 Jahren gelungen, eine klinisch anwendbare künstliche elektrische Hörprothese zu entwickeln: ein sogenanntes Cochlea-Implantat (CI). Das CI ist ein vollständig implantierter Elektrochip mit Magnet und Antenne zur Schallübertragung von außen unter die Haut. Die elektrischen Impulse werden in ein winziges Drahtbündel mit Elektroden innerhalb der Hörschnecke weitergeleitet. Gehörlos geborene Menschen besitzen bei intaktem Hörnerv die physiologischen Voraussetzungen zur Nutzung des CI. Idealerweise erfolgt die Implantation während der Phase der Hörbahnreifung zwischen dem sechsten und zwölften Lebensmonat. Heute können die meisten gehörlosen Patienten durch das CI sogar telefonieren – Lippenlesen ist nicht mehr erforderlich. Zusammen mit der hörpädagogischen Begleitung der Familien lässt sich eine gute Lautsprache entwickeln, die mit der eines normal Hörenden vergleichbar ist. Prof. Dr. med. Anke Lesinski-Schiedat Deutsches HörZentrum Hannover Ärztliche Leitung Die klinische Weiterbildung zum HNO-Facharzt begann Anke Lesinski-Schiedat 1993 bei Prof. Dr. Rainer Langnickel in Straubing und wechselte im Lauf des Jahres an die Medizinische Hochschule Hannover (MHH). Als Fachärztin übernahm sie dort ab 1997 die inhaltliche und organisatorische Verantwortung innerhalb der HNO-Klinik für die Audiologie. Nach Gründung des Deutschen HörZentrums Hannover der HNO- 12 18. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung Die meisten gehörlos geborenen Kinder haben hörende Eltern. Ohne CI wären sie zwingend auf Gebärdensprache angewiesen. Ein geringer Anteil hat jedoch gehörlose Eltern, sodass sie wie hörende Geschwister eine gebärdensprachliche Kommunikation mit ihren Eltern beginnen. Im Falle der CIVersorgung lernen dann alle Kinder beide Sprachen. Eine solche „bilinguale“ Situation findet sich nicht bei Kindern normal hörender Eltern. Da sich bei gleichzeitigem Nutzen beider Sprachen innerhalb klarer Strukturen die entsprechenden Hirnareale unterscheiden, behindert die Gebärdensprache die Lautsprache nicht. Umgekehrt kann das für den Hör­ eindruck vorgegebene Hirnareal bei Nichtnutzung des Hörvermögens durch die gebärdensprachliche Funktion „belegt“ werden. Vor diesem Hintergrund wird grundsätzlich zur bilingualen Kommunikation geraten. Sofern gehörlose Eltern also lautsprechende Bezugspersonen organisieren, können CI-Kinder beide Sprachen gut erlernen. ◆ Klinik der MHH übte sie in Vertretung von Prof. Dr. Thomas Lenarz die ärztliche Leitung aus. Der wissenschaftliche Schwerpunkt von Lesinski-Schiedat liegt auf der Audiologie und der klinischen Analyse von Cochlea-Implantaten (CI). So beschäftigte sie sich in ihrer im Jahr 2000 abgeschlossenen Habilitation mit der Überprüfung der Effektivität und der intracochlearen Lage einer perimodiolaren CI-Elektrode. Neben der klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit engagiert sich Lesinski-Schiedat unter anderem berufspolitisch und ist stellvertretende Landesvorsitzende im Hartmannbund Niedersachen. Abendvortrag Gundolf S. Freyermuth Übermenschenbilder: Cyborgs und andere Visionen transhumanen Lebens Unsere anthropologische Situation charakterisiert technische Aufrüstung, eine eskalierende Cyborgisierung und Transhumanisierung: Bei dem einen zeichnet sich der Herzschrittmacher unter der Haut ab, ein anderer klagt über die künstliche Hüfte und eine Dritte lobt ein Transplantat, über das sie öffentlich nicht redet. Im Fernsehen sieht man Menschen mit künstlichen Beinen bei Lauf- und Kletterleistungen, die man den eigenen Extremitäten kaum zutraut. Professoren pflanzen sich und Haustieren Chips ein. Menschen, die man als Frau kannte, sind längst Mann und vice versa. Soldaten in voller HightechAusstattung gleichen Game-Cyborgs und unterscheiden sich von ihnen nur dadurch, dass sie kiloweise Batterien am Leibe tragen müssen. Techniker, die Flugzeuge oder Autos reparieren, suchen Schäden mit cyborgischen Augmented-Reality-Augen, die als Google Glass demnächst über uns alle kommen sollen. Bereits heute werden viele von Panik ergriffen, sobald sie ohne Datenverbindung via Smart­ phone vom echtzeit-vernetzten Informationsfluss, vom Borg-Kollektiv, abgeschnitten sind. Prof. Dr. Gundolf S. Freyermuth Direktor Cologne Game Lab Professor für Media and Game Studies Gundolf S. Freyermuth ist Gründungsdirektor des Cologne Game Lab und Professor für Media and Game Studies an der Fachhochschule Köln. Von 2004 bis 2014 lehrte er Angewandte Medienwissenschaften an der ifs internationale filmschule köln. Seit 2011 ist er Vorsitzender des Beraterstabs für das Pilotförderprogramm Digitale Medien der Filmstiftung NRW, seit 2012 Mitherausgeber der Schriften- Die Realität scheint mit immer geringerem Abstand den Medien und Künsten zu folgen. Denn in ihnen werden seit Jahrzehnten – von der Science-Fictionund Cyberpunk-Literatur über die Bildende Kunst bis zu Hollywood-Blockbustern, TV-Serien und AAAGames – neue Übermenschenbilder entworfen. Es sind augmentierte Mischwesen aus Stahl und Silikon, schwachem Fleisch und starken Programmen sowie vernetzter Hard-, Soft- und Wetware. Der Vortrag nimmt die meist metaphorisch gemeinte Rede vom Menschenbild wörtlich und analysiert die androiden Angstbilder und narrativ aufgeladenen Anthropomorphisierungen unserer Kultur. Verstanden werden sie als Vor-Bilder, zu entschlüsselnde Verwebungen von Realität und Imagination, Fakten und Fiktionen, Menschlichem und Medialem: als ästhetische Konstrukte, in denen sich noch unscharfe epochale Tendenzen zu Modellen künftiger Post- oder Transhumanität konfigurieren und verdichten. ◆ reihe „Bild und Bit. Studien zur digitalen Medienkultur“. Seine Forschungsschwerpunkte sind digitale Audiovisua­ lität, Transmedialität und Netzwerkkultur. Freyermuth studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Vor seiner Lehrtätigkeit arbeitete er in München als Redakteur für die Monatszeitschrift „TransAtlantik“, als Reporter für den „stern“ in Hamburg, als Chefreporter für „Tempo“ sowie als freier Autor in den USA. Er publizierte Romane, Sachbücher, Essays, Reportagen, Hörspiele und Radiofeatures. Darüber hinaus schrieb er Drehbücher für Spiel- und Dokumentar­ filme und führte Regie. MenschMaschine-Visionen. Technik, die unter die Haut geht 13 Bildnachweis © Daimler und Benz Stiftung/Oestergaard Seite 2: Modell einer draht­losen Gehirn-ComputerSchnittstelle Berliner Kolloquium Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik treffen sich einmal im Jahr zum Berliner Kolloquium. Die fachübergreifenden Themen dieser Veranstaltungsreihe wechseln jährlich und werden vor dem Hintergrund des Spannungsfelds Mensch, Umwelt und Technik behandelt. Seit 16 Jahren ist das Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung fest etabliert und zählt zu den gefragten wissenschaftlichen Veranstaltungen der Hauptstadt. Kommunikation: Dr. Johannes Schnurr, +49 176 - 216 446 92 Patricia Piekenbrock, +49 152 - 289 093 77 Daimler und benz Stiftung Die Daimler und Benz Stiftung verstärkt Prozesse der Wissensgenerierung mithilfe zielgerichteter Stimuli. Sie konzentriert sich auf die Förderung junger Wissenschaftler, fachübergreifende Kooperationen sowie Forschungsinhalte aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Ihr jährlicher Förderaufwand beträgt derzeit etwa drei Millionen Euro. Mit einem Vermögen von rund 125 Millionen Euro zählt die operativ tätige Stiftung zu den großen wissenschaftsfördernden Stiftungen Deutschlands. Kontakt: Dr. Jörg Klein Geschäftsführer Daimler und Benz Stiftung Dr.-Carl-Benz-Platz 2 68523 Ladenburg Tel +49 6203 - 1092 - 0 Fax +49 6203 - 1092 - 5 [email protected] www.daimler-benz-stiftung.de Seite 9: Flexible Arrays als Schnittstellen zum Gehirn Seite 15: Testen von Mikrochips