GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

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GÜTERSLOHER
VERLAGSHAUS
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MARKUS REIT
ER
SCHLAUE ZELLEN
UCH
DAS NEURO-B
FÜR ALLE, DIE
NICHT AUF
DEN KOPF
GEFALLEN
SIND
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage
Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
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die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlagmotiv: © EtiAmmos – Fotolia.com, © Hetherington / Getty Images
eISBN 978-3-641-06866-0
www.gtvh.de
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INHALT
EINLEITUNG: WIR SIND UNSER GEHIRN 9
HINTERGRUND: DIE ZELLE UND DIE SYNAPSE 16
HINTERGRUND: DEM GEHIRN BEI DER ARBEIT ZUSCHAUEN 21
1. KAPITEL GEDÄCHTNIS UND LERNEN 26
Wie wahr sind unsere Erinnerungen? 29
Warum Gerüchte so gefährlich sind 39
Der Mann, der nichts vergaß – und der Mann,
der alles vergaß 41
Kurzaufenthalt im Arbeitsgedächtnis 44
HINTERGRUND: GESICHTSBLINDHEIT 47
Was uns vergessene Geigen und vergessene
Kinder über das Gedächtnis lehren 52
Zwischenspeicher und Endablage 56
HINTERGRUND: H. M. UND DAS FERTIGKEITENGEDÄCHTNIS 59
Wie wir lernen 60
HINTERGRUND: GEDÄCHTNISZELLEN 64
Was Balletttänzer uns über das
Fertigkeitengedächtnis verraten 69
HINTERGRUND: VERLERNEN WIR FERTIGKEITEN? 72
Die drei größten Fehler beim Lernen 76
Wie das Gedächtnis jung bleibt 84
HINTERGRUND: LIZ GOULD UND DIE NEUROGENESE 86
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Was wir von amerikanischen Nonnen über
das Älterwerden lernen können 93
Kann man sich geistig fit essen? 100
HINTERGRUND: IST ÜBERGEWICHT GENETISCH BEDINGT? 104
2. KAPITEL LÜGE UND WAHRHEIT 106
Wie unser Gehirn Wirklichkeit konstruiert 112
HINTERGRUND: BLINDE WERDEN SEHEND 113
HINTERGRUND: WARUM DAVID GOLIATH BESIEGTE 117
HINTERGRUND: DIE GEHEIMNISSE DER WASSERFALL-ILLUSION 119
Warum wir einen Gorilla einfach übersehen 124
Wie in einem Spiegel 130
Wie scheinbares Wissen unser Urteil beeinflusst 140
Das dunkle Ich 142
HINTERGRUND: WAS GESCHIEHT IM GEHIRN
VON ÜBERZEUGTEN FANS GEFALLENER IDOLE? 152
Warum Kekse uns auf jeden Fall schwach machen 154
3. KAPITEL GEFÜHL UND VERSTAND 158
Bauchentscheidung oder Kopfentscheidung – was ist besser? 166
HINTERGRUND: WIE DAS GEHIRN AUS FEHLERN LERNT 172
Wie entstehen Gier und Panik? Was uns durchgeknallte
Börseninvestoren über unser Gehirn lehren 174
HINTERGRUND: VON ANGST UND FURCHT 184
HINTERGRUND: GIBT ES SCHWARMINTELLIGENZ? 190
Moral und Gehirn: Killen Sie den dicken Mann? 195
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Das Molekül der Liebe 199
HINTERGRUND: DIE DREI ARTEN DER LIEBE 200
Was uns ein räuberischer Samariter über Gut und Böse lehrt 204
HINTERGRUND: SEROTONIN UND DIE AGGRESSIVITÄT 210
4. KAPITEL SPRACHE UND LESEN 216
HINTERGRUND: ZWEISPRACHIGKEIT –
SCHADET SIE ODER NÜTZT SIE? 226
Wörter und Geschichten, die zu Herzen gehen 228
HINTERGRUND: DER STROOP-EFFEKT UND DIE WERBUNG 230
DIE ZAUBERFORMEL FÜR EIN FITTES GEHIRN 236
EIN LETZTES WORT 238
LITERATURAUSWAHL 242
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EINLEITUNG:
WIR SIND UNSER GEHIRN
So sieht es also aus. Vor mir schwimmt eine gelblich-weiße
Masse mit ihren charakteristischen Windungen in einem Gemisch aus Formalin, Glyzerin und Wasser. Ein menschliches
Gehirn. Um genau zu sein, stehe ich vor mehreren. Ich zähle
in der Vitrine vor mir etwa drei Dutzend Exemplare. Seit Jahren beschäftige ich mich mit dem Gehirn. Ich habe hunderte von Büchern und Artikeln darüber gelesen. Ich habe mir
von Dutzenden Neurowissenschaftlern erklären lassen, was
unser Gehirn zu leisten vermag, welche Schäden in welchen
Arealen zu welchen Ausfallerscheinungen führen. In meinen
Seminaren präsentiere ich den Teilnehmern ein Modell aus
Kunststoff, das man in zwei Hälften trennen kann, um sich die
Basalganglien, die Amygdalae und die Hippocampi näher zu
betrachten. Das alles waren unbekannte, geheimnisvolle Namen für mich, als ich mich zum ersten Mal damit beschäftigte.
Strukturen im Inneren meines Schädels, von deren Funktion
und Wirken ich keine Ahnung hatte. Inzwischen kommen sie
mir vor wie alte Bekannte.
Und dennoch: Als ich an diesem glühend heißen Frühsommertag in der Pathologischen Sammlung des Medizinhistorischen Museums der Berliner Charité stehe, überkommt mich
ein Gefühl der Ehrfurcht. Wir sind nur wenige hundert Meter vom Ufer der Spree entfernt, auf der Ausflugsschiffe mit
frohgemuten Touristen vorbeiziehen. Vom Hauptbahnhof
mit all den hektischen kofferschleppenden, über die Deutsche
Bahn fluchenden Reisenden sind es kaum zehn Minuten zu
Fuß. Auf dem Weg hierher in den dritten Stock konnte ich einen kurzen Blick aus dem Fenster auf das gegenüberliegende
Gebäude werfen. Im Garten hinter einer Mauer sitzen Menschen an einem Tisch, trinken Kaffee und unterhalten sich.
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Es sind Patienten der Neurologie der Charité, Berlins riesigem Universitätskrankhaus. Menschen, deren Gehirn nicht
so funktioniert, wie es die Gesellschaft von ihnen erwartet.
Die womöglich vor sich selbst geschützt werden müssen, weil
irgendwelche Synapsen sich an der falschen Stelle verbinden
oder weil bestimmte Neurotransmitter, Botenstoffe zwischen
den Gehirnzellen, in zu geringer oder zu großer Menge ausgeschüttet werden.
Wenige Schritte entfernt stehe ich, unter den Augen des
berühmten Mediziners Rudolf Virchow, dessen Statue in der
Mitte des Raumes Platz gefunden hat, vor den Vitrinen mit
den Gehirnen Verstorbener. Der große Arzt, Politiker und
Wissenschaftler Virchow hatte das Pathologische Museum
1899, drei Jahre vor seinem Tod, nach langem Ringen mit den
Behörden noch selbst eröffnet. Seine pathologisch-anatomische Sammlung mit 23.000 Exemplaren ging darin auf. Dann
folgten die Wirrnisse zweier Weltkriege und die deutsche Teilung. Erst fast zehn Jahre nach der Wende eröffnete 1998 dieses Medizinhistorische Museum der Charité.
Rudolf Virchow maß seiner Sammlung höchste Bedeutung
zu und nannte sie sein »liebstes Kind«. Nicht nur seine Studenten, auch die Öffentlichkeit sollten anhand der Präparate den Stand der medizinischen Wissenschaft kennenlernen.
Das setzte voraus, dass sie sich mit dem kranken Menschen
beschäftigten. Nur eines der präparierten Gehirne in der Vitrine vor mir ist deshalb gesund. Oder sagen wir besser: Sein
ehemaliger Träger wurde so eingeordnet. Bei den anderen geben kleine Schildchen Auskunft über das Schicksal, das deren
Besitzer vermutlich erleiden mussten. »Großer gekapselter
Hirnabzess« heißt es dort. Das ist ein Eiterherd im Gehirn.
Der Patient litt also an Fieber, Übelkeit und einem Druckgefühl im Kopf. Noch heute sterben trotz Antibiotika ein Fünftel
der Betroffenen; wer überlebt, leidet oft an Epilepsie, Gedächtnisverlust und Lähmungen. »Enzephalomalazie (Gehirnerweichung)« lautet die Diagnose für das Gehirn daneben. Eine
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Form des Schlaganfalls, also eine Durchblutungsstörung, mit
den entsprechenden Folgen wie Lähmungen, Ausfallerscheinungen, Sprachstörungen. »Fusiformes Glioblastom« ist das
Schildchen neben einem dritten Gehirn beschrieben. Ein bösartiger, schnell wachsender Hirntumor – unheilbar.
Ich beuge mich vor und erkenne die dunklen Stellen und
die Verformungen der Hirnmasse. Diese Gehirne waren einmal der Sitz eines eigenen Ichs, eines Menschen mit eigener
Persönlichkeit. Sicherlich gehören auch die Lunge, das Herz,
die Leber und die Nieren, die in den Nachbarvitrinen in ihrer
Formalinlösung schwimmen, zum Menschen. Bei manchen
Patienten werden diese Organe heutzutage auf der Intensivstation künstlich am Funktionieren gehalten. Aber die Mediziner glauben nicht, dass dieser Mensch noch lebt. Wenn das
Gehirn nicht mehr arbeitet, gilt der Mensch als tot. Wir sind
unser Gehirn.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Ärzte heute viele
Organe transplantieren oder, zumindest für eine gewisse Zeit,
durch Maschinen ersetzen können. Die Transplantation des
Herzens, der Lunge, einer Niere oder der Galle ist zwar eine
aufwändige und gefährliche Operation, aber bis auf wenige
Angehörige bestimmter religiöser Gruppen halten die Menschen sie für ethisch unbedenklich, ja oft für geboten. Eine
»Gehirntransplantation« kommt uns wie ein bizarrer Gedanke aus einem Horror-Science-Fiction-Roman vor. Schon der
Gedanke verursacht Schwindel. Verwirrt uns. Wir wüssten
plötzlich nicht mehr, wer wer ist: Bildet das Gehirn die Persönlichkeit, die einen neuen Körper findet? Oder erhielte die
Person, der der Körper gehört, nur eine neue Schaltzentrale? Eine Gehirntransplantation ist derzeit unmöglich, weil die
Nervenzellen zu schnell absterben, und so wird es wohl auch
bleiben. Allein das Gedankenexperiment lässt uns jedoch bereits schaudern. Wir sind unser Gehirn.
Das wurde nicht immer so gesehen. Die alten Ägypter öffneten die Leichen ihrer reichen und mächtigen Verstorbenen,
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um deren Organe zu entnehmen. Sie balsamierten sie ein und
legten sie in den Leichnam zurück, damit der Mensch vollständig die Reise in das Totenreich des Unterweltgottes Osiris
antreten konnte. Besondere Sorgfalt verwandten sie auf das
Herz, das ihnen als Sitz des Denkens und des Fühlens galt. Das
Gehirn hingegen zupften sie mit einem medizinischen Instrument, das einer Häkelnadel ähnelt, durch ein Nasenloch aus
dem Schädel und warfen es weg. Es hatte für sie keinen Nutzen. Einige hundert Jahre später vermutete der griechische
Philosoph Aristoteles immer noch, das Gehirn diene lediglich
dazu, das Blut zu kühlen. Vermutlich haben ihn die Windungen des Cortex auf diese Idee gebracht. Der berühmte spätantike Arzt Galen, dessen Werk für gut eineinhalb Jahrtausende
die maßgebliche Instanz in der Medizin war, wies dem Gehirn
zwar eine Rolle beim Denken zu, konzentrierte sich aber auf
die Ventrikel, kleine, mit Flüssigkeit gefüllte Hohlräume, in
denen er einen der vier Säfte des Lebens vermutete, das Pneuma psychikon. Er hielt es für einen Teil der Seele. Erst in der
Renaissance begannen die Ärzte die eigentliche Bedeutung
des Gehirns zu erkennen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts sezierten Ärzte die Gehirne von Patienten mit bis dahin unerklärlichen Störungen. Dabei stießen sie zum Beispiel auf die
Sprachzentren der linken Gehirnhemisphäre. Noch Anfang
des 20. Jahrhunderts stritten sich zwei hochangesehene Neurowissenschaftler, der Spanier Santiago Ramon y Cajal und
der Italiener Camillo Golgi unerbittlich darüber, wie die Gehirnzellen miteinander kommunizieren. Ironischerweise hatten beide den Medizinnobelpreis 1906 gemeinsam erhalten.
Heute wissen wir unendlich viel mehr als die alten Ägypter
über diese rund 1,5 Kilogramm schwere Masse aus Neuronen
und anderen Zellen mit der Konsistenz eines hartgekochten
Eis. Wir wissen auch unendlich viel mehr als Rudolf Virchow
und Ramon y Cajal und ihre Zeitgenossen um die Jahrhundertwende. Wir glauben nicht mehr, dass Ausbuchtungen
der Schädeldecke Rückschlüsse auf Charaktereigenschaften
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und geistige Fähigkeiten zulassen, wie die Phrenologen im 19.
Jahrhundert annahmen. Besonders die bildgebenden Verfahren erlauben den Wissenschaftlern, einigen der rund 100 Milliarden Neuronen und ihren 1014 Synapsen unseres Gehirns
beim Denken und Fühlen zuzuschauen. Fast jeden Tag findet
man in der Zeitung oder im Internet eine Meldung, welches
Areal des Gehirns an welcher Fähigkeit beteiligt sei. Auch
mich faszinieren die Computerbilder mit den roten und grünen Flecken, die dem Betrachter das Gefühl geben, Abbilder
unseres Denkens und Fühlens mit eigenen Augen zu sehen.
Wir sind unser Gehirn.
Dann aber, wenn ich mich mit Neurowissenschaftlern unterhalte, höre ich immer wieder die Sätze »Das wissen wir noch
nicht!« »Was dabei genau im Gehirn geschieht, können wir
noch nicht sagen.« »Wir müssen vorsichtig sein« mit dieser
oder jener Aussage. »Näheres müssen wir noch erforschen.«
Die Computersimulationen aus den bildgebenden Verfahren
täuschen uns oft genug darüber hinweg, dass das Gehirn für
uns Menschen zum größten Teil noch immer ein Rätsel ist.
Diesem Rätsel sind die Männer und Frauen der Neurowissenschaft auf der Spur. Sie erkunden, was genau in dieser schwammigen Masse, die im Medizinhistorischen Museum der Charité
vor meinen Augen in der wässrigen Formalin-Glyzerin-Lösung
schwimmt, vorgegangen sein muss, als sie noch einem lebendigen, denkenden und fühlenden Menschen gehörte.
Ich habe bei meinem Besuch in der Berliner Pathologischen Sammlung ein Stück Demut zurückgewonnen. Die
roten, grünen und blauen Flecken der Gehirnbilder aus dem
funktionellen Magnetresonanztomografen lassen mich nunmehr an mittelalterliche Weltkarten denken. Ganz grob kann
man darauf die Umrisse der Erdteile erkennen, wie sie uns
heute vertraut sind. Die häufig befahrenen Küsten sind schon
recht genau verzeichnet. Aber gewaltige Gebiete im Inneren
der Kontinente werden noch als »terra incognita«, als unbekanntes Land, bezeichnet. Ganze Kontinente fehlen und der
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Mittelpunkt der Erde ist in Jerusalem lokalisiert. Irgendwo
in den Weiten Asiens verzeichnen diese Karten das legendäre Reich des Priesterkönigs Johannes, wo Vampire, Zyklopen
und hundsköpfige Menschen leben, wo Edelsteine wie Kiesel
die Bachläufe säumen und das Quellwasser Unsterblichkeit
verleiht. Vermutlich wird unseren Nachfahren die heutige
Gehirnkartografie ähnlich vorkommen wie uns eine mittelalterliche Weltkarte.
Sie werden in diesem Buch die Antworten der modernen
Hirnforschung auf einige Fragen finden. Sie werden erfahren,
was ein Affe in einem Labor in Parma mit einem Thriller im
Kino zu tun hat; warum wir niemals den Zeugen eines Autounfalls Glauben schenken sollten; warum wir uns nicht wünschen
sollten, niemals wieder etwas zu vergessen; was es für unsere
Wahrnehmung bedeutet, dass Menschen einen Gorilla übersehen, der in einem Video mitten durchs Bild läuft; warum Mutter Teresa auch nur eine Egoistin war; warum quicklebendige
Menschen glauben, dass sie tot sind; warum manche Menschen
Farben sehen, wenn sie Musik hören; warum wir wissen, was
unsere Mitmenschen gerade fühlen und wie wir unser Gehirn
auf natürliche Weise dopen können. Wir werden uns bewegen
zwischen Philosophie und Praxis. Sie werden Wissenschaftlern
begegnen, die sich mit den neurologischen Grundlagen der
Sprache, mit Gefühlen, dem Gedächtnis und mit der Wahrnehmung beschäftigen. Sie werden einen Eisenbahnvorarbeiter
kennenlernen, der zum Tunichtgut wurde, nachdem ihm eine
Eisenstange das Vorderhirn zerfetzte; einen Patienten, der sich
nicht mehr an Sie erinnern würde, wenn Sie nach zwei Minuten das Zimmer verließen und einen russischen Journalisten,
der sich noch nach vierzig Jahren an jedes einzelne der Worte
erinnert hätte, die Sie mit ihm gewechselt haben. Sie werden im
Verlauf jedes Kapitels erfahren, was die neuen Erkenntnisse für
Ihr Leben bedeuten und wie Sie Ihr Gehirn auf Trab bringen
können. Vor allem aber werden Sie sich selbst kennenlernen.
Denn wir sind unser Gehirn.
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Um was geht es dabei? Unsere Tour d,horizon durch die
Neurowissenschaften wird Ihnen helfen, Ihr Gehirn besser zu
verstehen. Denn zum einen schöpfen wir unser Potential zum
Lernen und Denken oft nicht aus, zum anderen werden wir
von unserem Gehirn ständig getäuscht. Der Blick in unser Gehirn und darauf, wie es arbeitet, erlaubt uns, mit Hilfe unserer
schlauen Zellen klüger und weiser zu werden.
Bei unserem Rundgang durch die Neurowissenschaften und
ihren faszinierenden Erkenntnissen möchte ich Sie noch um Eines bitten: Bewahren Sie die Demut, die vermutlich fast jeder
bei einem Besuch in der Charité verspürt. Die Demut vor dem
noch immer geheimnisvollsten Organ des Menschen – seinem
Gehirn.
»Manche Dinge will man gar nicht so genau wissen«, sagte
die Tante meines Freundes T. gern. So geht es vielleicht auch
Ihnen, dem Leser dieses Buches. Besonders auf der Ebene
der Zellen wird es in den Neurowissenschaften sehr schnell
verdammt kompliziert und vieles davon ist für jemanden, der
sich mehr für Ergebnisse als für Prozesse interessiert, zum
Verständnis nicht unbedingt notwendig. Aus diesem Grund
habe ich mich entschieden, detaillierte Informationen in Kästen für »Genau-Wissen-Woller« auszugliedern. Wenn Sie ein
vertiefteres Verständnis suchen, können Sie die Hintergrundkästen mit den Zusatzinformationen lesen, die allerdings noch
immer in einer stark vereinfachten, anschaulich gemachten
Form präsentiert werden. Wer noch mehr wissen will, sei auf
die im Literaturverzeichnis aufgeführten Lehrbücher (und von
dort auf die Fachbücher und Fachartikel) verwiesen.
An anderen Stellen werden Sie sich fragen: »Ist ja spannend.
Aber was hat das mit mir zu tun?« Darauf gibt es zwei Antworten, eine simple und eine etwas komplexere, verschlungenere. Erst die einfache: Welche praktischen Erkenntnisse Sie
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aus den Ergebnissen der Hirnforschung ziehen können, habe
ich in Tipps zusammengefasst, die an den entsprechenden
Stellen im Text eingeführt und mit dem Symbol
gekennzeichnet sind.
Nun die etwas komplexere: Wenn Sie dieses Buch lesen
und sich dabei mit einer Materie beschäftigen, die Ihnen bislang nicht vertraut war, so können Sie genau das bereits als
Gehirnjogging ansehen. Die Zauberformel für ein fittes Gehirn, auf die ich im Laufe des Buches und vor allem im letzten
Kapitel noch einmal ausführlich zu sprechen kommen werde,
lautet ganz einfach: Lernen, Lieben, Laufen. Dieses Buch will
Ihnen beim Lernen helfen, es will die Neugier befriedigen,
die allen Menschen angeboren ist. Ohne Neugier wäre dieses Buch nicht möglich: die Neugier der Wissenschaftler, die
immer genauer und besser verstehen wollen, wie der menschliche Geist funktioniert; die Neugier des Autors, der diese
Erkenntnisse recherchiert und zusammengefasst hat und die
Neugier des Lesers, der sein eigenes Ich und sein Gehirn verstehen will.
HINTERGRUND FÜR GENAU-WISSEN-WOLLER:
DIE ZELLE UND DIE SYNAPSE
Nehmen wir an, ein Ingenieur bekäme den Auftrag, etwas zu erfinden, um Informationen innerhalb des Körpers,
innerhalb des Gehirns sowie vom Gehirn zum Körper und
zurück zu transportieren. Keiner käme auf die Idee, so etwas
wie Neuronen zu erschaffen. Die Dinger sind technisch einfach nicht ausgereift. Im Vergleich zu einem Computer ist die
Übertragungsgeschwindigkeit zwischen den Zellen quälend
langsam. Sie liegt zwischen einem und 120 Metern pro Sekunde. Wenn Sie in Stuttgart in ein Telefon sprechen, würde
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der Ton bei der gleichen Übertragungsgeschwindigkeit ein
und eine Viertelstunde später in Hamburg ankommen. Elektrischer Strom fließt zwei Millionen Mal schneller durch ein
Kupferkabel. Außerdem konnte sich die Natur nicht entscheiden, ob sie lieber mit Strom oder mit Chemie arbeitet. Und
die Schaltkreise sind wahnsinnig kompliziert und verwirrend.
Aber die Evolution ist kein Ingenieur. Sie improvisiert mit
dem Material, das sie irgendwann einmal hervorgebracht hat.
Schließlich ist alles Leben aus Einzellern entstanden, die eines
Tages begonnen haben, sich über die nächsten paar Millionen
Jahre immer mehr miteinander zu vernetzen und miteinander
zu kommunizieren.
Zumal sich das Gehirn nicht auf eine Zellenart beschränkt.
Wir finden zwei Formen von Zellen: Neuronen und Gliazellen. Intensiv erforscht sind Neuronen (»intensiv« heißt, man
weiß viel über sie, aber nur einen winzigen Bruchteil dessen,
was man wissen könnte und möchte). Die Gliazellen machen
zwar 90 Prozent aller Zellen im Zentralen Nervensystem (ZNS)
aus, wurden aber dennoch lange Zeit von den Neuro(!)wissenschaftlern vernachlässigt. Man nahm an, sie seien so etwas wie
Baugerüste und Dixi-Klos auf Baustellen – wichtig zwar, aber
die eigentliche Arbeit wird von den Bauarbeitern, den Neuronen, gemacht. Neuere Erkenntnisse deuten darauf hin, dass sie
eine wichtige Rolle bei Gedächtnisfunktionen spielen, indem
sie an der Bildung von Myelinschichten und Synapsen beteiligt
sind. Was genau da vor sich geht, weiß man noch nicht. (Über
Myelin und Synapsen kläre ich Sie später auf!)
Anfang des 20. Jahrhunderts kartografierte der deutsche
Neuroanatom Korbian Brodmann Abschnitte des Gehirns nach
der Struktur der dort vorherrschenden Zellschichten, ihrer Zytoarchitektur. Seine daraus entstandene Hirnkarte aus 52 Arealen
ist nach ihm benannt und wird noch heute, leicht modifiziert,
von den Medizinern und Neurowissenschaftlern benutzt.
Die Nervenzellen des Gehirns, die Neuronen also, variieren erheblich in ihrer Form, unterscheiden sich aber deutlich
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von den anderen Körperzellen. Wie alle Menschen zwar unterschiedlich aussehen, doch mehr oder weniger gleich mit
Armen, Beinen und einem Rumpf aufgebaut sind, so ist das
auch bei den Nervenzellen. Man findet bei (fast) jedem Neuron einen Zellkörper mit einem Kern, einen langen Ast auf
der einen Seite, das Axon, und verzweigte kleinere Äste, Wurzeln ähnlich, auf der anderen Seite. Diese kleinen Verästelungen nennt man Dendriten. Der Zellkern, rund ein Tausendstel
Millimeter groß, ist die Fabrik der Zelle. In ihm werden die
Bauanleitungen des Lebens verwahrt, in Form von spiralförmigen Ketten von Desoxyribonukleinsäure (DNA), eingeteilt
in Abschnitte – die Gene. Diese werden in einem biochemischen Prozess gelesen, und nach deren Anleitung bastelt die
Zelle bestimmte Proteine.
Das Axon kann bis zu einem Meter lang werden und sich
durch den halben Körper schlängeln – oder auch nur ein Zehntel Millimeter. Das Axon ist so etwas wie die Autobahn der
Zelle. Auf ihr werden Signale in Form von elektrisch geladenen
Teilchen transportiert. Es läuft in kleine Verdickungen aus, die
man präsynaptische Endigungen nennt. Diese treten mit einem
ähnlichen Endstück eines Dendriten, Anbindungsstraßen ähnlich, einer anderen Zelle in Kontakt. Die meisten Zellen verfügen über mehrere Tausend Dendriten. Die etwas unscharfe
Formulierung »in Kontakt treten« ist mit Absicht gewählt. Die
beiden Endigungen berühren sich nämlich nicht, zwischen ihnen bleibt ein kleiner Spalt bestehen. Dieser heißt, Sie ahnen
es vermutlich schon, »synaptischer Spalt«. Vereinfacht gesprochen kann man sagen: Signale werden innerhalb der Zellen
elektrisch, zwischen den Zellen chemisch weitergeleitet.
Nehmen wir an, ein Signal (Wissenschaftler sprechen vom
Aktionspotential) kommt an einer präsynaptischen Endigung als
Strom an. Für den Strom ist das End- und Sackgasse. Aber das
Signal möchte gerne rüber zur nächsten Zelle. Es muss deshalb
auf eine Fähre umsteigen, die durch den präsynaptischen Spalt
schwimmt und am anderen Ende im Hafen des postsynaptischen
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Dendriten einfährt. Die Fähren heißen Neurotransmitter1, und
Sie haben sicherlich schon von einigen von ihnen gehört, zum
Beispiel Glutamat, Acetylcholin, Noradrenalin, Adrenalin, Serotonin und Dopamin. Stellen Sie sich vor, die Häfen auf der postsynaptischen Seite sind wie Anlagestellen von Millionärsclubs
an der Côte d,Azur. Dort lässt man nur ganz bestimmte Yachten einlaufen, nämlich wenn sie dem jeweiligen Club zugehören.
Wenn die Neurotransmitter-Yachten auf der anderen Seite im
Hafen des Dendriten, dem Rezeptorkanal, angelegt haben, laden
sie ihre Fracht aus, und es fließt in der Nachzelle ein Strom. (Sie
machen das, indem sie auf beiden Seiten Hafenarbeiter einsetzen, elektrisch geladene Calcium- und Natrium-Ionen. Im Hintergrund-Kasten auf Seite 64 ff. können Sie es genauer nachlesen.
Wichtig dabei ist, dass die Neuronen nach dem Prinzip Allesoder-Nichts verfahren. Es lässt sich also nicht nur ein bisschen
Signal übertragen. Bestimmte Medikamente und Drogen übrigens verhalten sich wie Piraten. Sie tarnen sich wie die Millionärsyachten, transportieren Produktfälschungen und täuschen
damit die Wächter an der Hafenanlegestelle.
Logisch, dass alles noch viel komplizierter ist. So sorgen bestimmte Neurotransmitter (zum Beispiel γ-Aminobuttersäure,
kurz GABA) dafür, dass Signale nicht übertragen werden, das
Aktionspotential also gehemmt wird.2 Und die Neurotransmitter-Yachten durchqueren den Spalt nicht einzeln, sondern
in kleinen Flotten. Grundsätzlich aber gelten zwei entscheidende Regeln:
Erstens: Erst wenn eine ausreichende Anzahl von Neuronen ein Signal übertragen (man spricht davon, dass die Neuronen feuern), löst dies eine Reaktion aus.
1. Genau genommen unterscheidet man zwischen Neurotransmittern (wie Glutamat und GABA) und Neuromodulatoren, die sich wiederum in Peptide (zum Beispiel Endorphin), Amine (zum Beispiel Serotonin und Dopamin) und Hormone (zum Beispiel Adrenalin und Cortisol) gliedern, die in der Regel in anderen Körperorganen erzeugt und dann über die Blutbahn durch die Bluthirnschranke als Neuromodulatoren ins Gehirn gelangen. Einige Stoffe wie Acetylcholin sind mal Neurotransmitter, mal Neuromodulator. Das ist alles schrecklich
kompliziert und spielt nur in der biochemischen Forschung eine Rolle, weshalb sich die Hirnforscher darauf
geeinigt haben, alle Hirn-Botenstoffe Neurotransmitter zu nennen. So halten wir es auch in diesem Buch.
2. Botenstoffe, die Zellen am Feuern hindern (man spricht von inhibitorischen Neurotransmittern), sind verdammt wichtig. Ohne sie würde die Zelle bei jeder Kleinigkeit feuern und gar nicht damit aufhören.
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Zweitens: Neuronale Verbindungen entstehen, indem
Neuronen gemeinsam feuern. Auf Englisch reimt sich diese
Aussage sogar: »Neurons that fire together, wire together.«
Wenn die Neuronen in Aktion treten, benötigen sie natürlich Energie. Und zwar eine ganze Menge. Obwohl das Gehirn
mit knapp 1,5 Kilogramm nur zwei Prozent der Körpermasse ausmacht, verbraucht es rund 20 Prozent der Energie. Bei
Kleinkindern, deren Gehirn sich noch entwickelt hat, sind es
bis zu 60 Prozent. Wenn man den Energiezufluss in Form von
Traubenzucker (Glukose) und Sauerstoff abschneidet, sterben
die Neuronen innerhalb kurzer Zeit. Sie verfügen nämlich
über keinen Energiespeicher. Deshalb erleiden Menschen, deren Gehirn länger als ein paar Minuten von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten wurde, unreparierbare Schäden.
Allerdings: Insgesamt betrachtet ist das Gehirn sparsam.
Käme die Energie für Ihr Gehirn aus der Steckdose, beliefe
sich die Stromrechnung für Ihr ganzes Leben auf weniger als
1.500,- Euro.
Zum Denken braucht Ihr Gehirn Energie, also Sauerstoff und Glukose. So simpel diese Tatsache erscheinen mag, so wichtig ist sie,
und so oft wird im Alltag dagegen verstoßen: Frische Luft und
eine ausreichende, kohlenhydratreiche Ernährung bringen Ihr
Gehirn auf Trab! Es hat also keinen Sinn, die Mittagspause ausfallen zu lassen und stattdessen am Computer hungrig weiterzuarbeiten oder das Meeting durchzuziehen. Besser, Sie nehmen ein
ausgewogenes Mittagessen zu sich und gehen danach eine paar
Minuten an der frischen Luft spazieren.
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HINTERGRUND FÜR GENAU-WISSEN-WOLLER:
DEM GEHIRN BEI DER ARBEIT ZUSCHAUEN
Die Neurologen, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis
gegen Ende des 20. Jahrhunderts, also über einen Zeitraum
von gut 100 Jahren, wissen wollten, wie das menschliche Gehirn funktioniert, mussten warten, bis deren Besitzer verstorben waren. Damit machten sie sich nicht unbedingt beliebt.
Zumal es für sie erst so richtig interessant wurde, wenn die
verstorbenen Gehirnbesitzer unter neurologischen Störungen
oder Krankheiten gelitten hatten. So befasste sich der französische Neurologe Paul Broca um 1862 mit einem Mann,
der nur noch »tan tan« sagen konnte, obwohl sein Sprechapparat nicht geschädigt war. Broca sezierte dessen Gehirn
und bemerkte, dass an einer bestimmten Stelle, vermutlich
durch einen Hirnschlag, die Gehirnzellen abgestorben waren.
Broca schloss daraus: Diese Stelle mit den toten Zellen war
für die Sprachstörung verantwortlich. Wir werden uns das
Broca-Areal im Kapitel »Sprache und Verstehen« noch näher
anschauen.
Darauf zu warten, dass Menschen mit bestimmten Störungen starben und ihr Gehirn der Wissenschaft vermachten,
schränkte den Erkenntnisfortschritt erheblich ein. In den letzten ein, zwei Jahrzehnten hat die Neurowissenschaft jedoch
aufgrund neuer technischer Methoden einen enormen Schritt
nach vorne getan. Heute können wir dem Gehirn bei der Arbeit zusehen. Jedenfalls glauben wir das. Hier die wichtigsten
Methoden, ihre Möglichkeiten und ihre Beschränkungen:
Elektroenzephalografie: Diese Methode, kurz EEG genannt, gehört zu den ältesten technischen Verfahren, die Arbeit des Gehirns quantitativ zu erfassen. Dabei werden mit
hochempfindlichen Geräten die Gehirnströme gemessen. Um
korrekt zu sein, handelt es sich um Spannungsschwankungen,
die in den typischen Wellendiagrammen dargestellt werden.
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Das EEG hat den Vorteil, dass es kontinuierlich misst. Man
kann also auf Tausendstel Teile einer Sekunde genau den Zeitpunkt einer Gehirnaktivität feststellen. Dafür lässt sich nur
sehr grob sagen, an welcher Stelle das Gehirn aktiv wird, weil
die Messbereiche ungenau sind.
Funktionelle Magnetresonanztomografie: Den Bildern,
die von dieser mit fMRT abgekürzten Methode geliefert werden, sind Sie bestimmt schon einmal im Fernsehen, in einer
Zeitung oder Zeitschrift oder im Internet begegnet. Sie sehen
darauf einen Längsschnitt durch das Gehirn, auf dem rote,
grüne, gelbe und blaue Flecken zu erkennen sind. Die Aufnahmen entstehen in einem Kernspintomografen, während
die Probanden bestimmte geistige Aufgaben lösen oder mit
sinnlichen Eindrücken konfrontiert werden. Oft wird behauptet, die Flecken zeigten an, wo das Gehirn bei den jeweiligen
Aufgaben aktiv werde. Vielleicht haben diese Bilder mit dazu
beigetragen, dass viele Menschen glauben, wir nutzten nur
zehn Prozent unseres Gehirns. Diese Behauptung ist Quatsch!
So einen Unfug würde sich die Natur niemals einfallen lassen. Schließlich muss sie das riesige Gehirn des Menschen mit
Energie versorgen, was verdammt aufwändig ist. Außerdem
hat der Mensch einen ungewöhnlich großen Dickschädel, der
nur mühsam seinen Weg durch den Geburtskanal findet. Und
nach der Geburt noch viele Jahre wächst. Hätte die Evolution das Gehirn auf zehn Prozent seines heutigen Volumens
schrumpfen können, weil der Rest unbenutzt herumliegt – sie
hätte es getan, weil das einen Überlebensvorteil dargestellt
hätte. In Wirklichkeit sind alle Teile unseres Gehirns immer
aktiv. Was längere Zeit nicht aktiv ist, stirbt ab. Die fMRT-Bilder zeigen vielmehr, welche Bereiche des Gehirns aktiver sind
als gewöhnlich. Die entsprechenden Scanner messen, welche
Stellen besonders stark mit sauerstoffreichem Blut versorgt
werden. Sie tun das mit hoch leistungsfähigen Magneten, da
sauerstoffreiches und sauerstoffarmes Blut unterschiedliche
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magnetische Eigenschaften aufweist. (Dies wiederum hängt
mit der Drehrichtung, dem Spin, von Protonen und Neutronen im Atomkern zusammen; daher der Name Kernspintomografie).
Dahinter steht die Überlegung, dass unser Gehirn zum
Denken Glukose und Sauerstoff benötigt. Je mehr davon gebraucht wird, desto intensiver denken wir. An den Stellen, wo
besonders viel Sauerstoff nachgefragt wird, denken wir also
besonders intensiv. Leider ist aus biologischen und technischphysikalischen Gründen nur eine begrenzte Anzahl von
Aufnahmen innerhalb einer Zeitspanne möglich. Deshalb
erlauben fMRT-Aufnahmen zwar zu erkennen, wo die Gehirnaktivität stattfindet; sie geben jedoch nur unzureichend
Auskunft, wann und wie schnell das Gehirn reagiert. Diese
Langsamkeit stellt einen erheblichen Mangel dar, denn unser
Gehirn zeichnet sich durch ein Netz aus Verbindungssträngen aus. Wir müssen also davon ausgehen: Selbst an Stellen,
wo keine verstärkte Aktivität zu beobachten ist, finden Prozesse statt, die für die gerade im fMRT untersuchte Aufgabe
unabdingbar sind. Selbst was die aktiven, im fMRT sichtbaren
Areale angeht, gießen die Experten Wasser in den Wein. An
den jeweiligen Stellen befinden sich 100 Millionen und mehr
Neuronen. Von »präzise« mag man da nicht unbedingt reden.
Positronenemissionstomografie: PET-Bilder ähneln den
Aufnahmen, die man im fMRT gewinnen kann. Das Verfahren
war früher auch in der Grundlagenforschung verbreitet, spielt
heute jedoch nur noch in der medizinischen Anwendung eine
Rolle, zum Beispiel bei der Krebserkennung. Im Gegensatz
zu den extrem starken Magnetfeldern des fMRT, die für den
Körper nach heutigem Wissen völlig unbedenklich sind, wird
bei der PET den Versuchspersonen ein sehr schwach radioaktives fluoreszierendes Molekül als Marker in den Blutkreislauf
gespritzt. Der Marker reichert sich an den besonders aktiven
Stellen des Gehirns an und lässt sich mit einer Spezialkame23
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ra sichtbar machen. Allerdings finden es Versuchspersonen
nicht nett, radioaktiv gespritzt zu werden - daher der Popularitätsverlust der Methode.
Diffusions-Tensor-Bildgebung ist eine Unterform der
fMRT, bei der vor allem die Nervenfasern der weißen Masse
untersucht werden, indem es die Bewegung von Wassermolekülen entlang der Axone wiedergibt.
Zwei-Photonen-Fluoreszenzmikroskopie: Dieses Verfahren erlaubt es, die Aktivität von Gehirnzellen bis zu einem
Millimeter tief im lebenden Gewebe abzubilden – allerdings
nur bei Versuchstieren. Das geschieht indem man bestimmte Farbstoffmoleküle mit zwei Lichtteilchen (Photonen) beschießt. Die Moleküle strahlen wenige Nanosekunden später
Licht einer anderen Frequenz zurück.
Neurostimulation: Wertvolle Erkenntnisse gewinnen
Wissenschaftler zudem, wenn sie bestimmte Neuronenareale bei geöffnetem Schädel elektrisch stimulieren. Hört sich
schlimmer an als es ist, da das Gehirn über keine Schmerzrezeptoren verfügt. Allerdings kann man Studenten der Psychologie oder Medizin, die für die anderen Verfahren als
Versuchspersonen oftmals herhalten müssen, selten davon
überzeugen, ihre Schädel öffnen zu lassen. Patienten, die vor
einer Hirnoperation stehen, zum Beispiel wenn ein Tumor
entfernt werden soll, müssen sich jedoch einer solchen Untersuchung unterziehen. Der Neurochirurg stellt dabei fest,
wo bestimmte Hirnfunktionen im konkreten Fall angesiedelt
sind, damit er nicht versehentlich ein Stück Gedächtnis oder
Sprachvermögen herausschneidet. Übrigens funktionieren
auch so genannte Hirnschrittmacher nach dem Prinzip der
elektrischen Stimulation von Neuronen.
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wir bei einem Autounfall niemals einem Zeugen glauben? Warum war Mutter Teresa auch nur
eine Egoistin? Können wir unser Gehirn auf natürliche Weise dopen?
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ihre faszinierenden Erkenntnisse für meinen Alltag? Markus Reiter zeigt in seinem neuen
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Manipulationsversuche machen können. Mit ihren Erkenntnissen erfahren wir, wie unser Gehirn
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