e-Zeitschrift "Dialog Ethik"

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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Medizintechnik
Editorial
Es ist eine Binsenwahrheit, dass die Fortschritte in der Medizin
massgeblich vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt mitgetragen werden. Man denkt dabei meist an Dinge wie neue Medikamente, diagnostische Anwendungen der Genetik oder aber Stammzellforschung. Dabei rücken die unterschiedlichsten Gerätschaften,
denen sich die moderne Medizin heute bedient, oft etwas in den
Hintergrund. Doch technische Systeme wie etwa Herzschrittmacher, Hörgeräte oder Implantate wie Hüftprothesen sind mindestens
ebenso bedeutsam für die moderne Medizin und auch die von diesen
Entwicklungen betroffenen Fachpersonen und Patienten.
In wirtschaftlicher Hinsicht haben Unternehmen dieser Medizintechnik genannten Branche hierzulande eine erstaunliche Erfolgsgeschichte vorzuweisen. Doch natürlich sind medizintechnische Systeme auch Kostenfaktoren und es stellen sich ethische Fragen in
Bezug auf den Umgang mit Defekten oder dem Unterhalt solcher
Systeme. Diese Ausgabe des «Thema im Fokus» widmet sich denn
auch dieser Branche, ihren Produkten und den ethischen Fragen,
die sich im Kontext der Medizintechnik stellen können. Dazu führen
wir unter anderem ein Interview mit Melchior Buchs, dem Generalsekretär des Dachverbandes Schweizerische Medizintechnik. Wir
hoffen, dass Sie als Leserschaft damit Einblick in einen Teil der Medizin erhalten, der meist etwas am Rande steht, die künftige Entwicklung der Medizin aber dennoch entscheidend prägt.
Ihr Team Dialog Ethik
Inhalt
Schwerpunkt:
Medizintechnik – eine unterschätzte
Schlüsselbranche [2]
Ethische Kernfragen:
Medizintechnik als Thema der Ethik? [6]
Interview:
Melchior Buchs: Die Schweiz ist ein
begehrter Medtech-Standort [8]
Fallbeispiel:
Wer soll die Preise bestimmen? [12]
Fallbesprechung:
«Darf Roland mehr essen?» [12]
Ergänzungen:
Artikel, Bücher, Links [16]
Dialog Ethik Newsletter [17]
News aus dem Institut [17]
Dialog Ethik Öffentlich [17]
Veranstaltungen [17]
Produkte [18]
Wortklaubereien [19]
Impressum [19]
Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Schwerpunkt
Medizintechnik – eine unterschätzte
Schlüsselbranche
Die Medizintechnik hat für die Schweizer Wirtschaft
eine ähnlich hohe Bedeutung wie die Pharmaindustrie, die Energiewirtschaft und die Nahrungsmittelindustrie. Die Branche zeichnet sich schon seit
Jahrzehnten durch eine beachtliche Innovationskraft
aus. Allerdings sehen sich die Unternehmen heute
einem zunehmend schwierigeren Umfeld ausgesetzt.
Der Kostendruck im Gesundheitswesen stellt auch
die Zulieferindustrie vor neue Herausforderungen.
«Thema im Fokus» beleuchtet im Hauptartikel die
wirtschaftliche Bedeutung dieser Branche.
Uhren, Käse, Schokolade – diese Produkte stehen
auch heute noch stellvertretend für die Schweizer
Wirtschaft. Dabei gäbe es doch noch ganz andere
Beispiele, die man als Symbole nennen könnte, um
die Leistungsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft zu illustrieren. Hörgeräte zum Beispiel, Hüftgelenke oder
Herzschrittmacher. Denn genau bei diesen Hightechprodukten gehört unsere Land heute zu den führenden Nationen, und die Zeichen stehen günstig, dass
die Schweiz diese Position in den nächsten Jahren
durchaus festigen kann.
Hohe Produktivität
Die Medizintechnik-Branche – kurz auch MedtechBranche genannt – hat sich in den letzten Jahren zu
einer eigentlichen Schlüsselbranche für unser Land
gemausert, wie eine im Mai 2010 publizierte Studie
des Beratungsunternehmens Rütter und Partner ergab. Gut 11 Milliarden Franken Bruttowertschöpfung
hat die Medtech-Branche demnach im Jahr 2008 erwirtschaftet, das entspricht 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Damit erreicht sie eine ähnliche
volkswirtschaftliche Bedeutung wie die Nahrungsmittelindustrie (1,6 Prozent des BIP), die Energiewirtschaft (1,9 Prozent) oder die Pharmaindustrie
(2,1 Prozent). Dazu kommen respektable Vorleistungs-, Investitions- und Einkommenseffekte, welche
indirekte Wirkungen erzielen. Rechnet man diese Effekte dazu, resultiert eine Bruttowertschöpfung von
18,7 Milliarden Franken. Bemerkenswert aus volks-
wirtschaftlicher Sicht ist zudem, dass die MedtechBranche 2008 Waren im Gesamtwert von 9,6 Milliarden Franken exportiert hat. Dies entspricht 5 Prozent
aller Warenexporte der Schweiz.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Medtech-Branche
schlägt sich auch in den Beschäftigungszahlen nieder. Die rund 3700 Unternehmen, welche in diesem
Bereich Dienstleistungen erbringen und Produkte
herstellen, beschäftigen zusammen über 48 000 Personen. Die Branche leistet demnach einen Betrag von
1,4 Prozent zur Arbeitsproduktivität. Die Zahl unterstreicht nicht nur die wirtschaftliche Bedeutung der
Medizinaltechnik, sondern auch, dass dieser Bereich
eine überdurchschnittlich hohe Arbeitsproduktivität
aufweist. Knapp 60 Prozent der erwähnten 48 000
Beschäftigten sind bei Herstellern von Medtech-Produkten tätig, je 14 Prozent arbeiten bei Zulieferfirmen
sowie im Grosshandel und im Vertrieb. Im europäischen Vergleich nimmt die Schweiz damit eine herausragende Stellung ein: Abgesehen von Irland gibt
es in keinem anderen europäischen Land eine derart
hohe Dichte an Medtech-Unternehmen. In Deutschland etwa, das die europaweit gesehen bedeutendste
Medtech-Industrie hat, arbeiten nur etwa 0,3 Prozent
aller Beschäftigten in diesem Bereich. Geht man davon aus, dass in Europa rund 540 000 Personen in der
Medizinaltechnik arbeiten, bedeutet das also, dass
sich jeder 10. Arbeitsplatz in der Schweiz befindet.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die verschiedenen Medtech-Firmen in sehr unterschiedlichen
Bereichen tätig sind. Zu den wichtigsten Produkten,
die in der Schweiz hergestellt werden, gehören Prothesen und Orthesen (medizinische Hilfsmittel, die
eingeschränkt funktionstüchtige Körperteile unterstützen), Implantate, Reha-Produkte, medizinische
Verbrauchsgüter, elektromedizinische Geräte, Einrichtungsgegenstände für Spitäler und Arztpraxen,
Hörgeräte, bildgebende Diagnosegeräte, aber auch
Produkte und Dienstleistungen im Bereich Dentaltechnik. Als besonders dynamischer Bereich erweist
sich der Bereich Implantate und Prothesen: Die Exporte haben zwischen 2001 und 2008 um 180 Pro-
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Medizintechnik – eine unterschätzte
Schlüsselbranche
zent zugenommen, das ist fast doppelt soviel wie der
Durchschnitt aller Medtech-Produkte (109 Prozent)
und rund drei Mal soviel, wie die gesamten Schweizer
Warenexporte.
Schwer fassbare Zahlen
Trotz der volkswirtschaftlichen Bedeutung war es
für die Autoren der erwähnten Studie nicht ganz einfach, zuverlässige Zahlen über die Medtech-Branche
zu erhalten. Ein Grund dafür war, dass die Medizinaltechnik vom Bundesamt für Statistik nicht als eigene
Branche erfasst wird, sondern unter der Rubrik Präzisionsindustrie subsummiert wird. Der Dachverband
der Schweizerischen Handels- und Industrievereinigung der Medizintechnik (Fasmed), bemängelt denn
auch diese Einteilung. Die Kompetenz und hervorragende Stellung der Branche werde dadurch bei den
Entscheidungsträgern in der Wirtschaft, im Gesundheitswesen, aber auch in der Bevölkerung zuwenig
wahrgenommen.
Tatsächlich sind in der Öffentlichkeit nur wenige Firmen wirklich präsent, etwa der Hörgerätehersteller
Sonova (früher Phonak), der Zahnimplantathersteller
Straumann, die amerikanisch-schweizerische Firma
Synthes, welche Instrumente und Materialien für die
chirurgische Behandlung von Knochenfrakturen und
für die Rekonstruktionen des Skeletts herstellt, oder
das Unternehmen Ypsomed, das Injektionssysteme
für die Selbstverabreichung herstellt. Kaum bekannt
hingegen ist, dass beispielsweise das amerikanische Medtech-Grossunternehmen Medtronic seinen
Hauptsitz für die Emerging Markets in Asien, dem
Nahen Osten, Afrika und Südamerika in Tolochenaz
am Genfer See angesiedelt hat und dort auch den
weltweit modernsten Produktionsbetrieb für implantierbare Geräte (Herz- und Neurostimulatoren) unterhält. Die Produkte, die von Medtronic am Genfersee
hergestellt werden, machen immerhin fast 1 Prozent
des gesamten Schweizer Aussenhandels aus.
Pioniere prägten Anfangsphase
Dass das Bundesamt für Statistik die Medtech-Branche zur Präzisionsindustrie rechnet, hat allerdings
seine durchaus berechtigten Gründe. Ein Blick in die
Geschichte zeigt, dass schweizerische Tugenden wie
Präzision und Zuverlässigkeit, die beispielsweise auch
in der Uhren- und Maschinenindustrie immer wieder
zum Tragen kommen, mit ein Grund sind, warum sich
hierzulande eine enorme Dichte an Medtech-Unternehmen etablieren konnte. Dazu kommt die wichtige Fähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse in die
Praxis umzusetzen und Produkte zu entwickeln, die
durch innovative Ansätze zu überzeugen vermögen.
Viele der heutigen Schweizer Grossfirmen haben ursprünglich als Kleinfirmen angefangen, wie R. James
Breiding und Gerhard Schwarz in ihrem kürzlich publizierten Buch «Wirtschaftswunder Schweiz» aufgezeigt haben. Der Aufstieg des heutigen Hörgeräteherstellers Sonova beispielsweise begann Anfang
der 1960er-Jahre, als Ernst Rihs und Beda Diethelm
die vor dem Konkurs stehende AG für Elektroakustik
übernahmen und eine völlig neue Hörbrille auf den
Markt brachten, die sie in der ersten Phase in einer
Zürcher Wohnung produzierten. Heute ist Sonova einer der weltweit grössten Hersteller von Hörsystemen.
Im Bereich Orthopädie kann die Schweiz ebenfalls
grosse Erfolge vorweisen, auch wenn mit Sulzer Medica vor wenigen Jahren eine renommierte Firma
nach wechselvollen Zeiten auf Grund von Problemen
bei der Herstellung von künstlichen Hüftgelenken
scheiterte. Sowohl die Firma Synthes, die Instrumente, Implantate und Biomaterialien für die chirurgische
Behandlung von Schäden am Skelett herstellt, als
auch die Firma Straumann, die sich im Bereich Zahnimplantate und orale Geweberegeneration spezialisiert hat, verdanken ihre Anfänge einer Gruppe von
visionären Schweizer Chirurgen und Orthopäden, die
mit neuen Behandlungsansätzen Pionierarbeit leisteten. Dabei kam ihnen zu Hilfe, dass sie auf pfiffige
Maschinenbauer und Uhrentechniker stiessen, die ihr
Know-how in den Bereichen Legierungen und Metall-
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Schwerpunkt
Medizintechnik – eine unterschätzte Schlüsselbranche
verarbeitung beisteuerten und so einen wichtigen
Beitrag zum Aufschwung der Schweizer Orthopädie
leisteten.
Ob die Schweiz ihre starke Position längerfristig halten kann, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es auch
weiterhin gelingt, neue Ideen in marktfähige Produkte umzusetzen. Tatsächlich gibt es Indikatoren, die
auf eine ungebrochen hohe Innovationskraft hindeuten. Betrachtet man die Patentanmeldungen, welche
weltweit getätigt werden, dann wird deutlich, dass
sich der Anteil der Medizinaltechnik seit den 1990erJahren auf einem relativ konstanten Level von ca.
5,5 Prozent eingependelt hat. Bereits in den späten
1990er-Jahren übertraf die Schweiz andere Länder
mit einem Anteil von 10 bis 11 Prozent. Seit ca. 2004
konnte in der Schweiz der Anteil der MedizinaltechnikPatente sogar auf 15 bis 16 Prozent gesteigert werden.
Auch von Seiten der Hochschulen will man dem Gebiet Medizinaltechnik künftig vermehrt Aufmerksamkeit schenken. So hat die Schulleitung der ETH Zürich
beispielsweise den Bereich Medizinaltechnik und Gesundheit zum strategischen Gebiet erklärt, das sie in
den nächsten Jahren ausbauen möchte. Zusammen
mit privaten Donatorinnen und Donatoren will sie insgesamt sechs neue Professuren schaffen, die sich mit
orthopädischen Technologien im Alter, mit virtueller
Physiologie, neuen Technologien in der regenerativen
Medizin, mit chirurgischer Robotik sowie Neuroelektronik beschäftigen werden.
Rentabilität gewinnt an Bedeutung
Auf der anderen Seite gibt es allerdings auch deutliche Anzeichen, dass sich die Medtech-Branche künftig in einem raueren wirtschaftlichen Umfeld behaupten muss. «Medizintechnik-Branche am Scheideweg»
schrieb die «Neue Zürcher Zeitung» im August 2010
in einem Bericht über den «Swiss Medical Technology
Industry 2010 Survey», der von der Branchenplattform Medical Cluster zusammen mit den Beratungsunternehmen Roland Berger und Deloitte veröffentlicht wurde. Der Bericht zeigte auf, dass sich im Zuge
der globalen Wirtschaftskrise die Prioritäten in der
Medtech-Branche verschoben haben. Der verschärfte
Wettbewerb und das zunehmende Preis- und Kosten-
bewusstsein auf Seiten der Abnehmer würden auf die
Margen drücken, schrieben die Autoren des Reports.
Aus diesem Grund stellten die Medtech-Unternehmen
die Rentabilität nun zunehmend in den Vordergrund.
Eine Umfrage unter den Medtech-Firmen ergab denn
auch, dass diese den zunehmenden Kostendruck und
die Intensivierung des Wettbewerbs als die grössten
Herausforderungen wahrnehmen. Zwei Jahre zuvor
nannten die Firmen bei einer vergleichbaren Umfrage
die Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal und der
Zugang zu spezialisiertem Wissen an erster Stelle.
Dementsprechend haben sich die Handlungsschwerpunkte verschoben: Die meisten Unternehmen setzen die Prioritäten heute vor allem in den Bereichen
Verbesserung der Profitabilität sowie Optimierung
des Marketings, während die Stärkung der Produktinnovation und das geographische Wachstum an
Bedeutung verloren haben. Die Autoren des Surveys
konstatieren, etliche Unternehmen hätten sich von
«Innovatoren» zu «Renovatoren» entwickelt. Es sei
daher nicht auszuschliessen, dass sich in einigen Jahren eine Innovationslücke öffnen werde.
Sorgen bereitet der Branche insbesondere, dass sich
die Verhältnisse auf der Abnehmerseite zunehmend
verschärfen. Sowohl in den Industriestaaten als auch
in den Schwellenländern steigen die regulatorischen
Anforderungen an die Produkte – mit durchaus berechtigten Gründen, wie das Beispiel Implantate
zeigt. In der Schweiz müssen jedes Jahr alleine bei
den künstlichen Hüft- und Kniegelenken rund 5 000
Revisionsoperationen durchgeführt werden, was sich
gemäss Angaben der Stiftung für Qualität in der Implantationsmedizin bei Kosten von jeweils rund 50 000
Franken pro Operation auf einen Betrag 270 Millionen
Franken summiert. Der Branchenverband Fasmed,
die Schweizerische Gesellschaft für Orthopädie und
Traumatologie und der Krankenkassenverband Santésuisse haben sich daher bereits im Sommer 2007
darauf geeinigt, eine nationale Datenbank zu installieren, um schweizweit alle Komplikationen bei solchen
Operationen zu erfassen. Erfahrungen in Schweden
haben gezeigt, dass mit einer solchen Registrierung
die Komplikationsrate um bis zu 50 Prozent gesenkt
werden kann. Obwohl sich alle Beteiligten im Grundsatz einig sind, dass eine solche Datenbank ein sinnvolles Instrument ist, fehlt es bisher an einer konse-
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Schwerpunkt
Medizintechnik – eine unterschätzte Schlüsselbranche
quenten Umsetzung, weil sich die Partner noch nicht
über die längerfristige Finanzierung einigen konnten.
Politik fordert Kostensenkungen
Unter Druck geraten die Hersteller von Medizinaltechnik-Produkten aber auch wegen den laufenden
Sparbemühungen im Gesundheitsbereich. So soll
beispielsweise ein neues Vergütungssystem für Hörgeräte, das der Bund per Juli 2011 einführen will, zu
tieferen Preisen und damit auch zu tieferen Margen
führen. Dies, nachdem sich gezeigt hatte, dass in der
Schweiz die Patientinnen und Patienten für die gleichen Hörgeräte wesentlich mehr bezahlen müssen
als im Ausland. Ob die Massnahme tatsächlich den
erwünschten Effekt haben wird, ist zwar umstritten;
doch sie zeigt, dass die Politik die Preise der MedtechProdukte zunehmend kritisch hinterfragt.
In die gleiche Richtung zielt auch eine Motion, die das
Parlament im Jahr 2007 an den Bundesrat überwiesen hat. Dieser wird aufgefordert, bei der Mittel- und
Gegenständeliste (MiGeL) einen Systemwechsel zu
vollziehen. Die Liste definiert, welche zusätzlichen
Mittel und Gegenstände – beispielsweise Prothesen,
Seh- und Gehhilfen oder Bandagen – von den Versicherungen als Pflichtleistung übernommen werden
müssen und welchen maximalen Preis die Versicherungen dafür bezahlen müssen. Die Motion fordert
nun, das heutige System der Maximalpreise aufzugeben und ein Tarifsystem einzuführen, bei dem die
Versicherungen mit den Leistungserbringern einen
verbindlichen Preis aushandeln müssen. Während die
Verfechter des Systemwechsels argumentieren, die
Maximalpreise verhinderten einen effizienten Kostenwettbewerb und führten daher zu Mehrkosten, argumentiert der Branchenverband Fasmed – wohl aus
nicht ganz uneigennützigen Gründen –, ein Tarifsystem behindere im Gegenteil den freien Wettbewerb,
der heute in der Medtech-Branche herrsche.
Auch der geplanten flächendeckenden Einführung
von Fallpauschalen (SwissDRG) steht die MedtechBranche skeptisch gegenüber. Sie bemängelt vor allem, der Zugang zu innovativen, aber noch nicht ins
System integrierten Technologien sei nicht genügend
gewährleistet. So musste beispielsweise das Berner
Inselspital im Sommer 2009 ein Moratorium für den
Einbau von neuartigen Herzklappen verhängen. Diese neuen Klappen werden nicht mehr über eine Öffnung im Brustkasten eingesetzt, sondern über einen
Katheter, der durch die Beinarterie eingeführt wird.
Obwohl die Operation und Nachbehandlung für den
Patienten viel weniger aufwändig ist und dieser das
Spital bereits am nächsten Tag verlassen kann, ist die
neue Technik für das Spital eine zweischneidige Angelegenheit, da es aufgrund der hohen Preise für die
neuen Klappen und der pauschalen Abrechnung mit
den Versicherungen ungedeckte Kosten von 10 000
Franken pro Operation übernehmen muss. Da im Juni
bereits 50 dieser modernen Klappen eingesetzt worden waren, das Budget des Spitals jedoch nicht mehr
als den Einbau von 60 Klappen erlaubte, musste der
Herzchirurg Thierry Carell während zweieinhalb Monaten auf den Einsatz dieser Klappen verzichten, wie
er in einem Artikel der «Berner Zeitung» berichtete.
Grundsätzlich wird es auch mit dem neuen Abrechnungssystem möglich sein, innovative, aber kostspielige Technologien in den Leistungskatalog aufzunehmen und somit ihren Einsatz im klinischen Alltag zu
ermöglichen. Kommt ein innovatives Verfahren auf
den Markt, das wie die oben erwähnten Herzklappen
durch die bestehende Fallpauschale deutlich unterfinanziert wird, kann beim Case-Mix-Office, das die
einheitliche Tarifstruktur für Spitalleistungen regeln
wird, eine Zuordnung zu einer höheren DRG beantragt werden. Das Case-Mix-Office geht allerdings davon aus, dass es in der Regel rund fünf Jahre dauern
wird, bis einer neuen Behandlungsmethode tatsächlich eine höhere Fallpauschale zugeordnet werden
kann. Wie diese Übergangsphase überbrückt werden
soll, damit medizinisch sinnvolle Innovationen nicht
auf Grund von kurzfristigen finanziellen Gründen auf
der Strecke bleiben, ist heute noch unklar. Unbestritten ist hingegen, dass es angesichts des technischen
Fortschritts dringend eine sinnvolle Lösung für dieses Problem braucht. Wie dynamisch die Entwicklung
verläuft, zeigt sich unter anderem daran, dass die
Medtech-Hersteller mehr als die Hälfte ihres Umsatzes mit Produkten erwirtschaften, die weniger als drei
Jahre auf dem Markt sind.
Felix Würsten
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Ethische Kernfragen
Medizintechnik als Thema der Ethik?
Die Frage scheint zu allgemein gestellt: Kann man
an ein derart breites Gebiet wie die Medizintechnik
spezifische ethische Fragen knüpfen? Dies kann man,
wenn man «spezifisch» nicht als «neu» versteht; also
nicht meint, dass es ethische Probleme gibt, die ausschliesslich in der Medizintechnik eine Rolle spielen.
Und zudem muss eine ethische Analyse der Medizintechnik zuerst dieses weite Feld etwas strukturieren,
um die ethischen «hot spots» zu identifizieren.
des Problems, wie eine Person mit dem Wissen umgehen soll, von einer nichtheilbaren Krankheit betroffen zu sein, ist nicht von der konkreten Methode
des Nachweises abhängig. Entsprechend ist es nicht
zielführend, solche Fragen generell unter dem Label
«Medizintechnik» zu diskutieren, sondern man gruppiert sie anhand der konkreten Anwendungen wie
eben beispielsweise Stammzellmedizin, genetische
Diagnostik oder Transplantationsmedizin.
Wie bereits der Hauptartikel dargelegt hat, ist die
Medizintechnik in der Schweiz ein breit aufgestelltes
und ökonomisch überaus erfolgreiches Unterfangen.
Mit Blick auf die Produkte kann man dieses in vier
Hauptgruppen unterteilen: Erstens: technische Hilfen
im und am Körper (Implantate, Prothesen, Hörgeräte etc.); zweitens: Geräte, Apparate und Instrumente für medizinische Aktivitäten (Diagnostikgeräte,
Apparate für bildgebende Verfahren etc.); drittens:
Verbrauchsmaterialien (z. B. Spritzen, Reagenzien für
Diagnostik etc.); viertens: Dienstleistungen und Software. Die vierte Gruppe steht dabei in unscharfer Abgrenzung zu einem ebenfalls breiten, «eHealth» genannten Gebiet (siehe TiF 61, 2005), wo es um die
umfassende Informatisierung medizinischer Abläufe
geht – Stichworte dazu sind die elektronische Patientenakte, Telemedizin und dergleichen. Dieses Gebiet
stellt gesonderte ethische Fragen wie z. B. Datenschutz und soll hier nicht weiter besprochen werden.
Zum anderen sind bestimmte Anwendungsformen
von Medizintechnik mit konkreten ethischen Fragen
verbunden, die sich direkt aus dem Gebrauch dieser
Gerätschaften ergeben. dabei sind insbesondere drei
Aspekte bedeutsam:
Nebst dieser fachlichen Gliederung der Medizintechnik lassen sich auch die ethischen Fragen wie folgt
gruppieren: Zum einen sind viele medizintechnische
Anwendungen «Ermöglichkeitsbedingungen» für zahlreiche, kontrovers diskutierte ethische Fragen; d. h.
ohne das Vorhandensein entsprechender Gerätschaften gäbe es gewisse Forschungs- und Anwendungsbereiche gar nicht. Die meisten heutigen Themen der
Medizinethik wie Stammzellen, Hirntodkriterium oder
genetische Diagnostik beruhen massgeblich auf der
Existenz moderner Gerätschaften. Der ethische Kern
der Frage ist aber nicht an diese technischen Systeme gebunden. So braucht es beispielsweise eine ausgefeilte Analytik, um herauszufinden, ob jemand eine
gewisse Prädisposition für eine unheilbare Krankheit
hat, und die technischen Spezifika dieser Verfahren
(z. B. Nachweisgenauigkeit) spielen bei der ethischen
Beurteilung zwar eine Rolle. Doch der ethische Kern
• Umgang mit Mängeln und Fehlern: Kein Produktionsprozess ist perfekt und entsprechend ist die
Sicherung der Qualität und der Umgang mit Fehlern ein ethisches Erfordernis erster Güte. Bei
Produkten, die direkt auf das Wohlbefinden von
Patienten einwirken und bei Versagen mitunter
tödliche Auswirkungen haben können (z. B. Herzschrittmacher) stellt sich diese Forderung natürlich verschärft. Ebenso wie bei pharmakologischen
Produkten (erinnert sei z. B. an den ConterganSkandal in den 1960er-Jahren) finden sich auch
bei medizintechnischen Produkten im historischen
Rückblick Probleme. So haben Schmiermittel-Verunreinigungen bei der Produktion von Hüftgelenken des Produzenten Sulzer Medica bei zahlreichen
Patienten das Einwachsen des Implantats verhindert. Milliardenschwere Sammelklagen waren die
Folge und die Reputation des (heute nicht mehr
existierenden) Unternehmens war zerstört. Das
Beispiel zeigt, dass natürlich auch auf Seiten der
Produzenten starke Anreize bestehen, die Qualität
der eigenen Produkte zu sichern. Doch dieses Bemühen sollte sich nicht nur auf die Produkte selbst
fokussieren, sondern auch auf die Prozesse rund
um deren Anwendung im klinischen Kontext. So
sollten beispielsweise Informationen über Fehlanwendungen oder Schwierigkeiten bei operativen
Eingriffen (im Fall von Implantaten) systematisch
gesammelt werden, um die «Fehlerkultur» (also die
Etablierung eines systematischen Prozesses, um
aus Fehlern lernen zu können) zu verbessern.
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Ethische Kernfragen
Medizintechnik als Thema der Ethik?
• Umgang mit nicht erwarteten Nebeneffekten: Qualitätssicherung und Aufbau einer Fehlerkultur ist
sicher auch das auf Produzentenseite am meisten
akzeptierte ethische Erfordernis an medizintechnische Produkte. Schwieriger dürfte der Umgang
mit nicht erwarteten Nebeneffekten sein – auch
deshalb, weil diese teilweise gar nicht im Einflussbereich der Produzenten liegen. So hat beispielsweise die Entwicklung von Cochlea-Implantaten zu
einer unerwarteten Reaktion der Gehörlosen-Gemeinschaft geführt, die durch diese Geräte – und
insbesondere den Wunsch, sie taub geborenen
Kindern möglichst früh zu implantieren – ihre «Gehörlosen-Kultur» bedroht sehen. Andere Systeme
wie Stimulatoren für die Tiefe Hirnstimulation (siehe dazu TiF Nr. 94, 2010) können bei Patienten
zu nichtintendierten Nebeneffekten, z. B. hypomanischen Zuständen führen, die in ethischer Hinsicht
nicht einfach zu beurteilen sind. Gewiss wäre es
falsch, die Verantwortung für solche nicht erwarteten Nebeneffekte einfach den Produzenten zu
überlassen; zu komplex ist das Wirkungsgefüge
und zu wichtig ist auch die Rolle der Anwender (also
der Ärzteschaft). Und auch die ethische Beurteilung solcher Effekte ist keineswegs unkontrovers.
So gibt es z. B. Ethiker, die ein Vorenthalten eines
Cochlea-Implantats bei einem taub geborenen Kind
als klar falsch beurteilen und es für ein Erfordernis halten, gegen den Willen der Eltern eine solche
Implantierung vorzunehmen. Dennoch braucht es
auch von Produzentenseite eine gewisse Sensibilität für schwer voraussehbare Folgen der eigenen
Produkte, was sich beispielsweise in der Förderung
entsprechender Forschungen oder in den Informationsbroschüren über entsprechende Produkte
(z. B. für Fachpersonen) niederschlagen kann.
• Kostenfragen: Auch die Medizintechnik trägt zur
Kostensteigerung des Gesundheitswesens bei und
entsprechend ist sie auch von den ethischen Fragen betroffen, die diese Kostensteigerung mit sich
bringt. Die damit verbundenen Abwägungen sind
aber notorisch schwierig, weil nur in wenigen Fällen die Kausalitäten klar erkennbar sind (also führt
ein Produkt X klarerweise zu einer Erhöhung oder
Verminderung der Gesundheitskosten). Und selbst
dann können sich institutionelle Hindernisse ergeben, wie das Beispiel im Hauptartikel zeigt, wo ein
klar besseres Produkt (Herzklappen, die minimalin-
vasiv implantiert werden können) sowohl hinsichtlich Patientennutzen als auch Kosteneffektivität
dennoch nur «rationiert» zum Einsatz kommt, weil
die gängige Finanzierungsstruktur durch die Krankenkassen diese Herzklappen derzeit nicht umfasst.
Ein Bereich, in dem sich ein klar erkennbares Kostenproblem stellt, ist die medizinische Bildgebung,
die auf teilweise sehr teuren Geräten beruht, die im
Zug des Wettbewerbs zwischen den Spitälern dennoch immer mehr angeschafft werden. Ein Anreiz
für die Gerätehersteller, diese Situation zu verändern, besteht natürlich kaum – doch diese müssen
sich bewusst sein, dass auch sie zunehmend in den
Fokus von Kostenüberlegungen geraten. Ergebnis können «Schnellschüsse» mit möglicherweise
unerwünschten Effekten sein. Die MedizintechnikBranche darf sich aber nicht darauf verlassen, dass
die Kostendebatte wie bis anhin vorab Medikamente
und den stationären Spitalbereich betreffen wird.
Und sie muss zunehmend auch Verteilungsfragen
berücksichtigen, denn je ausgefeilter und damit
auch teurer bestimmte medizintechnische Systeme
werden, desto mehr wächst der Druck, dass diese
Gegenstand einer «Rationierung» werden dürften,
d. h. es stellt sich die Frage, ob jeder Patient ein
bestimmtes System erhalten darf oder nicht. Je reglementierter das Gesundheitssystem wird, desto
weniger dürften solche Entscheide in einem Markt
fallen, der ja derzeit noch für nicht wenige medizintechnische Produkte massgebend ist.
Die genannte Klassifizierung liefert natürlich keine Rezepte zur Beurteilung konkreter Fragen. Dazu ist die
Produktpalette der Medizintechnik schlicht zu breit.
Doch die Medizintechnik muss sich bewusst sein, dass
ihre Produkte je länger je weniger als schlichte «Instrumente» wahrgenommen werden, für deren ethische Effekte rein nur der Anwender (also in der Regel
die Ärzteschaft) Verantwortung trägt.
Markus Christen
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Interview
Melchior Buchs: «Die Schweiz ist ein
begehrter Medtech-Standort»
Die Medizintechnik ist eine erfolgreiche, aber oft
unterschätzte Branche. Welche Herausforderungen
stellen sich angesichts des Kostenwachstums und
neuer Entwicklungen wie die DRG-Einführung für
die Branche? «Thema im Fokus» sprach mit Melchior Buchs, dem Generalsekretär von Fasmed, dem
Dachverband Schweizerische Medizintechnik.
Die Schweizer Medizintechnik hat volkswirtschaftlich
heute eine vergleichbare Bedeutung wie die Pharmaindustrie. Dennoch spricht man immer nur von Medikamenten, Gentechnik und Stammzellen, wenn vom
medizinischen Fortschritt die Rede ist. Stört Sie das?
Überhaupt nicht. Medizinprodukte helfen heilen, retten Leben und können die Lebensqualität, die Leistungsfähigkeit sowie die Mobilität der Menschen erheblich steigern. Die Medizintechnik tritt dabei nicht
vordergründig in Erscheinung, ist aber bedeutender
Teil einer medizinischen Gesamtleistung. So gibt es
keine medizinische Leistung ohne Medizintechnik.
Warum ist die Schweiz im internationalen Vergleich
ein derart erfolgreicher Standort für MedizintechnikUnternehmen geworden?
Die Schweiz bietet der Medtech-Branche einen idealen Nährboden: mit ihrem traditionellen Feinmechaniker-Handwerk und materialtechnischen Know-how,
mit innovativen Forschungsinstitutionen, attraktiven
steuerlichen Bedingungen, hochqualifizierten Arbeitskräften und einem flexiblen Arbeitsmarkt. Ein
weiteres Plus sind typisch schweizerische Eigenschaften wie Perfektion, Qualität und Zuverlässigkeit. Neben dem hohen Bildungsniveau machen das moderne
Gesundheitswesen, die ausgeprägte Spital- und Ärztedichte sowie die vergleichsweise rasche Zulassung
neuer Produkte die Schweiz zum begehrten Standort.
Dabei ist die traditionelle Vernetzung der Industrie
mit Universitäten, Ärzten und Krankenhäusern für
den Innovationsprozess besonders wichtig. Ausländische Firmen errichten hier neben Produktionsstätten
bevorzugt ihre Forschungseinrichtungen.
Gibt es Schätzungen über den Anteil der Kosten für
Medtech-Produkte an der Kostensteigerung im Gesundheitswesen? Und denken Sie, dass dieser Anteil in
den letzten Jahren eher unterproportional oder überproportional gewachsen ist?
Der Anteil der Medizintechnik an den Gesundheitskosten wird heute auf rund 5 Prozent geschätzt. Er
hat sich in den letzten Jahren wohl nicht erhöht. Weiter gibt es dazu keine erhärteten Zahlen. Fakt ist:
Die Branche ist wachstumsstark und hochinnovativ.
Sie leistet mit einer Bruttowertschöpfung von über
11 Milliarden und einem Exportvolumen von gegen
10 Milliarden Franken einen bedeutenden Beitrag zur
Volkswirtschaft und zum Wohlstand in der Schweiz.
Gleichzeitig trägt die Medizintechnik mit ihren Entwicklungen zur Effizienz bei. So werden die Behandlungsmethoden immer schonender und zeit- sowie
kostensparender (z. B. durch die raschere Reintegration eines Patienten ins Berufsleben). Laut einer Studie des deutschen Bundeswirtschaftsministeriums
der Gesundheitswirtschaft wurden unter anderem
durch medizintechnische Innovationen in den letzten
Jahren volkswirtschaftliche Einsparungen in der Höhe
von 22 Milliarden Euro erzielt.
Die Erforschung und Marktzulassung neuer Medikamente ist mit einem aufwendigen und definierten Verfahren wie z.B. präklinischen und klinischen Studien,
Zulassungsprozedere etc. verbunden. Ist dem auch
so mit Produkten der Medizintechnik, insbesondere
beispielsweise Implantaten?
Medizinprodukte entstehen aus der Zusammenarbeit
von Ärzten und Industrie in der Praxis und nicht wie
Medikamente im Labor. Der Marktzugang für Medizinprodukte in der Schweiz ist in der (EU-konformen)
Medizinprodukteverordnung (SR 812.213) geregelt.
Wer also in der Schweiz Medizinprodukte in Verkehr
bringen möchte, muss den Behörden, die für die Kontrolle im Rahmen der Marktüberwachung zuständig
sind, auf Verlangen eine Konformitätserklärung (CEKennzeichen) abgeben. Und je höher die Klasse ist,
der das Medizinprodukt seinem Gefährdungspotential
entsprechend angehört, desto strenger sind die ein-
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
«Die Schweiz ist ein begehrter
Medtech-Standort»
zuhaltenden Zulassungsvorschriften. Beispielsweise
gehören Orthopädische Implantate wie Hüft- und
Knieimplantate der höchsten Klasse III an und müssen deshalb strengsten Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen gerecht werden und genaue Dokumentationskriterien erfüllen.
Das KVG verlangt die «periodische Prüfung der
Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) von Leistungen der Grundversicherung».
Da nun einige Produkte der Medizintechnik von der
Grundversicherung bezahlt werden: Wie werden diese
WZW-Kriterien geprüft?
Heute gilt für medizintechnische Leistungen, die durch
die Grundversicherung abgedeckt werden, meist die
WZW-Vermutung. Um die Wirtschaftlichkeit und Angemessenheit der Gesundheitsversorgung garantieren zu können, ist jetzt der Bundesrat beauftragt, die
Rahmenbedingungen für die Gründung einer effektiven nationalen Health-Technology-Assessment-Agentur (HTA) zu schaffen. Diese unabhängige Institution
soll das Kosten-Nutzen-Verhältnis von neuen medizinischen Technologien und Leistungen systematisch bewerten und veröffentlichen. Der FASMED unterstützt
dies, fordert aber, von Anfang an in den Prüfungs- und
Planungsprozess sowie in eine allfällige Umsetzung
eingebunden zu werden. Erste Erfahrungen dazu existieren zum Beispiel mit dem Evaluations-Register in
der Wirbelsäulen-Chirurgie, dem «Swiss Spine Register».
Ein wichtiges ethisches Problem ist der Umgang mit
Fehlern, Produktmängeln und dergleichen, die sich
bei der alltäglichen Nutzung von Medikamenten aber
auch Medtech-Produkten ergeben können. So müssen
in der Schweiz beispielsweise jedes Jahr alleine bei
den künstlichen Hüft- und Kniegelenken rund 5 000
Revisionsoperationen durchgeführt werden. FASMED
und andere Verbände wollen deshalb eine nationale
Datenbank installieren, um schweizweit alle Komplikationen bei solchen Operationen zu erfassen – doch bei
der Umsetzung hapert es. Warum?
Mit dem geplanten Implantat-Register, SIRS, existiert ein griffiges Werkzeug zur objektiven Messung
Melchior Buchs, Dr. rer. pol., MAS FHNW Systemische Beratung, startete seine Laufbahn als Berater
und Mitinhaber in einer Berner PR-Agentur, bevor er
acht Jahre als Gemeinderat und Vize-Stadtpräsident
die Baudirektion der Stadt Thun leitete. In dieser
Zeit war er auch Mitglied des Grossen Rates des
Kantons Bern. Seit 2007 ist er Generalsekretär des
Dachverbandes der Schweizerischen Medizintechnik-Branche (FASMED).
der Qualität. Und obwohl im KVG ein entsprechender
Auftrag dazu an die Leistungserbringer existiert, ist
hier die Finanzierungsfrage bisher noch nicht gelöst.
In Zusammenarbeit mit dem Nationalen Verein für
Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken, ANQ,
zeichnet sich nun aber eine Lösung ab. Die SIRISStiftung – mit zwei FASMED-Vertretern im Stiftungsrat – und das Institut für «Evaluative Forschung in
der Medizin», IEFM, haben das Register in den letzten Monaten betriebsbereit gesetzt. Die Einführung
macht jetzt umso mehr Sinn, als dass neben der Orthopädie inzwischen auch andere Implantat-Gebiete
die z.B. die Kardiologie und Dentalmedizin starkes Interesse an einer Teilnahme signalisiert haben.
Liegt es eigentlich nicht in der Verantwortung der Firmen, für eine dauerhafte Sicherung der Produktqualität zu sorgen, auch was die Anwendung der Produkte
betrifft?
Ja. Neben den Voraussetzungen für das Inverkehrbringen ist in der Medizinprodukteverordnung (MepV)
auch die dauerhafte Sicherstellung der Qualität geregelt. Danach
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muss eine Firma für jedes neue Produkt ein Beobachtungssystem führen und schwerwiegender Vorkommnisse, die z.B. das Leben oder die
Gesundheit gefährden könnten, der zuständigen Be-
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Interview
«Die Schweiz ist ein begehrter Medtech-Standort»
hörde, Swissmedic, melden. Darüber hinaus verfügen
d�����������������������������������������������
ie Medtechunternehmen über eigene Qualitätssystemen, die ein hohes Mass an Sicherheitsprävention
gewährleisten.
Studien zeigen, dass Medtech-Hersteller mehr als die
Hälfte ihres Umsatzes mit Produkten erwirtschaften,
die weniger als drei Jahre auf dem Markt sind. Nun
kann es aber nach der Einführung der SwissDRS ab
2012 bis zu fünf Jahre dauern, bis ein innovativeres
aber teureres Produkt einer höheren Tarifklasse
zugeordnet werden kann. Wird sich das neue System
demnach hemmend auf die Rentabilität und auch Innovationskraft der Medtech-Branche auswirken?
Für den FASMED besteht die Gefahr, dass mit der neuen Fallpauschale die Einführung von medizinischen
Innovationen in der Schweiz erheblich erschwert und
deren Finanzierung nicht mehr sichergestellt wird.
Er hat deswegen frühzeitig eine DRG-Task Force gebildet, die sich mit den möglichen Nachteilen für die
Branche und den Gesundheitssektor befasst und
entsprechende Lösungen erarbeitet. In seinen Positionspapieren fordert der Verband einen weiterhin
schnellen Zugang für Patienten zu Innovationen, einen transparenten und bürokratiefreien Antragsprozess sowie die frühzeitige Erfassung und Berechnung
der Kosten einer neuen Leistung durch die SwissDRG
AG. Und bis eine (aufwändige) Innovation schliesslich
im DRG-Leistungskatalog abgebildet ist, empfiehlt die
Arbeitsgruppe zur Überbrückung zusätzlich eine Art
Vorfinanzierung.
Der Preis von Medtech-Produkten bildet sich – im Gegensatz etwa zu Medikamenten – in der Regel auf dem
Markt. Ist ein solches System überhaupt mit einem
Tarifsystem mit fixer Preisbindung vereinbar? Wird es
zu einer Kartellbildung kommen?
Ziel von DRG ist u. a., bei einer stationären Behandlung die Kosten für medizinische Leistungen vergleichbar und transparent zu machen, die Prozesse zu
optimieren und Einsparpotenziale zu nutzen. Mit dem
neuen System wird jeder Spitalaufenthalt anhand
bestimmter Kriterien wie Diagnosen, Behandlungen
und Schweregrad einer Fallgruppe zugeordnet. Beispielsweise werden bei Operationen nicht die einzelnen Produkte, sondern wird das gesamte Leistungs-
paket inkl. der Medizintechnik als Teil davon pauschal
vergütet. Die Preise für Medtech-Produkte bilden sich
deshalb auch mit Einführung von DRG (vor allem
durch Handel und Vertrieb) weiterhin auf dem Markt
und unterliegen nicht einem Tarifsystem oder einer
Kartellabsprache.
Wie stehen Sie zur politisch geäusserten Forderung,
dass die Preise für Medtech-Produkte sinken sollen,
was sich beispielsweise in der bundesrätlich verordneten Senkung der Preise von Blutmessgeräten ausdrückte?
Wie am Beispiel der neuen Fallpauschale ersichtlich,
setzt sich der FASMED für den Erhalt der Qualität bei
der medizinischen Versorgung und für die Wettbewerbs- sowie für die Innovationskraft der Branche
ein. Um möglichst lange mobil und unabhängig zu
bleiben, beanspruchen die Menschen immer mehr
hochentwickelte, medizintechnische Produkte. Doch
Qualität und Fortschritt haben ihren Preis und dürfen
nicht Sparmassnahmen zum Opfer fallen. Ende vergangenen Jahres gab Bundesrat Didier Burkhalter die
Senkung der Höchstvergütungsbeträge umsatzstarker Produktgruppen in der Mittel- und GegenständeListe (MiGeL) auf Januar 2011 bekannt. Ähnlich wie
bei den 2009 durchgesetzten tieferen Labortarifen ist
zu bezweifeln, ob mit dieser (wiederholten) kurzfristig angesetzten Massnahme die gewünschte kostensenkende Wirkung im Gesundheitswesen erzielt wird.
Auch kann es nicht das Ziel sein, mit Überregulierungen und -bürokratie zusätzlichen Kostenaufwand
zu erzeugen und Schweizer Standortvorteile wie den
vergleichsweise raschen Marktzugang für medizintechnische Innovationen zunichte zu machen.
Die Medtech-Branche war in den letzten Jahrzehnten
wirtschaftlich fast beispiellos erfolgreich. Welche gesellschaftliche Verantwortung erwächst Ihrer Ansicht
nach aus diesem wirtschaftlichen Erfolg der Branche?
Die Medizintechnik leistet mit grossem Engagement
einen bedeutenden Beitrag an eine erstklassige medizinische Versorgung. Sie trägt mit ihren hochqualitativen und innovativen Produkten zur ständigen
Verbesserung der Lebensqualität bei. Ihre gesellschaftliche Verantwortung unterlegt die Medizintechnik zudem mit dem Code of Business Conduct (CBC).
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Interview
«Die Schweiz ist ein begehrter Medtech-Standort»
Dieser hat sich zum vielbeachteten Branchenkodex
etabliert und bietet den Mitgliedern des Verbands
Leitlinien für «ethische und rechtskonforme Interaktionen mit Fachpersonen des Gesundheitswesens».
Ziel ist, Transparenz zu schaffen und falsche Anreize
zu verhindern. Indem sich die Medtech-Firmen zum
CBC bekennen und ihre Marktpartner davon in Kenntnis setzen, fördern sie den wirksamen Wettbewerb
und die Glaubwürdigkeit der Branche in der Öffentlichkeit und bei den Behörden.
Interview: Markus Christen
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Fallbeispiel
Fallbeispiel: Wer soll die Preise bestimmen?
Das vorliegende Fallbeispiel dreht sich um die Motion
der CVP-Nationalrätin Ruth Humber «Wettbewerb
bei den Produkten der Mittel- und Gegenständeliste» (vgl. auch mit Hauptartikel). Der Text dieser
2005 eingereichten Motion findet sich unten. Bislang
hat der Bundesrat die Motion ablehnend beurteilt,
National- und Ständerat aber haben der Motion
zugestimmt (2009) und diese dem Bundesrat überwiesen.
Eingereichter Text: Der Bundesrat wird beauftragt,
im KVG die gesetzlichen Grundlagen zu schaffen, damit die Preise bei den Produkten der Mittel- und Gegenständeliste (Migel) vertraglich auszuhandeln sind
und die Krankenversicherer Produkte einzig gestützt
auf einen vertraglich ausgehandelten Preis zwischen
den Leistungserbringern und den Krankenversicherern bzw. deren Verbänden bezahlen müssen.
Aufgabe: Die Motion will eine neue Form der Preisgestaltung für medizintechnische Produkte: Nicht mehr
der Markt (versehen mit einer Preisobergrenze), sondern ein vertraglich vereinbarter Fixpreis soll künftig
gelten. Beurteilen Sie diese Idee mit Blick auf die gängigen medizinethischen Argumentationen für die Preisgestaltung von Produkten des Gesundheitswesens (liberale Lösungen vs. Staatseingriffe). Konsultieren Sie
dazu auch die Begründung dieses Antrags sowie die
Antwort des Bundesrates (www.parlament.ch/d/suche/
seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20053523).
Fallbesprechung TiF 95: «Darf Roland
mehr essen?»
In der letzten Ausgabe des Thema im Fokus wurde
erläutert, dass bisher in sonderpädagogischen Einrichtungen in der Schweiz selten strukturierte ethische Gespräche stattfinden. Deshalb folgen hier erst
einige Überlegungen zum Gesprächssetting: Wer sollte an der ethischen Fallbesprechung teilnehmen? Als
Direktbetroffene sind sicher die heilpädagogisch Betreuenden einzuladen. Es ist zu überlegen, wie die
Perspektive und die Interessen von Roland in das
Gespräch einfliessen können. Am einfachsten wäre,
wenn eine Sonderpädagogin, vielleicht die Bezugsperson von Roland, seine Wünsche und seine Sicht auf
das Problem in das Gespräch einbringt. Sie spricht im
Vorfeld mit Roland über das Gespräch, über das erlebte Dilemma und bittet ihn, seine Wünsche zu äussern. Am Gespräch sollten unbedingt auch die Heimleitung (welche juristisch wohl in den meisten Fällen
den Entscheid zu verantworten hat) und der Heimarzt
präsent sein. Eine Ernährungsberaterin im Konsilium
beizuziehen könnte hilfreich sein. Zudem ist zu überlegen, in welcher Form die Familie oder allenfalls der
gesetzliche Vertreter von Roland mit einzubeziehen
sind (entweder direkt im Gespräch oder im Anschluss
daran). Manchmal ist ein Familienmitglied gesetzlicher Vertreter. Dieser müsste in jedem Fall mit dem
Ausgang der Entscheidung einverstanden sein.
Ethisches Problem: Das gemeinsame ethisches
Problem kann folgendermassen formuliert werden:
Wie können wir Roland ermöglichen, dass er sich
möglichst so ernähren kann, wie er es gerne möchte
(Erhöhung der Lebensqualität und Umsetzung seiner
Selbstbestimmung), ohne dass er sich selbst gefährdet?
Kontextanalyse: Wichtig zur Lösung des Problems
sind die folgenden Fragen: Wie sieht das Problem
vom medizinischen Standpunkt her aus? Wie gross ist
die Gefährdung der Gesundheit? Mit welchen Kompli-
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Fallbesprechung
«Darf Roland mehr essen?»
kationen muss Roland genau rechnen und wie gross
ist die Eintretenswahrscheinlichkeit?
• Einbezug einer Ernährungsberaterin: was schadet
Roland am meisten (gewisse Lebensmittel, die er
nicht essen sollte oder nur in kleinen Mengen, oder
ist es das Übergewicht)? Welche Nahrungsmittel
sind besonders gesundheitsgefährdend?
• Detaillierte Kalorienbilanz machen: Ist- und SollZustand: wie viel müsste Roland abnehmen, damit
die Gesundheitsgefährdung signifikant abnimmt?
Was bedeutet dies für die Diät? Wie müsste sich
Roland ernähren, damit das Risiko minimiert würde?
• Wie ernährt sich Roland nun aber tatsächlich, d.h.
wo besteht am meisten Handlungsbedarf und wo
kann durch eine Änderung der Ernährung am meisten Wirkung erzielt werden? Bei den Mahlzeiten
im Heim? Bei den Zwischenmahlzeiten, die er sich
selbst kauft? An den Wochenenden, die er bei den
Eltern verbringt?
Daraus kann im Anschluss der Handlungsspielraum
während der Gruppenmahlzeiten bestimmt werden
und es kann abgelesen werden, welche Wirkung das
Wegnehmen des Taschengeldes hätte.
• Wie viele Kalorien könnte er verbrennen, wenn er
mehr Bewegung hätte oder Sport treiben würde
(Schwimmen, Wandern, Basketball, etc.)? Wäre er
bereit, hier eine gewisse Anstrengung zu erbringen?
• Wie viel Mitbestimmungsrecht haben die Bewohner
beim Essen, resp. wer kocht und wer entscheidet
über das Essen?
Um das Beispiel weiter bearbeiten zu können, gehen
wir von folgenden Voraussetzungen aus:
• Die Gesundheitsgefährdung wird vom Hausarzt
als relativ gross eingestuft, v.a. wenn Roland nicht
mindestens 5 kg abnimmt oder gar noch mehr zunehmen würde.
• Dass Roland nicht mehr als 1 800 Kalorien am Tag
zu sich nehmen sollte, damit er nicht zunimmt, in
einer ersten Phase zum Abnehmen noch weniger.
• Roland hat sich mehrmals unzufrieden bezüglich
des Essens im Heim geäussert. Er möchte im Heim
anders essen, ist sonst wenig bereit, auf seine Zwischenmahlzeiten zu verzichten.
Werteanalyse: Die folgenden Werte stehen sich
gegenüber: Die Lebensqualität von Roland (was für
ihn bedeutet, genussvoll das essen zu dürfen, was
er mag) und seine Selbstbestimmung (mit dem Taschengeld Essen kaufen dürfen und über die Menge
der eingenommenen Mahlzeit selbst entscheiden).
Auf der anderen Seite möchte der Hausarzt eine Gefährdung der Gesundheit vermeiden, also Schaden
für Roland vermeiden.
Bei der Werteabwägung scheint zuerst einmal zentral zu sein, ob Roland die Situation realistisch einschätzen kann: Ist er sich bewusst, wie gross die
Gefährdung seiner Gesundheit ist, wenn er ungesund
und zu viel isst? Anders gesagt: ist er bezüglich des
ethischen Problems urteilsfähig? Dies müsste im Gespräch mit Roland und im Team festgestellt werden.
Herrscht Einigkeit, dass Roland die Gefährdung verstanden hat und trotzdem weiter essen möchte, dann
müsste analog wie bei allen erwachsenen Menschen
das Recht auf Selbstschädigung respektiert werden.
Allerdings wird es in der Praxis nicht immer leicht
sein, die Urteilsfähigkeit zu beurteilen (leider kann
auf diese Problematik hier nicht detailliert eingegangen werden).
Wenn er nicht urteilsunfähig ist, d. h. die Gefährdung
seiner Gesundheit durch sein Essverhalten nicht oder
nur ungenügend abschätzen kann, dann muss eine
stellvertretende Entscheidung an seiner Stelle getroffen werden. In diese sollte seine Meinung resp. seine
Wünsche auch einbezogen werden. Zudem ist die Gefährdung genauer zu fassen (siehe Kontextanalyse):
Wie gross ist die Gefahr, dass er dadurch krank wird
und allenfalls (viel) weniger lange lebt? Wird Selbstbestimmung als Abwehrrecht verstanden, muss gefragt werden: Ist diese Gefährdung gross genug, um
eine fremdbestimmte Einschränkung der Essensmenge und -Wahl zu rechtfertigen?
Eine weitere Frage, die zur Lösung des Dilemmas helfen sollte: Ist die Einschränkung der Lebensqualität,
wenn man ihm eine strenge Diät aufzwingt, so gewaltig, dass das Inkaufnehmen einer Lebensverkürzung
gerechtfertigt ist?
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
«Darf Roland mehr essen?»
Zwei Hauptargumentationen stehen sich gegenüber:
Jene, welche die Lebensqualität und die Selbstbestimmung von Roland am höchsten gewichtet, und
jene, die den Wert der Gesundheit und das Vermeiden einer Gefährdung als wichtigere Werte ansieht.
Mit der zweiten Argumentation wird auch oft die Verantwortung verbunden, die stellvertretend für Menschen mit einer Behinderung übernommen wird.
Die Erhaltung der Gesundheit ist hier sozusagen die
Grundlage für ein gutes Leben. Schwäche dieser Position ist die Tatsache, dass sie den Willen von Roland
nicht berücksichtigt.
Es kann aber auch argumentiert werden, dass die Lebensqualität letztlich der am höchsten zu gewichtende Wert ist, vor allem, wenn Roland selbst das Essen
als für ihn bedeutsam einstuft. So gesehen handelt es
sich um eine Respektierung seines Willens. Schwachpunkt dieser Argumentation stellt die Problematik dar,
dass nicht so klar ist, ob die Willensäusserung von Roland als selbstbestimmte Entscheidung gelten kann,
wenn er die Folgen seiner Handlung nicht oder nur
teilweise abschätzen kann. Und es wird argumentiert,
dass alle pädagogischen Handlungen letztlich der Lebensqualität der Bewohner dienen sollten. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie es mit der Lebensqualität
aussieht, wenn eine Verschlechterung seiner Gesundheit eintreten sollte. Ist dann nicht in der Phase der
Krankheit die Lebensqualität so eingeschränkt, dass
es besser gewesen wäre, vorher durch eine Diät eine
leichte Verschlechterung der Lebensqualität in Kauf
zu nehmen, damit Roland länger gesünder lebt? Mit
welcher Entscheidung ist letztlich die Lebensqualität
unter dem Strich höher? Eigentlich müsste Roland
dies selbst sagen, da die Lebensqualität immer stark
von der subjektiven Beurteilung des Betroffenen abhängt. Ist es Roland aber möglich, sich zu einer potentiellen späteren Lebensqualität zu äussern, wenn
er krank würde? Diese Frage zu beantworten ist kognitiv und emotional höchst anspruchsvoll.
Verhaltensmöglichkeiten: Da diejenige Handlungsoption zu bevorzugen ist, welche die geringste
Eingriffstiefe hat, können zuerst folgende Optionen
ins Auge gefasst werden:
1.Roland motivieren sich mehr zu bewegen, damit er
auch mehr Kalorien zu sich nehmen darf (Sportangebote im Heim nutzen und allenfalls Unterstützung geben für das Ausüben weiterer Sportarten).
Daniela Ritzenthaler-Spielmann studierte Heilpädagogik und Philosophie an der Universität
Fribourg und doktoriert derzeit im Bereich Heilpädagogik und Ethik an der Universität Zürich.
Über mehrere Jahre arbeitete sie in stationären Institutionen für Kinder und Jugendliche in
schwierigen sozialen Situationen sowie Menschen mit einer körperlichen und/oder geistigen
Behinderung. Sie ist am Institut Dialog Ethik im
Fachbereich «Patientenverfügungen/HumanDokument» tätig.
2.Die Essenswünsche der Bewohnerinnen und Bewohner im Heim in der Küche stärker berücksichtigen. Und gleichzeitig versuchen mit Roland zu
thematisieren, dass er dadurch im Heim öfter das
essen darf, was er mag, dafür jedoch weniger oft
Zwischenmahlzeiten einkaufen könnte.
3.Handlungsspielraum für Diätkost und Kalorienreduktion im Heim und in der Herkunftsfamilie überprüfen (Essen an den Wochenenden mit der Familie
thematisieren, Verwendung von fettarmen Zutaten
im Heim überprüfen).
Die Verhaltensmöglichkeiten 1 bis 3 können alle parallel durchgeführt werden. Wenn diese Handlungen
nicht oder ungenügend wirken, können folgende Optionen in Betracht gezogen werden:
4.Jede Woche mit Roland aushandeln, wann er was
essen möchte (er darf eine Mahlzeit alle 2 bis 3
Tage wählen), die restlichen werden von Mitbewohnern gewünscht, einmal am Tag wird nach strenger Diät gekocht. Es werden nur fettarme Zutaten
verwendet. Diese Option geht weiter als Variante
2, da sie neben den von den Bewohnern gewählten
Mahlzeiten strengere Diätvorschriften einhält.
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Fallbesprechung
«Darf Roland mehr essen?»
5.Roland das Taschengeld einschränken oder ganz
wegnehmen. Es bleibt aber zu klären, ob er allenfalls andere Mittel findet, um zu Essen zu kommen
(sich bei Kollegen Geld leihen, sich am PommesFrites-Stand Essen schenken lassen …).
6.Roland die Essensmenge und die Auswahl der Speisen im Heim so einschränken, dass er nicht mehr
zu viele Kalorien zu sich nimmt; d.h. ein Menüplan
mit vorgegebenen Portionen wird Roland aufgezwungen.
7.Roland essen lassen, eine Gefährdung und allenfalls eine Lebensverkürzung in Kauf nehmen.
Die Entscheidungen 4 und 5, oder 5 und 6 lassen sich
auch kombinieren. Je nachdem, wie stark die Gefährdung gewichtet wird, könnte das Team die Optionen 4
und 5, 5 und 6, oder nur 4 oder nur 6 wählen. Option
7 wird wohl eher selten gewählt werden, ausser die
gesetzlichen Vertreter sind damit einverstanden, der
Heimleiter und der Heimarzt ebenfalls. Dies dürfte in
der Praxis selten der Fall sein, da die Wahrung der
Gesundheit doch als hohes Gut gilt und in einem ersten Schritt sicher versucht wird, Roland von einem
gesünderen Lebensstil zu überzeugen. Es ist anzunehmen, dass die meisten pädagogischen Teams die
Option 5 nicht begrüssen werden, da sie stark in seine Selbstbestimmung eingreift – stellt doch das freie
Verfügen über das Taschengeld eine der wenigen realen Entscheidungsmöglichkeiten im Alltag erwachsener Menschen mit einer geistigen Behinderung dar,
wenn sie in einem Heim leben. Damit wird in Kauf
genommen, dass Roland sich mit seinem Geld Ungesundes kauft, aber wenn sich das Team gleichzeitig
für die Variante 4 oder 6 entscheidet, sind die Mahlzeiten im Heim reguliert.
Die meisten Teams werden wohl einen Kompromiss
im Sinne der Variante 4 erwägen, da mit der freien
Essenswahl versucht wird, Rolands Wünschen entgegen zu kommen. Kombiniert mit den Massnahmen
1 bis 3 wird versucht, an Rolands Verantwortung zu
appellieren, dass er sich auch mehr bewegen und
selbst einen Beitrag zu seiner Gesundheit leisten sollte. Nach einigen Wochen müsste eine Bilanz gezogen
werden, ob Roland das erwünschte Gewicht erreicht
hat, und längerfristig, ob er es halten kann. Wenn
diese Massnahmen nicht greifen, müsste in einem zusätzlichen Gespräch das weitere Vorgehen diskutiert
werden.
Daniela Ritzenthaler-Spielmann
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Artikel/Bücher, Links
Ergänzungen
Artikel/Bücher
Biedermann P., Hofrichter B., Dümmler P., Willhalm
R. (2008): The Swiss Medical Technology Industry
2008 Survey. Zugänglich unter:
www.medical-cluster.ch/media/archive1/pdf/
reports/Swiss_Medical_Technology_Industry_2008_Survey.pdf
Fasmed (2010): Wirtschaftliche Bedeutung der Medizintechnik in der Schweiz. Zugänglich unter:
www.fasmed.ch/de/medtech-branche/studie.
html
Kapitel «Medizintechnik» in: Breiding R.J., Schwarz
G. (2011): Wirtschaftswunder Schweiz. Verlag NZZ
Libro.
Kocher G. (2010): Medizintechnik. In: Gerhard
Kocher, Willy Oggier (Hrsg.): Gesundheitswesen
Schweiz 2010–2012. Eine aktuelle Übersicht. Hans
Huber, Bern: 221–237
Kramme R. (Hrsg.) (2007): Medizintechnik. Verfahren, Systeme, Informationsverarbeitung. Springer
Verlag, Heidelberg
Links
Medical Cluster (Netzwerk von Herstellern, Zulieferern, Dienstleistungs- und Forschungsunternehmen in der
Medizintechnik):
http://medical-cluster.ch/home
Website von Fasmed (Dachverband Schweizerische Medizintechnik):
www.fasmed.ch/de/home.html
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Dialog Ethik – Newsletter
News aus dem Institut
• Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland,
Spital Grabs: Beratung bei Patientenverfügungen
(Fortbildung)
Ethik im Dialog: Neue Möglichkeiten zur Organspende?
• Jahrestagung von Promente Sana: Patientenverfügung – Möglichkeiten und Grenzen ihrer Anwendung in der Psychiatrie (Vortrag)
Zur Debatte stehen momentan neben der Widerspruchslösung auch die sogenannten Non-Heart-Beating-Donors. Wir möchten Sie über die aktuelle Debatte informieren und mit Ihnen darüber diskutieren,
siehe:
www.dialog-ethik.ch/130253736085-de-index.html
Befragung von Führungskräften zu Ethik
• Pflegeschule Zug: Einführung in die Ethik (Schulung)
• Maja-Dornier-Hospizstiftung, Lindau: Integration
von Palliative Care in die Notfallmedizin (Vortrag
und Moderation)
• Spital Schwyz: Medizinisch-ethische Entscheidungsfindung im Spitalalltag (Fortbildung)
Weitere Angaben finden Sie unter
Das Institut Dialog Ethik hat im Februar 2011 eine
Online-Umfrage durchgeführt, welche von rund 70
Führungskräften des Gesundheitswesens beantwortet wurde. Ziel der Umfrage war es, einen Überblick
über den aktuellen Stand der Implementierung von
Ethikstrukturen in Organisationen zu erfahren. Mehr
dazu unter:
www.dialog-ethik.ch/128154312823-de-index.html
www.dialog-ethik.ch/128981629635-de-index.html
Soweit nicht anders vermerkt, finden die Veranstaltungen in Zürich statt. Für nähere Informationen oder
eine Anmeldung kontaktieren Sie bitte unser Sekretariat oder schauen Sie sich auf unserer Homepage
um: 044 252 42 01 / [email protected] /
Dialog Ethik Öffentlich
Dritte Abendveranstaltung im Sphères zum Thema
Populismus
Am 24. März fand in Zürich der dritte Dialog-Abend
der Zukunftsuniversität zum Thema «Populismus oder
Verödung des politischen Sprechens?» statt. Gut 20
Personen besuchten die Podiumsdiskussion mit Doris
Fiala, Prof. Dr. Kurt Imhof und Dr. iur. Ulrich E. Gut.
Moderiert hat den Anlass Prof. Dr. Jean-Pierre Wils.
Vorträge/Schulungen
• Universitätsspital Zürich USZ: Ethische Fallbesprechungen – Schulung für Moderatoren/innen und
Thementräger/innen
• Dargebotene Hand, Aarau: Suizidalität, Sterbehilfe
und Beihilfe zum Suizid als ethische Herausforderungen für die Psychiatrie (Vortrag)
Veranstaltungen
www.dialog-ethik.ch
Fortbildung für Hausärzte: Patientenverfügungen
und Ihre Rolle als «BeraterIn»
Datum: 01.09.2011
Bei dieser Fortbildung handelt es sich um eine Nachmittagsveranstaltung speziell für Hausärzte. Sie beschäftigt sich mit den Fragen rund um das Thema Patientenverfügungen und der Beratung von Menschen
beim Erstellen von Patientenverfügungen.
www.dialog-ethik.ch/128230425177-de-index.html
Bodenseedialoge 2011
Datum: 02. bis 03.09.2011
Diese 4-Länder-Fachtagung zu interdisziplinären Fragen der Frauenheilkunde in Bregenz lädt Ärztinnen
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Dialog Ethik – Newsletter
und Ärzte, Hebammen und VertreterInnen humanwissenschaftlicher Nachbardisziplinen (Psychologie,
Psychotherapie, Seelsorge, Medizinethik, etc.) ein,
belastende Ereignisse in der Geburtshilfe multiprofessionell zu betrachten.
Praxis Fallbesprechungen - Interdisziplinäre ethische Entscheidungsfindung
Datum: Beginn 19. September 2011
Der Umgang mit ethischen Dilemmasituationen im
ärztlichen und pflegerischen Berufsalltag wird im
Rahmen des interdisziplinären Fallbesprechungskurses vermittelt und geübt. Themenschwerpunkte sind
das Erkennen und Analysieren von Werten, ethischen
Problemen und Dilemmata.
www.dialog-ethik.ch/128230472065-de-index.html
Handbuch Ethik im Gesundheitswesen 4
www.dialog-ethik.ch/128230425177-de-index.html
Markus Christen
Max Baumann (Hrsg.)
Verantwortung
im politischen Diskurs
Vorschau
07.12.2011: Beginn Fortbildung
Fallbesprechungen leiten
Produkte
Verantwortung im politischen Diskurs
Detailliertere Informationen siehe
www.dialog-ethik.ch/128230425177-de-index.html
Politische Verantwortung übernehmen …
Was heisst das konkret für mich?
Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sehen
sich mit einem komplexer werdenden Gesundheitssystem konfrontiert. Der Band «Verantwortung im politischen Diskurs» thematisiert ökonomische und soziale
Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens und diskutiert Vorschläge, wie politische Verantwortung durch
die Akteure des Gesundheitswesens besser wahrgenommen wird. Ein Fokus wird dabei auf die Veränderung des Anreizsystems für alle Beteiligten gelegt.
Markus Christen, Max Baumann (Hrsg.): Verantwortung im politischen Diskurs. Handbuch Ethik im
Gesundheitswesen, Band 4, 2009, Schwabe Verlag /
EMH Schweiz. Ärzteverlag, ISBN 978-3-7965-2557-5
/ ISBN 978-3-03754-039-8. Preis exkl. MwSt.: CHF
55.00
Direktbestellung unter: [email protected],
Tel.: +41 (0)44 252 42 01
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Die e-Zeitschrift von Dialog Ethik: Ausgabe 96 – April 2011
Dialog Ethik – Newsletter
Impressum
«Thema im Fokus» erscheint sechsmal jährlich
Redaktion und regelmässige redaktionelle
Mitarbeit;
Markus Christen, Sabine Müller, Felix Würsten
Gestaltung, Produktion
Ursi Anna Aeschbacher
Korrektorat
Sandra Bourguignon
Bildnachweis:
Rainer Sturm/Pixelio.de, Autoren
Kontakt
Dialog Ethik, Interdisziplinäres Institut
für Ethik im Gesundheitswesen
Schaffhauserstrasse 418
8050 Zürich
Tel. +41 (0)44 252 42 01
Fax +41 (0)44 252 42 13
eMail: [email protected]
Web: www.dialog-ethik.ch
Wortklaubereien
Labor
Im Laboratorium lässt sich – sprachlich wie technisch – das Kleinste bis zum Grössten testen. Im 16. Jahrhundert
bezeichnete es die Vorstufe zum medizinischen Labor, die Alchimistenküche, in der mit kleinsten Mengen feinster Substanzen herumlaboriert wurde, um aus unedlen Substanzen Gold zu machen. Dabei ist man inzwischen
wesentlich erfolgreicher geworden: In den Laboratorien der pharmazeutischen Industrie werden heute bei der
Herstellung von Medikamenten gleichzeitig Rohstoffe zu Geld verwandelt, beides im grossen Stil. Hinter dem Lateinischen labor – für Anstrengung, Arbeit, Mühe – steht das Verb labare, schwanken/wanken: Erst wenn die Last
so schwer ist, dass man darunter zu wanken beginnt, geht die Arbeit richtig los. Die gleiche Herkunft hat aber
auch das Wort labil, welches eher zu den diffizilen Abwägungen im medizinischen Labor passt – wehe (d.h. es
kann wirklich weh tun), wenn irgendein Laborwert aus dem Gleichgewicht gerät. Wer wegen eines unerfreulichen
Laborbefundes nicht mehr schlafen kann, könnte z.B. statt Schafe zu zählen der Verwandtschaft des Labors mit
dem Schlaf nachgehen; das ist aber eine andere Geschichte.
xamba
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