Seltene Erkrankungen Teil 2: Erbliche Netzhauterkrankungen (Professor Dr. med. Ulrich Kellner, Privatdozentin Dr. rer. nat. Heidi Stöhr, Professor Dr. rer. nat. Bernhard H.F. Weber) Erbliche Netzhautdystrophien (NHD) gehören zu den seltenen Erkrankungen des Auges und können durch eine progredient verlaufende Degeneration der Fotorezeptoren zu erheblichen Einschränkungen des Sehvermögens bis hin zur Erblindung führen [1]. Der fortschreitende Sehverlust ist häufig mit einem Verlust der Fahrerlaubnis oder des Arbeitsplatzes verbunden, was in der Folge erhebliche soziale und familiäre Probleme nach sich ziehen kann. Die Häufigkeit der NHD wird in der europäischen Bevölkerung auf etwa 1:3.000 geschätzt, wobei sowohl die klinischen Manifestationen mit mehr als 70 unterschiedlichen Krankheitsbildern als auch die genetischen Ursachen mit mehr als 250 bekannten Genen eine beachtliche Heterogenität aufweisen. Verdachtsdiagnose NHD – klinische Diagnostik Die Erstmanifestation einer NHD ist in jedem Lebensalter möglich, sie erfolgt jedoch bei den meisten Formen innerhalb der ersten drei Lebensdekaden. Da die NHD zunächst oft durch unspezifische Symptome gekennzeichnet ist, ist eine Diagnoseverzögerung nicht selten [1]. Die retinale Bildgebung mit Fundus- und Nah-Infrarotautofluoreszenz (FAF, NIA) sowie die Spektral Domäne Optische Kohärenztomographie (SD-OCT) haben erheblich zur Früherkennung der NHD beigetragen. Ergänzend kann eine Funktionsdiagnostik mit elektrophysiologischen Verfahren sinnvoll sein. Insbesondere bei Kindern muss an eine NHD als Teil eines Syndroms gedacht werden, häufiger sind dabei Ohren oder Nieren betroffen, oft kommt es zu neurologischen Auffälligkeiten (zum Beispiel Usher Syndrom, Bardet-Biedl Syndrom) [2,3]. Wegen der Komplexität der Diagnostik und der Schwierigkeit der Differenzialdiagnose haben sich in Deutschland mehrere Zentren für seltene Netzhauterkrankungen etabliert. Auch in diesem Bereich hat sich seit einigen Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass Diagnostik, Behandlung und Therapie eine enge Zusammenarbeit von Spezialisten mehrerer Fachrichtungen erfordern. Die NHD lassen sich vom klinischen Bild in mehrere Untergruppen einteilen, wobei die klinischen Symptome oft überlappen. Generalisierte Netzhautdystrophien betreffen die gesamte Netzhaut, der Beginn der Erkrankung kann in der peripheren oder zentralen Netzhaut liegen. Generalisierte NHD mit peripherem Beginn (circa 25 Prozent der NHD; zum Beispiel Retinitis pigmentosa) sind gekennzeichnet durch Nachtsehstörungen, von peripher nach zentral fortschreitenden Gesichtsfeldausfällen und einem meist lange erhaltenen guten Visus. In der Regel unabhängig von der individuellen genetischen Ursache zeigen typische Fundusfotografien des Augenhintergrunds generalisierter NHD oft Pigmentepithel-Unregelmäßigkeiten in der Netzhautperipherie, während die Fundusautofluoreszenz zum Teil ausgeprägte Pigmentepithelverluste erkennen lässt, die einen typischerweise zentral verbliebenen Gesichtsfeldrest erlauben (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: 36-jähriger Patient mit autosomal rezessiver Retinitis pigmentosa und zwei pathologischen Mutationen im USH2AGen. Links Fundusfotografie mit wenig PigmentepithelUnregelmäßigkeiten in der Netzhautperipherie. In der Mitte Fundusautofluoreszenz, außen ausgeprägter Pigmentepithelverlust (dunkel). Der ovale Ring um das Zentrum entspricht der Gesichtsfeldaußengrenze. Rechts Gesichtsfeld des linken Auges mit ausgeprägter konzentrischer Einengung und nur zentral verbliebenem Gesichtsfeldrest. Umgekehrt werden generalisierte NHD mit zentralem Beginn (circa 20 Prozent; zum Beispiel Zapfen-, Zapfen-Stäbchen-Dystrophien) frühzeitig für den Betroffenen bemerkbar, da ein Verlust der zentralen Sehschärfe und des zentralen Gesichtsfelds die Kommunikations- und Arbeitsfähigkeit erheblich behindern. Regional begrenzte NHD (circa 35 Prozent; zum Beispiel Morbus Stargardt) sind auf das Netzhautzentrum begrenzte Makuladystrophien mit ähnlichen Symptomen wie die generalisierten NHD mit zentralem Beginn, jedoch ohne deren Fortschreiten in periphere Netzhautregionen. Die restlichen 15 Prozent umfassen syndromale NHD, weitgehend stationär verlaufende NHD (zum Beispiel kongenitale stationäre Nachtblindheit) sowie extrem seltene NHD (zum Beispiel Bietti krystalline Dystrophie), die nur wenige Familien weltweit betreffen. Verdachtsdiagnose NHD – molekulargenetische Diagnostik Die molekulargenetische Diagnostik unterstützt die klinische Diagnose und dient zur Absicherung beziehungsweise zum Ausschluss von Verdachtsdiagnosen. Abhängig von einer initialen Verdachtsdiagnose werden heute bei einem Patienten einzelne Gene bis hin zu über 100 verschiedene Gene molekulargenetisch untersucht (Tabelle 1). Moderne Analyseverfahren, wie das Next Generation Sequencing, erlauben hierbei eine schnelle und kostengünstige Untersuchung einer großen Anzahl von Genen oder sogar aller kodierenden Bereiche des menschlichen Genoms (das sogenannte Exom). Gerade bei unklarer Diagnose oder genetisch heterogenen Untergruppen der NHD (wie zum Beispiel der Gruppe der Retinitis pigmentosa-Erkrankungen) sind die verfügbaren Genpanels ein unentbehrliches Werkzeug der molekulargenetischen Diagnostik und erlauben eine Mutationsfindungsrate auf dem jeweils aktuellen Stand von Wissenschaft und Forschung. So werden beispielsweise gegenwärtig ursächliche Mutationen in 40 bis 70 Prozent der Patienten mit Retinitis pigmentosa [4, 5], 70 bis 90 Prozent der Betroffenen mit Usher Syndrom [4], aber nur in 20 bis 30 Prozent der Fälle mit Zapfen-, Zapfen-StäbchenDystrophie [6, 7] gefunden. Die Bewertung der Krankheitsrelevanz der nachgewiesenen Sequenzvarianten erfolgt meist auf der Basis von bioinformatischen Vorhersagemodellen und bekannten Allelfrequenzen in der gesunden Bevölkerung sowie Literaturrecherchen [8]. Bisher sind spezifische funktionelle Untersuchungen zur krankheitsverursachenden Wirkung einer bestimmten Mutation eher die Ausnahme, sodass noch immer viele Genveränderungen einen unklaren Krankheitswert besitzen (sogenannte genetische Varianten unklarer Signifikanz) und nicht oder nur eingeschränkt in eine humangenetische Beurteilung einbezogen werden können. Zu beachten ist, dass nach dem Gendiagnostikgesetz von 2010 für eine genetische Untersuchung zur Feststellung genetischer Eigenschaften oder zur vorgeburtlichen Risikoabklärung der Arztvorbehalt gilt. Es ist eine Aufklärung durch die verantwortliche ärztliche Person vor der Einwilligung des Patienten zur genetischen Untersuchung und einer dafür erforderlichen Probenabgabe zwingend erforderlich. Aufgrund der Komplexität der humangenetischen Laborbefunde und der sich daraus ergebenden Risikoeinschätzungen für Angehörige und Nachkommen ist zudem eine humangenetische Beratung dringend empfohlen. Eine frühzeitige Klärung der Ursache einer NHD ist für Patienten in vielfacher Hinsicht von weitreichender Bedeutung, da sie eine präzise Risikoeinschätzung bei der Familienplanung erlaubt, weitere unnötige und kostenaufwändige diagnostische Untersuchungen und damit auch physische und psychische Belastungen verhindert, und es ermöglicht, gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Schließlich lassen derzeit laufende klinische Studien zu medikamentösen oder gentherapeutischen Verfahren bei spezifischen genetischen Unterformen der NHD hoffen, dass sich in naher Zukunft sinnvolle, individuelle Behandlungsoptionen eröffnen werden, für die im Sinne der Präzisionsmedizin das ursächliche Gen sowie die zugrundeliegende Mutationssituation bekannt sein muss. Autoren: Professor Dr. med. Ulrich Kellner AugenZentrum Siegburg und RetinaScience, Bonn Privatdozentin Dr. rer. nat. Heidi Stöhr Professor Dr. rer nat. Bernhard H.F. Weber Institut für Humangenetik, Universität Regensburg Literatur 1| Kellner U, Kellner S, Weinitz S, Farmand G, Weber BHF, Stöhr H. Erbliche Netzhautund Sehbahnerkrankungen - 5 Schritte zur Diagnose. Klin Monatsbl Augenheilkd 2015;232:250-258 2| Sorusch N, Wunderlich K, Bauss K, Nagel-Wolfrum K, Wolfrum U. Usher syndrome protein network functions in the retina and their relation to other retinal ciliopathies. Adv Exp Med Biol 2014;801:527-533 3| Castro-Sánchez S, Álvarez-Satta M, Valverde D. Bardet-Biedl syndrome: A rare genetic disease. J Pediatr Genet. 2013;2:77-83 4| Carrigan M, Duignan E, Malone CP, Stephenson K, Saad T, McDermott C, Green A, Keegan D, Humphries P, Kenna PF, Farrar GJ. Panel-Based Population Next-Generation Sequencing for Inherited Retinal Degenerations. Sci Rep. 2016;6:33248. 5| Perez-Carro R, Corton M, Sánchez-Navarro I, Zurita O, Sanchez-Bolivar N, SánchezAlcudia R, Lelieveld SH, Aller E, Lopez-Martinez MA, López-Molina MI, Fernandez-San Jose P, Blanco-Kelly F, Riveiro-Alvarez R, Gilissen C, Millan JM, Avila-Fernandez A, Ayuso C. Panel-based NGS Reveals Novel Pathogenic Mutations in Autosomal Recessive Retinitis Pigmentosa. Sci Rep. 2016;6:19531. 6| Roosing S, Thiadens AAHJ, Hoyng CB, Klaver CCW, Den Hollander AI, Cremers FPM. Causes and consequences of inherited cone disorders. Prog Retin Eye Res. 2014;42:1–26. 7| Thiadens AAHJ, Phan TML, Zekveld-Vroon RC, Leroy BP, van den Born LI, Hoyng CB, et al. Clinical course, genetic etiology, and visual outcome in cone and cone-rod dystrophy. Ophthalmology. 2012;119:819–826. 8| Richards S, Aziz N, Bale S, Bick D, Das S, Gastier-Foster J, Grody WW, Hegde M, Lyon E, Spector E, Voelkerding K, Rehm HL; ACMG Laboratory Quality Assurance Committee. Standards and guidelines for the interpretation of sequence variants: a joint consensus recommendation of the American College of Medical Genetics and Genomics and the Association for Molecular Pathology. Genet Med. 2015 17:405-24 Weitere Teile der Reihe "Seltene Erkrankungen" Teil 1: Syndromale kardiovaskuläre Erkrankungen (Privatdozentin Dr. med. Mechthild Westhoff-Bleck, Privatdozent Dr. med. Christian Veltmann, Professor Dr. med. Johann Bauersachs, Professor Dr. med. Jörg Schmidtke)