Suchthilfefachtag 09.11.2016 Sucht und Bindungstrauma S.König Psycholog. Psychotherapeutin [email protected] cop. S.König Verständnis von Sucht im Wandel - - - Drogenprävention der 70er geprägt durch Abschreckung, Verurteilung, Stigmatisierung und Kriminalisierung Abstinenzorientierte Pädagogik, Furchtappelle Ab 80ern Suche nach Motiven und Ursachen; salutogenetische Konzepte, life skills Abstinenzforderung; „Leidensdrucktheorie“ „Abstinenz ist nicht das Ziel, sondern die Grundlage jeder Therapie Abhängiger“ (Täschner) 90er: Akzeptanzmodelle, „Harm Reduction“, Substitution cop. S.König - - Sucht als Stressregulationserkrankung Aktuell zunehmendes Interesse an Sucht und Trauma, aber Unsicherheit im Behandlungsansatz Traumatisierter Suchtkranker vs. Suchtkranker Traumatisierter Entgiftung – PTBS-Symptomatik; was zuerst? Bindungstheoretisches Verständnis aber kaum explizite Behandlungsansätze cop. S.König Mutter/ Vater Säugling/ Kind Bindung Beziehung zwischen Klient + Therapeut cop. S.König Die Bindungstheorie (J. Bowlby 1969) Bindung als anhaltende emotionale Beziehung zu einer bestimmten Person – primär zur Mutter, bei der das Kind bevorzugt körperlichen Kontakt, Schutz und Geborgenheit sucht, vor allem in Situationen von Unsicherheit, Überforderung, Unbehagen, in fremder Umgebung oder Anwesenheit fremder Personen cop. S.König Die Bindungstheorie II - - - (Körper-)Kontakt zur Bindungsperson schafft „sicheren Hafen“, von wo aus die Umwelt exploriert und innere Welt mentalisiert werden kann Bindung und Exploration sowie Nähe und Distanz zur Bindungsperson halten sich dabei optimaler Weise die Waage Bindungsverhalten des Kindes aktiviert Pflegeverhalten beim Erwachsenen cop. S.König cop. S.König cop. S.König „Die Fremde Situation“ (M. Ainsworth) - Standardisiertes Experiment zur Erhebung der Bindungsmuster bei Säuglingen - Entscheidend Trennung/Wiedervereinigung - Wie gestaltet der Säugling die Balance zw. Bindungs- und Explorationsverhalten - 4 Kategorien (B/A/C/D) cop. S.König B: Sichere Bindung Beschreibung: Diese Kinder können Nähe und Distanz zur Bezugsperson / Bindung und Exploration angemessen regulieren. Verhalten: kurzfristig irritiert und weinen ggf., wenn die Bezugsperson den Raum verlässt, lassen sich jedoch von der Testerin trösten und beruhigen sich schnell wieder; sie spielen im Raum auch mit der Testerin; laufen der Bezugsperson bei deren Wiederkehr entgegen, zeigen zuerst adäquat Ärger/Schmerz oder begrüßen gleich freudig. cop. S.König A: Unsicher-vermeidende Bindung Beschreibung: Pseudounabhängigkeit; auffälliges Kontakt-Vermeidungsverhalten; beschäftigen sich primär mit Spielzeug im Sinne einer StressKompensationsstrategie. Verhalten: Wirken bei der Trennung von der Bezugsperson unbeeindruckt; spielen auffallend oft für sich allein; bei der Wiederkehr der Bezugsperson bemerken sie diese kaum oder zeigen Ablehnung durch Ignorieren. cop. S.König C: Unsicher-ambivalente Bindung Beschreibung: Dauerhaft aktiviertes verhalten zur Sicherstellung von Nähe Verhalten: Bindungs- wirken bei der Trennung massiv verunsichert, weinen, laufen zur Tür, schlagen gegen diese, sind durch die Testerin kaum zu beruhigen. Bei Wiederkehr der Bezugsperson abwechselnd anklammerndes und aggressiv-abweisendes Verhalten, sind nur schwer zu beruhigen. cop. S.König D: Desorganisierte Bindung (Bindungsstörung) Beschreibung: Desorientiertes, inkonsistentes Bild von Nähe-Distanz/ Bindung-Exploration Verhalten: Hauptmerkmal bizarre Verhaltensweisen wie Erstarren, Im-Kreis-Drehen, Schaukeln und andere stereotype Bewegungen; daneben treten (seltener) Mischformen der anderen Bindungsmuster wie beispielsweise gleichzeitiges intensives Suchen nach Nähe und deren Ablehnung auf. cop. S.König „Mütterliche Feinfühligkeit “ (M. Ainsworth) Die Fähigkeit der Mutter, die Signale und Mitteilungen, die im Verhalten ihres Kindes enthalten sind, 1. wahrzunehmen 2. richtig zu interpretieren 3. diese prompt 4. und angemessen zu beantworten Weitere Faktoren: Gegenseitigkeit, Gleichzeitigkeit, cop. S.König Wärme, Anregung, positive Haltung Schwarze Pädagogik – Dr. Johanna Haarer Schreien lassen, alleine lassen, Raum abdunkeln, „keine Verzärtelung“, Abhärtung „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“ Unterstellt dem Säugling Manipulation cop. S.König Wenn das Kind schreit und der Schnuller nicht beruhigt: "Dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen" (Haarer 1934, S. 158). cop. S.König „Auch das schreiende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen 'kaltgestellt', in einen Raum verbracht, wo es allein sein kann und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind solches Vorgehen begreift" (Haarer 1934, S. 249). cop. S.König Bindung als stabiles Konstrukt Kann transgenerational weitergegeben werden - zu ¾ über die Repräsentation der Mutter bereits vorgeburtlich vorhersagbar Einfluss auf Persönlichkeitsentwicklung, soziale Beziehungen, Freundschaften, Partnerschaften, Verhaltensauffälligkeiten, psychiatrische Störungen, kortikale Entwicklung, Genexpression Prägt, welche Erwartung ich von anderen habe (hilfreich/feindlich/ablehnend), welches Selbstbild ich entwickle (unterstützenswert/ablehnenswert/unabhängig) cop. S.König Adult Attachment Interview Bindungsmuster beim Kind Bindungsrepräsentation beim Erwachsenen B F (sicher-autonom) Äußert sich… Berichten unabhängig von Qualität der Erfahrung konsistent und kohärent; Zugang zu Emotionen/ Regulationsfähigkeit A Ds (unsicher-distanziert) Fehlen von Bindungserinnerung; oder abgewertet oder idealisiert; Pseudoautonomie C E (unsicher- verwickelt) D U (unverarbeitetes Trauma) Gefühlsmäßig noch sehr in Kindheitsgeschichte verstrickt Unverarbeitete Traumata, beim Erzählen sprachliche Auffälligkeiten wie z.B. Zerfall der Sprache; Dissoziation cop. S.König Bindungstrauma – traumatisches Erleben mit frühen Bindungspersonen Frühes Erleben von emotionalem Missbrauch Wechselbad aus Überversorgung, Überreizung und Vernachlässigung Ängstigen/Drohen/Einsperren/Fallenlassen/ Alleinelassen/Entwerten – oft vorsprachlich/implizit abgespeichert Später physische/sexualisierte Gewalt In Suchtfamilien: „Notreifung“, frühe Übernahme von Erwachsenenfunktionen, Kontrolle der Eltern/Erziehung Geschwister cop. S.König Wir müssen davon ausgehen, dass nahezu alle (70-90%) unserer Patienten in ihrer Kindheit/Jugend und/oder später durch die Suchterkrankung ein- bis mehrmals traumatisiert wurden. Die Traumatisierungsrate bei Alkohol- und Drogenabhängigen liegt im Vgl. zur Allgemeinbevölkerung 5-15x höher (vgl. Lüdecke et al.) Im Vergleich zu nicht Abhängigen deutlich mehr unsichere/desorganisierte Bindungen; bei Probierkonsum noch nicht signifikant Komorbid sehen wir PostTraumatischeBelastungsStörungen, Subsyndrome DESNOS (disorders of Extreme Stress not otherwise specified), sowie Borderline-PersönlichkeitsStörungen cop. S.König Funktionaler Zusammenhang Trauma und Sucht Beides neurobiologische Stressverarbeitungsstörungen Selbstmedikationshypothese: Konsum zum Verhindern neg. Symptome Hochrisikohypothese: Lebensumstände/Partnerschaften/Szene „gefährlicher“ im Sinne Retraumatisierungen cop. S.König Nach C. Lüdecke Teufelskreis Trauma und Sucht Traumafolge -störungen Alkohol/Drogen/Medikamente Risiko erneuter Retraumatisierungen kurzzeitige beruhigende & anxiolyt. Effekte Beschaffungskriminalität/ Prostitution/Szene weniger Intrusionen/Flashbacks/Angst Entwicklung einer Abhängigkeit Verstärkung des Konsumverhaltens cop. S.König Zusammenhang Trauma – Bindung und Sucht Droge/ suchtartiges Verhalten als unbelebter Ersatz für eine Bindungsfigur Suchtmittel wird auf diese Weise zu einer Bindungsperson-/»Surrogat«. Verhindert wiederum Aufbau gesunder Beziehungen. V.a. Opiate ähneln biochemisch den körpereigenen Endorphinen, die bei Bindung/Trennungsschmerz und Trauer eine Rolle spielen cop. S.König Physiologische Besonderheiten KomplexTraumatisierter Physiologisch chronisch erhöhtes Anspannungsniveau im Sinne einer „Reizbarkeit“, was die Schwelle, mit der Reize wahrgenommen werden, erheblich senkt Werden schneller getriggert, bleiben länger angespannt Schwanken zwischen HYPER –und HYPO – Arousal; das Lernfenster ist also recht gering! cop. S.König Hyperarousal-Symptome: Hohe Aktivierung resultiert in Impulsivität, hoher Risikobereitschaft, chronischer Hypervigilanz, post-traumatischen paranoiden Ideen, Intrusionen, Flashbacks, Alpträumen, Gedankenrasen etc. “Window of Tolerance” (Siegel, 1999) Optimal Arousal Zone Hypoarousal- Symptome: flacher Affekt, Taubheit, Leeregefühl, Depersonalisation, Derealisation, Dissoziation, kognitive Schemata von cop. S.König Hoffnungslosigkeit und Opfer-Sein Nach ZPTN; L.Besser/ K.H. Brisch Übererregung / Dissoziation – Sympathikus Fight/Flight Bindungssuche Panik, Todesangst Freeze COREGULATION durch Bindungsperson bei kindlichem STRESS Untererregung/ Dissoziation – cop. S.König Parasympathikus Unterwerfung/Totstellreflex Modifiziert Nach ZPTN; L.Besser/ K.H. Brisch Übererregung / Dissoziation – Sympathikus Keine adäquate Bindungssuche Fight/Flight/Freeze Therapeut-Patient-Beziehung Korrigierende Bindungserfahrung Befähigung zur Selbstregulation Untererregung/ Dissoziation – cop. S.König Parasympathikus - Unterwerfung – „Totstellreflex“ Dialektik in der Beziehungsgestaltung (n. M. Linehan) Akzeptanz ------------------Veränderung Validierung ------------------ Veränderung Wohlwollende Sorge ----------------- Fordern Entlastung ---------------- Ziele erarbeiten Miteinander ------------------ eigene Grenzen setzen weder bagatellisieren ------------------ noch dramatisieren cop. S.König ZPTN; L.Besser Soziale Unterstützung Trauma Monotrauma Multitraumata Sequentielle Traumatisierung Entwicklungstraumata Symptomatik Akute Belastungsreaktion Anpassungsstörung PTBS Angst/Depression Somatoforme St. Chron. Sucht Dissoziative komplexe Störung Kompensation Integration Therapiedauer und Stabilisierungsphase Selbstheilung Persönlichkeitsveränderung/komplexe PTBS/DESNOS cop. S.König Zeitachse/ Schwere des Traumas/ Symptomatik und Therapiedauer Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit PTBS ANP EP 1; EP2 etc. EP 4 EP 5 (Van der Hart et al.) Ego State Disorder EP 3 ANP EP ? ANP: anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil EP: emotionaler Persönlichkeitsanteil EP 2 EP 1 EP 4 EP 3 ANP1 EP 3 EP 2 EP 1 ANP2 EP 2 cop. S.König EP 1 Dissoziative IdentitätsStörung (DIS) Die innere Bühne/ Landkarte (vgl. Huber, M.) Inneres Kind Wut Erwachsener Anteil Pubertärer Anteil Inneres Kind Suchtanteil Zerstörer cop. S.König Ego State Arbeit Arbeit zum Aufbau liebevoller Bindungen zw. dem Erwachsenen und den inneren ressourcenvollen und später inneren verletzten Kindern Arbeit zum Aufbau respektvoller Bindungen zw. dem Erwachsenen und den inneren destruktiven / süchtigen Anteilen Arbeit an der Struktur der PS Vorrang cop. S.König vor dem Inhalt der Traumatisierungen Skills in Krisensituation/Suchtdruck Praefrontale Kontrolle über emotionale Erregung wird mit Skills wiederhergestellt – Rückkehr ins Lernfenster cop. S.König Emotionsthermometer – wie hoch ist Anspannung auf Skala von 0-100% Etablieren einer Satellitenposition; „innerer Beobachter“; imaginative Figur, die Stressniveau im Blick behält Augenmerk auf wichtige Daten (1. im Monat, Weihnachten, Silvester, Geburtstag, Todestag, Muttertag, Jahrestage) Ressourcen/persönliche Skills erarbeiten cop. S.König Stresstoleranz-Skills: Igelball, Gummi, starker Geschmack/Geruch, Kissen auf Bett, Hirn-Flic-Flacs Dissoziationsstop: mit Namen ansprechen; in Gegenwart fokussieren, z.B. aufstehen, atmen, Datum sagen lassen, sagen, wo sie ist, wer ich bin, dass sie in Sicherheit ist, vielleicht gerade in einem alten Film war; Gegenstände in Raum benennen, beschreiben lassen; Berührung nur, wenn vorher vereinbart Stabilisierungstechniken: beruhigende Bilder, Tresor-Übung, innerer sicherer Ort cop. S.König Bindung auf (Zerreiss-)Probe „Er kommt, wenn er uns braucht. Er hat gerade ein ganz dringendes Problem […] Aber jetzt braucht er unsere Hilfe. Sofort. Sonst ist alles aus […]. Wir erinnern uns daran, wie oft wir mit ihm solche Situationen schon erlebt haben und wie oft mit anderen Süchtigen. Uns wird das Ausmaß der Egozentrik und der Mangel an Verantwortungsbereitschaft bewusst. [..] (vgl. Kindermann, 1990) cop. S.König Prozesse der Gegenübertragung Gegenübertragung: Gesamtheit aller unserer emotionalen Reaktionen, Gedanken, Phantasien, körperl. Reaktionen und Impulse im Kontakt. Komplementär vs. konkordant Pat. benutzen uns als „Container“ für unaushaltbare Gefühle. Pat. treffen auch unsere eigenen „roten Knöpfe“ Eine gut reflektierte GÜ kann uns Abstand zu unseren Affekten und wieder ein besseres Einfühlungsvermögen verschaffen cop. S.König Typische Übertragungsmuster bei psychischen Traumatisierungen (vgl. Wöller) • Täter-/ Opfer-Übertragungen • Übertragung der zurückweisenden, vernachlässigenden, nicht Schutz gewährenden Bezugsperson • Übertragung der hilflosen Eltern / hilfloser Beobachter • Übertragungen einer idealisierten Retterperson Sucht-/Traumastates lösen unterschiedliche GÜ aus cop. S.König Würde als Wert in der Therapie …wissen wir, dass Machtstreben aus abgewehrtem Ohnmachtserleben entstehen kann. Wenn also Helfende sich vor Ohnmachtserleben fürchten und dies nicht wahrhaben können, kann als Lösung angestrebt werden, sich mächtig und machend aufzublähen. Gerade PatientInnen, die uns von Ohnmachtssituationen berichten, lösen in uns i.S. der Gegenübertragung Ohnmachtserfahrungen aus. Wenn wir uns dann nicht sicher fühlen in dem, was wir tun sollten, und dazu gehört für mich auch eine Sicherheit des Würdeempfindens, kann es zu Fehlentwicklungen kommen. (L. Reddemann, 2008 Würde – Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie ) cop. S.König Erfahrungen von Suchtpatienten mit Würde Frühe Traumatisierungen, körperliche, sexualisierte und psychische Gewalt, Migration, Sprachprobleme, Stigmatisierungen bzgl. der Suchterkrankung, ALG II, HEP C/HIV, Polizeikontrollen, Schulden, Gerichtsvollzieher, etc. Wir können nicht erwarten, erst recht nicht in Krisensituationen/ intoxikiertem Zustand, dass die Patienten selbst sich würdevoll verhalten, es ist vielmehr unsere Aufgabe, ihnen entgegen der vielfachen Erfahrungen mit Würde zu begegnen cop. S.König „Liebe und liebevolle Personen werden zum Feind, weil sie die früheren zurückgewiesenen Bedürfnisse nach echter Liebe und damit den alten Terror zu wecken drohen. Wahre Liebe kann nicht ertragen werden, wenn die Unzulänglichkeit der Eltern verdeckt werden muss. Wirkliche Liebe wird unerträglich, denn sie würde die ursprüngliche Verletzung bloßlegen. Man möchte dann Liebe ausgerechnet von Menschen, die reserviert sind und nichts geben. Hingegen erscheint einem die Liebe derer, die Liebe leicht geben, verdächtig.“ Arno Gruen cop. S.König