Tesi tedesco FINITA

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UNIVERSITÀ DEGLI STUDI DI MACERATA
ALBERT-LUDWIGS-UNIVERSITÄT FREIBURG IM BREISGAU
DIPARTIMENTO DI FILOSOFIA
DOTTORATO IN FILOSOFIA E TEORIA DELLE SCIENZE UMANE (CICLO XXIV)
WILLE, UNBEWUSSTHEIT, MOTIVATION:
DER ETHISCHE HORIZONT
DES HUSSERLSCHEN ICH-BEGRIFFS
TUTOR:
Chiar.mo Prof. Roberto MANCINI
Chiar.mo Prof. Hans-Helmuth GANDER
COORDINATORE:
Chiar.mo Prof. Luigi ALICI
Dottoranda:
Marta UBIALI
ANNO 2012
Inhaltsverzeichnis
Einleitung...........................................................................................................................5
ERSTES KAPITEL: WILLE UND MOTIVATION
§ 1. Einleitung: Der Wille aus phänomenologischer Perspektive ...................................10
§ 2. Alexander Pfänder
2.1 Die Begegnung und die Arbeit mit Husserl ..........................................................12
2.2 Ein wesentlicher Unterschied: Die Rolle der phänomenologischen Reduktion ...17
§ 3. Die Phänomenologie des Wollens: ein Vergleich zwischen Pfänders und Husserls
Ansatz ..............................................................................................................................24
3.1 Pfänder: Der „geistige Schlag“ des Willensaktes .................................................24
3.2 Husserls Phänomenologie des Wollens ................................................................31
3.2.1 Der Fundierungszusammenhang zwischen objektivierenden und nichtobjektivierenden Akten ..........................................................................................31
a) Die Entstehung des Problems in den Logischen Untersuchungen ................31
b) Die Entwicklung der Ansichten Husserls in den Ideen I sowie in den
Vorlesungen über Ethik und Wertlehre 1908-1914 ...........................................35
3.2.2 Die Komplexität des Phänomens des Wollens und seine Modalisierungen..39
3.2.3 Moritz Geiger: Das unerlebte Wollen ...........................................................43
3.2.4 Die eigentümlichen Charaktere des Willens bei Husserl ..............................48
§ 4 Die Motivation als Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens .................................56
4.1 Die Analysen Pfänders zur Motivation .................................................................57
4.2 Die Motivation bei Husserl ...................................................................................64
4.2.1 Motivation als Sinneszusammenhang der Erfahrung....................................68
4.2.2 Die passive Motivation: Trieb und Assoziation ............................................75
ZWEITES KAPITEL: DIE ROLLE DER PASSIVEN SEDIMENTIERUNGEN UND DER
TRANSZENDENTALEN HABITUALITÄTEN IN DER KONSTITUTION DES ICH
§ 1. Einleitung: Das Rätsel des Unbewussten .................................................................85
§ 2. Das Ablaufphänomen und der unendliche Horizont des inneren Zeitbewusstseins .88
2.1 Das Jetzt der Urimpression ...................................................................................93
2.2 Der Kometenschweif der Retention und die Wiedererinnerung ...........................96
2.3 Die Protention .....................................................................................................100
§ 3. Das Unbewusste als „Reich der scheinbar zu nichts
gewordenen Vergessenheiten“ .......................................................................................105
3.1 Die Sedimentierungen der nicht mehr aktuellen Akten ......................................105
a) Die retentionalen Abwandlungen und das Versinken jeden
Bewusstseinsinhalts .........................................................................................105
b) Phänomenologie des Unbewussten als Phänomenologie der versunkenen
Sedimentierungen ............................................................................................109
3.2 Die Wirksamkeit des Verdeckten ........................................................................116
3.3 Husserl und Freud: Zwei Perspektiven auf das Unbewusste ..............................120
3.4 Die Möglichkeit der Weckung ............................................................................134
§ 4. Die bleibenden Meinungen und die transzendentalen Habitualitäten ....................137
§ 5. Die Konstitution des bleibenden Charakters und der Persönlichkeit .....................146
DRITTES KAPITEL: DER ETHISCHE HORIZONT DES HUSSERLSCHEN
ICH-BEGRIFFS: DAS WILLENTLICHE ICH-WERDEN
§ 1. Einleitung: Die ethische Frage als Kern der Phänomenologie Husserls ................150
§ 2. Die ethischen Folgen der Motivationsgesetzmäßigkeit .........................................155
§ 3. Die erste Richtung der Ethik Husserls: Die formale Ethik und der Parallelismus
zwischen Logik und Ethik .............................................................................................164
§ 4. Husserls späte Ethik: Erneuerung und Verantwortung ...........................................175
§ 5. Die Phänomenologie als die höchste ethische Willensentscheidung......................191
5.1 Die universale ethische Epoché ..........................................................................191
5.2 Die radikale Lebensentscheidung des Phänomenologen: Ein Leben absoluter
Berufung....................................................................................................................198
§ 6. Abschließende Betrachtungen: Der Vorrang des Willens .......................................205
Schluss ...........................................................................................................................210
Zusammenfassung auf Italienisch .................................................................................213
Literaturverzeichnis .......................................................................................................258
Einleitung
Die Aufgabe dieser Arbeit besteht in dem Versuch, einige wichtige Fragen nach dem
Wesen und der Dynamik des Ichlebens durch den grundlegenden Beitrag der
Phänomenologie Husserls zu beantworten. Die im Folgenden behandelten Fragen
entstehen durch aufmerksame Beobachtung der menschlichen Erfahrung, insbesondere
im Hinblick auf das Phänomen des Willens, das aufgrund seiner zentralen Bedeutung
beständig im Blickpunkt von Husserls Interesse steht – bereits in den Logischen
Untersuchungen, und bis zu seinen Überlegungen der 30er Jahre. Eine Phänomenologie
der Erfahrung kann übrigens nicht darüber hinwegsehen, dass der Mensch
ununterbrochen mehrere Ziele erreichen will, sodass in jedem Augenblick unseres
Lebens eine beständige willentliche Spannung herrscht. Doch genau hier liegt die
Komplexität der Frage, denn die Schwierigkeit, worin der Wille eigentlich besteht, ist
nicht ohne weiteres einsichtig. Für gewöhnlich verleiht man dem Ausdruck „Ich will“
den Sinn der Setzung praktischer Vorsätze, expliziter Stellungnahmen – kurz: den Sinn
echter freier Aktivität. Und doch zeigt sich die Erfahrung vielfältig und nuancenreich.
Obgleich Triebe, Wünsche, passive und unbewusste Formen des Strebens verschiedene
Phänomene darstellen, gehört zur grundlegenden menschlichen Erfahrung überdies eine
fortwährende Verflechtung dieser Dimensionen, aufgrund welcher sie häufig als kaum
unterscheidbar erscheinen. Wie oft werden wir uns erst nachträglich bewusst, dass ein
unbemerktes Wollen schon lange Zeit unsere Einstellung bedingt hat? Können wir
immer klar begreifen und äußern, was wir in der Tat wollen? Auf welche Weise
beeinflussen sowohl unsere Gewohnheiten als auch unsere persönliche Geschichte
unsere neuen Entscheidungen? Und andererseits, was genau zeichnet die
Eigentümlichkeit eines echten Willensaktes, das heißt einer eigentlich freien
Stellungnahme, aus? Solche und weitere, mit diesen verknüpfte Fragen stecken die
Entwicklung der vorliegenden Arbeit ab und finden in Husserl beziehungsweise in
seiner Phänomenologie eine fruchtbare Auseinandersetzung: Je weiter diese
Entwicklung fortschreitet, erwächst aus der Analyse der Beziehung zwischen
willkürlicher und unwillkürlicher Sphäre die Gelegenheit, die grundlegenden
5
Einleitung
Dimensionen zu entdecken, welche Husserl dem Wesen und der ethischen Rolle des Ich
zuschreibt.
Die drei Termini im Titel – Wille, Unbewusstheit und Motivation – die Kernpunkte
der Untersuchung, wie im Laufe der Arbeit klarer werden wird: Wille und
Unbewusstheit bezeichnen die aktive respektive passive Lebensdimension; Motivation
ist die Grundgesetzlichkeit des gesamten geistigen Lebens, die daher sowohl die aktive
als auch die passive Stufe umfasst.
Um die Eigentümlichkeit der Husserlschen Auffassung des persönlichen Ich und
dessen Dimensionen zu erfassen, gilt besonderes Interesse der Möglichkeit einer
theoretisch fruchtbaren Gegenüberstellung der Standpunkte Husserls mit denen anderer
Phänomenologen, wie Alexander Pfänder und Moritz Geiger, bezüglich der Frage nach
der Phänomenologie des Willens, oder auch denen Sigmund Freuds und dessen
Perspektive auf das Unbewusste: Hier bietet sich die Gelegenheit, erneut die Aktualität
und den Reichtum der Husserlschen Phänomenologie zu entdecken.
Der aufmerksame Leser dieser Arbeit wird schnell bemerken, dass sich die folgende
Analyse auf verschiedene Texte Husserls bezieht, ohne dass im Vorhinein ein
bestimmter Zeitraum seines Werkes priviligiert würde. Gewiss könnte diese
Entscheidung zur (misslichen) Folge haben, dass die beträchtlichen Veränderungen und
Überarbeitungen nivelliert würden, welche die Husserlschen Begriffe im Laufe der
Jahre erfahren haben. Gleichwohl folgt diese methodische Wahl der Absicht, einen
synchronen Überblick zu bestärken, um ein all den verschiedenen Momenten der
Phänomenologie Husserls stützendes Grundgefüge zu eruieren. Jetzt gilt es, kurz auf
den Inhalt der drei Kapitel dieser Arbeit einzugehen.
Im ersten Kapitel der vorliegenden Ausführungen stehen die Begriffe des Willens (§
1; § 2; § 3) und der Motivation (§ 4) im Mittelpunkt der Analyse. Nach Husserl stellt
der Wille eine grundlegende Dimension des menschlichen Lebens dar, da er jeden Akt
des Ich in Form sowohl eines echten Willensaktes, das heißt einer willentlichen
Stellungnahme, als auch in Form einer willentlichen Spannung begleitet. Die
Behandlung der Thematik des Willens mündet daher in eine Auseinandersetzung mit
jenen passiven Sphären, die dem Bereich des Freiwilligen scheinbar fremd sind: Der
6
Einleitung
Sphäre der Triebe, des Strebens, der Wünsche. Im Vergleich mit der Phänomenologie
Alexander Pfänders und seinen Texte Phänomenologie des Wollens und Motive und
Motivation zeichnet sich die Eigentümlichkeit der Husserlschen Auffassung des
Willensbereichs und der Beziehung zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Akten
besonders deutlich ab. Außerdem leisten die Überlegungen eines weiteren
Phänomenologen und Lipps-Schülers Moritz Geiger, diesbezüglich einen bedeutsamen
Beitrag: Geigers „unerlebtes Wollen“ weist in die Richtung der Anerkennung der
vielseitigen Modalisierungen des Willens, die besonders von Husserl umfassend
untersucht werden. Gegenstand des zweiten Teils des ersten Kapitels bildet das Thema
der Motivation. Es hebt, kraft der Leistung Alexander Pfänders, die zentrale Bedeutung
hervor, die dieser Begriff bei Husserl innehat – der Husserlsche Grundbegriff der
Motivation stellt sich nämlich als Erweiterung des Begriffes der Motivation, wie er im
täglichen Sprachgebrauch verwendet wird, heraus. Der Reichtum der Motivation als
Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens wird im Laufe des Kapitels aus zwei
wesentlichen Perspektiven untersucht: Der Motivation als Sinnzusammenhang der
Erfahrung, und der Motivation als Dimension, welche sowohl die aktive
beziehungsweise rationale als auch die passive beziehungsweise irrationale Stufe der
Erfahrung umfasst.
Das zweite Kapitel widmet sich der Dimension des Unbewussten, das heißt der
Dimension der dunklen und passiven Motivationszusammenhänge. Ziel ist es hier, den
Sinn der Husserlschen Phänomenologie des Unbewussten herauszustellen. Im
Mittelpunkt dieser Analyse steht die Frage nach der genetischen Konstitution der
Geschichte des Ich; daher spielen hier die Begriffe der Sedimentierung, des
Niederschlags, der Vergessenheit und des Erwerbs eine wesentliche Rolle. Um diese für
Husserl stets grundlegende Dimension zu begreifen, muss man zunächst bei seiner
Auffassung der Momente des konstitutiven Flusses der Zeitlichkeit ansetzen (§ 2), denn
der erste Schritt des Weges zum Unbewussten besteht in der Betrachtung des
Ablaufphänomens und des unendlichen Horizontes des inneren Zeitbewusstseins,
welche die Bedingung für das Versinken der Erlebnisse in das Reich der
Vergessenheiten darstellen. Der darauffolgende Abschnitt des Kapitels (§ 3) beschäftigt
7
Einleitung
sich mit der Frage nach dem Unbewussten aus phänomenologischer Perspektive, unter
anderem durch eine fruchtbare Gegenüberstellung mit dem psychoanalytischen Ansatz
Freuds zum Problem des Unbewussten: Aufgrund der notwendigen retentionalen
Wandlung versinkt jede lebendige Urimpression allmählich in einer unterschiedslosen
Nullsphäre. Obwohl dies zu einer zunehmenden Modifikation der affektiven Kraft führt,
geht nach Husserl nichts spurlos verloren. Vielmehr besitzt alles noch eine affektive
Kraft und neigt dazu, zu verbleiben. Folglich schlägt sich eine sich
entwickelnde ,Geschichte‘ des Ich nieder, deren transzendentale Bedingungen und
theoretische Implikationen den Mittelpunkt des letzten Teils dieses Kapitels bilden. Die
Wesensgesetzmäßigkeit der bleibenden Meinungen als Niederschläge im reinen Ich (§
4) bildet das transzendentale Gesetz der Konstitution der Identität des Ich, seines
bleibenden Stils und seines personalen Charakters (§ 5).
Das Abschlusskapitel beschäftigt sich schließlich mit grundsätzlichen ethischen
Fragen, welche durch die Phänomenologie des Willens und die Phänomenologie des
Unbewussten aufgeworfen werden. Zunächst wird es darum gehen, die ethischen
Implikationen der bisher erörterten Motivationsgesetzlichkeit herauszuarbeiten (§ 2):
Eine Anerkennung der Motivation als Dimension, welche sowohl die aktive als auch die
passive Stufe des Ichlebens umfasst, bewirkt, dass kein Akt als kausaler Mechanismus
aufgefasst werden kann, weil Motivation in einem gewissen Sinn als Synonym für
geistige Freiheit fungiert. Jeder Willensakt besitzt eine Selbstbestimmungskraft und
prägt mithin die ethische Persönlichkeit. Diesem allgemeineren Überblick folgt sodann
eine ausführlichere Analyse des Inhaltes der Husserlschen Ethik in ihren
unterschiedlichen Phasen: Husserls erster Versuch, eine formale Ethik parallel zur
formalen Logik zu begründen (§ 3), sowie die spätere Ethik, welche von dem Bedürfnis
nach radikaler ethischer Erneuerung und persönlicher Verantwortung bestimmt ist (§ 4).
Der Schlussteil des Kapitels wiederum hebt hervor, dass die Ethik keinen bloßen Zusatz
zu den theoretischen Überlegungen Husserls darstellt, sondern der die Husserlsche
Phänomenologie antreibende Kern (§ 5) selbst ist. Die phänomenologische Epoché ist
Husserl zufolge keine bloß intellektuelle Vorstellung, sondern das Ergebnis eines
motivierten und persönlichen Willensentschlusses, das heißt der Gipfel der
8
Einleitung
menschlichen Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit, sodass der radikalen
Lebensentscheidung des Phänomenologen das Leben absoluter Berufung entspricht.
Diese Betrachtungen resultieren im Vorrang des Willens im Vertrauen auf die
menschliche Rationalität, welche die Ethik Husserls antreiben (§ 6).
9
Erstes Kapitel
Wille und Motivation
§ 1 Einleitung: Der Wille aus phänomenologischer Perspektive
Der Wille ist ein zentrales Thema der Phänomenologie, denn er stellt nicht nur
eine der menschlichen Fähigkeiten dar, welche neben der Vernunft und dem
Selbstbewusstsein die geistige Subjektivität ausmachen, sondern eine übergreifende
Dimension, die das gesamte Leben des Ich durchdringt.
Die folgenden Überlegungen werden sich aus phänomenologischer Perspektive
mit der Frage nach dem Wesen des Willens beschäftigen: Eine solche Untersuchung
führt nicht nur zur genauen Beschreibung und Analyse der verschiedenen Momente
des Willensaktes, sondern verbindet gleichzeitig andere wichtige und miteinander
zusammenhängende Fragen, wie die nach der problematischen Beziehung zwischen
der willkürlichen und der unwillkürlichen Sphäre des Ich-Lebens, die Frage nach
dem Wesen der Triebe und der Instinkte sowie nach der Motivation, d.h. der
„Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens“1, der die Analysen des vorliegenden
Kapitels gewidmet sind. Die Dimension des Willens nimmt außerdem – wie im
letzten Teil dieser Ausführungen gezeigt wird – eine direkte und zentrale Rolle im
ethischen Bereich, besonders in der personalistischen Ethik ein, die Husserl mit der
Zeit entwickelt hat: Der Wille stellt die menschliche Fähigkeit dar, Instinkte und
Triebe zu hemmen und höhere Werte anzunehmen und ermöglicht, das eigene Leben,
die Persönlichkeit und die Handlungen zu prägen.
Husserl hat nie aufgehört, sich mit dem Thema des Willens zu befassen. Schon in
den Logischen Untersuchungen setzt er sich mit der Frage nach dem Wesen der
Willensakte auseinander, indem er sich mit dem Unterschied zwischen
objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten, ihrer Klassifizierung und ihrem
Fundierungsverhältnis beschäftigt. Es ist von Bedeutung, dass Husserl bereits in
jenen anfänglichen Überlegungen über den Willen nach der Komplexität fragt,
1
Hua IV, 220.
Wille und Motivation
welche „in der Sphäre des Begehrens und Wollens“ 2 liegt. Er bemerkt, dass „wir
doch oft von einem dunkeln Langen und Drängen bewegt und einem unvorgestellten
Endziel zugetrieben werden“ 3: Die komplexe Verflechtung der eigentlichen
Dimension des Willens mit der Passivität der Triebe ist bereits Gegenstand der
Aufmerksamkeit Husserls.
Dem Fundierungsverhältnis zwischen objektivierenden und nichtobjektivierenden Akten sind auch die Hinweise auf den Willen im ersten Band der
Ideen gewidmet. Auf dieser theoretischen Voraussetzung fußend schließen sich die
Vorlesungen über Ethik und Wertlehre von 1908 und 1914 an, welche eine reiche und
ausführliche Analyse der Struktur und der verschiedenen Momente des Willensaktes
bieten, was später noch eingehender gezeigt werden soll. In den folgenden Werken
und Untersuchungen Husserls wird das Thema des Willens immer präsenter und von
Husserl zunehmend in einer genetischen Richtung vertieft. Die Frage nach dem
Willen deckt sich mit der Frage nach der Entstehung des Willensaktes aus dem
Grund der Passivität, was unausweichlich zur Aufgabe eines gründlichen Begreifens
der Rolle der Motivationen im Leben des Ich führt.
Vor Husserl hatte sich allerdings schon ein anderer deskriptiv-phänomenologisch
arbeitender Philosoph mit der Willens- und der Motivationsproblematik beschäftigt:
der Münchener Philosoph Alexander Pfänder. Indem von den Untersuchungen
ausgegangen wird, die Pfänder dem Problem des Willens und der Motivation
gewidmet hat, wird nicht etwa die hier zu untersuchende Thematik verlassen. Es gilt
vielmehr zuerst, die Philosophie Pfänders in den Blick zu nehmen, um den
sachlichen Leitfaden für ein angemessenes Verständnis der Husserlschen
Herangehensweise zu gewinnen, weil die Ausführlichkeit und die deskriptive
Übersichtlichkeit der Pfänderschen Analysen deutlich die konstitutiven Momente des
Willensaktes und der Motivation sowie ihre jeweiligen Eigentümlichkeiten
hervorheben. Pfänder ist – wie es später noch eingehender gezeigt wird – ein
bedeutender Vertreter der Ansprüche, die auch bei Husserl dazu führen, im Willen die
2
3
Hua XIX/1, 409.
Hua XIX/1, 409.
11
Wille und Motivation
bevorzugte Fähigkeit dafür zu erkennen, die Subjektivität aus den Engen der
naturalistischen und physiologischen Psychologie befreien zu können. Darüber
hinaus sind Pfänders Analysen dieser Themen tatsächlich ein wichtiger Anhaltspunkt
für Husserl gewesen, mit dem er sich tief auseinandergesetzt hat.4 Ziel des nächsten
Abschnittes ist daher, die Arbeit Pfänders und den Kern seiner Auffassung über den
Willen herauszuarbeiten.
§ 2 Alexander Pfänder
2.1 Die Begegnung und die Arbeit mit Husserl
Pfänder zählte zu den vielversprechenden Schülern von Theodor Lipps und
gründete im Jahr 1901 zusammen mit anderen Lipps-Schülern, wie etwa Johannes
Daubert, den „Akademisch-Psychologischen Verein“. Was diese jungen
Wissenschaftler vereinte, war der Versuch, eine deskriptive und nicht-naturalistische
Psychologie zu begründen, analog zu Lipps’ Anschauungen, der in seinem Leitfaden
der Psychologie schreibt:
Der Weg der Psychologie ist zunächst und ist letzten Endes überall der Weg der
unmittelbaren Beobachtung der Tatsachen, um welche es sich für diese Wissenschaft
handelt. Und diese wiederum ist zunächst Selbstbeobachtung, d.h. Beobachtung der
eigenen Bewusstseinserlebnisse.5
Erst recht galt dies für Pfänder, der zunächst als Ingenieur ausgebildet worden war
und dann durch Theodor Lipps in die Philosophie eingeführt wurde: Es ist
4
Hierzu betont Vargas Bejarano, dass Pfänders phänomenologische Analyse des Willens „Husserls
Forschung weitgehend beeinflusst hat. Der Hauptvertreter der frühen Phänomenologie in München hat
den Willen hinsichtlich seiner Motive beschreiben [...]. Diese Analysen haben Husserl so beeinflusst, dass
er das Problem der Verfassung des Willens erneut aufgegriffen hat“ (Vargas Bejarano, Julio Cesar:
Phänomenologie des Wollens. Seine Struktur, sein Ursprung und seine Funktion in Husserls Denken,
Frankfurt a. M. 2006, 22).
Für eine ausführliche Übersicht zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Beeinflussung zwischen Husserl
und Pfänder siehe Schuhmann, Karl: Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, Den
Haag 1973.
5 Lipps, Theodor: Leitfaden der Psychologie, Saarbrücken 2006, 42.
12
Wille und Motivation
verständlich, dass sein Hauptinteresse der Psychologie galt, und zwar besonders
einer deskriptiven Ausweitung der bestehenden Psychologie.
Eine Gelegenheit zur Begegnung und Zusammenarbeit zwischen Husserl und dem
Verein bot sich mit der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen, die das
Interesse und die Aufmerksamkeit der Lipps-Schüler auf sich zogen.6 Diejenigen
Fragen und Diskussionspunkte, welche die Münchener Schule beschäftigten, standen
auch in Husserls Werk im Vordergrund, das schnell zum wissenschaftlichen
Ausgangspunkt für den Verein avancierte. Insbesondere die Psychologismus-Kritik,
die Husserl in den Prolegomena zur reinen Logik nicht zuletzt gegenüber Theodor
Lipps formulierte7 , sowie sein eigener deskriptiver Ansatz in der Untersuchung
psychischer Phänomene, erschien den Lipps-Schülern überzeugender als die
Auffassungen ihres Lehrers.8 Der bekannte Husserlsche Ausdruck „Zu den Sachen
6
Unter den Schülern war Daubert der erste, der verstand, dass die Logischen Untersuchungen einen
Wendepunkt in der philosophischen Situation der damaligen Zeit darstellten. Hierzu schreibt Spiegelberg:
„Then, as tradition has it, one day in 1903 Husserl received the visit of an unknown student of philosophy
from Munich, who was said to have come all the way on his bicycle. From 3 P.M. to 3 A.M. Husserl
discussed the Logische Untersuchungen with him, in whom he recognized ,the first person who had really
read the book‛. This conversation was easily the most important single event in the history of the Munich
Phenomenological Circle“ (Spiegelberg, Herbert: The phenomenological movement. A historical
introduction, Den Haag 1960, 171).
7 Husserl schreibt hierzu: „Nach Lipps scheint es sogar, als wäre die Logik der Psychologie als ein bloßer
Bestandteil einzuordnen“ (Hua XVIII, 64).
8 Dazu bemerkt Spiegelberg: „Lipps tried to defend his position before the group. But the effect was
practically the opposite of what Lipps intended“ (Spiegelberg, The phenomenological movement. A
historical introduction, 157). Daubert schildert in einem Brief an Husserl sein Erstaunen über die Früchte
der Begegnung zwischen ihm und den Lipps-Schülern: „Vor allem bin ich erstaunt darüber, wie weit der
Kreis der älteren Lippsschüler hier ist: Geiger, Fischer, Dohrn, Gallinger. Es ist geradezu erstaunlich, mit
welcher Leichtigkeit und methodischer Schärfe man sich hier über schwere phänomenologische Fragen
verständigen kann. Zu diesem ganzen Kreis steht nach wie vor im Gegensatz Lipps. Es ist merkwürdig,
sein alter Gedanke der Münchener Psychologenschule hat sich verwirklicht, nur nicht so, wie er es sich
dachte. Denn die ganze Entwicklung geschah hier viel im Gegensatz zu ihm, den er herausforderte“ (Dok.
III/2, 47). Es ist wichtig zu bemerken, dass Lipps selbst trotz der Kritiken Husserls die große Bedeutung
seines phänomenologischen Ansatzes erkannt hatte, wie er in einem Brief an Husserl schreibt: „Sehr
gefreut haben mich die Kritiken, die Sie mir soeben zugeschickt haben, und für die ich bestens danke. Ich
bin mit Ihnen durchaus einverstanden [...]. Überhaupt scheint es mir, wir gehen im Wesentlichen
zusammen. Nur mit Ihrer Terminologie kann ich mich mitunter schwer befreunden. Es scheint mir, sie
könnte einfacher sein. Gelegentlich ist sie mir auch noch zu psychologistisch“ (meine Hervorhebung)
(Dok. III/2, 121).
13
Wille und Motivation
selbst!“9
wurde zu ihrem eigenen Grundsatz, der einen neuen Weg für ein
realistisches Begreifen der psychischen Phänomene eröffnete.10
Die erste Begegnung zwischen Pfänder und Husserl fand auf Vermittlung
Dauberts statt, der als „Mittelsmann zwischen dem ‚Psychologischen Verein‛ und
Husserl selber“ 11 fingierte und „ohne je eine Zeile geschrieben zu haben, mehr zum
Bekanntwerden der Logischen Untersuchungen beigetragen hat als irgendein
anderer.“12 Die Begegnung erfolgte Ende Mai 1904 in München, worauf Pfänder die
Logischen Untersuchungen intensiv durchzuarbeiten begann. Diese Begegnung war
sehr fruchtbar nicht nur für Pfänder, sondern auch für Husserl, wie man der
Korrespondenz zwischen ihnen entnehmen kann. Obwohl ein Großteil der
Korrespondenz Pfänders an Husserl nur in wenigen Briefen Husserls erhalten ist, ist
es möglich, von den Briefen Pfänders ausgehend jene von Husserl zu rekonstruieren
und daraus dessen Wertschätzung für Pfänder zu erkennen13, wenn Pfänder ihm –
nachdem Husserl Pfänders Einführung in die Psychologie14 gelesen hatte – am 31.
Juli 1905 schreibt: „Ich freue mich sehr über Ihre Anerkennung und über Ihre
Anmunterung, mich nicht durch unfreundliche oder verständnißlose Kritik verärgern
zu lassen.“ 15 Die besagte erste Begegnung zwischen den Philosophen fand statt,
nachdem Husserl im „Psychologischen Verein“ der Münchener Lipps-Schüler einen
9
Vgl. Hua XIX/1, 10.
Dazu behauptet Lavigne: „Cette expression est tôt devenue usuelle dans le cercle des premiers élèves
de Göttingen, pour caractériser ce qui leur était apparu – y compris aux anciens élèves munichois de Th.
Lipps, philosophiquement déjà plus avancés, en particulier Pfänder, Geiger, Daubert – comme
l’originalité la plus précieuse de l’auteur de le Recherces Logiques: ce que Husserl appelle lui-même son
‚objectivisme gnoséologique‛ (‚erkenntniskritischen Objektivismus‛, lettre à Piktin du 12 février 1905),
qui s’était exprime à la fois dans la défense de l’objectivité propre des idéalités logiques, et dans le retour
critique aux intuitions donatrices originaires (,Zu den Sachen selbst’)“ (Lavigne, Jean-François: Husserl
et la naissance de la phénoménologie (1900-1913), Paris 2005, 133).
11 Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I., 20.
12 Geiger, Moritz: Alexander Pfänders methodische Stellung, in: Heller, Ernst; Löw, Friedrich (Hrsg.):
Neue Münchener philosophische Abhandlungen, Leipzig 1933, 4.
13 Spiegelberg unterstreicht, dass „Husserl von Pfänder stark beeindruckt [war], als er ihm [...] begegnete.
Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch Pfänders damals gerade erschienene unorthodoxe
‚Einführung in die Psychologie‛. Daraus erklärt sich auch, dass Husserl im Jahre 1905 die Anregung für
einen gemeinsamen Ferienaufenthalt in Seefeld in Tirol gab, an dem auch andere Lipps-Schüler
teilnahmen und der zu mancherlei beiderseits bedeutsamen Gesprächen und Entwicklungen
führte“ (Spiegelberg, Herbert: Alexander Pfänders Phänomenologie, Den Haag 1963, 2-3). Die
Wichtigkeit dieses gemeinsamen Urlaubs in Seefeld in den Sommerferien 1905 ist auch von Schuhmann
ausführlich hervorgehoben worden, vgl. dazu Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I., 128 ff.
14 Pfänder, Alexander: Einführung in die Psychologie, Leipzig 1904.
15 Dok. III/2, 133.
10
14
Wille und Motivation
Vortrag gehalten hatte. Es ist zu bemerken, dass Pfänder die Bedeutung dieser
Begegnung sofort begriff. Tatsächlich schrieb er in einem Brief an Husserl am 13.
Juli 1904: „An jenem interessanten Abend im hiesigen Verein für Psychologie fand
ich in Ihren Darlegungen [...] überraschend große Übereinstimmung mit meinen
eigenen Ansichten.“16 Von diesem Moment an – zumindest war es für ihn der
entscheidende Schritt – arbeitete Pfänder in den darauffolgenden Monaten die
Logischen Untersuchungen intensiv durch:
Die ruhige Sicherheit, mit der Sie die Thatsachen ins Auge fassen, die delikate, behutsame
Weise, in der Sie so feinsinnig und eindringend die Thatsachen und Bedeutungen
analysiren, sind geradezu bewundernswert und vorbildlich. Dadurch kommt Ihrem Buch
schon eine außerordentliche erzieherische Wirkung zu. [...] Für mich persönlich ist das
Studium Ihres Werkes von dem allergrößten Werte gewesen. [...] Zwar tendierte ich schon
nach den gleichen Grundrichtungen, aber doch noch vielfach ganz im Dunkeln tastend. Nun
habe ich neuen Mut bekommen, nun sehe ich Licht und klare Perspectiven bis in weite
Fernen. 17
Die Logischen Untersuchungen wurden von Pfänder als ein entscheidender
Beitrag anerkannt: Er fand in Husserl eine Stütze, da er sich nach der Methode von
Lipps bereits mit einer subjektiven und deskriptiven Untersuchungsmethode für die
psychischen Phänomene beschäftigt hatte, wie er es auch in seiner Einführung in die
Psychologie andeutet:
[D]ie Psychologie ist also eine Wissenschaft von etwas Wirklichem. [...] Nur durch
aufmerksame Beobachtung, durch vergleichende und unterscheidende Untersuchung der
wirklichen Welt selbst, also durch Erfahrung in diesem Sinne, kann eine Wissenschaft vom
Wirklichen ihr Ziel zu erreichen hoffen. Wirklichkeitswissenschaften können nur
Erfahrungswissenschaften sein. 18
Pfänder bekämpfte die Versuche, eine physiologische Psychologie zu begründen,
d.h. eine solche Psychologie, in der „beide Wissenschaften der Anatomie und der
Physiologie [...] die wahre Grundlage der Psychologie bilden“ 19. Er bezeichnete die
16
Dok. III/2, 131.
Dok. III/2, 132-133.
18 Pfänder, Einführung in die Psychologie, 8.
19 Pfänder, Einführung in die Psychologie, 95.
17
15
Wille und Motivation
„Psychophysiologie“ 20 als einen derartigen Versuch, beabsichtigte jedoch nicht, die
Ergebnisse anzuzweifeln, die eine solche Wissenschaft hervorbringt, ja er betonte,
dass sie „nicht nur möglich, sondern eine an sich wichtige und für die Psychologie
bedeutungsvolle Aufgabe [ist]. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auf Grund ihrer
Ergebnisse die Psychologie manche Korrektur erfahren könnte.“ 21 Dennoch betonte
Pfänder – wie ebenfalls auch Husserl, was später noch deutlicher gezeigt wird –
gleichzeitig die Unmöglichkeit, durch eine solche Methode psychische Tatbestände
zu erfassen, da „eine solche Psychophysiologie [...] nicht der eigentlichen
Psychologie vorhergehen und den Anfang aller psychologischen Untersuchung
bilden [kann].“ 22 Auf diese Weise wird ersichtlich, warum „[d]ie Entdeckung von
Husserls parallelem Kampf [...] die Grundlage für das philosophische Bündnis“ 23
war, wie Spiegelberg formuliert.
Die Zusammenarbeit zwischen Husserl und Pfänder wurde im Laufe der Zeit
intensiver, wie es nicht nur die besagten zahlreichen Briefe, sondern auch die
Notizen Husserls in seinen Exemplaren der Werke Pfänders sowie die in seinen
Manuskripten und Werken enthaltenen Verweise auf dessen Gedanken belegen.24
Husserl hat außer der Einführung in die Psychologie auch andere Werke Pfänders
gelesen und durchgearbeitet, sowohl der Begegnung mit Husserl vorangehende Texte
wie die Phänomenologie des Wollens 25
als auch Pfänders während seiner
Zusammenarbeit mit Husserl geschriebene Werke wie Motive und Motivation26.
Damit sind zwei Texte genannt, deren Wichtigkeit für die Entwicklung der
20
Er bestimmt auf diese Weise die Psychophysiologie: „Unter dem Titel einer physiologischen
Psychologie kann man nun freilich eine Wissenschaft verstehen, die nicht durch rein physiologische
Untersuchungen oder Phantasien eine Psychologie schaffen will, sondern sich die Aufgabe setzt, den
Zusammenhang, in dem die Gehirnvorgänge und das zugehörige psychische Leben stehen, im einzelnen
genauer festzustellen“ (Pfänder, Einführung in die Psychologie, 100).
21 Pfänder, Einführung in die Psychologie, 100.
22 Pfänder, Einführung in die Psychologie, 100.
23 Spiegelberg, Alexanders Pfänders Phänomenologie, 6.
24
Für eine vollständige Übersicht der Randbemerkungen Husserls in den in seiner Bibliothek
befindlichen Büchern Pfänders sowie über die zum sogenannten „Pfänder Konvolut“ gehörenden
Manuskripte Husserls vgl. Schuhmann, K.: Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder,
29ff.
25 Pfänder, Alexander: Phänomenologie des Wollens. Eine psychologische Analyse, Leipzig 1900.
26 Pfänder, Alexander: Motive und Motivation, in: Phänomenologie des Wollens. Motive und Motivation,
München 1963.
16
Wille und Motivation
Husserlschen Auffassung der Willensdimension später genauer herausgestellt werden
soll.
Diese gemeinsame Arbeit nahm die Form einer intensiven Kooperation an, indem
Pfänder zwischen 1920 und 1927 direkt die Herausgabe des Jahrbuches für
Philosophie und phänomenologische Forschung besorgte und 1921 seine Husserl
gewidmete Logik im Jahrbuch erschien. Ein Brief von 1922 an Natorp beweist
deutlich, dass Husserl Pfänder als Mitarbeiter sehr geschätzt hat:
Es thut mir leid, daß Sie Pfänder nicht so schätzen können wie ich es muß [...]. Aber Ihnen
gegenüber kann ich nicht anders als offen sein und muß also sagen, daß ich Pfänder nicht
nur für einen grundsoliden Arbeiter, sondern für eine radicalphilosophische Persönlichkeit
halte. Der Ausgang von Lipps hat ihm lange den Blick für die transzendentalen Probleme
versperrt, aber er ist in seiner m.E. originellen, sich alles selbsterarbeitenden Art fort und
fort geschritten und seine Vorlesungen üben nicht umsonst eine tiefgehende Wirkung; trotz
ihrer nüchternen Art. 27
Diese ehrliche Wertschätzung bedeutete allerdings keine vollständige
Übereinstimmung zwischen den Ansätzen Husserls und Pfänders. Ein Jahr vor dem
zitierten Brief an Natorp hatte Husserl an Roman Ingarden geschrieben: „Selbst
Pfänders Phänomenologie ist eigentlich etwas wesentlich anderes als die meine, und da
ihm die constitutiven Probleme nie voll aufgegangen sind, gerät er, der übrigens
Grundehrliche und Solide, in eine dogmatische Metaphysik.“ 28
Welches sind die Gründe und Hauptaspekte des genannten Unterschieds? Was
meinen je Husserl und Pfänder mit dem Terminus „Phänomenologie“?
2.2 Ein wesentlicher Unterschied:
Die Rolle der phänomenologischen Reduktion
Bevor man direkt eine Gegenüberstellung von Husserls und Pfänders Analyse der
Willensakte und der Motivation vornimmt, ist es nötig, auf die zuletzt genannte Frage
zu antworten.
27
28
Dok. III/5, 149.
Dok. III/3, 215.
17
Wille und Motivation
Es ist zunächst bemerkenswert, dass Pfänder unabhängig von Husserl zum Begriff
der „Phänomenologie“ gelangt ist.29 Seine Phänomenologie des Wollens 30 lag bereits
1899 vor31, ein Jahr vor der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen, auch
wenn es allerdings ebenso erforderlich ist festzuhalten, dass in Pfänders Werk eine
ausgearbeitete Darlegung der Bedeutung der phänomenologischen Methode gänzlich
fehlt, weil „nicht Phänomenologie, sondern das Wollen [...] Pfänders Thema“32 ist. In
dieser Schrift fehlt nicht nur eine Bestimmung der phänomenologischen Methode,
sondern überhaupt der Terminus „Phänomenologie“. Pfänder selbst hatte den Begriff
der Phänomenologie seinerseits von seinem Lehrer Lipps übernommen33: Schon Lipps
hatte in der Tat „Phänomenologie“ 34 als Beschreibung der im Bewusstsein vorfindlichen
Erscheinungen der psychischen Phänomene verstanden: „Jener phänomenologische
Begriff des Psychischen – behauptet Lipps 1900 – hatte zum Inhalt die unmittelbar
erlebte Beziehung zum unmittelbar erlebten Ich.“ 35
Das hindert dennoch daran, dasjenige, was Pfänder mit seiner „Phänomenologie“
untersuchen will, deutlich werden zu lassen: Nach Pfänder ist Phänomenologie vor
29
Jacques Maritain behauptet im Jahr 1932: „Le mouvement phénoménologique a été in Allemagne un
mouvement trés complexe; et ce serait une erreur de penser qu’Edmund Husserl en a été le seul
initiateur...Il y a une école phénoménologiques munichoise [...] dont on pourra apprécier toute
l’importance tant que l’enseignement du Prof. Pfänder n’aura pas fait l’objekt de publications
d’ensemble.“ (Maritain, Jacques: Distinguer pour unir ou les degrés du savoir, Paris 1932, 195). Geiger
betont die Wichtigkeit der Rolle Pfänders im Rahmen der phänomenologischen Bewegung: „Seine
Phänomenologie des Wollens (1900) ist das erste Werk, in dem der Grundgedanke der reinen
Phänomenologie bewußt und methodisch durchgeführt ist. Als wenige später der zweite Band von
Husserls Logischen Untersuchungen erschien, [...] fand er [Pfänder] hier eine verwandte Denkweise
vor” (Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 4).
30 Pfänder, Alexander: Phänomenologie des Wollens. Eine psychologische Analyse, Leipzig 1900.
31 Smid präzisiert dazu, dass „Pfänders im Jahr veröffentlichte Phänomenologie des Wollens [...] laut
Titelblatt schon ‚im Dezember 1899‛ der Philosophischen Fakultät München als Preisschrift
vor[lag]“ (Smid, Reinhold Nikolaus: Münchener Phänomenologie - Zur Frühgeschichte des Begriffs, in:
Spiegelberg, Herbert; Avé-Lallement, Eberhard (Hrsg.): Pfänder-Studien, Den Haag/Boston/London
1982, 115).
32 Schuhmann, Karl: Bewusstseinsforschung und Bewusstsein in „PfändersPhänomenologie des Wollens“,
in: Spiegelberg, Herbert; Avé-Lallement, Eberhard (Hrsg.): Pfänder-Studien, Den Haag/Boston/London
1982, 157.
33 Für eine ausführliche Rekonstruktion der Geschichte des Begriffs der Phänomenologie im Kreis der
Philosophen und Psychologen, die von Lipps angezogen wurden, siehe: Smid, Münchener
Phänomenologie – Zur Frühgeschichte des Begriffs, 109-153.
34 Die Quelle Lippsschen Begriffs der Phänomenologie ist wahrscheinlich Rudolf Hermann Lotze. Smid
unterstreicht „die Tatsache, dass sich in Lipps‛ Bibliothek u.a. Lotzes Grundzüge der Metaphysik. Dictate
aus den Vorlesungen (Leipzig 1883), in denen sich Lotze zur Phänomenologie äußert, befand“ (Smid,
Münchener Phänomenologie, Zur Frühgeschichte des Begriffs, 122).
35 Lipps, Theodor: Psychische Vorgänge und psychische Causalität, in: Zeitschrift für Psychologie und
Physiologie der Sinnesorgane XXV, Leipzig 1901, 162.
18
Wille und Motivation
allem der methodologische Ansatz einer Psychologie, deren Aufgabe kein Versuch einer
kausalen Erklärung des Wollens sei, denn hierzu müssten „zunächst der psychische
Tatbestand selbst, also in erster Linie das Bewusstsein des Wollens, untersucht und
festgelegt sein.“ 36
Psychologische Theorien dürfen demnach nicht vor einer
Beobachtung der Beschaffenheit der Bewusstseinsinhalte festgesetzt werden, sondern
im Gegenteil „[muss] [d]ie Gewinnung von Gesetzen des psychischen Geschehens [...]
von der Untersuchung der unmittelbaren Bewusstseinstatsachen ausgehen.“ 37
Trotz der Ähnlichkeiten zwischen Husserls und Pfänders Ansatz der psychischen
Phänomenen ist es wichtig, sofort auf einige wesentliche Unterscheidungen
aufmerksam zu machen, über die Pfänder 1935 feststellt: „Unter Phänomenologie
versteht man heute noch Verschiedenes.“ 38 Eine solche Feststellung will gar nicht dem
widersprechen, was beide Phänomenologien gemeinsam haben – wie bis jetzt gezeigt
worden ist –, sondern sie ist eine notwendige Voraussetzung dafür, um unterschiedliche
Folgerungen auf dem Gebiet des Willens und der Motivation zu verstehen. Das hier
gesetzte Ziel ist es gerade, die Phänomenologie des Willens bei Husserl durch die
Gegenüberstellung mit den pfänderschen Analysen zu vertiefen, und aus diesem Grund
ist es nicht nötig, die Komplexität der Gründe für die später einsetzende Krisis – die
36
Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 9. Die Bedeutung von Pfänders Phänomenologie des Wollens
liegt auch nach Ricoeur in ihrem deskriptiven Charakter: „[...] la description du vouloir dans une
appréhension directe de son phénomène“ (Ricoeur, Paul: Phénoménologie du vouloir et approche par le
langage ordinaire, in: Pfänder-Studien, Den Haag/Boston/London 1982, 93).
37 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 9. Um den Pfänderschen Ansatz der Phänomenologie sichtbar
zu machen, führt Schuhmann aus: „Keine Exteriorität kann daher eine Basis bieten für die Errichtung der
Phänomenologie. Diese ist immerzu auf Bewusstsein, aber auch auf nichts anderes als Bewusstsein
angewiesen. Kausale Rückschlüsse, Hypothesen oder Theorien über Un-Bewusstes sind als unzulässige
Metabasis anzusehen. Sie negieren das phänomenologische Prinzip des ‚Bewusstseins, sofern es
Bewusstsein ist‛; und so muß ihnen die phänomenologische Begründungsfunktion abgesprochen
werden.“ (Schuhmann, Bewusstseinsforschung und Bewusstsein in Pfänders „Phänomenologie des
Wollens“ 161)
38 Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 23.
Der ausdrücklichste Text darüber ist auf jeden Fall der bekannte Brief, den Husserl 1931 an Pfänder
schrieb, in dem er eine Bilanz ihrer Mitarbeit zieht. Husserl spricht der Zusammenarbeit mit Pfänder nicht
ihre große Bedeutung ab und schreibt in diesem Brief an ihn: „In Beziehung auf Sie, lieber Herr College,
hat sich nicht meine freundschaftliche Gesinnung, nicht meine Hochschätzung für Ihren
wissenschaftlichen Ernst, für die vorbildliche Solidität Ihrer Arbeit geändert.“ (Dok. III/2, 183) Trotz
dieser Anerkennung betont er wieder die unumgänglichen Gründe für seinen Disens mit ihm und den
anderen Lipps-Schülern: „Den Glauben, den ich in früheren Jahren hatte, daß Sie die umwälzende
Bedeutung der phänomenologischen Reduktion und der von ihr entspringenden transzendentalen
constitutiven Phänomenologie anerkennen und mit Ihren Schülern an der ungeheuren Problematik dieses
Sinnes sich beteiligen würden, habe ich verloren.“ (Dok. III/2, 347)
19
Wille und Motivation
Spiegelberg „[d]as erste große Schisma“ 39 der Geschichte der Phänomenologie nennt –
zwischen Husserl und der Münchener Schule eingehend zu behandeln.
Der einzige Punkt, der hier zusammenfassend behandelt wird, ist der der
phänomenologischen Reduktion. Denn diese Frage betrifft nicht nur Pfänder, sondern
auch die anderen Münchener Phänomenologen, die von Husserl fortstrebend gerade zur
Epoché und ihren theoretischen Folgen Abstand halten. Wie Spiegelberg klar zeigt, sind
„Ontologismus, Realismus, Mangel des Verständnisses für die konstitutive
Problematik“ die größten Beschuldigungen, die Husserl gegen die Schülern von Lipps
richtet, „aber der zentrale Vorwurf ist gewiß ihr versteckter oder offener Widerstand
gegen die phänomenologische oder transzendentale Reduktion als das Eingangstor in
die transzendentale Phänomenologie.“ 40
Im ersten Band der Ideen – der den
„Wendepunkt“ ihrer Beziehung darstellt, weil hier die sogenannte „transzendentale
Wende“ vollzogen wird – äußert Husserl entschieden seine Kritik an einem solchen
Ansatz der phänomenologischen Methode, wenn er schreibt, dass „ohne die Eigenheit
transzendentaler Einstellung erfaßt und den rein phänomenologischen Boden sich
wirklich zugeeignet zu haben, [...] man zwar das Wort Phänomenologie gebrauchen
[mag], die Sache hat man nicht.“ 41
Es ist dennoch zu bemerken, dass man bei Pfänder keine absolute Leugnung der
Rolle der Reduktion findet, im Gegenteil, er erkennt auch die Notwendigkeit eines
Aktes an, der die phänomenologische Reflexion eröffnet. Was besagt die Epoché bei
Pfänder? In der Phänomenologie des Wollens führt er aus:
Mag nun das menschliche Wollen die Grundfunktion des menschlichen psychischen Lebens
sein oder nicht; mögen alle psychischen Vorgänge nichts weiter sein als Äusserungsweisen
des Willens, mag also alles psychische Geschehen im Grunde ein Wollen sein oder nicht;
39
Spiegelberg, Herbert: Epoché und Reduktion bei Pfänder und Husserl, in: Pfänder-Studien, Den Haag/
Boston/London 1982, 3.
40 Spiegelberg, Epoché und Reduktion bei Pfänder und Husserl, 6.
41 Hua III/1, 200. Noch ausdrücklicher spielt er auf die Münchener Phänomenologen an, wenn er in Ideen
I behauptet: „Im letzten Jahrzehnt ist in der deutschen Philosophie und Psychologie sehr viel von
Phänomenologie die Rede. In vermeintlicher Übereinstimmung mit den Logischen Untersuchungen faßt
man die Phänomenologie als eine Unterstufe der empirischen Psychologie, als eine Sphäre ,immanenter‛
Deskriptionen psychischer Erlebnisse, die sich – so versteht man diese Immanenz – streng im Rahmen
innerer Erfahrung halten. Meine Einsprache gegen diese Auffassung hat, wie es scheint, wenig genützt,
und die beigegebenen Ausführungen, die mindestens einige Hauptpunkte des Unterschiedes scharf
umschreiben, sind nicht verstanden oder achtlos beiseitegeschoben worden“ (Hua III/1, 3-4).
20
Wille und Motivation
jedenfalls müssen alle derartigen allgemeinen Behauptungen zunächst suspendiert
werden.42
Die Phänomenologie ist für Pfänder – wie er noch 1929 betont – „keine bloße
Methode, die man gebrauchen und nicht gebrauchen könnte. Die Phänomenologie ist
eine philosophische Wissenschaft, die eine besondere Methode hat.“ 43 Diese Methode
zielt darauf, dass das Wesen des Bewusstseins – in diesem Fall das Wesen der
Willensakte – durch die Bewusstseinserscheinungen zu begreifen ist, weshalb „[k]eine
Exteriorität [...] daher eine Basis bieten [kann] für die Errichtung der
Phänomenologie.“44
Unter dem Titel „Exteriorität“ stehen alle Theorien oder
Vermutungen, die einer aufmerksamen Beobachtung der Bewusstseinstatsachen
zuvorkommen, weshalb es für Pfänder auch gilt, dass der notwendige erste Schritt der
Phänomenologie in einer Suspension des allgemeinen Wissens besteht. Schuhmann
erklärt es deutlich, wenn er darlegt, dass bei Pfänder „der zunächst einschränkende
Entwurf der Phänomenologie als eines Rückzugs auf das Erscheinende in seinem
Erscheinen, auf das gewisse Wissen, zugleich den Rückgang in eine für alles sonstige
Wissen grundlegende Dimension bedeutet.“ 45 Im Prager Vortrag wird von Pfänder eine
solche Auffassung der phänomenologischen Methode deutlich bestätigt:
Die vermeintlichen Grundlagen der Erkenntnis, sowohl Erfahrung als auch Denken der
Gegenstände, bedürfen zunächst einer gründlicheren und unbefangeneren Untersuchung.
Diese will die Phänomenologie vornehmen. Sie muß sich von vornherein gegen mögliche
Verirrungen schützen, indem sie die richtige phänomenologische Einstellung zu gewinnen
sucht. 46
42
Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 4.
Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 146.
Pfänder bekräftigt mehrfach die Notwendigkeit einer phänomenologischen Grundlage: „Die
Erkenntnislehre galt seit Descartes als letzte notwendige Grundlage der Philosophie. Seit circa 1900 tritt
die Phänomenologie mit dem Anspruch auf, die letzte Grundlage der Erkenntnislehre, der Philosophie
und aller Wissenschaften zu sein. Ihre Aufgabe wird am leichtesten sichtbar, wenn man von der
Erkenntnislehre ausgeht und erkennt, dass sie notwendig der Phänomenologie als Grundlage
bedarf“ (Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 146).
44 Schuhmann, Bewusstseinsforschung und Bewusstsein in Pfänders „Phänomenologie des Wollens“, 161.
45 Schuhmann, Bewusstseinsforschung und Bewusstsein in Pfänders „Phänomenologie des Wollens“, 162.
46 Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 147-148.
43
21
Wille und Motivation
Phänomenologie „muß in diesem Sinne völlig voraussetzungslos sein, sich gleichsam
vor den Anfang aller Erkenntnis versetzen.“ 47 Diese Forderung stellen Husserl und
Pfänder gemeinsam, weil Phänomenologie für beide der Weg zum Erreichen des
ursprünglich Gegebenen ist.
Das hebt allerdings nicht die wesentlichen Unterschiede ihrer Methoden auf.
Spiegelberg bemerkt zu Recht, „daß Pfänder in seiner eigenen Philosophie nie von
Reduktion, sondern fast immer nur von Epoché, manchmal auch Urteilsenthaltung oder
Glaubensenthaltung spricht.“ 48
Aber es handelt sich nicht nur um einen
terminologischen Unterschied. Was Pfänder mit „Epoché“ bezeichnet, ist vor allem „ein
Präventivmittel gegen [die] Gefahr“ 49 der naiven oder der ideologischen Annahme von
theoretischen Voraussetzungen sowie gegen die Gefahr der Missverständnisse, welche
die Alltagssprache in sich birgt. 50 Pfänder betont denn auch im Prager Vortrag, dass die
phänomenologische Einstellung „zunächst die Meinungen über die Gegenstände“ klären
soll, aber „dies ist selbst noch keine Phänomenologie, wohl aber eine notwendige
Vorarbeit für sie (Phänomenologische Sinnklärung, Gegenstands- und
Sachverhaltslehre).“ 51
Etwas Anderes ist die Bedeutung der phänomenologischen Reduktion bei Husserl:
Sie besteht nicht nur in einer bloßen „Vorsichtsmaßnahme“, sondern ist der Weg,
welcher zum Reich des absoluten Bewusstseins führt. Husserl gewinnt durch die
Reduktion eine Einsicht in die allumfassende Einheit des geistigen Lebens, weshalb sie
für ihn nicht nur einen ersten Schritt der Methode darstellt, sondern vielmehr eine
47
Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 148 (meine Hervorhebung).
Spiegelberg, Epoché und Reduktion bei Pfänder und Husserl, 10-11.
49 Spiegelberg, Epoché und Reduktion bei Pfänder und Husserl, 13.
50 Zur Vertiefung von Pfänders Auffassung des wichtigen Beitrags der Popularpsychologie und des
Sprachgebrauchs der alltäglichen Rede zur Phänomenologie vgl. Schuhmann, Bewusstseinsforschung und
Bewusstsein in Pfänders „Phänomenologie des Wollens“, 164-167; Ricoeur, Paul, Phénoménologie du
vouloir et approche par le langage ordinaire, 79-96.
51 Pfänder, Erkenntnislehre und Phänomenologie, 38-39.
48
22
Wille und Motivation
permanente Einstellung bildet, welche die Auffassung des transzendentalen Wesens der
Subjektivität eröffnet.52
Abschließend kann es aufschlussreich sein, die Überlegungen Moritz Geigers – eines
weiteren Lipps-Schülers und Husserl-Mitarbeiters, dessen Rolle im Rahmen des
Münchener Kreises und besonders der Phänomenologie des Willens später noch
ausführlicher behandelt werden soll – bezüglich der fortschreitenden Entfernung
zwischen Husserl und Pfänder in Erwägung zu ziehen. Seine Auffassungen über den
Ursprung dieses „Schismas“ sind freilich parteiisch, aber interessant, weil er es vom
Standpunkt der Münchener Phänomenologen aus betrachtet. Geiger schreibt:
Schon in den Anfangstagen des Zusammenarbeitens der Phänomenologen konnten die
Unterschiede der Auffassung der phänomenologischen Methode, sowie des
philosophischen Realitätsproblems dem Tieferblickenden nicht verborgen bleiben. [...]
Allein zu jener Zeit kam es vor allem darauf an, die Fruchtbarkeit der phänomenologischen
Methode zu zeigen. [...] Die Gegensätze blieben im Rücken, sie waren nichts desto weniger
vorhanden.53
Was die Lipps-Schüler nach Geiger angezogen hatte, war die von Husserl vollzogene
„Wendung zum Objekt“, die Pfänder „voll aufgenommen und durchdacht“ hat.54 Diese
Wendung stammte aus der „Wiederaufnahme und konsequenten Durchdenkung des
Intentionsbegriffs, wie sie Husserl in den Logischen Untersuchungen vorgenommen
hatte.“55 Trotzdem profiliert sich sofort ein wesentlicher Unterschied, weil Husserl
schon in den Logischen Untersuchungen nicht so sehr die Analyse des Gegebenen, sondern
die Art des Gegebenseins des Gegebenen ins Auge gefaßt hatte. [...] Das bedeutete von
Anfang an eine „Wendung ins Subjektive“, die freilich weder die Wendung zum Objekt
52
Spiegelberg betont hierzu in einer anderen Studie: „What then is the upshot of Pfänder’s adoption of
Husserl’s epochè? Even for Pfänder the reduction in its epochistic form was an essential and necessary
part of a critical phenomenology. But this reduction did not include the subsequent phases of Husserl’s
version, i.e., the transcendental reduction to subjectivity. Without going so far as to say that these phases
were incompatible with the phenomenological approach, Pfänder saw in them a theory not yet supported
by phenomenological evidence. In short, for Pfänder’s critical phenomenology, the epochistic reduction
was indispensable; but the transcendental reduction was anything but necessary and in fact
misleading“ (Spiegelberg, Herbert: The context of the phenomenological movement, Den Haag/Boston/
London 1981, 77).
53 Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 12.
54 Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 13.
55 Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 13.
23
Wille und Motivation
wieder aufhob (vielmehr sie gerade voraussetzte), noch von vornherein idealistisch
ausgedeutet werden mußte. 56
Geiger schließt mit einer entschlossenen Stellungnahme für die pfändersche
Auslegung der phänomenologischen Methode ab: „In Pfänders psychologischen und
logischen Arbeiten ist diese unmittelbare Einstellung strikt festgehalten. [...] Für
Pfänder trifft es in keiner Weise zu, daß die Phänomenologie einen idealistischen
Unterbau haben müsse oder gar notwendigerweise zur Immanenzphilosophie führe.“ 57
Ohne bei der Einseitigkeit der Betrachtungen Geigers zu verweilen, ist es erheblich, den
Standpunkt des Münchener Kreises aufgewiesen zu haben, weil er die Vieldeutigkeit
der Anwendung des Terminus „Phänomenologie“ aufzeigt.
Dies soll hier nicht weiter vertieft werden, weil die Folgen eines solchen
methodologischen Unterschiedes am Ende der Darstellung von Husserls und Pfänders
Phänomenologie des Wollens und der Motivation deutlich hervorgehoben werden.
Diese Vorbemerkung ist jedoch im Laufe der Analyse beständig im Auge zu behalten,
da die Auffassung der phänomenologischen Methode die Bedingung für ganz
unterschiedliche Motivationslehren ist.
§ 3 Die Phänomenologie des Wollens:
Ein Vergleich zwischen Pfänders und Husserls Ansatz
3.1 Pfänder: Der „geistige Schlag“ des Willensaktes
Die Frage nach dem Willen – in eins mit der nach der Motivation, die später
behandelt wird – ist ohne Zweifel dasjenige Thema, auf das Pfänder seine
Untersuchungen konzentriert. Die schon genannte Phänomenologie des Wollens ist
56
Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 15.
Geiger erklärt Geiger dieses gewagte Abweichen folgendermaßen: „Ein gesehenes Haus z.B. gibt sich als
real. Dann läßt sich auf Grund dieses Prinzips behaupten: Das Haus ist als real gegeben. Gegebensein
jedoch ist in allen Fällen Gegebensein für ein Subjekt. Damit ist die idealistische Wendung vorbereitet.
[...] Pfänder geht einen anderen Weg: Ein gesehenes Haus gibt sich als real, also muß es als real
hingenommen werden. Hält man diesen Standpunkt streng fest, so kommt man zu einer realistischen
Auffassung der Welt, wie sie Pfänder und der Münchner Kreis [...] eingenommen haben“ (Geiger,
Alexander Pfänders methodische Stellung, 15).
57 Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 16.
24
Wille und Motivation
nicht die einzige Betrachtung, die er der Analyse des Willens sowie der Rolle der
Triebe, der Tendenzen und des Strebens innerhalb der Willensakte widmet: Dasselbe
Thema steht auch im Mittelpunkt seiner Münchener Dissertation über Das Bewusstsein
des Wollens 58 von 1897, ebenso in dem Aufsatz Motive und Motivation59, den Pfänder
1911 anlässlich des sechzigsten Geburtstags von Lipps verfasst hat. Diese letzte Schrift,
in der er sich mit dem Willen beschäftigt, ist in einem gewissen Sinn die bedeutendste.
Der Aufsatz ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Einerseits liefert er eine
synthetische und ausführliche Betrachtung des Willens, welche für Pfänder „eine
Fortführung und eine teilweise Korrektur“ 60 seiner Phänomenologie des Wollens
darstellt. Andererseits hat sich Husserl mit dieser Arbeit „so intensiv wie mit keiner
anderen Arbeit Pfänders beschäftigt“ 61, wie die Blätter 47-56 von Ms. A VI 3 bezeugen,
in denen Husserl „Schritt für Schritt jeder Denkbewegung Pfänders“ folgt und diese
beurteilt.62
Zu Beginn seiner Festschrift unterstreicht Pfänder, dass er noch einmal mit derselben
methodologischen Absicht fortfahren wolle, die er schon in der Phänomenologie des
Wollens und der Einführung in die Psychologie dargelegt hatte, und zwar mit einer
„möglichst genaue[n] Erfassung der Tatsachen und ihres Wesens.“ 63 Das von Pfänder
festgesetzte Thema Motive und Motivation betrifft insbesondere – wie der Titel schon
deutlich ankündigt – das Erfassen des Wesens der Motivation und das Verständnis
dessen, was man als „Motiv“ bezeichnen kann.
Die Aufgabe einer Erläuterung ist für die Psychologie äußert dringend, da „[m]it dem
Wort Motiv, das in der Psychologie und in der Ethik eine so wichtige Rolle spielt, [...]
58
Pfänder, Alexander: Das Bewusstsein des Wollens, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der
Sinnesorgane 17, 1898, 521-567.
59 Pfänder, Alexander: Motive und Motivation, in: Phänomenologie des Wollens. Motive und Motivation,
München 1963, 123-156.
60 Pfänder, Motive und Motivation, 126.
61 Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, 94-95.
62 Vgl. Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, 94-98. Vgl. Mertens,
Karl: Husserl’s phenomenology of will in his reflections in ethics, in: Depraz, Natalie; Zahavi, Dan
(Hrsg.): Alterity and facticity. New perspectives on Husserl, Dordrecht 1998, 122, 131-132. Zudem
erwähnt Vongehr, dass sich Husserl in seinen Manuskripten Studien zur Struktur des Bewusstseins von
Pfänder beeinflussen ließ: Vgl. Vongehr, Thomas: Husserl über Gemüt und Gefühl in den Studien zur
Struktur des Bewusstseins, in: Centi, Beatrice; Gigliotti, Gianna (Hrsg.): Fenomenologia della ragion
pratica: L'etica di Edmund Husserl, Napoli 2004, 233.
63 Pfänder, Motive und Motivation, 125.
25
Wille und Motivation
unbemerkt sehr verschiedene Bedeutungen verbunden [werden].“64 Die notwendige
Voraussetzung für das Verstehen des Begriffs der Motivation – dem sich diese
Untersuchung später noch vertiefend zuwenden wird – bildet allerdings die Erhellung
der Frage, was der Wille eigentlich sei. Normalerweise, so stellt Pfänder fest, ist vom
„Wollen“ in einem weiten Sinn die Rede.65 Der Begriff des Wollens wird „gebraucht,
wenn man zum Wollen jedes Wünschen, Hoffen, Sehnen, Verlangen, Fürchten,
Verabscheuen etc. rechnet“ 66, gerade so, als ob das Wollen mit dem Streben selbst
zusammenfiele. Allerdings hat der Terminus „Wollen“ auch einen spezifischen Sinn, der
seine Eigentümlichkeit angibt und das, worin das Wollen im engeren und vollständigen
Sinne besteht, da „der Willensakt [...] gegenüber allen bloßen Strebungen und
Widerstrebungen [...] etwas völlig Neues“ 67
sei. Um das Wesen dieses neuen
Grundzuges kurz zu erläutern, stellt Pfänder zusammenfassend fest, dass die
wesensmäßige Eigenheit des Willensaktes in seiner völligen Freitätigkeit bestehe. Zu
seinem Vollzug gehören immer das „Projektbewusstsein“ und die „Willensmeinung“,
d.h. die Setzung praktischer „Vorsätze“ 68, da der Wille sich nur auf etwas richten kann,
das als erzielbar vorgestellt wird.69
Darüber hinaus will man etwas, wenn man
anerkennt, dass das Ziel eines jeden Wollens einen Wert besitzt. Daher entspricht der
Willensmeinung ein „Sollensbewusstsein“ sowie potenziell eine explizite
„Anerkennung“ und „Billigung.“70 Der besagte praktische, projektive Charakter des
Willensaktes wird von Pfänder in der Phänomenologie des Wollens hervorgehoben,
wenn er mehrmals bemerkt, dass die Bedingung des Wollens und der Ausführung einer
64
Pfänder, Motive und Motivation, 125.
Es fällt auf, dass diese Verfahrensweise als ein Echo auf seinen Lehrer verstanden werden kann, da
Lipps im Leitfaden der Psychologie schreibt, dass „das Wort ‚Psychologie‛ [...] in einem weiteren und
einem engeren Sinne genommen werden [kann]“ (Lipps, Leitfaden der Psychologie, 31).
66 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 10.
67 Pfänder, Motive und Motivation, 133.
68 Pfänder, Motive und Motivation, 135.
69 Schuhmann kommentiert den Begriff des Wollens bei Pfänder folgendermaßen: „Nur das Bewusstsein,
dass ein Weg vom gegenwärtigen zum zukünftigen Inhalt hinführe, kann den zureichenden Grund für das
Entstehen eines Glaubens an die Realisierbarkeit des Gewollten abgeben.“ (Schuhmann, Karl:
Bewusstseinsinhalte. Die Frühphänomenologie Alexander Pfänders, in: Leijenhorst, Cees; Steenbakkers,
Piet (Hrsg.): Karl Schuhmann. Selected papers on phenomenology, Dordrecht 2004, 233).
70 Pfänder, Motive und Motivation, 135.
65
26
Wille und Motivation
Willensentscheidung „der Glaube an die Möglichkeit der Verwirklichung des Erstrebten
durch eigenes Tun“ 71 ist.
In diesem Werk betont Pfänder zugleich die Bedeutung einer Beschreibung der
Gefühle, die den Willensakt begleiten: „Die Gefühls-Seite des Tatbestandes des Wollens
besteht also in einem Gefühl des positiven Strebens, das zugleich den Charakter der
Macht, der Freiheit und der Spontaneität hat.“ 72 Solche Gefühle sind die subjektive
Seite – „noetische“ wird sie in der Sprache Husserls genannt –, die phänomenologisch
eigentümliche Grundzüge des Willens aufweisen. Die Ausführung einer willentlichen
Entscheidung erzeugt immer ein Gefühl von Erfüllung im sich selbst setzenden Subjekt:
Das Subjekt setzt sich in einem gewissen Sinn selbst durch und bestätigt seine
Fähigkeit, sich selbst zu prägen und sein Tun selbstständig zu gestalten.
Auch wenn die bislang genannten Charakteristika immerhin vorhanden sind, kann
man eigentlich noch nicht von einem Willensakt sprechen: „Es fehlt nämlich noch die
eigentümliche praktische Vorsetzung. Diese Vorsetzung geht vom Ich-Zentrum aus, aber
nicht als ein Geschehen, sondern als ein eigentümliches Tun, in dem das Ich-Zentrum
aus sich selbst hinaus zentrifugal einen geistigen Schlag ausführt.“ 73
Diese letzte Äußerung Pfänders enthält einige wichtige Elemente: 1. Der Willensakt
hat ein praktisches Wesen. 2. Er besteht in einer Stellungnahme, die Pfänder
metaphorisch als einen zentrifugal gerichteten geistigen Schlag beschreibt, den das IchZentrum selbst vollbringt. Dieser übertragene Ausdruck zielt auf die Unterstreichung
des eigentümlichen Charakters des Willens, der ihn von allen anderen menschlichen
Fähigkeiten unterscheidet: Die Ausführung eines Willensaktes besitzt ein treibendes
Wesen (zentrifugal) und tritt in einem bestimmten Moment mit einer Entscheidung
(geistiger Schlag) auf.
71
Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 132.
Sawicki betont hierzu: „Pfänder thus has argued in favor of human freedom within a carefully restricted
scope. The i is free to decline to will any of the inclinings that it experiences. Nevertheless it is
impossible for the i to will something without at the same time meaning it to be something real. Willing
must will a realization; and therefore it must intend a real world“ (Sawicki, Marianne: Body, Text and
Science. The literacy of investigative practices and the phenomenology of Edith Stein, Dordrecht/Boston/
London 1997, 26).
72 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 131.
73 Pfänder, Motive und Motivation, 135.
27
Wille und Motivation
Aber das ist noch nicht alles. Es gilt noch ein anderes wichtiges Element zu
berücksichtigen. Das Ich ist – wie Pfänder kurz darauf bestätigt – nicht nur „der
originäre Vollzieher“ 74, sondern ist „sowohl das Subjekt als auch das Objekt des
Aktes“ 75: Der Willensakt geht vom Ich-Zentrum aus und kehrt zugleich zum Ich zurück,
insofern er das Ich „zu einem bestimmten zukünftigen Verhalten bestimmt.“76 Diese
Möglichkeit der Selbstbestimmung spielt eine entscheidende Rolle: Der zentrifugale
Schlag des Willensaktes ist nicht nur auf die Verwirklichung einer Aktion oder eines
Zieles gerichtet, sondern auch auf das Ich selbst. Auch wenn eine Veränderung des Ich
kein expliziter Zweck der Willensintention ist, wird sie auf jeden Fall impliziert, weil
jede willentliche Stellungnahme eine Modifizierung der Persönlichkeit mit sich bringt.
Der Wille zeigt sich als die Fähigkeit, die den Menschen von anderen Lebewesen
unterscheidet – die Tiere haben tatsächlich nicht die Möglichkeit zu wollen, besser zu
werden – und die das Reich des ethischen Lebens eröffnet. Wie Pfänder in seinem
letzten Werk Die Seele des Menschen betont, bildet die willentliche Selbstbestimmung
fortlaufend die ethische Persönlichkeit des Menschen:
Erst wenn es sich fortschreitend mit den vernommenen verbindlichen Forderungen
auseinandergesetzt hat und bestimmte dieser Forderungen zu Leitfäden seines freitätigen
Verhaltens gemacht hat, ist die Willkürherrschaft zu einer ethischen Herrschaft geworden,
in der das Ich seine Willkürfreiheit selbst freitätig einschränkt. 77
Nach der Darstellung der Grundzüge des Willens im engeren Sinne ist es wesentlich
zu beachten, dass diese Eigentümlichkeit aus der Verschiedenheit mit dem genannten
74
Pfänder, Motive und Motivation, 133.
Pfänder, Motive und Motivation, 135.
76 Pfänder, Motive und Motivation, 135.
77 Pfänder, Die Seele des Menschen. Versuch einer verstehenden Psychologie, Halle 1933, 78.
Specht behauptet im Auswahlband der Abhandlungen anlässlich des sechzigsten Geburtstages Pfänders:
„Denn der Charakter als die eigenpersönliche Wesensart des Menschen ist nicht bloß, wie Pfänder das so
tief schon in einer früheren kleinen Abhandlung (Motive und Motivation) und dann später in seiner
umfassenderen Arbeit (Grundprobleme der Charakterologie) dargelegt hat, eine Beschaffenheit, mit der
die Person ausgestattet ist, ein im Keim angelegtes, das sich von selbst, naturhaft ohne Zutun des Ich
entwickelt. Der Mensch ist ja nicht nur – es war die Rede davon – ein seelisches Lebewesen überhaupt,
sondern ein personales, der Selbstbestimmung und Selbstgestaltung fähiges Wesen; und so ist denn auch
der Charakter des Menschen so, wie wir ihn vorfinden, nicht bloß von selbst geworden, sondern auf
dieses sein Werden und Gewordensein hat das freitätige Ich selber einen mitbestimmenden
Einfluß“ (Specht, Wilhelm: Die Grenzen der biologischen Erfassung der Persönlichkeit, in: Heller, Ernst;
Löw, Friedrich (Hrsg.): Neue Münchener philosophische Abhandlungen, Leipzig 1933, 243-244).
75
28
Wille und Motivation
Wollen „in weiterem Sinn“78 hervorgeht, d.h. aus der Gegenüberstellung mit der
umfassenden Sphäre des Strebens, des Begehrens, Wünschens, Verlangens usw. Um
diese Unterscheidung einzuordnen, ist auf den Begriff des Ich-Zentrums
zurückzukommen, der soeben angesprochen wurde. Dieser Begriff ist tatsächlich der
Schlüssel zu Pfänders Auffassung des Ich: „Dieses Ich besitzt nämlich eine eigenartige
Struktur: Das eigentliche Ich-Zentrum oder der Ich-Kern ist umgeben von dem IchLeib.“ 79
Während dem Ich-Zentrum der „geistige Schlag“ des Willensaktes entspringt,
entstehen die verschiedenen Strebungen immer in dem Ich-Leib, d.h. außerhalb des
Kerns, und werden „also in diesem Sinne als exzentrische Strebungen erlebt.“ 80 Pfänder
schildert den psychischen Tatbestand des Strebens als einen „Konflikt“ 81, ja sogar als
einen „Kampf“ 82: Die Strebungen, die „an sich blind“ 83 sind, „haben die Tendenz, aus
ihrer exzentrischen Lage in die zentrale überzugehen oder das Ich-Zentrum zu ergreifen
und in sich hineinzuziehen.“ 84 Nur in sehr seltenen Fällen wird das Ich von einem
einzigen und alleinigen Streben bewegt, weil mehrere gleichzeitige Strebungen im IchLeib bevorzugt vorhanden sind, die miteinander um die Vorherrschaft im Ich-Zentrum
kämpfen: Im Kampf „ist das Ich-Zentrum einfach der Zankapfel, der [...] so doch
willenlos die Beute des Stärkeren wird.“ 85 Ein solches Bild zeigt deutlich, dass man es
in dieser Sphäre mit keinem eigentlichen Willensakt zu tun hat, sondern mit inneren
Kräften, die das Ich bewegen und sein Wollen beeinflussen, die jedoch nie die Freiheit
und Selbstbestimmung des Willensaktes besitzen, auch wenn das stärkste Streben über
alle gleichzeitigen Widerstrebungen siegt 86.
78
Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 10.
Pfänder, Motive und Motivation, 130.
80 Pfänder, Motive und Motivation, 130.
81 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 107.
82 Pfänder, Motive und Motivation, 132.
83 Pfänder, Motive und Motivation, 129.
84 Pfänder, Motive und Motivation, 130-131.
85 Pfänder, Motive und Motivation, 132.
86 Husserl beschreibt die Triebdimension in einem Manuskript mit ähnlichen Ausdrücken: „Auf seiten des
hungrigen Ich – die Spaltung der Triebintentionen im Fall der Triebe in eine Allgemeinheitssphäre
hineingeht (ich möchte essen – das oder jenes), stärkere oder schwächere Reize, Affektionen auf das Ich,
bzw. des hin Tendierens auf das und jedes aus diesem Horizont. Gradualität, Konkorrenz, das Nachgeben
des Ich, der Sieg der stärkeren Tendenz, das Erproben der Stärke bei vorläufigem Sich-zurückhalten – die
Wahl des ‚Besten’ “ (E III 10, 7).
79
29
Wille und Motivation
Strebungen und Widerstrebungen werden von den Gegenständen und den Umständen
erweckt, so etwa das Streben danach, etwas zu wissen, zu entdecken oder zu besitzen.
Die Gegenstände rufen daher eine „zentrifugale Richtung“ 87 hervor, die vom Ich als ein
„zentripetales“ 88 Gerichtetsein erlebt wird, wie es beispielsweise geschieht, wenn „ein
gehörtes Geräusch das Streben [erregt], an eine bestimmte Stelle des umgebenden
Raumes hinzublicken“ 89. Diese Dynamik wird auch von Husserl beschrieben, wenn er
sagt, „dass der rezipierenden Aktion [...] eine Affektion [vorangeht]. Eine
Hintergrundvorstellung, eine gerichtete, affiziert das Ich – darin liegt, es geht eine
Tendenz auf das Ich – dieses reagiert mit der Zuwendung, [...] in der der Ichblick auf
das Gegenständliche gerichtet ist.“ 90
Mit den zentrifugalen und zentripetalen
Richtungen erkennt Pfänder nun als Grundzug der Strebungen und Widerstrebungen das
an, was Husserl als „Affektion“ und „Zuwendung“ bezeichnet.
Pfänders Beschreibung der Beziehung und der Unterschiede zwischen Willensakten
und Strebungen kann nicht in jedem Fall als eine befriedigende Erklärung angesehen
werden, weil wichtige Probleme dabei ungelöst bleiben. Eine der bedeutsamsten Fragen
hat freilich mit der Grenzlinie zwischen eigentlichen Willensakten und Strebungen zu
tun. Pfänder selbst ist sich dessen bewusst, „daß in manchen Fällen das wollende
Individuum nicht anzugeben weiß, durch welche Motive es sich in seinem Wollen hat
bestimmen lassen, und daß man von ‚unbewussten’ Motiven des Wollens spricht.“ 91
Dieses Phänomen gibt Anlass zur Diskussion, weil es zeigt, dass es bei der
Beobachtung der eigenen Erfahrung nicht so einfach ist, zwischen dem zu
unterscheiden was eigentlich Wollen und was lediglich Streben ist.
Pfänder verweilt jedoch nicht ausführlicher bei dieser Frage. Seine hauptsächliche
Absicht besteht darin, das Wesen und die Eigenart der Willensakte im Gesamtfeld der
Strebensphänomene zu ermitteln, um den freitätigen Charakter des Ich-Zentrums gegen
jede mögliche mechanische Auslegung des menschlichen Lebens herauszustellen. Aber
ist sein Weg der einzige, der den geistigen und freien Charakter des Ichlebens bezeugen
87
Pfänder, Motive und Motivation, 129.
Pfänder, Motive und Motivation, 129.
89 Pfänder, Motive und Motivation, 130.
90 Hua XI, 84.
91 Pfänder, Motive und Motivation, 152.
88
30
Wille und Motivation
kann? Gibt es nicht eine Möglichkeit, die Phänomene, die nicht so eindeutig
klassifizierbar sind, zu berücksichtigen, ohne dabei den freitätigen Charakter gänzlich
zu verunmöglichen?
Edmund Husserls Überlegungen zur Phänomenologie des Willens können einen
entscheidenden Beitrag zu dieser problematischen Frage leisten.
3.2 Husserls Phänomenologie des Wollens
Bevor die besagten Fragen angegangen werden, ist es nötig, in knapper Form eine
allgemeinere Fragestellung in den Blick zu nehmen, die den Husserlschen Ansatz zur
Phänomenologie des Willens von der Zeit der Logischen Untersuchungen an bestimmt.
Es handelt sich um die Debatte über die Möglichkeit, den intentionalen Charakter von
Willens-, Wertungs- und Gemütsakten freizulegen und näher zu bestimmen, d.h. die
Diskussion über die Beziehung zwischen den von Husserl so genannten
objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten. Diese Frage entwickelte sich im
Laufe der Überlegungen Husserls und wurde von ihm fortlaufend revidiert: Die
Erörterung verfolgt dabei nicht nur den technischen Zweck, eine genaue Klassifikation
der verschiedenen Akte vorzunehmen, sondern intendiert darüber hinaus einen näheren
Aufschluss über das Wesen der Vernunft und ihrer verschiedenen Grundmodi.
3.2.1 Der Fundierungszusammenhang zwischen objektivierenden
und nicht-objektivierenden Akten
a) Die Entstehung des Problems in den Logischen Untersuchungen
Das Thema des Verhältnisses zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden
Akten92
wird von Husserl zuerst in den Logischen Untersuchungen in Angriff
genommen. Die Problematik des intentionalen Charakters der Bewusstseinserlebnisse
war Husserl durch die Lehre Franz Brentanos vermittelt worden. Nach Brentano sind
die psychischen Akte klassifizierbar in drei Klassen: 1. Vorstellungen, d.h. Akte, die
92
Für eine synthetische Behandlung dieses Themas vgl. Melle, Ullrich: Objektivierende und nichtobjektivierende Akte, in: Ijsseling, Samuel (Hrsg.): Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung, Dordrecht
1990, 35-49.
31
Wille und Motivation
eine gegenständliche Richtung besitzen und sowohl sinnliche als auch ideale
Gegenstände betreffen; 2. Urteile, die eine Stellungnahme bezüglich des Seins des
vorgestellten Gegenstandes vollziehen; 3. die Klasse der Gemüts- und
Willensphänomene – eine weite Sphäre von psychischen Phänomenen, die Gefühle,
Willensakte, Wünsche sowie die Phänomene der Liebe und des Hasses umfasst.
Brentano ist der Auffassung, dass sowohl Urteile als auch Gefühlsphänomene
komplexe Akte sind, die auf der ersten Klasse der Vorstellungen beruhen und sich
darauf aufbauen. Daher geht es ihm darum, „die psychischen Phänomene als
Vorstellungen und solche Phänomene, die auf Vorstellungen als ihrer Grundlage
beruhen“ 93, zu bestimmen. Die Vorstellungen haben einen Vorzug bezüglich der anderen
zwei Klassen von Phänomenen, d.h. hinsichtlich des Urteilens, des Wünschens, des
Begehrens, des Liebens und des Wollens.
Husserl geht in den Logischen Untersuchungen von der Lehre Brentanos aus, aber
nimmt gleichzeitig eine Modifizierung an ihr vor. Er verändert den zitierten Ausdruck
seines Lehrers folgendermaßen: „Jedes intentionale Erlebnis ist entweder ein
objektivierender Akt oder hat einen solchen Akt zur Grundlage.“94 Es fällt sofort auf,
dass in Husserls Satz nicht mehr das Wort „Vorstellung“ erscheint, sondern dass dieser
Terminus durch den Ausdruck „objektivierende Akte“ ersetzt wird. Objektivierende
Akte sind Husserl zufolge alle intentionalen Akte, die sich auf das Sein des
Gegenstandes beziehen bzw. den Setzungscharakter bezüglich des Seins des
Gegenstandes vollziehen. Der Begriff „objektivierender Akt“ ist kein bloßes Synonym
der brentanoschen Kategorie der Vorstellung: Er umfasst Erinnerungen, Urteile,
Erwartungen, d.h. alle Akte, die eine Seinssetzung verwirklichen.
Nach Husserl hat Brentano übersehen, dass „der intentionale Bezug erst durch die
Vereinigung von Materie und Aktqualität ermöglicht wird.“95 Die Unterscheidung
zwischen Qualität und Materie ist im Rahmen der Logischen Untersuchungen
grundlegend, um den intentionalen Charakter eines Aktes zu verstehen: Sie stellen zwei
abstrakte Momente eines konkreten Aktes dar, die zusammen das intentionale Wesen
93
Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Hamburg 1955, 136.
Hua XIX/1, 514.
95 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 55.
94
32
Wille und Motivation
des Aktes ausmachen. Husserl stellt in den Logischen Untersuchungen fest: „Die
Beziehung auf eine Gegenständlichkeit konstituiert sich überhaupt in der Materie. Jede
Materie ist aber, so sagt unser Gesetz, Materie eines objektivierenden Aktes und kann
nur mittels eines solchen zur Materie einer neuen, in ihm fundierten Aktqualität
werden.“96 Im Unterschied zu Brentano – wie Melle klar betont – denkt Husserl, dass
„die Gegenstandsgebung nicht mehr als Leistung eines selbständigen Aktes, sondern als
die einer unselbständigen Aktkomponente“ 97 gilt. Die Materie ist nicht selbständig und
braucht immer die Ergänzung durch eine Aktqualität. „Diese Aktmaterie ergänzende
Aktqualität muss nun eine objektivierende Aktqualität sein.“ 98
Somit” wird nicht der von Brentano festgestellte Vorrang der doxischen Akte
zurückzuwiesen. Der Bereich der nicht-objektivierenden Akte umfasst alle wertenden
und praktischen Akte, und zwar Wollen, Begehren, Wünschen, Fühlen, und auch die
Modalisierungen der doxischen Akte, d.h. Zweifeln, Sich-Entscheiden, Erinnern und
Erwarten. Solche Akte bedürfen der objektivierenden Akte, weil sie keine unmittelbare
Beziehung mit ihren Gegenständlichkeiten aufbauen können. Die nichtobjektivierenden Akte sind komplexe Akte, die von zwei unselbständigen Elementen
gebildet werden: der gegebenen Gegenständlichkeit (d.h. der Materie und der
objektivierenden Qualität) und der darauf errichteten Aktqualität. Diese zwei Schichten
bauen keine „bloße Summe von Akten, sondern einen Akt”99 auf.
Im Rahmen der Logischen Untersuchungen besitzen also die Willensakte und die
anderen praktischen Akte immer den Charakter des Fundiertseins, weil sie ohne das
gleichzeitige Vorhandensein objektivierender Akte nicht bestehen können. Es ist jedoch
auffällig, zu merken, dass schon die Logischen Untersuchungen – wie es bereits
angezeigt worden ist – den problematischen Charakter eines solchen
Fundierungszusammenhanges deutlich werden lassen. Im § 15 der fünften Logischen
Untersuchung fragt sich Husserl, ob die Erlebnisse der Sphäre des Gefühls und des
96
Hua XIX/1, 515.
Melle, Objektivierende und nicht-objektivierende Akte, 39.
98 Melle, Objektivierende und nicht-objektivierende Akte, 39.
99 Hua XIX/1, 421.
Husserl erklärt beispielsweise: „Ebenso ist ein ausdrücklicher Wunsch nicht ein bloßes Beieinander von
Ausdruck und Wunsch [...], sondern ein Ganzes, ein Akt; und wir nennen ihn geradezu einen Wunsch“.
97
33
Wille und Motivation
Willens einen eigenen intentionalen Bezug besitzen. Husserl schlägt hier erneut
Brentanos Theorie vor, nach welcher „Gefühle wie alle Akte, die nicht bloße
Vorstellungen sind, Vorstellungen zur Grundlage haben. Nur auf solche Gegenstände
können wir uns gefühlsmäßig beziehen, die uns durch mitverwobene Vorstellungen
vorstellig geworden sind.“ 100 Er teilt diese theoretische Voraussetzung noch, weil eine
„aufmerksame Vergegenwärtigung der Sachlage in der phänomenologischen
Erschauung [...] Brentanos Auffassung entschieden zu bevorzugen [scheint].“ Husserl
stellt jedoch klar heraus,
dass wir [...] nicht bloß die Vorstellung und dazu das Gefühl [haben], als etwas zur Sache
an und für sich Beziehungsloses und dann wohl bloß assoziativ Angeknüpftes, sondern
Gefallen oder Mißfallen richten sich auf den vorgestellten Gegenstand, und ohne solche
Richtung können sie überhaupt nicht sein. 101
Daher bemerkt Husserl, dass „das spezifische Wesen des Gefallens die Beziehung
auf ein Gefallendes fordert.“ Das betrifft freilich nicht nur das Gefallen, sondern die
gesamte praktische Dimension des Ichlebens: „Wieder ebenso kein Begehren (dem
spezifischen Charakter nach) ohne Begehrtes, kein Zustimmen oder Billigen ohne
etwas, dem die Zustimmung, Billigung gilt usw. All das sind Intentionen, echte Akte in
unserem Sinn.“ 102 Husserls Gedankengänge verlaufen noch innerhalb des theoretischen
Rahmens der Lehre Brentanos, die den Fundierungszusammenhang zwischen
objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten voraussetzt, aber die Vermutung
einer eigenen und bestimmten Intentionalität dieser Akten wird vertieft: „Sie
alle ,verdanken‛ ihre intentionale Beziehung gewissen ihnen unterliegenden
Vorstellungen. Aber im Sinn der Rede vom Verdanken liegt ja ganz richtig, daß sie
selbst nun auch das haben, was sie den anderen verdanken.“ 103
Gerade die Vertiefung dieser Frage nach dem intentionalen Charakter der
willentlichen, begehrenden und fühlenden Erlebnisse führt zur Revidierung des bisher
genannten brentanoschen Fundierungszusammenhanges, weil ein solcher Ansatz die
100
Hua XIX/1, 402-403.
Hua XIX/1, 403.
102 Hua XIX/1, 404.
103 Hua XIX/1, 404.
101
34
Wille und Motivation
Eigentümlichkeit des praktischen Gerichtetseins des Bewusstseins nicht angemessen
erkennt.
b) Die Entwicklung der Ansichten Husserls in den Ideen I sowie in den Vorlesungen
über Ethik und Wertlehre 1908-1914
Bereits in den Logischen Untersuchungen wird die Schwierigkeit des Problems des
Wesens der willentlichen und praktischen Akte gesehen. Die nachfolgenden
Überlegungen Husserls vertiefen die noch ungelösten Punkte immer mehr bis zu einer
neuen Formulierung der Auffassung. Um die Bedeutung dieses Schrittes zu begreifen,
ist es sehr nützlich, die Tragweite der Bestimmung des Charakters der praktischen Akte
zu umreißen. Wenn die willentlichen Akte nur fundierte Akte sind, die durch qualitative
Kennzeichnung der intentionalen Materie eines objektivierenden Aktes neue Akte
bilden, besitzen sie keinen eigentlichen Bezug, keine eigene Intentionalität. Deshalb
sind sie – kurz gesagt – Akte, die sich auf keine Gegenständlichkeit beziehen. Das
betrifft natürlich die gesamte Sphäre der praktischen und axiologischen Akte, und zwar
auch die Wertakte, die fest mit der Willensdimension verbunden sind.104 Das hat
entscheidende Folgen für die Auffassungen Husserls über des Wesen der Vernunft:
Wenn die doxische Seinssetzung der objektivierenden Akte die Bedingung des Bezugs
auf Gegenständlichkeit ist, wäre es der einzige Bereich, der mit der Vernunft, d.h. mit
der Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit zu tun hätte105 , was später noch eingehender
gezeigt wird.
Gerade dieser Punkt wird von Husserl im ersten Band der Ideen neu überdacht. Der
in den Logischen Untersuchungen aufgestellte Vorrang der objektivierenden vor den
104
Lotz schreibt hierzu: „Husserl realizes that his assumption that practical acts and objectifying acts are
directed to the same object of reference is impossible; rather, they must be conceived as being different
(which does not mean that they are conceived as two different things, i.e. values and beings). For
otherwise the distinction between purpose and being, as well as the distinction between value and being,
could no longer be made. This consideration forces Husserl to rethink their relation without giving up the
thesis that objectifying acts must be conceived as prior to the constitution of values and purposes of
consciousness“ (Lotz, Christian: Action: Phenomenology of Wishing and Willing in Husserl and
Heidegger, in: Husserl Studies 22/1 (2006), 127).
105 Hierzu merkt Melle an: „The number of the forms of reason depends upon the classification of the
forms of acts. However many basic forms of acts there are, so will there be as many basic form of reason;
for, according to Husserl, a specific form oj justification and rational validity belongs to every basic actform“ (Melle, Ullrich: Husserl’s phenomenology of Willing, in: Hart, James; Embree, Lester (Hrsg.):
Phenomenology of Values and Valuing, Dordrecht/Boston/London 1997, 170).
35
Wille und Motivation
nicht-objektivierenden Akten bleibt in einem gewissen Sinn bestehen, weil Husserl
bestätigt, dass z.B. das Werten „ eine unselbständige Schicht“ 106
des
Gesamtgegenstandes ist, der sich in den fundierten Akten konstituiert. Doch nimmt die
schon in den Logischen Untersuchungen anwesende Unterscheidung zwischen
thetischen (einstrahligen) und synthetischen (mehrstrahligen) Akten 107
eine neue
Bedeutung an: Auch wenn die höheren Schichten der Akte (Willensakte, Wertakte usw.)
notwendig synthethisch von doxischen Schichten abhängig sind, konstituieren sie ihre
entsprechenden Gegenständlichkeiten, wie Husserl in den Ideen I betont:
Der neue Sinn bringt eine total neue Dimension herein, mit ihm konstituieren sich keine
neuen Bestimmungsstücke der bloßen „Sachen“, sondern Werte der Sachen, Wertheiten
bzw. konkrete Wertobjektivitäten: Schönheit und Hässlichkeit, Güte und Schlechtigkeit; das
Gebrauchsobjekt, das Kunstwerk, die Maschine, das Buch, die Handlung, die Tat usw.108
Was Husserls Ansatz in den Ideen I von jenem der Logischen Untersuchungen
unterscheidet, ist die deutlichere Anerkennung des intentionalen Wesens jedes
Bewusstseinsaktes: Die Intentionalität „ist insofern eine Wesenseigentümlichkeit der
Erlebnissphäre überhaupt, als alle Erlebnisse in irgendeiner Weise an der Intentionalität
Anteil haben.“ 109
Wenn vorher die Intentionalität der praktischen Akte als
Möglichkeitsbedingung einen Fundierungszusammenhang mit den objektivierenden
Akten aufwies, beruht sie jetzt auf der Konstitution ihrer eigenen Gegenständlichkeiten.
Bewusstseinsintentionalität hat daher verschiedene Grundmodi.110
Wir können
„einem Dinge freilich [...] nicht anders als in der erfassenden Weise zugewendet sein,
106
Hua III/1, 275.
Die Behauptung lautet: „Jede eigenartige sich abgrenzende Noese, mag sie auch eine unselbständige
Schicht sein, trägt das ihre zur Konstitution des Gesamtgegenstandes bei, wie z.B. das Moment des
Wertens, das unselbständig ist, da es in einem Sachbewußtsein notwendig fundiert ist, die
gegenständliche Wertschicht, die der ‚Wertheit‛ konstituiert“ (Hua III/1, 275).
107 Vgl. Hua XIX/1, 502.
108 Hua III/1, 267.
109 Hua III/1, 187.
110 In seinem ausführlichen Gesamtüberblick über die Instinktivität bei Husserl, in dem er sich besonders
mit der Rolle der Instinkte in der Transzendentalphänomenologie der 30er Jahre beschäftigt, behauptet
Nam-In Lee: „Husserl hat aber in der Spätphilosophie mit der Vertiefung der genetischen Analyse die
These von der Fundierung des nicht-objektivierenden Aktes durch den objektivierenden fallen lassen.
Dies hat schließlich zur Folge, daß einem Erlebnis, welches nicht auf dem objektivierenden Akt fundiert
ist, insofern die Intentionalität zugesprochen werden kann, als es möglich ist, bei ihm irgendeinen Zug
des ‚Gerichtetseins‛ festzustellen“ (Lee, Nam-In: Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte,
Dordrecht/Boston/London 1994, 36).
36
Wille und Motivation
und so allen ,schlicht vorstellbaren‛ Gegenständlichkeiten“. Aber solches Erfassen ist
kein „Modus des cogito überhaupt“, sondern es handelt sich, „genauer besehen, [um]
einen besonderen Aktmodus“. Tatsächlich sind wir „[i]m Akte des Wertens [...] dem
Werte, im Akte der Freude dem Erfreulichen, im Akte der Liebe dem Geliebten, im
Handeln der Handlung zugewendet, ohne all das zu erfassen.“ 111
Diese neue Perspektive ist das Ergebnis einer Vertiefung der noetisch-noematischen
Struktur, die allen intentionalen Akten und daher auch den fundierten Akten eignet. Die
Annahme dieser Struktur bringt es mit sich, dass jedem Akt eine bestimmte
Gegebenheitsweise entspricht und dass jede Gattung von Bewusstseinsakten eine
bestimmte Region von Gegenständen erschließt. Das zeitigt wichtige Folgen bezüglich
der Dimension des Willens. Wenn in der zitierten fünften Logischen Untersuchung das
Problem der Zuerkennung eines intentionalen Wesens der Willensakte offenbleibt,
schlägt Husserl eine deutlichere Auffassung in den Ideen I vor, wenn er formuliert:
Schalten wir als Phänomenologen alle unsere Setzungen aus, so bleibt wieder dem
Willensphänomen, als phänomenologisch reinem intentionalen Erlebnis, sein „Gewolltes
als solches“, als ein dem Wollen eigenes Noema : die „Willensmeinung“, und genau so, wie
sie in diesem Willen (in dem vollen Wesen) „Meinung“ ist, und mit alledem, was und
„worauf da hinaus“ gewollt ist. 112
Das Problem, den praktischen Akten Intentionalität zuzusprechen oder nicht, ist, wie
bereits angedeutet wurde, nicht nur für die Willensakte grundlegend, sondern auch für
die axiologische Dimension und daher für den ethischen Bereich des Ichlebens, wie es
aus den Vorlesungen zur Thematik der Ethik und der Wertlehre aus den Jahren
1908-1914 hervorgeht. Die ethischen Überlegungen Husserls sind in dieser Zeit zum
Versuch eines Parallelismus zwischen logischen und ethischen Gesetzen ausgereift, um
den Kampf gegen Psychologismus und Relativismus auch im ethischen Bereich zu
gewinnen. Dieser Parallelismus setzt eine Bedingung voraus: Die Werte sollen objektive
Gegenstände und nicht nur subjektive Gefühle oder Empfindungen sein, weshalb sie als
Korrelat der wertenden Akte analog zu den logischen Gegenständlichkeiten der
111
112
Hua III/1, 76.
Hua III/1, 221-222.
37
Wille und Motivation
doxischen Sphäre erscheinen sollen. Ohne diese Voraussetzung festzuhalten, wäre die
praktische Dimension des Lebens der Subjektivität im Reich des Unvernünftigen
angesiedelt.
Wie in den Ideen I erkennt Husserl auch in diesen Vorlesungen den doxischen Akten
nicht ihren Vorrang ab:
Die logische Vernunft hat nun aber den einzigartigen Vorzug, daß sie nicht nur in ihren
eigenen Feld, sondern im Feld jeder anderen Gattung des Vermeinens, also in jeder anderen
Vernunftsphäre Recht formuliert, Rechtmäßgkeit bestimmt, Rechtsgesetze als Gesetze
prädiziert und ausspricht. Wertende und praktische Vernunft sind sozusagen stumm und in
gewisser Weise blind. 113
Die doxischen Akte der logischen Vernunft geben daher dem Willen „das Auge des
Intellekts“ 114, aber im Gegensatz zu den Logischen Untersuchungen stellt hier Husserl
fest, dass
[d]as Herausstellen, Feststellen, Bestimmen, das Objektivieren im spezifischen Sinn [...]
Sache der logischen Vernunft [ist]. Die axiologische Vernunft mit ihren Beständen ist
sozusagen sich selbst verborgen. [...] Erkenntnis erfindet aber nicht, sie holt nur heraus, was
in gewisser Weise schon da ist. Wäre nicht das Gemüt eine Domäne von Vermeinungen,
würde es nicht in sich schon, aber eben in der Weise des Gemüts, Entscheidungen treffen,
ihr Votum abgeben, so fände die Erkenntnis nichts von Werten und Wertinhalten vor, sie
fände dann nur blinde Erlebnisse vor, wie etwa Erlebnisse des Rot- und Blauempfindens. 115
Diese letzte Feststellung fasst deutlich den Schritt zusammen, den Husserl im
Vergleich zu den Logischen Untersuchungen vollzieht: Die praktische Domäne ist ein
Boden von Vermeinungen, wo die Intentionalität und die Konstitution von
Gegenständlichkeiten schon am Werk ist. Husserl erkennt in diesen ethischen
Vorlesungen „die Grundschwierigkeit, die hier besteht, die Verflechtung zwischen der
113
Hua XXVIII, 68 (Meine Hervorhebung).
Hua XXVIII, 64.
115 Hua XXVIII, 63.
114
38
Wille und Motivation
logischen Vernunft mit der prätendierten praktischen und axiologischen. Und das
Grundproblem ist, in dieser Verflechtung die Komponenten zu scheiden.“ 116
Ein anderer Bestandteil der zitierten Äußerung Husserls verdient jetzt eine besondere
Aufmerksamkeit. Sie betrifft ausdrücklich die Domäne des Gemüts, d.h. die Sphäre,
welche nach Pfänder streng von der Willenssphäre zu unterscheiden ist: Während
Pfänder dem Gemüt und allen Strebungen keine Intentionalität zuschreibt, stellt Husserl
heraus, dass diese Domäne nicht blind ist. Wieder drängt sich die Frage auf, die am
Ende des vorangehenden Abschnitts über die pfändersche Auffassung des Willens
gestellt worden ist, d.h. die Frage nach der spezifischen Eigentümlichkeit des Willens
und der Grenzlinie zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Akten. In die
Behandlung des Fundierungsverhältnisses der Logischen Untersuchungen fragt sich
Husserl nicht danach, „worin die Willensqualität besteht. Es bleibt also offen, ob an
dem Willenvorsatz Streben, Triebe, Instinkte, Gefühle u. dgl. beteiligt sind.“117 Das
Betreten dieses Problembereichs ist gerade das Ziel der nächsten Schritte, die nicht
mehr nur mit einer statischen, sondern besonders mit einem genetischen Ansatz zur
Willensphänomenologie zu tun haben, d.h. mit dem Ansatz, der nach dem Ursprung der
Entscheidungen, der Stellungnahmen und der Willensakte sowie nach ihrer Entstehung
in der Sphäre der Passivität fragt.
3.2.2 Die Komplexität des Phänomens des Wollens und seine Modalisierungen
Die durch Pfänders Betrachtungen sich erhebende Frage kann nun erneut gestellt
werden: Welches ist die bestimmte Eigenheit der Willensakte und was ist die Beziehung
zwischen Wille und Triebsphäre? Hat der Wille nur eine eindeutige Modalität oder
bekundet er sich in verschiedenen Abschattungen? Ist es immer so einfach und
unmittelbar möglich, einen eigentlich willentlichen Akt von anderen komplexeren
116
Hua XXVIII, 64.
Dazu auch: „Diese Unterscheidungen nehmen wir vorläufig hin. Ihre wirklich tiefgehende Klärung, die
Frage, inwiefern, in welchem Sinn mit wirklichem Recht wesentliche Demarkationen hier zu machen sind
oder in welchem Sinn hier wirklich von Vernunft und objektiver Gültigkeit gesprochen werden darf, das
führt schon in die Phänomenologie und Theorie der Vernunft selbst hinein, und das ist ein wahrer Urwald
von Schwierigkeiten“ (Hua XXVIII, 205).
117 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 58.
39
Wille und Motivation
Akten zu unterscheiden? Husserl sieht die Komplexität des Phänomens des Wollens
und ebnet seine Nuancen nicht ein.
Vor dem Willen mit der aktiven Thesis des „fiat“ liegt das Tun als triebmäßiges Tun, z.B.
das unwillkürliche „ich bewege mich“, das unwillkürliche „ich greife“ nach meiner Zigarre,
ich begehre danach und tue es „ohne weiteres“, was freilich nicht leicht vom Falle der
Willkür im engeren Sinne zu scheiden ist. 118
Husserl zufolge ist es dabei nicht „leicht“, die verschiedenen Modi zu erkennen, in
denen der Wille sich bekundet und in denen daher die Freiheit des Ich eine Rolle spielt,
weil wir nie aufhören, von einer Willensspannung, die dem aktiv willentlichen fiat
vorangeht, belebt zu werden: „Immerzu bin ich Willens-Ich und als waches in
willensmäßigen Zielungen und im Wechsel von Willensmodalitäten. Immerzu habe ich
etwas vor und habe ich schon vorher begründete Zielhorizonte, Vorhaben und
Vorhabenshorizonte.“119
Oder: „Alles Leben ist unaufhörliches Streben, alle
Befriedigung ist Durchgangsbefriedigung. [...] Leben ist Streben in mannigfaltigen
Formen und Gehalten der Intention und Erfüllung.“120 Wie Schuhmann feststellt, ist
„der Hauptpunkt, in dem Husserl dabei von Pfänder abweicht, [...] die Frage nach der
von Pfänder nicht beachteten Modalisierung des einfachen Wollens; die Frage
der ,Willensmodalitäten’ “ 121. Die zum Pfänder-Konvolut gehörenden Manuskriptblätter
A VI 3/5-7 zeigen deutlich die grundlegende Bedeutung, die Husserl der Aufgabe einer
Analyse der verschiedenen Willensmodalitäten zuschreibt 122: Diese Aufgabe betrifft
auch „schwierige Untersuchungen der allgemeinen Bewusstseinsstrukturen überhaupt,
118
Hua IV, 258.
Hua XXXIX, 597.
120 A VI 26, 42a-b, in: Mensch, James R.: Instincts – A Husserlian Account, in: Husserl Studies 14/3
(1997), 231.
Melle betont hierzu: „According to Husserl, there are still other forms of inattention that lie between the
so-called complete volitional passivity of drives and the active will. When I am occupied with a
theoretical task, I can, in the background of my consciousness address my fiat or non-fiat to an impulse,
as for example, the impulse to smoke a cigarette. In contradistinction to the drive, the will is here already
present, albeit latently, in the background. The transition from a latent act of the will into a patient act of
the will is therefore also of a completely different sort than the introduction of volitional impulses into an
instinctually occurring event“ (Melle, Husserl’s phenomenology of Willing, 190).
121 Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, 104.
122 Husserl schreibt tatsàchlich, dass „[e]ine außerordentlich schwierige und höchst umfangreiche
Aufgabe wäre es, neben der Systematik der Willensmodalitäten auch eine Untersuchung der
Aktabwandlungen bzw. fließenden Umgestaltungen der Willenssphäre zu unternehmen“ (A VI 3/5, in:
Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, 102-103).
119
40
Wille und Motivation
da die rechte Abgrenzung der Bewusstseinsgestaltungen, die das Wort Wille bezeichnen
soll, keineswegs von vornherein eine selbstverständliche Sache ist.“ 123 Die prinzipielle
Schwierigkeit des Phänomens des Willens besteht darin, dass es von einer doppelten
Verflechtung gekennzeichnet ist: Einerseits setzen Willensakte „schon doxische Akte
voraus“, andererseits auch „Gemütsakte.“ 124 Aus diesem Grund schreibt Husserl, dass
Pfänders Motive und Motivation „rühmenswert“ sei, aber „doch nicht vollkommen die
außerordentlichen Schwierigkeiten der Materie“ überwinde und daher „nicht das Ende,
sondern den Anfang einer fundamentalen Erforschung der Willenssphäre“ 125 bilde. Eine
ähnliche Kritik an Pfänder und „an der Nicht-Beachtung der Verschiedenartigkeit der
intentionalen Verflechtungen“ findet man auch in der Dissertation über Freiheit, Wollen
und Aktivität, des Husserl-Schülers Hans Reiner, obwohl dieser anerkennt, dass „sich in
denselben zum Teil eine auffallende Übereinstimmung hinsichtlich des sich ergebenden
Umfangs seines Strebensbegriffs mit unserem Begriff der Strebung zeigt.“ 126
Der Wille ist die Fähigkeit, welche die schlechthin menschliche Aktivität verkörpert,
aber Husserl bemerkt, dass „in jeder Aktart verschiedene Mischungen von Spontaneität
und Rezeptivität möglich sind und überall Spontaneität in Rezeptivität übergehen kann
und umgekehrt.“ Er fährt fort: „Die Rezeptivität ihrerseits führt uns aber weiter zurück
in Hintergründe, bei denen wir eigentlich weder von Spontaneität noch von Rezeptivität
sprechen können.“ 127
In den schon erwähnten Vorlesungen über Ethik von 1914 widmet Husserl einen
bezeichnenden Abschnitt dem Thema der Phänomenologie des Willens, indem er den
Willen mit einem Lipps-Pfänderschen Ausdruck „im engeren und weiteren Sinn“ 128
untersucht. Das Hauptziel Husserls besteht hier darin, im Rahmen des Parallelismus
zwischen logischer und praktischer Vernunft die „ganz eigenartige[n] Gesetze“ der
Willens- und Begehrenssphäre darzulegen, aber er bekundet auch sogleich die
erhebliche Schwierigkeit einer solchen Aufgabe. Der Grund dieser Schwierigkeit
123 A VI
3/5.
3/5.
125 A VI 3/5.
126 Reiner, Hans: Freiheit, Wollen und Aktivität, Halle 1927, 104-105.
127 A VI 3/5.
128 Hua XXVIII, 102.
124 A VI
41
Wille und Motivation
besteht im Reichtum der Phänomene, die zum Umfang des Willens gehören. Wie im
Gebiet der logischen Akte nicht nur „das Gewiß-Glauben“, sondern auch alle seinen
Modalisierungen in Betracht gezogen werden, so auch in der Willenssphäre:
Ähnlich verstehen wir unter einem Willensakt im weitesten Sinn nicht nur das Wollen im
engsten Sinn, sondern vielerlei Modalitäten, und darunter dem Willen eigentümliche. [...]
Wollen im gewöhnlichen engeren Sinn ist positiv und in Willensgewißheit Wollen. Ich bin
schlechthin entschlossen, oder ich tue gar, ich handle. [...] Zunächst ist es klar, daß wir auch
ein negatives Wollen haben und desgleichen Modi der Willensungewißheit. In letzterer
Hinsicht wird oft die Scheidung zwischen Wollen und Wünschen, Streben, Begehren
unklar. 129
Die Feststellung dieser Unklarheit stellt die größte Unterscheidung zwischen
Husserls und Pfänders Auffassung des Begriffs des Willens dar. Aber auch wenn das
beständige modalisierte Sich-Vorstellen des Willens es nicht immer einfach macht, die
Grenzlinie zwischen Wollen und Begehren zu bestimmen, bedeutet das nicht, dass es
unmöglich ist, festzustellen, was eigentlich den Willen kennzeichnet, wie noch später
gezeigt wird. Was hier jedenfalls vom phänomenologischen Standpunkt aus in den Blick
genommen werden soll, ist die Weite der Skala der Willensphänomene. Zum Willen
gehört jeder Willensakt, der in schlichter Weise einem Reiz folgt, ohne Schwanken und
Zweifeln, ohne Überlegung und Parteinahme. Zum Beispiel, ich blicke auf: Da steht mein
Frühstück. Unmittelbar sage ich: Ich will jetzt frühstücken. Hier erwächst freilich die Frage
129
Hua XXVIII, 103.
„Aber vor dem Willen und seinen Willenszielen liegen Vorformen des Ichstrebens, des affiziert
Hingezogenwerdens, des Sich-entscheidens, die wir instinktiv nennen“ (Hua XV, 511).
Perreau schlägt eine interessante Anmerkung über Husserls Wortschatz vor: „La questione de la pulsion,
chez Husserl, est souvent envisagée en proximité et différence d’une multitude de notions voisines, qu’il
s’agisse de la tension (Spannung), de l’aspiration/effort (Streben), tendance (Tendenz), ou encore de la
force affective (affektive Kraft), voire de la phénoménalité originaire (Urphänomenales). Cette profusion
terminologique, en elle-même problématique, signale une certaine difficulté à dire l’experience de la
pulsion dans ses divers aspects. À comparer les textes, il apparâit clairement que Husserl ne se montre pas
toujours soucieux d’établir les critères de distinction qui permettraient de faire la différence entre ces
différentes notions, et l’emploi qu’il fait de chacun de ces termes ne semble pas toujours, à première vue,
rigoreusement régi“ (Perreau, Laurent: Phénoménologie husserlienne et métapsychologie freudienne: la
pulsion et l’incoscient, in: Alter – Revue de phénoménologie 14 (2006), 19-20). Nam-In Lee stellt eine
mögliche Unterscheidung zwischen die Bedeutungen der Wörter „Tendenz” und „Trieb” bei Husserl hin:
„Trotz der feststellbaren Gattungsgemeinschaft zwischen beiden war er ungefähr bis gegen 1920 der
Auffassung, daß die tendenzielle Intentionalität von der Triebintentionalität strikt unterschieden werden
müsse. Er begründete dabei seine Auffassung damit, daß die Auswirkung der tendenziellen Intention in
allen Bereichen des Bewußtseins, d.h. sowohl in der Sphäre der Begehrungsintention und der wertenden
Intention als auch [...] in der Vorgestellungsintention zu beobachten sei, die Auswirkung der
Triebintentionalität aber nur in einem bestimmten Bereich des Akten, nämlich im Bereich des
Begehrens“ (Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 88).
42
Wille und Motivation
nach dem Verhältnis dieser Wollungen, die ohne weiteres einem „Reiz” folgen, zu den
triebartigen Betätigungen, die wir als unwillkürliche bezeichnen. 130
Husserl bildet dazu eigens den widersprüchlichen Ausdruck „Willenspassivität“,
wenn er schreibt, dass „im Trieb und dem von ihm folgenden Tun eine niedere Form des
Wollens vorliegt, eine Willenspassivität gegenüber der Aktivität des ‚ich will‛ als des
Ichvollzuges des Wollens.“ 131 In einem anderen Manuskript beschreibt er auf diese
Weise den Begriff von Willenspassivität:
Das Bedürfnis spazierenzugehen, das ihm „passiv“ Folgen im „ich will ausgehen“. Das
dabei etwa in Gedanken Sein, mit irgend welchen Überlegungen sonst beschäftigt sein und
passiv den „gewohnten Weg“ einschlagen, ohne Wahl, ohne auf ihn besonders gerichtete
Willensentscheidung. Und doch nicht gegen meinen Willen, sondern im Sinn des
einleitenden. Ich gehe aber je nach der Sommertemperatur bald mit Vorliebe den, bald
jenen Weg, ursprünglich mit Überlegung, ich pflege, wenn es heiß ist, den einen zu gehen
etc. Jetzt aber (es ist heiß) gehe ich ohne Überlegung den schattige versprechenden Weg.
Also unwillentlich, ohne Willensstruktur ist das nicht. Aber es ist Willenspassivität.132
Diesbezüglich kann die Überlegung eines anderen Phänomenologen und LippsSchülers, Moritz Geiger, einen bedeutungsvollen Beitrag leisten, weil er auch mit dem
Ausdruck „unerlebtes Wollen“ ein solches Grenzniveau des aktiven Ichlebens
bearbeiten will.
3.2.3 Moritz Geiger: Das unerlebte Wollen
Moritz Geiger gehörte – neben Pfänder, Daubert und anderen – zu den bedeutenden
Vertretern der Münchener Lipps-Schüler, die sich nach der Veröffentlichung der
Logischen Untersuchungen der Phänomenologie Husserls näherten. Ab 1906 besuchte
er Husserls Vorlesungen in Göttingen und begann, gemeinsam mit den anderen
130
Hua XXVIII, 112.
M III 3 III I II, 103, in: Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 184.
132 E III 10, 8-9 (Meine Hervorhebung).
131
43
Wille und Motivation
Wissenschaftlern im Umkreis Husserls, das Jahrbuch für Philosophie und
phänomenologische Forschung 1913-30 herauszugeben.133
Bezüglich des Zieles dieser Untersuchung bietet ohne Zweifel Geigers Analyse zur
Thematik des unerlebten Wollens, die sich im Fragment über den Begriff des
Unbewussten und die psychische Realität134 von 1921 findet, ohne Zweifel einen
bemerkenswerten Begriff, da sich die Analyse auf die Ganzheit des Phänomens des
Willens und nicht nur auf seine bewussten Erscheinungen, sondern auch auf seine
unbewusste Dimension konzentriert.
In der Einleitung dieses Werkes übt Geiger Kritik an der so genannten
„Erlebnispsychologie“ 135, ein Ausdruck, der die gesamte psychologische Tradition von
Locke zu Herbart bezeichnet. Geiger zufolge ist diese Psychologie „einer
Naturwissenschaft vergleichbar, die nicht das reale Geschehen in der objektiven Natur
beschreibt, sondern nur die Aufeinanderfolge der zufälligen Wahrnehmungsfelder, die
sich einem Menschen darbieten“ 136. Im Gegensatz zu diesem Ansatz schlägt Geiger eine
neue psychologische Methode vor, den „immanente[n] Realismus“ 137, der die Aufgabe
hat, „an Stelle eines Systems von Einzelvorgängen die Psychologie des ganzen
Menschen mit seinen Funktionen, Trieben, Kräften zu setzen.“ 138 Geiger führt dies mit
einem wirkungsvollen Bild aus:
133
Im Rahmen dieser Forschung Arbeit ist es unmöglich und sogar an dieser Stelle auch nebensächlich,
die Rolle Geigers unten den Mitglieden des phänomenologischen Kreises zu analysieren. Wie
Spiegelberg betont, „Husserl’s estimate of Geiger varied, largely in accordance with his own
development“ (Spiegelberg, The phenomenological movement, 207). Geiger legt deutlich seinen
persönlichen Ansatz zur phänomenologischen Methode im schon zitierten zur Pfänders Phänomenologie
gewidmeten Aufsatz dar, Alexander Pfänders methodische Stellung: „Als Vollendung des Empirismus
hatte zu Beginn des Jahrhunderts die phänomenologische Methode ihren Einzug in die Philosophie
gehalten. Daß sie sich die vorurteilslose Erfahrung der Tatsächlichkeit des Selbstgegebenen, des
Selbsterfahrenen zum Ziele setzte, war das Entscheidende, durch das sie eine junge Generation anzog.
Rücksichtlos die Sache und nur die Sache sprechen lassen – ohne vorgängige Konstruktion, ohne
irgendwelche aus den Einzelwissenschaften, der Philosophie, der Sprache, der vulgären Meinung
stammenden Vorurteile zwischen das auffassende Ich und die Sache zu schieben. Die größte Lebensnähe
wollte sie erreichen durch die erkennende Hingabe an die Sache selbst“ (Geiger, Alexander Pfänders
methodische Stellung, 2).
134 Geiger, Moritz: Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, Halle 1930.
135 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 2.
136 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 5.
137 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 1.
138 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 9.
44
Wille und Motivation
Nach der Anschauung des immanenten Realismus fällt nur ein Teil von dem, was sich in
jedem Augenblick realiter seelisch ereignet, in das Auge des erlebenden Ich. Wir sind in
unserem Erleben wie der Astronom vor seinem Fernrohr, der in jedem Augenblick nur
einen Teil der Himmelsvorgänge herausgreifen und beobachten kann. Wir ziehen in
unserem Erleben ein Stück der realen psychischen Welt ans Licht, die sich zeitlich und im
Raum des geistigen Nebeneinander nach allen Richtungen ins Dunkel verliert. 139
Gerade aus dieser methodologischen Perspektive nähert sich Geiger der Frage nach
dem vielschichtigen Wesen des Willensphänomens. Die Erlebnispsychologie sammelt
Wo l l e n , H a s s e n , B e g e h r e n u s w. „ u n t e r d e m S a m m e l n a m e n d e r
Bewusstseinserlebnisse.“140
Geiger stellt allerdings eine Frage, die eine tiefere
Untersuchung eröffnet: „Aber was will das besagen: Wollen sei ein
‚Bewusstseinserlebnis’?“ 141
Es ist nötig, nach Geiger zu bemerken, dass „Erleben des Wollens und Wollen [...]
zwei zwar eng verbundene, aber doch verschiedene Tatbestände [sind].“142 Wenn eine
solche Unterscheidung nicht anerkannt wird, verfehlt die Psychologie ein echtes
Verständnis der psychischen Phänomene in ihrer Gesamtheit: „Das Urmaterial der
Psychologie sind reale Vorkommnisse des Ichs, nicht ,Erlebnisse‛ – das ist die richtige
Angabe des Gegenstandes des Psychologie. Es ist sekundär, dass diese Vorkommnisse
sind, d.h. erlebt werden.“ 143
Diese Feststellung hat eine spezielle Bedeutung bezüglich der Frage nach dem
Willen, weil gerade diese Dimension üblicherweise mit dem Erlebt-Werden verbunden
wird: Ein Tun ist tatsächlich willentlich – sagt man gewöhnlich –, wenn es bewusst und
zweckhaft verwirklicht wird. Geiger führt das Paradoxon der Hypothese eines
unerlebten Wollens an und fragt sich: „Gibt es wirklich etwas dergleichen: Einen Brief
139
Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 4-5.
Spiegelberg betont, dass Geigers Ansatz „implied the espousal of a broader empiricism, not restricted to
sense data, and the rejection of the reductionism of positivistic ‚nothing-butters’ and nominalists who
denied general essences“ (Spiegelberg, Herbert: Phenomenology in psychology and psychiatry, Evanston
1972, 16). Geiger drückt sich explizit gegen solches Vorgehen von „Nichts-anderes-als“ aus: „[S]eine
wahllose Übertragung auf das Psychische und Geistige gehört zu den verhängnisvollsten Idolen des
Naturalismus [...]. Überall, wo das naturwissenschaftliche Vorbild die Gestaltung der Psychologie
bestimmt hat, glaubte man auf Grund dieses Prinzips mit eigenen Elementarbegriffen das ganze Gebiet
des Psychischen umspannen zu können“ (Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 6-7).
140 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 36.
141 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 36.
142 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 37.
143 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 41.
45
Wille und Motivation
schreiben wollen, ohne daß dies Wollen erlebt ist?“144 Die Antwort auf diese Frage ist
nicht einfach, weil „[e]s [...] doch zum Wesenskern alles Wollens zu gehören [scheint],
daß das Ich in ihm sein Ziel bewußt erfaßt, bewußt den Willensakt vollzieht. Ein
Wollen, dem man das Bewusstsein entzieht, scheint zum bloßen ,Drängen‛, zur
bloßen ,Tendenz‛ zu werden“ 145. Die letzte Äußerung führt wieder ins Zentrum der
Beobachtung des schon mit Pfänder als problematisch enthüllten Punktes, d.h. der
Grenzlinie zwischen dem eigentlichem Wollen und dem bloßem Begehren oder Streben.
Wieder bekundet sich dies als der Kernpunkt im Rahmen einer Phänomenologie des
Wollens.
Geiger zufolge sollen zwei Momente im Phänomen des Wollens auseinandergehalten
werden: Einerseits die Willenssetzung, d.h. „das erste Stadium des Wollens“, das „noch
nicht eigentlich das Wollen [ist], sondern es ist das Sich-Selbst-Bestimmen zu einem
bestimmten Wollen, ist eine Setzung des Wollens.“ 146 Andererseits das wollende
Verhalten, bestehend „in dem späteren Stadium eines länger andauernden Wollens.“ 147
Die Willenssetzung kann nie unerlebt sein und um das zu zeigen, bietet Geiger ein
Beispiel an: Ein Beamter findet heraus, dass eine freigewordene Stelle wieder besetzt
worden ist: Nach der Besetzung wird ihm jedoch auf einmal klar, dass er diese Stelle
vor langer Zeit gewollt hat. Er versteht plötzlich, dass viele seiner Handlungen und
Schritte vormals auf die Erlangung einer solchen Stelle ausgerichtet waren. Jedenfalls
stellt Geiger fest, „dass das, was hier als ,unbewusstes Wollen‛ angesehen wurde,
144
Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 94.
Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 95.
Luisa Feroldi schreibt hierzu: „Geiger tiene a sottolineare l’aspetto paradossale implicito nell’ipotesi di
un volere non-vissuto, ben consapevole di scontrarsi con tutta una tradizione che fa della volontà il centro
dell’attività propria dello spirito o della soggettività autocosciente“ (Feroldi, Luisa: La realtà psichica e
l’inconscio in Moritz Geiger, in: Besoli, Stefano; Guidetti, Luca (Hrsg.): Il realismo fenomenologico.
Sulla filosofia dei circoli di Monaco e Gottinga, Macerata 2000, 493).
146 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 97.
147 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 97-98.
Karl Löwenstein formuliert bezüglich dieser Betrachtung Geigers einen interessanten Beitrag in der schon
zitierten Pfänder-Festschrift an: „Ferner gibt sich ein phänomenologischer Unterschied ähnlich wie ihn
M. Geiger (Fragment über den Begriff des Unbewußten, Jahrb. f. Phil. IV) beim Wollen aufgezeigt hat,
auch beim Wünschen zu erkennen. Es läßt sich nämlich die aktuelle Wunschsetzung, der Wunschakt von
dem wünschenden Verhalten trennen. Der Wunschakt: das Jetzt-wünsche-ich-wirklich, das letzte
entscheidende Ja-sagen des psychischen Subjektes zu einem Wunschentwurf ist zugleich das Entlassen
dieses Wunsches und damit normalerweise auch der Beginn des funktionalen Wünschens (der
Einsaugetätigkeit), des wünschenden Verhaltens“ (Löwenstein, Karl: Wunsch und Wünschen, in: Heller,
Ernst; Löw, Friedrich (Hrsg.): Neue Münchener philosophische Abhandlungen, Leipzig 1933, 179).
145
46
Wille und Motivation
entweder nicht unbewusst war oder kein Wollen.“ 148 Wenn es tatsächlich ein Wollen
war, dann war es nicht unbewusst, sondern einfach unbemerkt: „[E]s ist nur
hinausgewiesen aus dem voll erhellten Raum des psychischen Geschehens in eine
Sphäre niederer Deutlichkeit“149. Dagegen ist von Unbewusstheit zu sprechen, wenn es
sich um kein Wollen, sondern um Akte „des Begehrens, Strebens, Drängens“ 150 handelt.
Geiger schreibt hierzu:
Wenn der Begriff des Wollens nicht untergehen soll in einer Reihe verwandter Begriffe, wie
Begehren, Drängen, Streben, von Trieben, Erfaßtsein usw., so muß dieser Begriff des
Wollens für scharf abgegrenzte Tatbestände vorbehalten bleiben. Nur dort kann vom
Wollen geschprochen werden, wo einmal eine Erfassung eines Ziels durch ein
zustimmendes jasagendes Ich vorliegt – und zum andern, jene Selbstbestimmung des Ichs
durch das Ich [...]. Das Ich muß sich sein Ziel selbstsetzen; es muß sich selbst zum Wollen
bestimmen, es darf kein bloßes Hindrängen nach dem Ziel sein, kein bloßes
Angezogenwerden von dem Ziel, kein bloßes Richtungsbestimmtsein durch das Ziel. 151
Diese Kennzeichnungen des eigentlichen Willensaktes erinnern unmittelbar an die,
welche schon Pfänder festgelegt hatte. Aber das ist nicht alles. Freilich können
Willensakte im Sinne von Willenssetzungen nie unbewusst sein, aber „Willenssetzungen
sind nur die eine Hälfte des Wollens. Wenn man die notwendige Bewußtheit des
Wollens überhaupt identifiziert, so hat man pars pro toto gesetzt.“ 152 Wie bereits
angezeigt wurde, gibt es noch ein zweites Moment im Phänomen des Willens, nämlich
das wollende Verhalten.
Der Einschluss dieser Dimension antwortet einem bestimmten Anspruch: Geiger
erkennt tatsächlich wie Husserl an, dass wir „[i]n jedem Augenblick unseres Lebens [...]
unendlich vielerlei [wollen]: Von den primitiven Dingen des Alltagslebens bis zu den
höchsten Zielen. Aber nur Wenigem erteilen wir in jedem Moment die Unterschrift, die
das Handeln sanktioniert.“153 Das wollende Verhalten wird von Geiger an einem
Beispiel erklärt. Wenn jemand sich entscheidet, zum Bahnhof zu gehen, verwirklicht er
148
Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 105.
Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 106.
150 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 106.
151 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 107.
152 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 109.
153 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 115.
149
47
Wille und Motivation
„ein länger andauerndes Wollen, das eine Reihe von Unterwollungen und Handlungen
nach sich zieht“ 154: Er will die ganze Zeit über zum Bahnhof gehen, aber „nicht die
ganze Zeit über – nicht während des ganzen Weges vom Hause zum Bahnhof – ist dies
Wollen, dies wollende Verhalten (dies zum Bahnhof gehen Wollen) erlebt.“ 155 Ein
länger andauerndes Wollen kann nicht beständig bewusst bleiben und das führt wieder
die Möglichkeit der Existenz eines unerlebten Wollens ein.
Das Problem der „Zwischenzeiten“ zwischen den einzelnen klar bewußten Phasen eines
langandauernden Wollens wird hier aktuell. Der Beamte will sicherlich zuweilen völlig
bewußt den Posten erstreben, und man erlebt jeden Morgen, wenn man sich zur Arbeit
setzt, das Wollen der Abfassung der Abhandlung in voller Bewußtheit. Was aber geschieht
mit dem Wollen in den Zwischenzeiten zwischen solchen Höhepunkten? Ist es unerlebt
vorhanden oder wie sonst?156
Solche Zwischenzeiten machen es erforderlich, das Feld des Willens zu erweitern.
Die Willenssetzung ist bewusst und impliziert freilich Zielerfassung und
Selbstbestimmung, aber diese sind nur der momentane Höhepunkt der weiten und
vielschichtigen Willensphänomene: „Das Wollen existiert, auch wenn es nicht aktiviert
ist: Es ist gefüllt mit Tat, sonst wäre es kein Wollen [...]. Wir sind auf dies Tun
eingestellt. [...] Wir schnellen den Pfeil der Tätigkeit erst los, wenn der Augenblick
gekommen ist.“ 157
3.2.4 Die eigentümlichen Charaktere des Willens bei Husserl
Wie bereits gezeigt worden ist, glättet Husserl nicht die komplexen Nuancen des
Willensphänomens, das bedeutet aber nicht, dass er seine Besonderheit nicht anerkennt,
oder dass er die willentlichen und die triebhaften oder unbewussten Phänomene
durcheinanderbringt. Er betont tatsächlich wie Pfänder die Freiheit als Merkmal des
eigentlichen Willens und man kann zweifelsohne behaupten, dass Husserl mit Pfänder
154
Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 109.
Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 109.
156 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 111.
157 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 115.
155
48
Wille und Motivation
darin übereinstimmt, dass der Wille zum spezifischen Wesensgehalt menschlichen
Lebens gehört 158.
Das geht besonders aus seinen ethischen Betrachtungen in den Aufsätzen über
Erneuerung in den Jahren 1923 und 1924 hervor, die er – neben seinen EthikVorlesungen in den Jahren 1908-1914 und in den Sommersemestern 1920 und 1924 –
für die japanische Zeitschrift The Kaizo geschrieben hat. Darin ist zu lesen:
Der Mensch hat auch die Wesenseigenheit, anstatt passiv-unfrei seinen Trieben
(Neigungen, Affekten) preisgegeben zu sein und so in einem weitesten Sinne affektiv
bewegt zu werden, vielmehr von sich, von seinem Ich-Zentrum aus, freitätig zu „handeln“,
in echt „personaler“ oder „freier“ Aktivität zu erfahren (z.B. beobachtend), zu denken, zu
werten und in die erfahrene Umwelt hineinzuwirken.159
Wie auch Pfänder sieht Husserl das eigentliche Wesen des Menschen darin, dass
dieser die Möglichkeit hat, sich von der Wirkung der Triebe zu befreien und sich durch
sein Ich-Zentrum selbst zu bestimmen. Das paradigmatische Moment der Freitätigkeit
ist auch bei Husserl die Willensentscheidung, die mit dem schon zitierten Ausdruck des
„fiat“160 gekennzeichnet wird: „Der Wille ist auch ein Langen, aber er bringt ein Neues
herein, das eben Langen voraussetzt, aber nicht Langen ist (Begehren, Wünschen): das
fiat, das praktische ,Es soll sein!’ “ 161 Im Moment des fiat „ist das Subjekt im
158
Es ist bemerkenswert, dass viele Phänomenologen (neben dem schon zitierten Geiger) den freien und
selbstbestimmenden Charakter des Willens unterstreichen. Edith Stein schreibt z.B. „Aus sich heraus, in
freiem Impuls kann es die eine oder andere Möglichkeit ergreifen [...] das Wollen [...] erfordert [...] einen
freien Impuls, der als etwas Neues rein aus dem Ich hinzutritt und aus den Motiven nicht herzuleiten
ist“ (Stein, Edith: Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der
Geisteswissenschaften, Freiburg/Basel/Wien 2010, 64). Auch Ingarden betont mit klar pfänderschen
Ausdrücken, dass kann „[e]ine Willensentscheidung und eine Handlung [...] nur dann für eine ,eigene‛ Tat
der betreffenden Person gelten, wenn sie direkt vom Ichzentrum dieser Person hervorquillt, in ihm ihren
echten Ursprung hat, und wenn dieses Ichzentrum den Vollzug der sich daraus ergebenden Handlung
beherrscht und leitet, also an ihr nicht bloß persönlich ,beteiligt‛ ist, sondern in dem gesamten Geschehen
der sich abspielenden Handlung das entscheidende Gewicht in ,seiner Hand‛ behält“ (Ingarden, Roman:
Über die Verantwortung, Stuttgart 1970, 19).
159 Hua XXVII, 24 (meine Hervorhebung).
160 Vgl. als beispielhafte Aufzählung: Hua IV, 98, 257ff., 283, 286, 328; Hua XIV, 447; Hua XXVIII,
107ff., 157; Hua XXXIX, 146, 324, 353.
Husserl erbt diesen Ausdruck von William James, der in seinen Principles of Psychology schreibt: „The
bare idea is sufficient, but sometimes an additional conscious element, in the shape of a fiat, mandate, or
express consent, has to intervene and precede the movement“ (James, William: Principles of Psychology,
New York 1890, 522). Hierzu vgl.: Ferrarello, Susi: On the Rationality of Will in James and Husserl, in:
European journal of pragmatism and american philosophy 2/1 (2010); Linschoten, Johannes: Auf dem
Wege zu einer phänomenologischen Psychologie. Die Psychologie von William James, Berlin 1961,
200-224.
161 Hua XXVIII, 157.
49
Wille und Motivation
prägnanten Sinne Willenssubjekt [...] ,handelndes’ Subjekt, personaler Täter seiner
Tat.“ 162 So wie Pfänder den Gipfel des Willensaktes mit dem „geistigen Schlag“ des
Ich-Zentrums identifiziert, hebt Husserl die selbstbestimmende Macht der
Willensentscheidung hervor, der er einen schöpferischen Charakter zuschreibt. Wie
Heller betont, sind die Selbstbestimmungsakte „Akte, durch welche das Subjekt die
durch einen Antrieb bzw. eine Neigung gefährdete Herrschaft über sich selbst
aufrechterhält und sich wirksam zur Unterlassung desjenigen Tuns bestimmt, zu
welchem es angetrieben bzw. geneigt ist.“ 163
In seinen Vorlesungen von 1914
beobachtet Husserl, dass im Falle der Entscheidung, nach Paris zu reisen, uns das
Bewusstsein nicht diktiert: „ ‚Es wird sein, und demgemäß will ich es’; sondern ‚Weil
ich es will, wird es sein.’ Mit anderen Worten, der Wille spricht sein schöpferisches ‚Es
werde!’“ 164 Diese Beobachtung des schöpferischen fiat intendiert, die paradigmatischen
Merkmale des Willens zu erkennen, aber sie will sich natürlich nicht auf einen
bestimmten Moment fixieren, sondern den dynamischen Charakter berücksichtigen, der
nicht nur den anfänglichen Zeitpunkt, sondern auch jeden Moment der Ausführung des
willentlichen Tuns kennzeichnet.
Wie Pfänder betont Husserl die Wichtigkeit, den Unterschied zwischen Willen und
Begehren oder Wünschen festzustellen, wie er in dem Abschnitt der Ethik-Vorlesungen
aus dem Jahr 1914 zeigt, der dem Thema der Phänomenologie des Willens gewidmet
ist. Die wesentliche Eigenheit des Willensaktes, die ihn vom bloßen Streben abgrenzt,
ist auch bei Husserl dasjenige, was Pfänder „die Möglichkeit der Verwirklichung des
Erstrebten durch eigenes Tun“ 165 nennt: „[N]ur eine praktische Möglichkeit kann [...]
Thema meines Willens sein. Ich kann nichts wollen, was ich nicht bewusstseinsmäßig
vor Augen habe, was nicht in meiner Macht, in meiner Fähigkeit liegt“ 166, während es
sich um ein Wünschen handelt, „wo das Gewünschte nicht im mindesten als praktisch
Realisierbares bewußt ist“ 167. Natürlich wünsche ich, dass fortan Kriege und Armut in
162
Hua XXVII, 24.
Heller, Ernst: Über die Willenshandlung, in: Heller, Ernst; Löw, Friedrich (Hrsg.): Neue Münchener
philosophische Abhandlungen, Leipzig 1933, 255.
164 Hua XXVIII, 107.
165 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 83.
166 Hua IV, 258.
167 Hua XXVIII, 104.
163
50
Wille und Motivation
der Welt beendet werden, aber wollen kann ich es nicht, weil es nicht in meinen Händen
liegt.168 Das betrifft auch viele Tatsachen oder Umstände meines eigenen Lebens, weil
ich eigentlich und vernünftigerweise nur etwas tatsächlich Erzielbares wollen kann:
Wenn jemand, der keinerlei politische Erfahrung hat, plötzlich behaupten würde, dass er
Staatspräsident werden will, würde er unvermeidlich ausgelacht oder für verrückt
gehalten werden. Oder, um ein Beispiel Husserls aufzugreifen, wenn ein Kaufmann
nach Reichtümern strebt, so bleibt dieses Streben ein bloßer Wunsch, es sei denn, es ist
ihm bewusst, dass er einen praktischen Weg einschlagen muss, um dieses Ziel zu
erreichen. 169 Zu diesem Punkt hebt Lotz hervor: „Husserl [...] claims that the difference
between wishing and willing is not dependent on their modalizations, that is to say,
wishing can not be conceived as a modification of a willing act. [...] he mantains that
both wishing and willing have to do with how an object’s possibility is conceived.“ 170
Die Erfahrung zeigt allerdings, dass Wünschen und Wollen oft zusammenfallen, denn,
wie R. Bernet beobachtet, „auch wenn der Wunsch sich nicht selbst befriedigen kann, so
vermag er doch zumindest ein ichliches Wollen und Handeln zu motivieren, das
seinerseits dem Eintreten des gewünschten Zustands oder Vorgangs förderlich sein
kann.“171
Man könnte im Phänomen des Wollens zwei Momente unterscheiden, die in der
Erfahrung dennoch beständig verflochten sind: Das fiat als Eröffnungsmoment des
Wollens und den Handlungswillen, der die Gesamtheit des Willensprozesses und der
Verwirklichung des Gewollten begleitet. Wie bereits betont, stellt das fiat das
168
Löwenstein stellt ein ähnliches Beispiel hin: „Es ist eine tägliche Erfahrung, daß man nur in bezug auf
Gegenstände, die außerhalb des Umkreises leiblich-seelischer und sachlicher Aktionsfähigkeit liegen,
jenes Umkreises, auf den man die Aristotelische Kategorie des ‚Habens‛ anwenden kann, wirklich und
echt zu wünschen vermag. Ich kann wünschen, daß ein Krieg zwischen zwei Völkern, mit deren
Heeresleitung und Regierung ich nicht das geringste zu tun habe, und mit denen ich keinerlei persönliche
Beziehung besitze, die weit außerhalb des Umkreises ‚Mein‛ liegen, bald seine Beendigung
findet“ (Löwenstein, Wunsch und Wünschen, 168).
169 Vgl. Hua XXVIII, 104.
170 Lotz, Action: Phenomenology of Wishing and Willing in Husserl and Heidegger, 128.
171 Bernet, Rudolf: Zur Phänomenologie von Trieb und Lust bei Husserl, in: Lohmar, Dieter; Fonfara,
Dirk (Hrsg.): Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie. Neue Felder der Kooperation:
Cognitive Science, Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und
Religionswissenschaft, Dortrecht 2006, 44.
51
Wille und Motivation
schöpferische Moment schlechthin dar, aber eine solche Eigenheit begleitet alle
Momente der Aktion172: Zum Zeitpunkt des Entschlusses
ist in eins bewußt ein Zukunfthorizont des noch zu Realisierenden [...]. Die Willensthese
geht nicht nur auf das Jetzt mit seinem schöpferischen Anfang, sondern auf die weitere
Zeitstrecke und ihren Gehalt. Mit der schöpferischen Gegenwart eins ist eine schöpferische
Zukunft, die hier in der Handlung in eigentümlicher Originarität als solche konstituiert
ist.173
Geiger verweilt bei diesem Punkt des Begriffs des wollenden Verhaltens, und gibt ein
klares Beispiel: Wenn ich entscheide, einen Brief zu schreiben, dann beginnt „[d]ieser
Tatbestand [...] (wie jedes Wollen) mit einer Willenssetzung“, und zwar „entschließt
[man] sich, den Brief zu schreiben. Aber man entschließt sich nicht andauernd. Dennoch
hört man keineswegs auf zu wollen, wenn der Entschluß gefasst ist: Das Wollen dauert
vielmehr an, bis [...] der Brief geschrieben ist.“ 174
Die Willensentscheidung als Akt der Spontaneität verweist also auf einen zweifachen
Horizont, d.h. einerseits auf den Horizont der zielgerichteten Willenshandlung und
andererseits auf den Horizont einer freien und bleibenden Selbstbestimmung des Ich,
die wie schon bei Pfänder die Möglichkeit eines ethischen Verhaltens begründet. Der
Willensbereich verkörpert schlechthin die ethische Sphäre, weil man von einem
„moralischen Ich“ nur sprechen kann, wenn es als „causa sui seiner Moralität“ 175
verstanden wird. In den Kaizo-Artikeln betont Husserl mit einer schon von Pfänder
vertrauten Formulierung, dass der ethisch strebende Mensch „Subjekt und zugleich
Objekt seines Strebens [ist], das ins Unendliche werdende Werk, dessen Werkmeister er
selbst ist.“ 176 Auch in den Ethik-Vorlesungen aus dem Jahr 1924 stellt er die Frage:
Welche Motivationen spielen hierbei, und welche Rolle spielt insbesondere dieses
wunderbare Phänomen der Selbstbestimmung, in dem das Ich nicht etwa wie sonst einen
172
Mertens bemerkt hierzu: „After the ,fiat’ has creatively initiated the process of acting, the action-will
continuously fulfills itself as volitional action. Husserl explains that actual willing is at every moment
going over to a perpetually new actual willing. In this process he analyzes the continuous transition of
volitional intentions to fulfillments“ (Mertens, Husserl’s phenomenology of will in his reflections in
ethics, 130).
173 Hua XXVIII, 110.
174 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 98.
175 Hua XXXVII, 163.
176 Hua XXVII, 37 (meine Hervorhebung).
52
Wille und Motivation
Akt naiv aus sich entlässt und durch ihn dies oder jenes vernünftig tut, sondern in dem das
Ich sich selbst als Ich, und zwar als von nun ab rein das Gute wollendes Ich, willentlich
setzt und sich eventuell „innerlich“ völlig „erneuert“, oder mindest sich dazu bestimmt, ein
neues werden zu wollen?177
Mein Wollen bestimmt mich und prägt meine Persönlichkeit. Man kann daher sagen,
dass der Ausdruck „ ,ich will’ das oder jenes, nicht bloß [bedeutet]: Ich habe momentan
ein Akterlebnis des Wollens [...], vielmehr liegt im ,Ich will’: Ich setze mir oder setze
mir früher das Ziel und bin nun von daher fortdauernd – bis auf weiteres – der so
Gewillte, der diesen ,Willen’ hat.“ 178 Bereits bei Geiger ist eine ähnliche Betonung zu
finden, wenn er unterstreicht, dass in der Willenssetzung zwei verschiedene Momente
gleichzeitig verflochten sind. Einerseits die Zielsetzung: Wenn mehrere Möglichkeiten
dabei sind, „greife ich das eine heraus [...], versehe es mit dem Stempel des Ziels und
sage zu ihm: Du sollst mein Ziel sein.“ 179 Andererseits „tue ich bei allem Wählen etwas
mit mir: Ich veranlasse mich selbst gerade dies zu wollen und das andere nicht. [...] Ich
veranlasse mich, das eine zu wollen – ich entscheide mich, ich entschließe mich, wie der
bezeichnende Ausdruck lautet.“ 180
Willenssetzung und Selbstbestimmung kommen demnach gleichzeitig vor. Die
Möglichkeit einer solchen beständigen Selbstbestimmung stellt auch bei Husserl das
Grundwesen des menschlichen Lebens dar und zeigt sich in der Fähigkeit, „sein
passives Tun (bewußt getrieben werden) und die es passiv motivierenden
Voraussetzungen (Neigungen, Meinungen) in ihrer Auswirkung zu ‚hemmen‘, sie in
Frage zu stellen, entsprechende Erwägungen zu vollziehen.“181
Alice Pugliese
unterstreicht: „Die Energie des Triebs bestimmt nicht den Willen. Eine Entscheidung
gegen den Trieb ist durchaus möglich“, aber die Entscheidung „erweist sich [...] nicht
als isolierter Akt, sondern als komplexer Prozess, der die Wiederaufnahme und
Überarbeitung innerer Motivationen durch die Vernunft und die Stellungnahme
gegenüber einem vorkonstituierten Boden impliziert.“ 182
177
Hua XXXVII, 162.
Hua XXIX, 364-365.
179 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 96-97.
180 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 97.
181 Hua XXVII, 24.
182 Pugliese, Alice: Triebsphäre und Urkindheit des Ich, in: Husserl Studies 25/2 (2009), 151.
178
53
Wille und Motivation
In diesem Sinn kann nur ein Mensch etwas wollen, etwas beabsichtigen, Ziele
erreichen, sich für Handlungsmodalitäten entscheiden. Dies unterscheidet den
Menschen vom Tier: „Die Biene handelt nicht, die Biene hat keine Zwecke, das
Bienenvolk ist keine Zweckgemeinschaft, es steht nicht in der Einheit eines Lebens, das
menschliches Zweckleben ist.“183 Das Leben des Tieres wird von der Periodizität der
Befriedigung der Instinkte geregelt, „es ist hungernd unzufrieden und gesättigt
zufrieden, sich sättigend auch sich voll befriedigend; könnte es sein Leben überschauen,
das so verlaufende, so könnte es sich nichts Besseres wünschen.“ 184 Wie wir schon
herausgestellt haben, ist das menschliche Leben auch von der instinkthaften Stufe
geprägt, die den Menschen beständig dazu bewegt, seine Befriedigung zu erreichen, wie
im Beispiel des Hungers, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit in unserem Leben
wiederkehrt. Dennoch kann man keinesfalls den instinktiven Bestandteil des
menschlichen Lebens mit dem tierischen Tun vergleichen, da der Mensch grundsätzlich
die Möglichkeit hat, sich selbst frei zu bestimmen und zu prägen. Wie es dann bezüglich
des Themas der Motivation gezeigt wird, ist es die Fähigkeit, einem Trieb willentlich zu
folgen oder ihn zu hemmen. Der Wille umfasst nach Husserl das gesamte Leben des
Ich, sodass er in einem gewissen Sinn die Triebe beherrschen kann, „z.B. beim Atmen
können wir den Rhythmus beschleunigen, verlangsamen oder kurz aufhalten.“ 185 Wie
James R. Mensch betont: „When through self-reflection on our own processes of
positing, humanity becomes self-consciously rational, its instinctual striving also takes
on a new form. It appears as rational choice.“ 186 „Der Mensch kann sein gesamtes
Leben, wenn auch in sehr verschiedener Bestimmtheit und Klarheit, einheitlich
überblicken und es nach Wirklichkeiten und Möglichkeiten universal bewerten.“ 187
183
Hua XV, 181.
Hua XV, 405.
Wieder bestimmt Husserl auf diese Weise die einzigartige Stellung des Menschen gegenüber dem Tier:
„Das Tier ist an die Wirklichkeit gebunden, das ist, es folgt blind, passiv der Motivationskraft der auf es
einstürmenden Affektionen, der Sinnesaffektion, der Neigungen, der Begierden, der passiv sich
auswirkenden realisierenden Tendenzen. Der Mensch ist frei, für ihn geht die Möglichkeit den
Wirklichkeiten vorher. Er beherrscht die Wirklichkeit durch Beherrschung der Möglichkeiten“ (Hua
XXVII, 98).
185 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 235.
186 Mensch: Instincts – A Husserlian Account, 231.
Mensch fügt hinzu: „In less complex organisms, the sexual drive results in a fixed pattern of behavior – a
courtship ritual – leading to mating. In humans, by contrast, its object can assume the most diverse forms
as witnessed by what Freud calls the ‚perversion‛ “ (Mensch: Instincts – A Husserlian Account, 220).
187 Hua XXVII, 26.
184
54
Wille und Motivation
Während das Tier unaufhörlich nach der begrenzten Befriedigung eines bestimmten
Mangels strebt, lebt „der Mensch [...] in der ,Unendlichkeit‘, die sein beständiger
Lebenshorizont ist, er übersteigert die Instinkte, er schafft Werte höherer Stufe und
übersteigert diese Werte.“ 188 Die menschliche Befriedigung ist keine Zufriedenheit, die
regelmäßig zwischen Mangel und Sättigung schwankt, sondern
sie gründet in der Gewißheit größtmöglicher standhaltender Befriedigung im Gesamtleben
überhaupt. Eine vernünftig begründete Zufriedenheit wäre also gelegen in der einsichtigen
Gewißheit, sein ganzes Leben in größtmöglichem Maße in gelingenden Handlungen
vollführen zu können, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Ziele vor Entwertungen
gesichert wären. 189
Der Mensch lebt also einen neuen Modus der Zeitlichkeit, der die Voraussetzung für
die Möglichkeit einer eigentlichen Selbstbestimmung bildet: Nur weil der Mensch in
einer fortschreitenden und unendlichen Entwicklung lebt, kann er einen Lebensweg
durchlaufen und diesen zudem willentlich und frei prägen.190
„Das Ich-Sein ist
beständiges Ich-Werden. Subjekte sind, indem sie sich immerfort entwickeln“ 191, da die
Willensentschlüsse dazu neigen, bleibende Überzeugungen und Dispositionen zu
begründen: Husserl bewertet die „bleibende[n] Gesinnungen in der Persönlichkeit als
habituelle Willensrichtungen.“ 192 Während das Tier im begrenzten Horizont der
Periodizität seiner Instinkte lebt, ist das Menschenleben beständig auf den unendlichen
Horizont als ideales Telos ausgerichtet: „Sein Wesen ist es, aus einem universalen und
absolut festen Willen zu absoluter Vernünftigkeit sich als absolut vernünftiges selbst zu
schaffen, und zwar [...] in einem absoluten ‚Vernunftwerden‛.“ 193
188
Hua XV, 405.
Hua XXVII, 32.
190 Noor beachtet hierzu: „Comportement comme action rationelle humaine, cela veut dire délibérer sur
les possibilités futures d’être et de former des buts constants. Par la transformation de son monde-ambiant
en fonction de ses buts, il constitue un monde-ambiant culturel, à savoir un monde sous l’aspect de
l’esprit. Ce monde est ‚eine Welt der erweiterten Selbsterhaltung‛, érigé contre toutes les formes du
‚destin‛. Le monde ainsi constitué par la prévision rationelle et par la volonté se défend contre des formes
de dissolution. L’animal ne peut pas se comporter, agir au sens propre parce que la volonté et le plan leui
manquent“ (Noor, Ashraf: Individualité et volonté, in: Études phénoménologiques 13-14 (1991), 152).
191 Hua XXXVII, 104.
192 Hua XXXVII, 8.
193 Hua XXVII, 36.
189
55
Wille und Motivation
Nachdem nunmehr deutlich wurde, dass sowohl Pfänder als auch Husserl den Willen
für die wesentliche Fähigkeit des Menschen halten, welcher die Freiheit von der bloß
triebhaften Stufe und die Möglichkeit der Selbstbestimmung umfasst, soll im Folgenden
die zweite Frage behandelt werden, die mit der willentlichen Sphäre notwendig
verbunden ist: Wann kann man eigentlich von Motivation sprechen? Während bislang
eine tiefe Übereinstimmung zwischen Pfänders und Husserls Positionen festzustellen
war, tritt hierbei ein wesentlicher Unterschied zutage, der darauf drängt, die Beziehung
zwischen ihren jeweiligen Bestimmungen des personalen Subjektes zu überdenken.
§ 4 Die Motivation als Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens
Die Frage nach dem Willen verweist sogleich auf die Frage nach der Motivation und
führt zum Verständnis der Zusammenhänge, die im „Reich des Geistes“ 194 wirksam
sind. Husserl stellt fest, dass sich „auf diese Wunsch- oder Willenssetzungen [...] die
Rede von Motivation bzw. die Frage [bezieht]: ,Was bewegt, was bestimmt dich in
deinem Wünschen, in deinem Wollen, Tun?‘“195 Die Antwort auf eine derartige Frage
kann nicht auf einer naturwissenschaftlichen Erklärung basieren, denn „in der naturalen
Einstellung haben wir gewissermaßen Scheuklappen, die uns alles Geistige
abblenden.“196 Erst im Ausgang von einer phänomenologischen Einstellung zeigt sich
der Motivationszusammenhang, da sie die Sinnhaftigkeit unserer Akte und Handlungen
thematisiert: So beobachtet Pfänder bezüglich der Willensakte Folgendes: „Die Frage
nach den Ursachen des Wollens kann zunächst phänomenologisch gemeint sein, d.h. sie
kann erfragen, was im Vollzug eines Willensaktes als Ursache dieses Vollzuges erlebt
wird.“ 197
Aber was heißt genau Motivation? Welche Aktsphären umfasst sie? Die Antworten
auf diese Fragen spielen eine entscheidende Rolle im Rahmen der Phänomenologie
Husserls.
194
Hua XXXVII, 107.
Hua XXXVII, 81.
196 Hua XXXVII, 106.
197 Pfänder, Motive und Motivation, 148.
195
56
Wille und Motivation
4.1 Die Analysen Pfänders zur Motivation
Die Problematik der Motivation ist ohne Zweifel eines der Hauptthemen, welche die
Debatte über die Möglichkeit einer von naturalistischen Kategorien freien Psychologie
und über den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaft gekennzeichnet
haben. Vor Husserl und Pfänder hatten sich schon andere Philosophen wie Georg
Simmel und Wilhelm Dilthey mit diesem Problem beschäftigt. Ohne auf den Kern der
Überlegungen und jeweiligen Auffassungen dieser Philosophen näher einzugehen, ist es
entscheidend festzuhalten, dass die Betrachtungen Husserls und Pfänders über die
Beziehung zwischen Motivation und Kausalität sich im Zusammenhang mit dieser
Debatte stellen. Simmel versucht beispielsweise in Die Probleme der
Geschichtsphilosophie, „die Spaltung zwischen psychologischem und geschichtlichem
Subjekt zu überwinden.“ 198 Simmel erfasst die Schwierigkeit, das Wesen und die
Verhaltensdynamik der geistigen Subjektivität zu verstehen. Er stellt fest, dass es „nicht
nur ein utopisches, sondern direkt fehlgehendes Bemühen [ist], ein geschichtliches
Individuum als den bloßen Treffpunkt allgemeiner psychologischer Gesetze verstehen
zu wollen“, und zwar solcher Gesetze, „die, nur in anderer Kombination, auch irgendein
anderes Individuum ergeben, wie es doch das Verhältnis differenter physikalischer
Erscheinungen sein kann.“ 199
Die Überlegungen Diltheys sind darüber hinaus
insbesondere für Husserl ein wichtiger Anhaltspunkt gewesen: Im zweiten Band der
Ideen führt Husserl aus, dass Dilthey sich im Rahmen der Aufgabe der Klärung der
„Gegensätze zwischen Natur und Geisteswelt, zwischen Naturwissenschaften und
Geisteswissenschaften [...] unvergängliche Verdienste“200 erworben hat. Trotz der von
198
Staiti, Andrea Sebastiano: Geistigkeit, Leben und geschichtliche Welt in der
Transzendentalphänomenologie Husserls, Würzburg 2010, 43.
199 Simmel, Georg: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, in:
Gesamtausgabe – Band IX., Frankfurt a. M. 1997, 234.
200 Hua IV, 172.
57
Wille und Motivation
Husserl herausgestellten Unstimmigkeiten in der Methode Diltheys 201, erkennt er an,
dass dessen Verdienst darin besteht, dass er
sich auch zuerst zu lebendigem Bewußtsein brachte, daß die moderne Psychologie, eine
Naturwissenschaft vom Seelischen, unfähig sei, den konkreten Geisteswissenschaften die
von ihnen gemäß ihrem eigentümlichen Wesen geforderte wissenschaftliche Grundlegung
zu geben. 202
Dilthey arbeitet an einer verstehenden Psychologie203 , die sich von der nach
naturwissenschaftlichem Muster verfahrenden erklärenden Psychologie unterscheidet.
So formuliert er: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“204. Das
geistige Leben kann nicht durch die naturwissenschaftlichen Kategorien erklärt werden.
Im Rahmen der Naturwissenschaften ermöglicht „[d]ie Zählbarkeit und Meßbarkeit
dessen, was sich räumlich erstreckt oder im Raume bewegt, [...] hier die Auffindung
exakter allgemeiner Gesetze“, während
[d]ie Lebenseinheit [...] ein Wirkungszusammenhang [ist], der vor dem der Natur voraus
hat, daß er erlebt wird. [...] Im Erleben bin ich mir selbst als Zusammenhang da. Jede
veränderte Lage bringt eine neue Stellung des ganzen Lebens. [...] Daher herrscht in den
201
Denn Husserl bemerkt: „Dilthey, ein Mann genialer Intuition, aber nicht streng wissenschaftlicher
Theoretisierung, erschaute zwar die zielgebenden Probleme, die Richtungen der zu leistenden Arbeit: aber
zu den entscheidenden Problemformulierungen und methodisch sicheren Lösungen drang er noch nicht
durch, so große Fortschritte er gerade in den Jahren der Altersweisheit darin machte“ (Hua IV, 173).
In seinen Vorlesungen 1925 über die phänomenologische Psychologie vertieft Husserl seine
Anmerkungen über das Werk Diltheys: Wieder erkennt er dessen wichtigen Verdienste, aber gleichzeitig
bemerkt er, dass „[d]ie Zeit [...] zunächst für die Aufnahme solcher Gedanken nicht reif. [...] Zwar wirkte
Dilthey [...] die methodisch unüberbrückbare Eigenart der Naturwissenschaften und
Geisteswissenschaften nachzuweisen und prinzipiell zu charakterisieren. [...] Freilich muß zugestanden
werden, daß die Diltheysche Kritik einer hinreichend prinzipiellen Schärfe ermangelt” (Hua IX, 11).
Zusammenfassend bestätigt Husserl, dass „es bei Dilthey an einer irgend befriedigend Auskunft [fehlt].
Wie soll auf dem Grund bloßer Innenerfahrung bzw. bloßer Veranschaulichung fremden geistigen Lebens
und eines Gemeinschaftslebens eine Deskription mehr leisten können als individuelles Verstehen? Wie
soll sie zu allgemein psychologischen Gesetzen führen können, wie je hinauskommen über vage
empirische Verallgemeinerungen?“. Ein „radikale[r] Mangel der Diltheyschen Idee einer beschreibenden
Psychologie“ wird von Husserl im Wesentlichen nachgewiesen (Hua IX, 13).
202 Hua IV, 173.
203 So erläutert Dilthey seinen Ansatz zur Psychologie: „Aus allen dargelegten Schwierigkeiten kann uns
allein die Ausbildung einer Wissenschaft befreien, welche ich, gegenüber der erklärenden oder
konstruktiven Psychologie, als beschreibende und zergliedernde bezeichnen will. Ich verstehe unter
beschreibender Psychologie die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben
gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang
verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist. Diese Psychologie ist also
Beschreibung und Analysis eines Zusammenhangs, welcher ursprünglich und immer als das Leben selbst
gegeben ist“ (Dilthey, Wilhelm: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in:
Gesammelte Schriften, Band V, Stuttgart 1957, 152).
204 Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, 144.
58
Wille und Motivation
Naturwissenschaften das Gesetz der Veränderungen, in der geistigen Welt die Auffassung
der Individualität. 205
Der direkte Anhaltspunkt für ein tieferes Verstehen des Husserlschen Begriffs der
Motivation liegt jedenfalls noch einmal bei Pfänder und dessen Beitrag zur LippsFestschrift Motive und Motivation. Wie auch Schuhmann hervorhebt, „scheint die
Vermutung gerechtfertigt, daß Husserl mit jenem Motivationsbegriff, der vielleicht ein
phänomenologischer, jedenfalls aber nicht der Grundbegriff von Motivation ist, den von
Pfänder in seinem Artikel dargestellten Motivationsbegriff im Auge hat“ 206. Pfänder
wurde jedoch in das Thema der Motivation zuallererst durch seinen Lehrer Lipps
eingeführt, der „in seinen Veröffentlichungen um die Mitte des ersten Jahrzehnts dieses
Jahrhunderts Kausation und Motivation als zwei völlig verschiedene
Abhängigkeitsbeziehungen“ 207 identifizierte. Er schreibt in seinem Leitfaden der
Psychologie: „Die kausalen Beziehungen stellen den Zusammenhang der erkannten
dinglich realen Welt her; die Motivationsbeziehungen bezeichnen den unmittelbar
erlebten Zusammenhang des Bewußtseinslebens.“ 208 Das bedeutet, er betont er noch
einmal die Notwendigkeit, die Eigentümlichkeit des Bewusstseinslebens nicht mit der
Kausalordnung der Naturdinge zu verwechseln.
Pfänder stellt seine Analysen und Überlegungen zum Begriff der Motivation und
deren Beziehung zur Naturkausalität vollständig im schon zitierten Aufsatz Motive und
Motivation dar. Der Kern seiner Anschauung besteht darin, dass er den Begriff der
Motivation ausschließlich für eine beschränkte Aktklasse verwendet, d.h. nur für die
Willensakte. Er gibt hierfür ein Beispiel und analysiert es ausführlich, um zu
beschreiben, was eigentlich ein Motiv ist: „Ein Mensch betritt einen Raum, nimmt die
darin herrschende Kälte wahr und beschließt auf Grund dieser wahrgenommenen Kälte,
den Raum zu verlassen.“209 Das ist ein eigentlicher Willensakt – aber welche Beziehung
liegt ihm zugrunde? Gerade in dem Grund eines Willensaktes besteht das, was man
205
Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte
Schriften, VII Band, Stuttgart 1958, 159.
206 Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I., 65.
207 Holenstein, Elmar: Phänomenologie der Assoziation, Den Haag 1972, 174.
208 Lipps, Leitfaden der Psychologie, 29.
209 Pfänder, Motive und Motivation, 141.
59
Wille und Motivation
„Motiv“ nennen kann, weshalb die Frage aufgeworfen werden muss, welches die
Grundzüge eines Motivs sind. Pfänder erkennt hier drei Elemente.
Da ist zunächst „die phänomenale Verursachung des geistigen Hinhörens auf
Forderungen.“ 210 Wie wir schon in Bezug auf das Entstehen von Strebungen betont
haben, wirkt ein Gegenstand (in diesem Fall die wahrgenommene Kälte) so zentripetal
auf das Ich, dass „das Ich-Zentrum sich nicht nur aufmerkend und apperzipierend,
sondern auch innerlich oder geistig hinhörend ihr zuwendet“ 211. Das Ich befindet sich in
einer „Fragehaltung“ 212, die aber nicht zwingend explizit werden muss.
Das zweite Element wird von Pfänder als „das Vernehmen der Forderung; ihre
Anerkennung und Billigung“ 213
bezeichnet: Hier zeigt sich „eine erkennende
Anerkennung, nämlich die Erfassung eines ideellen Hinweises auf das, was ich tun
soll.“214 Die wahrgenommene Kälte ist nun der Grund einer Erkenntnis, die keine
„Seins-Erkenntnis“ oder „Wert-Erkenntnis“, sondern eine „Sollens-Erkenntnis“ 215 ist.
Bislang blieb der Vollzug einer Willensentscheidung noch unberücksichtigt. An
dieser Stelle kommt nun das dritte Element ins Spiel und zwar mit dem „Vollzug des
Willensaktes und seine[r] Stützung auf den Grund“ 216: Hier tritt außer der erkennenden
auch die praktische Anerkennung ein, welche im Vollzug des Willensaktes besteht.
Pfänder fasst zusammen:
Erst dann wird die wahrgenommene Kälte wirklich der Grund für den Willensakt, wenn das
Ich sich beim Vollzug dieses Willensaktes auf die fordernde Kälte stützt, wenn es den
Willensakt auf die Forderung gründet und ihn daraus deduziert. Damit erst ist die
Begründungsbeziehung komplett.217
210
Pfänder, Motive und Motivation, 142.
Dieser Ausdruck erinnert an die Beobachtung von Lipps, dass der Motivationszusammenhang „ein
Forderungszusammenhang [ist]. [...] Wie aber das Streben und die Tätigkeit ein Widerhall oder Reflex der
Forderungen im individuellen Bewußtsein ist, so ist jener Motivationszusammenhang der Strebungen und
Tätigkeiten ein Reflex des Forderungszusammenhanges“ (Lipps, Leitfaden der Psychologie, 29).
211 Pfänder, Motive und Motivation, 142.
212 Pfänder, Motive und Motivation, 142.
213 Pfänder, Motive und Motivation, 142.
214 Pfänder, Motive und Motivation, 142-143.
215 Pfänder, Motive und Motivation, 143.
216 Pfänder, Motive und Motivation, 143.
217 Pfänder, Motive und Motivation, 143.
60
Wille und Motivation
Dieses ausführliche Beispiel umfasst alle Faktoren, welche notwendig vorhanden
sein müssen, um angemessen von Motivation sprechen zu dürfen.
Pfänder betont jedoch, dass das Sich-Hinstellen von praktischen Forderungen nicht
mit der Erregung der Strebungen zu verwechseln ist: Natürlich erregt die Kälte das Ich
und sie kann zudem ein Streben erregen, aber die Stellung von Forderungen, welche mit
dem Vollzug eines Willensaktes und seiner Motivation zu tun haben, ist etwas ganz
anderes. Eine solch strenge Unterscheidung ruft wieder in Erinnerung, was in Bezug auf
Pfänders Trennung zwischen Wollen im engeren und im weiteren Sinne – d.h.
Strebungen, Tendenzen usw. – bereits dargelegt wurde. Pfänder bekräftigt, dass man es
mit zwei „verschiedenen Sphären“ 218 des Ich, mit zwei „verschiedenen Partien der
Seele“ 219 zu tun hat, bzw. mit dem „Seelengeist“ und dem „Seelenleib“.220 Das „geistige
Gehör“ 221
begreift den Hinweis des Motivs, ist aber zu unterscheiden vom
Bewegtwerden durch Triebe. „Während z.B. ein Mensch in einem fesselnden Gespräch
begriffen gerade seinem Partner antwortet, erweckt der Anblick einer kleinen Süßigkeit
auf seinem Teller in ihm den Trieb, sie zu essen, er ergreift das Stückchen und verzehrt
es.“ 222 Die wahrgenommene Süßigkeit stellt nach Pfänder in diesem Fall keine
Forderung dar, sondern erregt nur einen Trieb, der kein Motiv der Handlung ist. Ein
Motiv hat ein „ideelles Hinweisen“ 223, welches das Ich „vernimmt“224, weshalb es auf
das Ich keinen bindenden Zwang ausübt.
Noch einmal unterstreicht Pfänder nun die Freitätigkeit der Willenssphäre und drängt
auf eine radikale Unterscheidung zwischen Motivation und „phänomenale[r]
Verursachung“ 225: Während die Verursachung in dem Bewirken von realen Tatsachen
besteht, bestätigt die Motivationsbeziehung die Freiheit des Willensaktes, da „die
Quelle, aus der phänomenal der Vollzug des Willensaktes hervorgeht, [...] immer das
Ich-Zentrum selbst“ 226 ist. Das Motiv regt das Ich an, aber es verursacht keine Handlung
218
Pfänder, Motive und Motivation, 147.
Pfänder, Motive und Motivation, 146.
220 Pfänder, Motive und Motivation, 146.
221 Pfänder, Motive und Motivation, 146.
222 Pfänder, Motive und Motivation, 147.
223 Pfänder, Motive und Motivation, 146.
224 Pfänder, Motive und Motivation, 146.
225 Pfänder, Motive und Motivation, 149.
226 Pfänder, Motive und Motivation, 148.
219
61
Wille und Motivation
oder Entscheidung, weil der „geistige Schlag“ ausschließlich vom Ich-Zentrum
ausgeführt werden kann: „Ohne jene vom Ich-Zentrum selbst ausgehende Stützung des
Willensaktes auf das Motiv ist das mögliche Motiv im gegebenen Falle gar nicht
wirkliches Motiv für diesen Willensakt.“ 227 Obwohl z.B. die wahrgenommene Kälte
zentripetal auf das Ich wirkt, könnte man sich auch dafür entscheiden, den Raum nicht
zu verlassen, weil man zu konzentriert auf die Arbeit ist. Oder aber man entscheidet sich
dafür, das Zimmer aufgrund einer „rein vernünftigen Einsicht“ 228 zu verlassen, einfach
weil man sich bewusst wird, dass dies vernünftig ist und nicht aufgrund von Strebungen
geschieht. Die Willensakte und ihre Motive sind wesentlich frei und gehören dem
geistigen Reich an. Sawicki betont demgemäß in Bezug auf die Analyse Pfänders:
„Motivation is not something that happens to a subject; motivation is rather the subject
´s initiative transforming the in-felt inclination and mobilizing itself for creative
engagement with a world meant as real.“ 229
Willensakte, Strebungen, Tendenzen sind aber, wie bereits festgestellt wurde,
beständig miteinander verflochten und gleichzeitig im Leben des Ich präsent. Es ergibt
sich hier wieder die Frage nach der Komplexität des Phänomens des Wollens und seiner
Modalisierungen und seinen Nuancen. Die Anschauung Pfänders erweist sich noch
einmal als problematisch. Nachdem sie die drei Pfänderschen Bedingungen der
Motivation zurückverfolgt hat, bemerkt dazu Edith Stein kritisch, dass
[seine] Schilderung [...] nicht nur für den Willensakt im eigentlichen Sinne zutrifft, sondern
auch für alle anderen willentlichen Akte. [...] Dann ist aber auch die Motivation in dem
prägnanten Sinne, den Pfänder im Auge hat, nicht auf den eigentlichen Willensakt
einzuschränken, sondern auf die ganze Sphäre der willentlichen Akte auszudehnen.230
Wie es schon in den Überlegungen Husserls und Geigers zum Ausdruck kam, kann
man von willentlichen Akten sprechen, auch wenn „eine erkennende Anerkennung und
227
Pfänder, Motive und Motivation, 149.
Pfänder, Motive und Motivation, 146.
229 Sawicki, Body, Text and Science. The literacy of investigative practices and the phenomenology of
Edith Stein, 23.
230 Stein, Edith: Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaft,
53. Sie schlägt das Beispiel des Aktes der Verzeihung vor, der eigentlich ein geistiger Willensakt ist, auch
wenn der Wille zu verzeihen nicht aus der Forderung hervorgeht
228
62
Wille und Motivation
Billigung des ideellen Hinweises auf das, was ich tun soll“231, fehlt. Die gleiche Enge,
die bei Pfänder im Begriff des Willens liegt, findet sich auch in seinem Begriff der
Motivation, sodass sich neue Fragen stellen: Welches Kausalverhältnis ist in jenem
Bereich der Seele wirksam, den Pfänder „Seelenleib“ nennt? Wie beeinflussen Triebe
und Tendenzen die Handlungen des Ich und sein geistiges Leben?
Pfänder schreibt hierzu: „Das Erregen widerfährt dem Ich, sie berührt oder ergreift
das Ich. Und die erregten Strebungen erleidet das Ich wie einen Naturzwang.“232 Er
erkennt an, dass unsere Willensentscheidungen oft von Strebungen beeinflusst sind,
wenn ich beispielsweise zugeben muss: „Die Blumen waren gar nicht so schön, ich
habe mich nur durch ein heftiges Verlangen nach ihnen verführen lassen, sie zu
kaufen.“ 233 Die Schönheit der Blumen erregt ein Streben, welches mich zwar verführen
oder verleiten, nicht aber meine Willensentscheidung motivieren kann, weil das Wollen
immer voraussetzt, dass das Ich selbst „der Täter [ist], der den Willensakt vollzieht.“ 234
Zusammenfassend kann man feststellen, dass das Beeinflusstsein durch die Blumen für
Pfänder nicht in einem Motivationszusammenhang besteht, da er die
Motivationsbeziehung einem engeren Bereich von Akten als „besondere[m] Spezialfall
des Kausalverhältnisses“ zuordnet, d.h. denjenigen Willensakten, welche die
grundsätzliche Freiheit und Möglichkeit der Selbstbestimmung besitzen. Die passive
und dunkle Seite des Begehrens, der Tendenzen und der Triebe wäre dagegen ein Reich
von bloßen Strebungen, die das Ich-Zentrum wie Naturzwänge versuchen zu bewegen
oder zu beeinflussen.
Hat jedoch eine solche Position, welche die Freitätigkeit des Ich im Vergleich zur
mechanischen Kausalität der naturellen Welt hervorheben will, nicht eine dualistische
Auffassung des Ich zur Kehrseite? Die strenge Unterscheidung von zwei verschiedenen
231
Vgl. Pfänder, Motive und Motivation, 142-143.
Pfänder, Motive und Motivation, 146.
Geiger beschreibt durch ähnliche Ausdrücke die wesentliche Unterscheidung zwischen Willenssetzung
und Begehren oder Trieben: „Das Ich muss sich sein Ziel selbst setzen; es muss sich selbst zum Wollen
bestimmen, es darf kein bloßes Hindrängen nach dem Ziel sein, kein bloßes Angezogenwerden von dem
Ziel, kein bloßes Richtungsbestimmtsein durch das Ziel.“ (Geiger, Fragment über den Begriff des
Unbewussten und die psychische Realität, 107).
233 Pfänder, Motive und Motivation, 140.
234 Pfänder, Motive und Motivation, 140.
232
63
Wille und Motivation
„Partien der Seele“235 bestätigt in der Tat die gleichzeitige Anwesenheit von zwei
kausalen Ordnungen im Subjekt: Einerseits die freien Motivationsbeziehungen,
andererseits den Zwang der Strebungen, die gleichsam als bloßes Naturgeschehen
aufgefasst werden. Auf diesem Weg gelangen wir zu Husserls Auffassung des Begriffs
der Motivation, der, wie nun dargelegt werden soll, grundverschieden von demjenigen
Pfänders ist.
4.2 Die Motivation bei Husserl
Das Ziel, welches Husserls Darstellung der Motivation leitet, ist dasselbe wie bei
Pfänder, nämlich die eigentümlichen in der geistigen Welt geltenden Zusammenhänge
zu erkennen und somit die Subjektivität von den Kategorien der Naturkausalität zu
befreien. Der Geist erweist sich als jene Schicht der Subjektivität, die von der
Naturkausalität losgelöst ist: Er ist ein eigenes, in sich geschlossenes Reich und deshalb
ein Faktor, der nicht auf die Natur oder auf die psychophysische Seite zu reduzieren ist.
Wie schon ausführlich gezeigt worden ist, hatte Pfänder sich bereits bemüht, den
radikalen Unterschied zwischen Naturkausalität und Motivationskausalität
herauszustellen. Bei ihm stellen die Willensakte lediglich die psychischen Tatbestände
dar, die nicht verursacht, sondern motiviert werden, während alle anderen psychischen
Phänomene – Strebungen, Triebe, Empfindungen usw. – nach Naturzwängen ablaufen.
Im Grunde entspricht Pfänders Gebrauch des Terminus’ „Motivation“ seiner alltäglichen
Bedeutung: Wenn man hier von einem „Motiv“ im Allgemeinen spricht, bezieht man
sich auf den mehr oder weniger bewussten Grund, der eine willentliche Handlung stützt,
wie es auch Husserl selbst anerkennt, wenn er feststellt, dass die „Motivation in der
Sphäre der Stellungnahmen, [...] sprachüblich freilich allein Motivation heißt“236.
Husserl führt dagegen eine ungewöhnliche und außerordentliche Bedeutung des
Terminus „Motivation“ ein. Reiner bemerkt diesbezüglich in seiner schon zitierten
Dissertation, „daß unsere (von Husserl eingeführte) Redeweise von Motivation
gegenüber der sonst üblichen eine erweiterte ist. Im Sinne des sonstigen, engeren
235
236
Pfänder, Motive und Motivation, 146.
Hua IV, 224.
64
Wille und Motivation
Sprachgebrauchs [...] motivierend [...] wäre der dem Ausführenden vorschwebende
Zweck der Tätigkeit“ 237. Gerade die Bedeutung und die Auswirkungen dieser von
Husserl vorgenommen Erweiterung werden nun stufenweise berücksichtigt.
Die Motivation ist nach Husserl das „Grundgesetz der geistigen Welt“ 238, des nicht
einschränkbaren „Zusammenhang[es] des ,Warum und Weil‘ “239, der zur Geistigkeit
gehört: „Für geistige Kausalität sagten wir Motivation, das war also der allgemeine
Ausdruck für die Art, wie geistige Tatsachen auftreten ,auf Grund’ anderer Tatsachen
oder ,weil‘ diese aufgetreten sind.“ 240
Die Verleugnung der spezifischen
Zusammenhänge, die innerhalb des geistigen Lebens wirken, führt zu einem
Missverständnis des Wesens der Subjektivität, wie Husserl betont: „Das naturalistische
Vorurteil, das das Seelenleben in ein Getriebe psychischer Atome unter einer sinnlosen
Naturkausalität interpretiert, beseitigt das Ich, das der identische Brennpunkt aller
Aktionen und Affektionen ist, das Ich des ,Ich kann‘.“ 241 Das Verhalten und das Leben
des Ich lassen sich nicht auf die Dynamik der Beziehung zwischen Ursache und
Wirkung zurückführen, die zwischen realen Ereignissen besteht und die in den
Naturwissenschaften in Form von Naturgesetzen ausgedrückt wird, weil „das ,Weil-So‘
der Motivation [...] einen ganz anderen Sinn [hat] als Kausation im Sinne der Natur.“ 242
Der Alltag ist erfüllt von Gelegenheiten, die „das Weil der Motivation“ 243 zeigen und
die deutlich die Widersprüchlichkeit der Aberkennung der Unterscheidung mit einer
mechanischen Kausalität beweisen, wie etwa wenn
ich vermute, es sei A, weil ich weiß, daß B,C ... ist. Ich höre, es sei ein Löwe ausgebrochen,
und weiß, daß ein Löwe ein blutgieriges Tier ist, daher fürchte ich mich, auf die Straße zu
gehen. Der Diener begegnet dem Herrn, und weil er ihn als seinen Herrn erkennt, grüßt er
ihn mit Ehrerbietung. Wir notieren uns auf dem Merkblatt, was wir für morgen vorhaben:
das Bewußtsein des Vorhabens in Verbindung mit dem Wissen von unserer Vergeßlichkeit
motiviert das Notieren. 244
237
Reiner, Freiheit, Wollen und Aktivität, 25.
Hua IV, 211.
239 Hua XXXVII, 109.
240 Hua XXXVII, 109.
241 Hua XXXVII, 185.
242 Hua IV, 229.
243 Hua IV, 230.
244 Hua IV, 230.
238
65
Wille und Motivation
Es wäre offensichtlich falsch, solche Tatsachen durch die regelmäßige
Naturgesetzmäßigkeit, die durch Induktion vom Naturwissenschaftler herausgearbeitet
wird, zu erklären, weil das geistige Leben offenkundig eine neue Art des
Zusammenhangs besitzt.
Jedenfalls gilt es, die Frage zu stellen: Sind Natur und Geist zwei verschiedene
Sphären, die durch eine bestimmte Grenze getrennt und zwei verschiedenen
Kausalordnungen unterworfen sind? Oder – mit den Worten Rangs – „[h]andelt es sich
um zwei Begriffe von bregrenzter Reichweite, so daß der Geltungsbereich der
Kausalität dort endet, wo der der Motivation beginnt?“ 245 Um diese Frage zu
beantworten, muss man hervorheben, dass Husserl nicht etwa die Gültigkeit und die
Berechtigung einer naturwissenschaftlichen Psychologie absolut leugnen will, wie er
deutlich betont:
In gewisser Begrenzung hat also eine naturalistische Psychologie recht: eine Psychologie,
welche das Seelische in dem Sinn als eine zweite erweiterte Natur, dass sie es in die
durchgängige Einheit kausaler Zusammenhänge einbezieht, die nicht nur die physische
Natur in sich einigen, sondern mit ihr Psychisches kausal vereinigen.246
Das Psychische kann tatsächlich als Natur hinterfragt und untersucht, seine
Verbindugenen können als Kausalverbindungen angesehen werden, wie z.B. die
Untersuchungen der Hirntätigkeit oder des Nervensystems zeigen. Es ist vollkommen
rechtmäßig, im Fall irgendeiner Gelegenheit, etwa bei forensischen Fragestellungen,
nach den Verhältnissen zwischen der jeweiligen Absicht und dem entsprechenden
Hirnzustand zu fragen. Dennoch irreführend und phänomenologisch unbegründet ist der
Anspruch, dass die kausale Erklärung des Hirnzustandes das Wesen des Geistes
begreifen oder auf die Quelle der geistigen Phänomene zurückgehen könnte. Der
Hirnzustand kann nie das „Weil” der geistigen Motivation ersetzen, weil die Motivation
einem unreduzierbaren und nicht auf die Prinzipien der Naturkausalität rückführbaren
Reich angehört. Wie Holenstein feststellt, sind „[d]ie Umstände [...] bei der Motivation
nicht mehr ‚physische Umstände‛, sondern ‚noematische Umstände‛. Beziehungspole
245
246
Rang, Bernhard: Kausalität und Motivation, Den Haag 1973, 115.
Hua XXXVII, 305.
66
Wille und Motivation
sind nicht Seele und reales Ding, sondern Subjekt und Dingnoema, nicht Psychisches
und Physisches, sondern Ich und Umwelt.“ 247 Diesbezüglich erklärt Husserl durch ein
Beispiel im zweiten Band der Ideen, dass
[f]reilich [...] das Geschehen der mechanischen Bewegung meiner Hand und ihre
mechanische Wirkung auf die „gestoßene“ Kugel ein physisch-realer Vorgang. Ebenso ist
das Objekt „dieser Mensch”, „dieses Tier“ nach seiner „Seele“ an diesem Geschehen
beteiligt und sein „ich bewege die Hand, den Fuß“ ist ein psychophysisch verflochtener
Vorgang, der im Zusammenhang der psychophysischen Realität real- kausal zu erklären ist.
Aber hier liegt nicht dieser reale psychophysiche Vorgang vor, sondern das intentionale
Verhältnis: Ich, das Subjekt, bewege die Hand, und was das in der subjektiven
Betrachtungsweise ist, das schließt allen Rekurs auf die Gehirnprozesse, Nervenprozesse
etc. aus [...]. Das bewußtseinsmäßig so und so erscheinende Leibesglied Hand ist als
solches Substrat des „ich bewege“, ist Objekt für das Subjekt und sozusagen Thema seiner
Freiheit, seines freien Tuns.248
Das bedeutet jedoch keineswegs, dass nur die Naturkausalität, aber nicht die
Motivation mit der Kategorie der Kausalität zu tun hat. Diesbezüglich hebt Staiti
scharfsinnig hervor, dass „vielmehr von Naturkausalität und Motivationskausalität die
Rede sein [muss], also muss der scheinbare Gegensatz ‚Kausalität und Motivation‛
durch das begrifflich-terminologisch korrektere Paar ‚Naturkausalität und
Motivationskausalität’ ersetzt werden.“249
Dieser Hinweis ist nicht bloß an
terminologischen Sachverhalten interessiert, sondern klärt darüber auf, dass die
Motivation einer Ordnung von Bedingungen und Zusammenhängen zugehört, die von
innerer Konsistenz und Strenge geprägt ist, auch wenn sie nicht mathematisch oder
mechanisch verfasst ist wie die der Naturkausalität.
Wie es bereits deutlich geworden ist, schlägt Husserl einen Begriff der Motivation
vor, der weitaus umfassender als der herkömmliche ist. Um die tiefe Bedeutung der von
Husserl herausgearbeiteten Erweiterung des Begriffs der Motivation zu verstehen, kann
man zwei Richtungen unterscheiden und verfolgen.
247
Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 185.
Hua IV, 217-218.
249 Staiti, Geistigkeit, Leben und geschichtliche Welt in der Transzendentalphänomenologie Husserls,
122-123.
248
67
Wille und Motivation
4.2.1 Motivation als Sinneszusammenhang der Erfahrung
Diese erste Richtung der Erweiterung ist ohne Zweifel die gründlichere und weitere:
Sie umfasst nicht nur die bestimmte Gattung der praktischen Akte, sondern das Wesen
des Bewusstseins und der Erfahrung selbst und begründet die Voraussetzung für die
Einbeziehung der von Pfänder vom Umfang der Motivation ausgeschlossenen
Dimensionen des praktischen Lebens, worauf später noch ausführlicher eingegangen
wird.
Husserl selbst erklärt ausdrücklich in einer Fußnote der Ideen I, „dass dieser
phänomenologische Grundbegriff der Motivation [...] eine Verallgemeinerung
desjenigen Begriffes der Motivation ist, demgemäß wir z.B. vom Wollen des Zweckes
sagen können, dass es das Wollen der Mittel motiviere“. Er fügt hinzu, dass „der Begriff
der Motivation aus wesentlichen Gründen verschiedene Wendungen [erfährt], die
zugehörigen Äquivokationen werden ungefährlich und erscheinen sogar als notwendig,
sowie die phänomenologischen Sachlagen geklärt sind.“ 250 Bei Husserl geht daher die
Motivation über die praktische Sphäre, d.h. über die Strebenssphäre, hinaus und umfasst
sowohl das Wollen, das Begehren, das Wünschen als auch das Tun und die
Handlungsfähigkeit und geht so weit, dass sie alle verschiedenen Klassen von
seelischen Akten beinhaltet. Diesbezüglich klärt Husserl auf:
Übrigens müssen es nicht immer Akte derselben Art sein; wie hier z.B. auch gesagt werden
kann: „Ich will dahin reisen, weil ich eingesehen habe, dass ich jetzt ausspannen muss“.
Das Einsehen ist ja kein Wollen, sondern ein Erkennen. Das zwischen setzenden Ichakten
obwaltende Verhältnis des Bestimmtseins, Motiviertseins, ausgesprochen in der an das
Aktsubjekt adressierten Redeform Warum und Weil, ist etwas zu allen Arten von Akten
allgemein Gehöriges. 251
250
Hua III/1, 101.
Holenstein erläutert hierzu: „Die Ausweitung des Motivationsbegriffs über die Sphäre der Gemüts- und
Willensphänomene auf den gesamten Bereich des Bewusstseins scheint auf den ersten Blick zu einer
bedenklichen, wesentliche Differenzen verwischenden Gleichschaltung der verschiedenen
Bewusstseinsgegebenheiten zu führen. Eine nähere Betrachtung erweist die Verallgemeinerung jedoch als
wohlbegründet und nicht sonderlich gefahrvoll. Durch ihre durchgehend intentionale Gegebenheit und
Struktur heben sich alle Bewusstseinszusammenhänge von den psychischen Kausalbeziehungen
ab“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 187).
251 Hua XXXVII, 81.
68
Wille und Motivation
Wird z.B. ein Wahrnehmungsakt vollzogen, so handelt es sich dabei auch um
Motivationszusammenhänge, weil dies ein intentionaler Akt ist, der eine Erfahrbarkeit
voraussetzt, und eine solche „Erfahrbarkeit besagt nie eine leere logische Möglichkeit,
sondern eine im Erfahrungszusammenhange motivierte. Dieser selbst ist durch und
durch ein Zusammenhang der ,Motivation‘, immer neue Motivationen aufnehmend und
schon gebildete umbildend“ 252. Wahrnehmungen sind Motivationsverläufe, und zwar
„‚Konditionalitäten‛, ein ‚Weil‛ und ‚So‛ nach verschiedenen Richtungen zu
explizieren: wenn ich die Augen so wende, [...] so muß ich das und das sehen etc. Das
steht als Einheit eines Dinges mit den und den Teilen da, die Gegebenheitsweise eines
Teils stützt die des anderen.“ 253 Daher kann man von Motivation in Bezug auf das
Wahrnehmungssystem sprechen, weil es ein in Sinnesverbindungen bestehendes System
von Erwartungen, Verläufen und Erfüllungen ist.254 Dasselbe gilt für die Urteilsakte:
„Ich erteile dem Schlußsatz meine Thesis, weil ich so und so in den Prämissen geurteilt,
ihnen meine Thesis gegeben habe.“ 255 Ohne solche Sinnesverbindungen gäbe es keine
logische Folgerichtigkeit und es könnten keine Rückschlüsse gezogen werden.
Man könnte dasselbe hinsichtlich aller Akte des Ich feststellen. Kurz gesagt, die
Motivation ergibt sich als die Struktur des „Reich[es] der Erfahrung“, und zwar als „das
unendliche Feld von Motivationen“ 256. Husserl macht diesen Punkt folgendermaßen
deutlich:
D i e A u ff a s s u n g e n v o n D i n g e n u n d d i n g l i c h e n Z u s a m m e n h ä n g e n s i n d
„Motivationsgeflechte“: sie bauen sich durchaus auf aus intentionalen Strahlen, die mit
252
Hua III/1, 101.
Hua IV, 226.
254 „Wenn ich jetzt eine Erfahrung habe, diesen Tisch da selbst wahrnehme, so liegt im Modus dieser
Selbsthabe als seiend beschlossen eine Unendlichkeit von Möglichkeiten des ‚Ich kann erfahrend
fortgehen, oder nicht fortgehen, umschauen, betasten etc.‛, und denke ich mir in Klarheit diese
subjektiven Möglichkeiten verwirklicht, so gewinne ich korrelativ als Voraussichten mögliche
Erfahrungen, mögliche Erscheinungen desselben Dinges. [...] Es ist eine Selbsterfassung, nicht des
Künftigen schlechthin, wie sie in der verwirklichenden Gegenwart statthat, sondern des Künftigen als des
‚Kommenden‛ ; es ist ein Modales, eine Abwandlung der Selbsthabe eines Gegenwärtigen, ein Werden im
Modus des ‚kommend‛ gegeben, und so, daß es immer auch ‚denkbar‛ ist, daß trotzdem anderes kommt,
gegen die Evidenz der Voraussicht. Die möglichen Erscheinungen, die in der Intentionalität der jetzigen
Erfahrung impliziert sind, schließen apodiktisch andere Mög1ichkeiten aus – aber Möglichkeiten dieses
Typus der Voraussicht“ (Hua VIII, 405).
255 Hua IV, 221.
256 Hua IV, 224.
253
69
Wille und Motivation
ihrem Sinnes- und Füllegehalte hinweisen und zurückweisen, und sie lassen sich
explizieren, indem das vollziehende Subjekt in diese Zusammenhänge eintritt.257
Tatsächlich kann man von Erfahrung sprechen, wenn beständige Sinnesverbindungen
zwischen Bestandteilen oder Daten sowohl der noetischen als auch der noematischen
Seite258
bestehen. „So beruhe alle dingliche Apperzeption [...] auf assoziativen
Motivationen. [...A]ber wie weit das denkbar wäre, wie weit auch nur die Einheit eines
Bewußtseinsstroms ohne jede Motivation eben Einheit sein könnte – das ist die
Frage.“259 Nur das motivationale Wesen der Erfahrung kann über die beständig
verflochtenen Erwartungsreihen und Erwartunghorizonte Rechenschaft geben.
Hier drängt sich nun eine prinzipielle Frage auf: Wenn die Erfahrung ein
Motivationssystem ist, in dem eine beständige Zusammengehörigkeit des „Infolge“
besteht, existiert vielleicht eine totale Vorhersehbarkeit oder „Voraussicht“ der künftigen
Vorkommnisse und des Erfahrungsverlaufs, vergleichbar mit der Abfolge von
Naturereignissen? Im zweiten Band der Ideen deutet Husserl kurz solche
weitreichenden Fragen an, wenn er konkreter formuliert: „Wenn wir sagen, daß jedes
Akterlebnis motiviert ist, in Motivationsverflechtungen stehe, so soll darin nicht liegen,
daß jedes Vermeinen ein Vermeinen ‚infolge‛ ist.“260 Er stellt einige Beispiele vor:
„Wenn ich am Nachthimmel eine Sternschnuppe aufleuchten sehe oder ganz
unvermittelt einen Peitschenknall höre [...]“ 261, dann geschehen diese Ereignisse
257
Hua IV, 224-225.
„Wir können nun die noetischen Erlebnisse betrachten nach ihren Verhältnissen der Motivation, des
Zusammengehörigkeitszusammenhang, wonach Fortgang von Setzung zu Setzung, d.h. Setzung ‚infolge‛
auftritt in diesem eigentümlichen Charakter. Oder wir betrachten die thetischen Korrelate, die Themata, in
ihrer noematischen Zusammengehörigkeit, wobei wieder auf dieser Seite das korrelative ‚Infolge‛
auftritt“ (Hua IV, 227).
259 Hua IV, 226.
Auf diese Weise beobachtet Husserl die Möglichkeitsverbindungen der Erfahrung: „Die
Erfahrungsmöglichkeit besagt nicht eine bloße Phantasievorstellbarkeit; sondern besagt, ich kann
hingehen, ich kann dabei, vom leiblichen Hier aus und dem aktuell Erfahrenen meiner Nahumgebung aus,
wahrnehmend, mit den Augen sehend, mit den Fingern tastend etc. fortschreiten, und dann werde ich
voraussichtlich, aber im ganzen in Gewißheit, zu den betreffenden Erfahrungen kommen — von einiger
Unbestimmtheit aller Voraussicht abgesehen, die aber, wie wieder gewiß und in Konsequenz zweifellos
ist, sich dabei näher ausmalen wird. Erfahrung ist also das, worauf sich die Intention, die da objektive
Meinung heißt, bezieht. In der wirklichen Erfahrung liegt letzte ‚Bestätigung‛, Begründung, und alle
Mittelbarkeit liegt hinsichtlich der Erfahrungsmöglichkeiten — als glaubensmäßigen Antizipationen
herzustellender Erfahrungen — gegründet in der Unmittelbarkeit wirklicher Erfahrung, deren Inhalt die
nächste Umgebung ist“ (Hua VIII, 403).
260 Hua IV, 227.
261 Hua IV, 227.
258
70
Wille und Motivation
plötzlich und unerwartet, weshalb sie keine bloßen aus bestimmten Prämissen
abgeleiteten Folgen sind. Der Erfahrungsinhalt besitzt den Grundzug der
Unvorhersehbarkeit und des reinen Geschehens, die jede beliebige Voraussicht
übersteigen.262 Das steht dennoch in keinem Widerspruch zu der Behauptung von der
Motivationsstruktur der Erfahrung: Motivation bedeutet eben nicht Vorhersehbarkeit
oder innere Folgerichtigkeit, als ob die Erfahrung ein abgeschlossener Kreis wäre,
sondern das, was Husserl „das Wunderbare“ nennt, d.h. „[d]ie apriorische
Gesetzmäßigkeit der Genesis, der Rückweisung jeder gegenwärtigen
Erfahrungsmotivation auf vergangenes Bewusstsein, auf das es als Seinsursprung
bezogen ist, hängt zusammen mit Vernunft.“ 263
Das impliziert, dass „sich das
Bewusstseinsleben nicht chaotisch entfaltet, sondern dass es auf die Konstitution der
Gegenständlichkeit abzielt, je nach teleologischen oder vernünftigen Gesetzen.“ 264
Husserl beachtet nämlich, dass auch in den obengenannten Beispielen von
Sternschnuppe und Peitschenknall „eine Art der Motivation aufzuweisen [ist], die in der
Form des inneren Zeitbewußtseins beschlossen ist“, und zwar „die subjektive Form des
Jetzt, Früher etc. Ich kann daran nichts ändern.“ 265 Was er damit hervorhebt, ist die
Motivation „als der Grund des zeitlichen ‚Übergangs‛ von einem zeitlich Früheren zu
einem zeitlich Späteren.“266
Nur aus dieser Perspektive, d.h. wenn die
Motivationsgesetzlichkeit keine strenge Folgerichtigkeit, sondern „eine Form
262
Husserl fügt dazu an: „[K]ann ich mich nicht in Motivationslagen hineindenken, in denen ich noch nie
war, wie ich sie gleich und ähnlich noch nie erfahren hatte? Und kann ich nicht sehen, im Quasi-Sehen
herausfinden, wie ich mich verhalten würde, obwohl ich mich anders verhalten könnte, nämlich obschon
es denkbar wäre, daß ich anders entschiede, klar vorstellbar, während ich doch als dieses persönliche Ich
es nicht könnte? Das ist der entscheidende Punkt. [...I]ch bin nicht ein Ding, das unter gleichen
Umständen gleich reagiert; wobei mir selbstverständlich ist, daß Dinge prinzipiell unter gleichen kausalen
Umständen als dieselben wirken können. Früher wurde ich so motiviert, jetzt anders, und zwar eben
darum, weil ich inzwischen ein anderer geworden bin“ (Hua IV, 266).
De Almeida stellt dazu fest: „Die Faktizität des Sinnes, d.h. zunächst einmal die Unmöglichkeit, seinen
Ursprung für gerade diesen Inhalt verständlich zu machen, bedeutet, daß wir den Sinn (genau wie den
bloß impressionalen Inhalt) nur als ein faktisches Vorkommnis im Bewußtsein feststellen können. [...] Es
ist aber interessant zu bemerken, daß Husserl die Idee einer Ableitung der Auffassungssinne aus dem
apperzepierenden Ich ablehnt, weil er darin eine Psychologisierung der Bewußtseinsstrukturen sieht“ (De
Almeida, Guido Antonio: Sinn und Inhalt in der genetischen Phänomenologie E. Husserls, Den Haag
1972, 20-21).
263 Hua XIII, 357.
264 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 159.
265 Hua IV, 227.
266 Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 53-54.
71
Wille und Motivation
allverknüpfender und in jeder Einzelheit insonderheit waltender Motivation“ 267 ist, kann
Husserl formulieren, dass „auch die durchgehende Einheit des Bewußtseinsstromes eine
Einheit der Motivation sei.“ 268
Die Husserlsche Anwendung des Terminus „Motivation“ erscheint in der Tat äußerst
ungewöhnlich. Es bleibt daher die Frage bestehen: Was setzt die Erweiterung des
Begriffs der Motivation auf alle Arten von Akten voraus? Welches ist die Bedingung
einer solchen Erweiterung, die der intuitiven Bedeutung des Terminus „Motivation“ zu
widersprechen scheint? Eine zentrale Antwort auf diese Fragen, die gleichzeitig die
bisher erreichten Ergebnisse bestätigt, findet sich in der folgenden Passage aus den
Ethik-Vorlesungen:
Ein Geistiges in dieser Art auf seinen „Ursprung“ zurückführen, es im Zusammenhang der
Motivation durch Auseinanderlegung der wirklich maßgebenden Motivationen erklären,
das heißt, das geistige Werden „verständlich“ machen, und ebenso schließlich das
Gewordene selbst mit dem es konstituierenden geistigen Gehalt. Verständlich! Das hat hier
die eigentliche und spezifische Bedeutung. Hier ist jeder Schritt von Einsicht begleitet. [...]
Hier rekurrieren wir nicht auf eine ichfremde, in ihrem An-sich-Sein mechanisch abrollende
Natur und ihre „Naturgesetze“. 269
Die Motivation ist nun die Gesetzlichkeit des ganzen Reiches des Geistes als des
ganzen Reiches der Erfahrung, weil die Ich-Erfahrung der Bereich der Verständlichkeit
ist: Jeder Akt kann in Bezug auf seinen Sinn befragt und die Sinneszusammenhänge als
motivational bezeichnet werden, weil sie eine Weil-Ordnung darstellen, in der von
induktiven Naturgesetzen keine Rede ist. Wie Rang hervorhebt, „spricht Husserl von
‚Motivation‛ auch noch dort, wo es sich nicht mehr um das Problem des Willens
handelt“, weil „[i]m Vordergrund von Husserls Interesse [...] vielmehr die Frage nach
einem phänomenologischen Begriff für die Verweisungsstrukturen der
267
Hua I, 109.
Husserl beachtet ausführlicher in den Cartesianischen Meditationen: „Also schon diese allgemeinste
Form aller Sonderformen von konkreten Erlebnissen und den in ihrem Strömen selbst strömend
konstituierten Gebilden ist eine Form allverknüpfender und in jeder Einzelheit insonderheit waltender
Motivation, die wir auch mit ansprechen können als eine formale Gesetzmäßigkeit einer universalen
Genesis, der gemäß sich immer wieder in einer gewissen noetisch-noematischen Formstruktur strömender
Gegebenheitsweisen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins konstituieren“ (Hua I, 109).
268 Hua IV, 228.
269 Hua XXXVII, 107.
72
Wille und Motivation
horizontintentional geregelten Erfahrung [steht]. Motivation meint bei Husserl [...] den
Zusammenhang der Dinge selbst, sofern die ihrem Seinssinn nach auf ein erfahrendes
Subjekt bezogen sind.“ 270
Eine andere wichtige Implikation dieser Erweiterung des Begriffs der Motivation ist
eine neue Konzeption der Natur des Ich. Wenn das ganze ichliche Leben eine
motivationale Verweisungsstruktur ist, dann werden das Ich und seine Erfahrung
beständig von praktischen Möglichkeiten und Vermögen begleitet, weil die
Motivationsverbindungen keinen Zwang, sondern offene Sinnzusammenhänge
darstellen. Die Ich-Erfahrung – mit den Worten Husserls – bringt mit sich „die
‚Möglichkeit‛ weiterer Erfahrung. [...] All mein Erfahren hat einen Horizont freien
möglichen Tuns und – korrelativ – praktisch möglicher und im Falle der ungehemmten
Freiheit kommender Erscheinungen.“271 Husserl formuliert das deutlich mit dem
Ausdruck „Ich kann“. Er betont mehrfach, dass „[d]as Ich als Einheit [...] ein System
der ‚Ich kann‛ “ 272 oder „ein Organismus von Vermögen“ 273 ist, weil „[d]as Subjekt [...]
vielerlei [‚kann‛] und [...] gemäß seinem Können durch Reize, durch aktuelle Motive
zum Tun bestimmt [wird]; es ist immer wieder tätig gemäß seinen Vermögen und
wandelt, bereichert, stärkt oder schwächt sie immer wieder durch sein Tun.“274 Diese
Dimension der Möglichkeit umfasst alle Sphären des subjektiven Lebens, es handelt
sich nicht nur um die praktische Möglichkeit, sondern auch um die logische
Möglichkeit und die Möglichkeit einer Neutralitätsmodifikation, die jede Gattung von
Akten kennzeichnet. Wie Husserl z.B. bezüglich der Leistungen der Phantasie bemerkt,
270
Rang, Kausalität und Motivation, 99.
Hua VIII, 401.
272 Hua IV, 253.
273 Hua IV, 254.
274 Hua IV, 254-255.
Husserl schreibt außerdem: „Ist das Durchlaufen öfters erfolgt, so erwächst das Bewusstsein der Stellung
und des Ich-kann, Idee eines verfügbaren Systems. Ich kann mir ein beliebiges Mb vorstellen und von
Ma, das gerade aktuell ist, zu Mb hingehen und umgekehrt. Ich habe die Auffassung des Ma im
geordneten System. Ich kenne das Bewegungssystem, ich kann darin Linien ziehen etc., ein verfügbares
System: ein System bestehender Möglichkeiten. Zum Ich-bin gehört nach dieser Erfahrung das Ich-kann.
Eine freie Bewegung ist vorstellbar als gewollte Bewegung und ist auch oft wirklich willentlich
bewegbar. Die aktuelle Begehrung ergibt notwendig die Bewegung (Tätigkeit) oder eine andere oder
keine. Im ersten Fall läuft die Bewegung im Sinn der Begehrung als willkürliche ab
(Neutralitätsmodifikation davon: ich kann: die Handlung ist eine mögliche Handlung). Das wirkliche Tun
motiviert aber für die Zukunft das Bewusstsein des Ich-kann-wirklich: Ich habe dergleichen schon getan,
und keine Gegenerfahrung spricht dagegen.“ (Hua XIII, 355).
271
73
Wille und Motivation
ist die Phantasie „ein Reich der Freiheit, und das sagt, der Willkür. Wir können das
Spiel so oder so weiter spielen. Das Bewusstsein ist immerfort ein Bewusstsein des ‚als
ob‛ und hat als solches durchaus den Charakter dieser Modifikation.“ 275 Diese
beständige Möglichkeit einer freien Fiktion, dieses Vorstellungsvermögen gehört zum
Wesen des Ich, das daher in der Dimension des Könnens seinen Grundzug findet. „Das
Vorstellbare,“ – wie Husserl sich ausdrückt – „oder zunächst das Vorgestellte ist
möglich, der ‚Gegenstand‛ als solcher ist als anschaulich vorschwebender Substrat des
Möglichkeitsprädikats, d.h. der gemeinte Gegenstand ist ein möglicher, sofern er
angeschaut werden kann. Da kommt also wieder ein ‚kann‛.“ 276
Von diesem Gesichtspunkt aus kann man behaupten, dass die Ordnung der
Naturkausalität ihre Quelle und Berechtigung im Motivationsboden hat. Ohne Zweifel
über die Gültigkeit der Naturgesetze aufzuwerfen, stellt es sich zugleich als klar heraus,
dass die Möglichkeitsbedingung der naturwissenschaftlich aufgefassten Natur und ihrer
induktiven Verbindungen und Gesetze die motivationale und geistige Tätigkeit des
Subjekts ist. Wie Husserl erklärt, ist die Welt
meine Umwelt – d.h. nicht die physikalische Welt, sondern die thematische Welt meines
und unseres intentionalen Lebens. [...] Diese Umwelt ist ev. oder birgt in sich meine
theoretische Umwelt, deutlicher: diese Umwelt kann für mich [...] allüberall theoretische
Themata darbieten, und ich kann, theoretisch die Realitätszusammenhänge erforschend,
dazu kommen, Naturwissenschaft zu treiben. Auf das Reale ausgehend oder reale
Wirklichkeit herausarbeitend gewinne ich die „wahre Natur“. 277
Die Motivationsordnung der subjektiven Umwelt besitzt daher einen
Begründungsvorrang im Vergleich zur naturkausalen Ordnung der positiven
275
Hua XXXI, 13.
Hua IV, 261.
Dazu stellt De Almeida fest, „daß das Wesen sich beim faktischen Meinen und Geben im Bewußtsein des
Anderssein-könnens konstituiert. Diese Einsicht kann auch in folgender Formel ausdrückt werden: Die
sinnliche Fülle ist nicht da Korrelat eines ‚faktischen Wirklichkeitsbewußtseins‛, sondern eines ‚idealen
Möglichkeitsbewußtseins‛“ (De Almeida, Sinn und Inhalt in der genetischen Phänomenologie E.
Husserls, 93).
277 Hua IV, 218-219.
„Die wahre Natur des Physikers ist eine methodisch notwendige Substruktion des Denkens und ist nur als
solche zu konstituieren, nur als „mathematische” hat sie ihre Wahrheit. Dagegen hat es keinen Sinn, der
Motivation, die originär-anschaulich zu erfassen ist, durch Substruktion des Denkens irgend etwas
Unanschauliches zu unterlegen als einen mathematischen Index für eine unendliche Mannigfaltigkeit von
anschaulischen Erscheinungen“ (Hua IV, 230-231).
276
74
Wille und Motivation
Wissenschaften: Nur vermöge dieses Begründungsvorrangs kann „[d]ie Umwelt [...]
sodann für mich Thema der naturwissenschaftlichen Technik sein, überhaupt Thema
praktischer Gestaltungen mit Beziehung auf Wertungen und Zwecksetzungen.“ 278
4.2.2 Die passive Motivation: Trieb und Assoziation
Was bislang diskutiert wurde, stellt eine unentbehrliche Voraussetzung für die bereits
angekündigte zweite wichtige Erweiterung des Husserlschen Begriffes der Motivation
dar, eine Erweiterung, die die praktische Sphäre des Ich-Lebens betrifft und ebenfalls
den Überlegungen Pfänders aus Motive und Motivation entgegensteht. Denn Pfänder
bezeichnet mit Motivation lediglich das eigentümliche Verhältnis zwischen einem
fordernden Willensgrund und dem darauf gestützten Willensakt, d.h. nur die eigentlich
aktive Stufe des Ich-Lebens. Husserl spricht dagegen, – ohne dabei wie es schon
bezüglich der Phänomenologie des Willens gezeigt worden ist, den wesentlichen
Unterschied zwischen der aktiven/willkürlichen und der passiven/unwillkürlichen
Dimension der Subjektivität zu nivellieren – von zwei Grundmodi, die beide zum
Motivationsbereich gehören: „Überall in der geistigen Sphäre verflechten sich zweierlei
Motivationen, die rationale und die irrationale, die Motivation der höheren, der aktiven
Geistigkeit und die Motivation der niederen, der passiven oder affektiven
Geistigkeit.“ 279
Der erste Motivationsmodus entspricht dem, was man im eigentlichen Sinn mit
diesem Terminus bezeichnet, was Husserl auch als Vernunftmotivation oder aktive
Motivation bezeichnet. Zu diesem Bereich gehören alle Motivationen der höheren
Geistigkeit, des personalen Lebens, d.h. die Motivationen, die mit einer aktiven
Beteiligung des Ich zu tun haben. „Das Warum, die causa, kann eine ratio im
prägnanten Sinne sein. Wir könnten zunächst also ,rationale Motivation‘ jede solche
nennen, die eben eine solche ratio hat.“280 Die aktiven Motivationen fußen auf
Willensentschlüssen, Urteilen, „kurzum: die Motivation von Stellungnahmen durch
278
Hua IV, 219.
Hua XXXVII, 107-108.
280 Hua XXXVII, 82.
279
75
Wille und Motivation
Stellungnahmen.“ 281
Die Vernunftmotivationen betreffen die eigentlich geistige
Dimension des Ich, und zwar jene Stufe seines Lebens, die mit Freiheit, Vernunft,
Selbstbewusstsein und Verantwortung zu tun hat. Insofern ist eine Motivation dann
rational, „wenn auf die Frage ,Warum tust du das?’ geantwortet wird mit der Angabe
eines leitenden Zweckes, und schließlich selbst beim Endzweck auf die Frage nach dem
Warum geantwortet wird: Weil ich es für in sich wertvoll halte.“ 282 Offensichtlich ist der
Bereich der aktiven Motivation so weit, dass man von ihm in verschiedenen
Bedeutungen reden kann: Existieren etwa „absolute Motivationen“, wenn man z.B. sagt:
„ ,etwas gefällt mir an sich, um seiner selbst willen’ u. dgl., gleichgültig, ob innerhalb
der Motivationen Vernunft waltet oder nicht“ 283, oder Beispiele von „relativer
Vernunft“ 284 in dem Fall, dass ich
die Intentionen erfülle, die mir durch meine Voraussetzungen vorgezeichnet sind. Aber ich
kann übersehen haben, dass eine meiner Voraussetzungen nicht stimmte. Vielleicht folge
ich da einer blinden Tendenz. Ich glaubte mich zu erinnern, dass der Satz bewiesen sei; die
Tendenz ist keine völlig blinde, sofern die Erinnerung ihre Vernunft hat.285
Was eine Motivation rational oder aktiv macht, besteht nicht in der absoluten
Folgerichtigkeit der Kette der Motive, sondern in der aktiven und freien Ichbeteiligung,
in der Aktivität der Stellungnahme, oder, wie Pfänder es formuliert, im „geistigen
Schlag“, den das Ich-Zentrum ausführt.
Wie jedoch bereits erwähnt, ist nach Husserl die Motivationssphäre umfassender,
weil sie nicht nur die aktive Stufe der Geistigkeit, sondern auch „das ichlose Reich der
Passivität“ 286 einbezieht. Während der Unterschied zwischen Aktivität und Passivität im
Leben des Ich normalerweise durch die Zuerkennung zweier verschiedener
Kausalordnungen bestätigt wird, hat – wie Staiti betont – ein solcher Unterschied im
Rahmen der Husserlschen Überlegungen „durchaus sein Recht, muss aber nicht im
Hinblick auf die Beziehung zur induktiven Naturkausalität bestimmt werden, sondern in
281
Hua IV, 220.
Hua XXXVII, 108.
283 Hua IV, 220.
284 Vgl. Hua IV, 221.
285 Hua IV, 222.
286 Hua XXXVII, 111.
282
76
Wille und Motivation
Bezug auf die zwei Grundmodi, welche die Einteilung des Motivationsreichs in sich
bestimmen.“ 287 Daher stellt Husserl fest:
Wir haben passive Motivation und aktive Motivation, die eine findet statt unwillkürlich,
ohne jede Aktivität der Stellungnahme, die andere ist aktiv. Die eine ist seelisch,
unterpersonal, sie schafft den Untergrund des personalen Ich, sie wirkt in dem Aufbau aller
Apperzeptionen, und damit ist das Konstitution der Umwelt als Gestaltungskraft, die ohne
aktive Ichbeteiligung Gegenstände erscheinen lässt und Gegenstände, die schon aktive
Bedeutung erhalten haben ohne Beteiligung des Ich (des intellectus agens), verschmilzt und
zusammenbaut. 288
Diese zwei Grundmodi der Motivation entsprechen den zwei unabtrennbaren Stufen
der Geistigkeit, „die niedere Stufe, die des bloß Seelischen, und die höhere, die der
Geistigkeit in einem ausgezeichneten Sinn. Die niedere Stufe ist die der reinen
Passivität.“ 289 Was meint Husserl eigentlich mit dieser niederen Stufe? Was ist der Sinn
eines solchen „ohne aktive Ichbeteiligung vorlaufenden Untergrundes“ 290?
Zusammenfassend kann man zwei Bereiche von Bewusstseinsphänomenen
benennen, die sich in diesem Untergrund befinden: Das Feld der Triebe und der Gefühle
sowie das der Assoziation.
Der erste bildende Aspekt des seelischen Untergrundes betrifft bei näherer
Betrachtung dasjenige, was Pfänder Streben nennt – im Gegensatz zum Willen im
engeren Sinne. Wie bereits in der Untersuchung des Themas des Willens angemerkt
wurde, unterscheidet Husserl deutlich zwischen der Willens- und der Triebesphäre. Die
Unterscheidung erfolgt wieder zwischen den zwei Stufen der Geistigkeit: Der höheren
und eigentlich geistigen Stufe und dem Untergrund. Diese zuletzt genannte Stufe
erscheint passiv und periodisch im Leben des Ich und übt eine beständige Kraft aus, wie
Husserl im Folgenden beschreibt: „Es regt sich ein sinnlicher Trieb, der Trieb etwa zu
rauchen, ich greife zur Zigarre und zünde sie an, während meine Aufmerksamkeit,
meine Ichtätigkeiten, ja mein bewußtes Affiziertsein ganz wo anders ist.“291 Eine solche
287
Staiti, Geistigkeit, Leben und geschichtliche Welt in der Transzendentalphänomenologie Husserls, 124.
Hua XXXVII, 331.
289 Hua XXXVII, 110.
290 Hua XXXVII, 110.
291 Hua IV, 338.
288
77
Wille und Motivation
triebhafte Sphäre der Passivität ist jedenfalls von der Motivation der Geisteseinheit
umfasst: Ich bin nicht nur das Ich der Freitätigkeit, sondern:
Ich bin auch das Subjekt, das an den und den Sachen Gefallen zu haben pflegt, das und das
habituell begehrt, wenn die Zeit kommt, zum Essen geht usw.: Subjekt gewisser Gefühle
und Gefühlsgewohnheiten, Begehrungsgewohnheiten, Willensgewohnheiten, bald passiv,
sagte ich, bald aktiv.292
Kraft dieser Einheit versteht man, warum auch Triebe und Gefühle von der
Verständlichkeit des Geistes durchdrungen werden, wie es übrigens unsere beständige
Möglichkeit, Triebe und Gefühle zu verstehen, zuzulassen oder zu hemmen, zeigt: Ein
Trieb oder ein Gefühl „ist im dunklen Untergrunde motiviert, hat seine ,seelischen
Gründe‘, nach denen man fragen kann: wie komme ich darauf, was hat mich dazu
gebracht? Dass man so fragen kann, charakterisiert alle Motivation überhaupt.“ 293 Die
motivationalen Sinnzusammenhänge durchdringen damit auch jene Stufe, die Pfänder
„Seelenleib“ nennt und die er vom Motivationsbereich ausschließt.294 Aufgrund der
Anerkennung des Motivationswertes der Triebsphäre formuliert Husserl in seinen
Analysen zur passiven Synthesis, dass „[d]ie Motive [...] in der lebendigen Gegenwart
liegen [müssen], wobei aber vielleicht die wirksamsten Motive solche sind, auf die wir
nicht Rücksicht nehmen konnten“, und zwar „ ‚Interessen‛ im weiten, gewöhnlichen
Sinn, ursprüngliche oder schon erworbene Wertungen des Gemüts, instinktive oder
schon höhere Triebe usw.“ 295 Diese letzte Äußerung schließt etwas Bedeutungsvolles
ein: Wenn wir unsere Erfahrung aufmerksam beobachten, bemerken wir, dass jede
unserer Stellungnahmen oder Entscheidungen nicht nur von den bewussten und
selbstgesetzten Zielen abhängt, sondern gleichzeitig von einem tieferen und
verborgenen Streben bewegt ist. Ich entscheide mich z.B., die Arbeitsstelle zu wechseln,
292
Hua IV, 256.
Hua IV, 222.
Husserl bezeichnet geradezu diese triebhafte und dunkle Stufe des Ichlebens (wieder durch das beispiel
der Zigarre)als eine Form von „volo”, von Willen: „Das unwillkürliche ago in dem Sinne des volo, aber
des unbewussten ‚ich lebe nicht darin‛. ‚Unwillkürlich zünde ich mir eine Zigarre an‛ “ (M III 3 III 1 II,
39, in: Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 222).
294 In diesem Sinne stellt Mensch fest: „This does not just mean that reason is ,a transformation of the
original instincts’. It signifies as well that developing from a basis of ,unconscious’ instinctual drives,
reason ultimately becomes such as to comprehend these“ (Mensch, Instincts – A Husserlian Account,
226).
295 Hua XI, 178.
293
78
Wille und Motivation
weil ich einer lohnenderen Beschäftigung nachgehen will. Das ist eine willentliche
Entscheidung, die von einer rationalen und völlig verstehbaren Motivation gestützt ist.
Die Gründe für eine solche Entscheidung können allerdings nicht ausschließlich auf
dieses Motiv reduziert werden, weil sich dahinter andere, ursprünglichere und triebhafte
Motivationen verbergen wie z.B. das Streben nach Selbsterhaltung – eine allgemeine
Bezeichnung für eine Reihe nicht nur physischer, sondern auch ideeller Bestrebungen,
wie es später in Bezug auf die Husserlsche Ethik noch näher eingegangen wird. Mensch
betont diesbezüglich: „The motivating force thus seems to be our instinctive drive to
self-preservation. As Husserl notes, this drive is present on all levels of the self’s
constitution. [...] On the level of rational autonomy, it is present as the self’s desire to
preserve itself as a rational agent.“ 296
Wie bereits angezeigt begegnet man sodann auf der zweiten, sogenannten niederen
Stufe der reinen Passivität dem Phänomen der Assoziation. Mit Assoziation bezeichnet
Husserl „eine zum Bewusstsein überhaupt beständig gehörende Form und
Gesetzmäßigkeit der immanenten Genesis, nicht aber, wie bei den Psychologen, eine
Form objektiver, psychophysischer Kausalität.“ 297
Es handelt sich um einen
„Verbindungscharakter“ 298, der die Bedingung der zeitlichen Kontinuität unserer
Erfahrung bildet. Wie die Behandlung der Motivation als Möglichkeitsbedingung der
Erfahrung schon hervorgehoben hat, könnte ohne Assoziation von Erfahrung nicht die
Rede sein299, weil die Assoziation
ein Titel der Intentionalität, als das in seinen Urgestalten deskriptiv aufweisbar, und in
seinen intentionalen Leistungen unter Wesensgesetzen stehend, aus denen alle und jede
passive Konstitution, sowohl diejenige der Erlebnisse als immanenter Zeitgegenstände als
296
Mensch, James R.: Freedom and Selfhood, in: Husserl Studies 14/1 (1997), 53.
Hua XI, 117.
298 Hua XI, 118.
299 Hierzu betont Held: „Wäre das Empfinden nun ein gänzlich passives Empfangen von Eindrücken, so
läge es nahe, mit der sensualistischen Tradition anzunehmen, die empfangenen Eindrücke seien einzelne,
in sich einfache Daten, sozusagen unteilbare Empfindungsflöckchen, die in das Bewusstsein
hineinschneien. Das Empfinden gäbe so ursprünglich ein pointillistisches Bild von der Welt: lauter
Tupfen, flächenlose Einheiten, die erst durch die Apperzeption gegenständlich als Fläche aufgefasst
würden. Da aber der passive Vollzug des Empfindens von vornherein mit Aktivität durchtränkt ist, muß
auch der im Empfindungsvollzug aufscheinende Gehalt dem entsprechen“ (Held, Klaus: Einleitung des
Herausgebers, in: Held, Klaus (Hrsg.): Husserl, Edmund: Phänomenologie der Lebenswelt, Ausgewählte
Texte II., Stuttgart 1986, 22).
297
79
Wille und Motivation
diejenige aller realen Naturgegenstände der objektiven raumzeitlichen Welt verständlich zu
machen ist. 300
Die Erfahrung besteht also assoziativer Wesensgesetze zufolge aus
Sinnzusammenhängen und Zeitzusammenhängen. Erinnerungen, Reproduktionen,
Erwartungen und Apperzeptionen sind Phänomene der Assoziation, d.h. der
„notwendige[n] Gesetzmäßigkeit, ohne die eine Subjektivität nicht sein könnte“301.
Unser Alltag ist beständig von Assoziationen begleitet, die zum passiven Untergrund
gehören, weil sie unbemerkt und ohne Ich-Beteiligungen ablaufen:
Während eines Gesprächs fällt uns etwa eine herrliche Seelandschaft ein. Reflektieren wir
darüber, wie es dazu gekommen ist, so finden wir etwa, dass unmittelbar eine
Gesprächswendung uns an eine ähnliche erinnert, die letzten Sommer an dem See in einer
Gesellschaft geäußert worden war. 302
Von Pfänders Standpunkt aus haben solche assoziativen Verbindungen nichts mit
Motivation zu tun, weil hier auf dieser passiv ichlosen Stufe von „geistigem Schlag“
oder von einem „geistigen Hinhören auf Forderung“ gar keine Rede sein kann: Eine
assoziative Verbindung wie die der Seelandschaft – um es mit einem Pfänderschen
Ausdruck zu bezeichnen – „widerfährt dem Ich, sie berührt oder ergreift das Ich [...]
wie einen Naturzwang.“ 303 Dagegen nennt Husserl die Assoziation „eine andere Form
der Motivation“ 304: Warum? Um den Grund dieser Position Husserls mit seinen
Implikationen wirklich zu verstehen, ist es wichtig zu beachten, dass Husserl selbst die
scheinbare Widersprüchlichkeit bemerkt, die darin liegt, den Assoziationen
300
Hua I, 113.
Hua XI, 118.
Vargas Bejarano beachtet: „Passive Motivation ist der Titel für die Erörterung der Genesis oder der
Entstehung der sinnlichen Gegebenheiten im Bewusstseinsleben bzw. der Konstitution. Wenn eine
Gegebenheit im Bewusstseinsfeld auftritt, so dass sie die Aufmerksamkeit des Ich hervorrufen kann,
besteht die Möglichkeit, dass jemand beispeilsweise in reflexiver Einstellung die Frage stellt: ‚Wie bin
ich ausgerechnet dazu gekommen, dass ich mich an diese bekannte Person erinnert habe?‛ Oder in
anderem Zusammenhang kann er sich fragen: [...] Warum hatte ich die Erwartung – und die damit
verbundene Enttäuschung – eine Person zu sehen?‛ Aus phänomenologischer Perspektive müssen wir
diese Fragen ernst nehmen: Was war der Anlass für diese intentionalen Akte, in unserem Beispiel die
Erinnerung und die Erwartung, die mit einer Enttäuschung verbunden waren? Das Subjekt hat zwar diese
Akte vollzogen, aber es war dabei nicht tätig, sondern es war einfach motiviert. Hierbei ist die passive
Motivation am Werk, die bei der Genesis der intentionalen Akte eine entscheidende Rolle spielt“ (Vargas
Bejarano, Phänomenologie des Willens, 201).
302 Hua XI, 122.
303 Pfänder, Motive und Motivation, 146.
304 Hua XXXVII, 180.
301
80
Wille und Motivation
Motivationsgesetzmäßigkeit zuzusprechen, denn er fragt sich: „Wie weit kann man da
Entwicklung, Bildung von Erinnerungen, von Erwartungen, von spielenden
Phantasieverläufen und dann von transzendierenden Apperzeptionen ihren Motiven
nach ‚erklären‘, aus ‚Motiven‘ und nach ‚Motivation‘ gesetzen verstehen?.“ 305 Er
bekennt tatsächlich, dass im Rahmen der Assoziationssphäre „der Begriff des Motivs
[...] ein ganz uneigentlicher natürlich [ist], da der eigentliche sich auf Ichakte
bezieht“ 306. Diese schon erfasste Schwierigkeit hat ohne Zweifel mit der Unschärfe der
Sprache zu tun: Gemäß solcher Grenze „sprechen wir da unwillkürlich in denselben
Worten wie in der Sphäre der Spontaneität“ 307. Dennoch hört Husserl nicht auf, sich zu
fragen: „Sollen wir eben sagen: unterpersonale Kausalität? Aber das ist mißdeutlich,
weil man bei diesem Ausdruck auch an psychophysische Kausalität denken könnte,
während es sich um eine rein in der psychischen ‚Innerlichkeit‘ verlaufende handeln
soll“308. Husserl stellt wieder fest, dass „[l]ebendige Ichakte eben aus dem Ich, nach
einer personalen Regelung, und nicht assoziativ [entspringen]“, aber kurz darauf fragt er
sich: „[I]st nicht das Ich, die Person selbst eine apperzeptiv konstituierte Einheit? Und
weist diese Apperzeption nicht wie jede auf ‚Assoziation‛ zurück?“ 309 Obwohl diese
unterpersonale und assoziative Stufe nicht an den eigentlichen Motivationen der
Ichaktivität teilhat, ist sie keine „substantiale (oder naturale) Kausalität“ 310, sondern
eine Form von Motivation, weil bei Husserl die Motivation das Reich der
Verständlichkeit und des Sinnes ist, die das gesamte Bewusstseinsleben von
verständlichen Verbindungen umfasst.
Dass a mich an b erinnert, die Ansichtskarte vom Berliner Dom an das Berliner Schloss,
das
ist nicht ein bloß mechanisches Aufspringen eines neuen erlebten Elements zum
früheren, sondern das eine Element ist mit einer Intentionalität behaftet, die auf das andere
hinweist, und ohne dergleichen verständen wir kein Zeichen, kein Wort der Sprache usw.
Ich sage, „verständen wir gar nichts“. Denn nur durch Bewusstsein gibt es etwas zu
verstehen.311
305
Hua XI, 385-386.
Hua XI, 386
307 Hua XI, 358.
308 Hua XI, 386.
309 Hua XI, 386.
310 Hua XI, 386.
311 Hua XXXVII, 180.
306
81
Wille und Motivation
Von Husserls Standpunkt aus könnte man nun der Pfänderschen Position den
„Grundfehler“ des psychologistischen Naturalismus unterstellen, d.h.,
dass er die Passivität der Assoziation und des ganzen, ohne Ichaktivität verlaufenden
Seelenlebens mit der Passivität des physischen Naturverlaufs auf dieselbe Stufe setzte und
Assoziationsgesetze also auf gleiche Stufe mit dem Gravitationsgesetz und sonstigen
physischen Naturgesetzen. Denn Assoziation ist ein Titel für eine Art der Motivation,
nämlich der passiven. Aber passive Motivation ist, wie alle geistige Kausalität [...] eine
Sphäre der Verstandlichkeit.312
In den Cartesianischen Meditationen hebt Husserl die volle neue Bedeutung des
Terminus Assoziation hervor, welche durch die Phänomenologie erhoben wurde:
„Phänomenologisch evident, aber für den Traditionsbefangenen befremdlich ist, daß
Assoziation nicht ein bloßer Titel für eine empirische Gesetzlichkeit der Komplexion
von Daten einer ‚Seele‛ ist.“ 313 Zu diesen Traditionsbefangenen kann man nun also auch
Pfänder zählen, und zwar zu denjenigen, welche mit Assoziation „nach dem alten Bild
so etwas wie eine innerseelische Gravitation“ meinen, während sie vom
phänomenologischen Standpunkt „ein, und zudem höchst umfassender, Titel für eine
intentionale Wesensgesetzlichkeit der konkreten Konstitution des reinen Ego [ist], ein
Reich des ‚eingeborenen‛ Apriori, ohne das also ein Ego als solches undenkbar [...]“ 314.
Wie Husserl besonders in den Ideen II zeigt, bietet in der Tat unsere Erfahrung „das
unendliche Feld von Motivationen“315, welches „Motivationsgeflechte“ 316 bildet: Die
A s s o z i a t i o n e n „ v e r l a u f e n [ . . . ] u n b e m e r k t “ 317 , a b e r s i e s t e l l e n
Motivationszusammenhänge dar, d.h. Sinnzusammenhänge, die beständig mit den
aktiven Motivationen verflochten sind:
Allerdings verflicht sich die eine und andere Motivationsart, die „Kausalität“ in den
Untergründen der Assoziation und Apperzeption und die „Kausalität“ der Vernunft, die
312
Hua XXXVII, 333.
Hua I, 114.
314 Hua I, 114.
315 Hua IV, 224.
316 Hua IV, 224.
317 Hua XI, 122.
313
82
Wille und Motivation
passive und aktive oder freie. Die freie ist rein und völlig frei, wo die Passivität nur ihre
Rolle spielt für die Herbeischaffung des Urmaterials.318
Abschließend können aus diesen Überlegungen zum Begriff der Motivation bei
Husserl in der Gegenüberstellung mit Pfänder einige Schlüsse gezogen werden. Am
Anfang wurde die Frage aufgeworfen: Muss die erforderliche Unterscheidung zwischen
der passiven und der aktiven Stufe des Ich-Lebens unbedingt auf der Anerkennung
zweier verschiedener Kausalordnungen beruhen, d.h. einerseits auf der
Motivationskausalität, andererseits auf einer Naturgesetzlichkeit? Pfänder kommt zu
diesem Ergebnis, indem er die übliche Bedeutung des Terminus’ „Motivation“
beibehält, ihn ausschließlich für die eigentlichen Willensentscheidungen verwendet und
die Auswirkungen der Strebungen den Naturzwängen gleichsetzt. Dieses dualistische
Resultat wird durch die Unterscheidung der zwei „Partien der Seele“ 319 verdeutlicht,
und zwar durch den „Seelengeist“ und den „Seelenleib“.
Den Werken Edmund Husserls wurde hingegen eine neue Auffassung entnommen:
Ohne die wesentlichen Abweichungen zwischen der Willenssphäre und der passiven
Sphäre, den Strebungen, Trieben, Gefühlen und Wünschen, die diese umfasst,
schmälern zu wollen, sieht er diese nicht wie zwei Welten an, die verschiedenen
Kausalitäten unterworfen sind, sondern erkennt in ihnen dieselbe
Motivationsgesetzlichkeit, d.h. die „Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens“. Die
Unterscheidung zwischen diesen beiden Stufen ist der Modus der Motivation, die
einerseits irrational, passiv und ichlos, andererseits dagegen aktiv, rational und frei ist.
Was sie aber vereint, ist die wesentliche Verständlichkeit, welche die geistige Sphäre
kennzeichnet: „Natur ist das Reich der Unverständlichkeit. Das Reich des Geistes aber
ist das der Motivation. Motivation aber steht unter Motivationsgesetzen, und all solche
Gesetze sind durch und durch verständlich.“ 320 Die geistige Subjektivität ist bei Husserl
318
Hua IV, 224.
Hierzu stellt Holenstein fest: „Die Assoziationen sind gleichsam sachlich sich herstellende Verbindungen,
versehen mit dem Eindruck ,das macht sich von selbst’. Das Ich ist bei ihnen nur in einer sekundären
Weise frei. Es hat jederzeit die Möglichkeit, sie aktiv nachzuvollziehen, nicht jedoch die Freiheit, sie
ursprünglich in Gang zu setzen. [...] Sind die Motive der Assoziation einmal aufgedeckt, so zeigt sich
auch ihre Forderung als eine Vernunftmotivation“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation,
189-190).
319 Vgl. Pfänder, Motive und Motivation, 146.
320 Hua XXXVII, 107.
83
Wille und Motivation
von einer wesentlichen Einheit gekennzeichnet, die nicht die höhere rationale Stufe zur
niederen herabsetzt, sondern die dagegen die Eigentümlichkeit des Geistes emporhebt,
weil die motivationalen Sinnesverbindungen alle Dimensionen der Seele umfassen, wie
Husserl im Folgenden betont:
Dieses spezifisch geistige Ich, das Subjekt der Geistesakte, die Persönlichkeit, findet sich
abhängig von einem dunklen Untergrunde von Charakteranlagen, ursprünglichen und
verborgenen Dispositionen, andererseits abhängig von der Natur. [...] Die letztere hat auch
ihre Regeln, und zwar ihre Verstandesregeln der Einstimmigkeit und Unstimmigkeit, es ist
eine Schicht verborgener Vernunft, zunächst jedenfalls soweit Konstitution von Natur
reicht: da doch alle komplizierten Verhältnisse des Wenn-So, alle Kausalitäten zu Leitfäden
von theoretischen, also geistigen Explikationen werden können. 321
Dieser Kontinuität zufolge kann man mit Husserl geradezu formulieren: „Die passive
Motivation ist der Mutterboden der Vernunft.“ 322
Gerade diese letzte Äußerung bietet den Anlass für das im nächsten Kapitel zu
behandelte Thema, und zwar die Natur sowie die Rolle des Niederschlags und der
Sedimentierung in der Konstitution der Persönlichkeit als wirksame Geschichte, die
durch ihre Motivationskraft das Jetzt beeinflusst. Das Jetzt des Ich-Lebens kann nicht
von der Verflechtung der Niederschläge seiner Geschichte absehen. Was bisher
festgestellt worden ist, ergibt sich als notwendige theoretische Voraussetzung der
nachfolgenden Überlegungen, eine Voraussetzung, die mit dem folgenden Husserlschen
Ausdruck zusammengefasst werden kann: „Verständlich im Geiste ist alles, was eine
geistige Genesis hat, alles im Geiste, was motiviert auftritt, also auf ein Motivierendes
verweist”323. Nichts ist im Ichleben sinnlos, alles ist dagegen motiviert.
321
Hua IV, 276.
Hua XXXVII, 332.
323 Hua XXXVII, 109.
322
84
Zweites Kapitel
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen
Habitualitäten in der Konstitution des Ich
§ 1. Einleitung: Das Rätsel des Unbewussten
Die Betrachtungen des letzten Kapitels haben zur Dimension der Passivität und der in
dieser dunklen Sphäre bestehenden Motivationszusammenhänge geführt. Es handelt
sich dabei um Themen, welche der Phänomenologie dem Anschein nach fremd bleiben
müssten, weil sie einer beschreibenden Analyse zu entgehen scheinen. Obwohl sich
diese Stufe nicht unmittelbar der Beobachtung darbietet, entzieht sich Husserl dennoch
nicht der Aufgabe, eine phänomenologische Untersuchung der Randprobleme des
Unbewussten, der Triebe, der Beziehung zwischen Wachen und Schlafen, der
versunkenen Vergessenheiten usw. vorzunehmen.
Um den phänomenologischen Zugang zur Passivität zu verstehen, darf man nicht
vergessen, dass der Husserlsche Ansatz keinen psychologischen oder
psychoanalytischen Weg eröffnet. Der phänomenologische Blick enthüllt stattdessen
durch die transzendentale Reduktion und die darin erfolgende Neutralisierung der
Generalthesis der natürlichen Einstellung das Feld des intentionalen Lebens. Deutlich
bestimmt dies Husserl in seinen Analysen zur passiven Synthesis: „Wir bewegen uns ja
im Rahmen der phänomenologischen Reduktion, in dem alle objektive Wirklichkeit und
objektive Kausalität ,eingeklammert‛ ist.“324
Das Ich ist demnach von diesem
Standpunkt aus die zentrale Polarität jedes konstitutiven Prozesses, das
Abstrahlungszentrum aller Strahlen des intentionalen Lebens: „In diesem Rahmen des
reinen Bewußtseins finden wir die strömende Bewußtseinsgegenwart, wir finden
konstituiert eine jeweils wahrnehmungsmäßige, als leibhaft konstituierte
Wirklichkeit.“ 325 Die phänomenologische Analyse verirrt sich nicht in empirischen
Kontingenzen des Ich, sondern erfasst das Wesen, d.h. die Erfahrungskonstanten der
324
325
Hua XI, 117.
Hua XI, 117.
85
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
intentionalen Korrelate. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass nach Husserl das Ich
keine statische oder leere Polarität ist, weil es im Gegensatz dazu eine Geschichte hat
oder, besser gesagt, das Ich selbst eine Geschichte konstitutiver Leistungen ist. Deshalb
ist außer einer statischen Betrachtung des Ich eine genetische nötig, weil nur eine
genetische Phänomenologie die lebendigen und konstitutiven Sinnessedimentierungen
enthüllen kann.
Das Ziel der nächsten Untersuchungen ist also gerade die Vertiefung des
Verständnisses der Rolle der Passivität in der Struktur und in der Konstitution des Ich.
Wenn man tatsächlich von Motiven auch im Rahmen des irrationalen Niveaus des
Ichlebens sprechen kann, erhebt sich die Frage nach dem Gewicht, der Rolle und der
Natur solcher Motivationen. Wie wirken Triebe und passive Assoziationen auf
praktische Handlungen und Entscheidungen, d.h. auf das Wachleben? Welche Folgen
und tatsächlichen Auswirkungen auf die gesamte Beschaffenheit der Subjektivität hat
die Berücksichtigung der motivationalen und nicht kausalen Grundgesetzlichkeit der
Passivität?
Im letzten Kapitel ist bereits festgestellt worden, dass sich nach Husserl triebhafte
Strebungen und passive Assoziationen nicht – wie Pfänder meinte – als „Naturzwänge“
verhalten. Diese Behauptung benötigt jetzt allerdings eine tiefere Erforschung, weil sich
infolge dieser ungewöhnlichen Auffassung der Stufe der Passivität eine neue
Anschauung des Lebens und des Wesens des Ich profiliert, die später zum ethischen
Horizont der Phänomenologie Husserls führen wird.
Einige Begriffe heben sich im Rahmen der Frage nach der Rolle der Passivität ab,
und zwar die Husserlschen Kategorien der Sedimentierung, der Habitualität, des
Niederschlags und der Weckung des Versunkenen, die im Lauf des Kapitels Schritt für
Schritt Thema einer phänomenologischen Verdeutlichung sein werden. Eine
allgemeinere Frage fungiert dabei als roter Faden für diese Überlegungen, nämlich die
Frage nach der Natur des Unbewussten: Ist es von einem phänomenologischen
Standpunkt aus möglich, vom Unbewussten zu reden? Husserl bejaht diese Frage und
verweist auf die Verwirklichung eines Vorhabens, das er mit einer absichtlich paradoxen
Formulierung als „Phänomenologie des Unbewussten“ bezeichnet. Dies ist der Plan, „in
86
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
dieser Nacht phänomenologische Lichter aufstrahlen zu lassen.“326
Nicht jede
Anschauung des Unbewussten scheint vereinbar mit der von Husserl genannten
Aufgabe: Wenn irgendeine Phänomenologie des Unbewussten möglich ist, kann das
Unbewusste nicht etwas ganz anderes als das Bewusstsein sein, sondern im Gegenteil
etwas, das mit dem Bewusstsein und seinen Sinnzusammenhängen strukturell zu tun
hat.327
Eine solche phänomenologische Voraussetzung bekundet sich als die
Möglichkeitsbedingung jeden Zugangs zum Unbewussten, der nicht mythologisch oder
irgendwie geheimnisvoll verfasst sein soll: Wenn das in einem solchen dunklen
Hintergrund liegende Bewusstseinsleben keinerlei verständliche Zusammenhänge hätte,
d.h. wenn es nur ein verwickeltes Chaos ohne Ordnung wäre, dann wäre infolgedessen
auch die psychoanalytische Methode der freien Assoziation unmöglich, weil es keinen
Sinn hätte, bestehende Verhältnisse und Verbindungen zu suchen. Der Inhalt und die
Implikationen dieses Husserlschen Ansatzes zum Problem des Unbewussten werden im
Folgenden auch durch den Vergleich mit dem psychoanalytischen Ansatz von Freud
herausgearbeitet, um die umfassende Beschaffenheit des Ich aus der
phänomenologischen Perspektive näher zu verstehen.
Die Betrachtung der Subjektivität vom Standpunkt ihres passiven Lebens verlangt
eine genetische Berücksichtigung, die das Element der noch lebendigen Vergangenheit
des Ich erfasst. Das passive Niveau umfasst tatsächlich alles, was das Ich gelebt hat und
dann versunken ist ins „Reich der scheinbar zu nichts gewordenen Vergessenheiten.“ 328
Es handelt sich um das Reich der Sedimentierungen, der Niederschläge, kurz: der
persönlichen Geschichte des Ich. Um diese für Husserl immer grundlegendere
Dimension zu begreifen, muss man bei seiner Auffassung der Zeitlichkeit ansetzen. Die
Momente des konstitutiven Flusses der Zeitlichkeit, d.h. Retention, Urimpression und
Protention, stellen die Urstufe des transzendentalen Bewusstseinslebens dar, und ihr
326
Hua XI, 154.
Vincenzo Costa schreibt hierzu: „[S]econdo Husserl ha senso parlare di inconscio solo in quanto
questo ha strutturalmente a che fare con la coscienza. Esso, se non deve essere inteso come un concetto
meramente speculativo o addirittura mitologico, deve avere un rapporto con l’esperienza cosciente, con
ciò che sappiamo di noi stessi. [...] Husserl era ben cosciente del problema e che, a suo modo, aveva
abbozzato una linea di ricomprensione del fenomeno ‚inconscio’ all’interno dell’elaborazione
fenomenologica“ (Costa, Vincenzo, in: Costa, Vincenzo; Franzini, Elio; Spinicci, Paolo: La
fenomenologia, Torino 2002, 234-235).
328 Hua XI, 78.
327
87
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Verständnis ergibt sich als die Bedingung, um das Versinken und das Weiterbestehen der
Erlebnisse zu erfassen. Aus diesem Grund ist der erste Schritt des folgenden Weges zum
Unbewussten die Betrachtung des inneren Zeitbewusstseins.
§ 2. Das Ablaufphänomen und der unendliche Horizont des inneren
Zeitbewusstseins
Husserls Betrachtung des Problems der Zeit ist ohne Zweifel einer der
grundlegenden Themenbereiche der gesamten Phänomenologie. Es ist im Rahmen
dieser Untersuchung allerdings nicht möglich, eine vollständige Behandlung dieses
Problems und seiner fortschreitenden Veränderungen von den Logischen
Untersuchungen an im Lauf der Entwicklung der Phänomenologie Husserls
vorzunehmen. Dennoch darf eine synthetische Darstellung der Husserlschen Auffassung
der Zeitlichkeit im Rahmen dieser Untersuchung nicht fehlen, weil diese Erläuterung
die Basis für das Verständnis jeder Konstitution bildet.
Damit Apperzeptionen von Gegenständen und Dingwahrnehmungen erfolgen
können, müssen sie aus Synthesen entstehen und sich entwickeln, die sich aus einem
passiven Grund heraus verwirklichen. Das betrifft nicht nur die Auffassung jedes
einzelnen Gegenstandes, sondern das gesamte All der Erfahrung: Ohne die
motivationale und passive Regelmäßigkeit der assoziativen Synthesen könnte von
Erfahrung keine Rede sein, weil diese in einer beständigen Verflechtung von
Sinnzusammenhängen und Erwartungshorizonten besteht. Wie Husserl in Erfahrung
und Urteil behauptet, „ist der Bereich der passiven Doxa, des passiven Seinsglaubens,
dieses Glaubensbodens [...] Fundament also auch all dessen, was man im konkreten
Sinn ‚Erfahrung‛ und ‚Erfahren‛ nennt“329: Solche passiv assoziativen Synthesen, die im
Folgenden hier genauer betrachtet werden, sind also der apriorische Untergrund und die
Möglichkeitsbedingung, die unser Bewusstsein der Erfahrung und unseren Glauben an
die Wirklichkeit motivieren. Wie schon hinsichtlich der Motivation als Struktur und
Sinnzusammenhang der Erfahrung hervorgehoben wurde, zeigt sich die Erfahrung
329
Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Prag 1938, 53.
88
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
unbedingt in einem assoziativen Horizont, der leer, aber gleichzeitig vorzeichnend ist.
Die tiefste Art von Motivation ist in der Form des inneren Zeitbewusstseins
aufzufinden, und zwar „die im ursprünglichen Zeitbewußtsein sich kontinuierlich
leistende Synthese [...]. Es besteht [...] in einem universalen formalen Rahmen, in einer
synthetisch konstituierten Form, an der alle anderen möglichen Synthesen Anteil haben
müssen.“ 330 „Erfahrung ist Zeitigung“331, so drückt Husserl sich aus, da die Erfahrung
eine universal motivationale Zeitsynthese des Flusses der Erlebnisse ist.332 In den
Pariser Vorträgen bekräftigt er diese Ansicht der Erfahrung als Strömen, wenn er
behauptet, dass „das ganze universale Leben in seinem Fluktuieren, seinem
Heraklitischen Fluß, eine universale synthetische Einheit ist.“ 333
Husserl stellt in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins fest, dass es sich um „eine phänomenologische Analyse des
Zeitbewußtseins” handelt, und dass in dieser „wie bei jeder solchen Analyse, der völlige
Ausschluß jedweder Annahmen, Festsetzungen, Überzeugungen in betreff der
objektiven Zeit (aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierendem)
[liegt].“334 Es handelt sich genauer, wie der Titel von § 1 der Vorlesungen lautet, um
eine „Ausschaltung der objektiven Zeit“ 335, die im ersten Band der Ideen außerdem
„kosmische Zeit“336
genannt wird. Der phänomenologische Blick zielt auf die
Erlebnisse und die Zeitauffassung, nicht dagegen auf die Zeit als „die Weltzeit, die reale
Zeit, die Zeit der Natur im Sinne der Naturwissenschaft und auch der Psychologie als
Naturwissenschaft des Seelischen.“ 337 Husserl liegt es nicht an einer Untersuchung der
330
Hua XI, 125.
Hua XXXIV, 213.
332
Husserl betont in seinen Cartesianischen Meditationen den grundlegenden Charakter der
Bewusstseinssynthese: „Die Grundform dieser universalen Synthesis, die alle sonstigen
Bewußtseinssynthesen möglich macht, ist das allumspannende innere Zeitbewußtsein. Sein Korrelat ist
die immanente Zeitlichkeit selbst, dergemäß alle je reflektiv vorzufindenden Erlebnisse des ego als
zeitlich geordnet, als zeitlich anfangende und endende, als gleichzeitig und nacheinander sich darbieten
müssen – innerhalb des ständigen unendlichen Horizontes der immanenten Zeit“ (Hua I, 81).
333 Hua I, 18.
Husserl bestimmt die Zeitlichkeit einer Wahrnehmung als „[e]ine Form”, die „dem Geformten Einheit
und zwar geordnete Einheit [gibt]. Die zeitliche Wahrnehmungsform gibt dem Empfindungsinhalt aller
Phasen und ebenso den Auffassungsphasen eine Einheit, und zwar eine kontinuierliche
Reiheneinheit“ (Hua XVI, 64).
334 Hua X, 4.
335 Hua X, 4.
336 Hua III/1, 181.
337 Hua X, 4.
331
89
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
psychologischen Apperzeption der Zeit, ihm „ist die Frage nach der empirischen
Genesis gleichgültig, [ihn] interessieren die Erlebnisse nach ihrem gegenständlichen
Sinn und ihrem deskriptiven Gehalt.“ 338
Der den Zutritt zum Zeitbewusstsein
ermöglichende Schlüssel ist die phänomenologische Epoché, die als „Ausschaltung“
verstanden wird, da sie den Rückgang auf das transzendentale und intentionale Leben
ermöglicht.339 Die Reduktion eröffnet die Möglichkeit, die ursprünglich lebendige
Erfahrung der Zeit durch die Überschreitung des objektivistischen Vorurteils über die
Natur der Zeit zu ergreifen340, weil sie uns zunächst von diesen Vormeinungen befreit.
Aufgrund solcher Vorurteile wird die Zeitlichkeit als Summe oder als Reihenfolge von
Stücken oder Punkten erachtet, die eine objektive Messbarkeit voraussetzen. Es handelt
sich um eine „objektive Zeit, in welcher alle Dinge und Ereignisse, Körper und ihre
physischen Beschaffenheiten, Seelen und ihre seelischen Zustände ihre bestimmten
Zeitstellen haben, die durch Chronometer bestimmbar sind.“ 341 Die objektive Zeit wird
schlechthin durch das Bild einer ununterbrochenen Linie vorgestellt, die durch
aufeinander folgende Punkte zusammengesetzt ist. Durch die transzendentale Reduktion
338
Hua X, 9.
Römer unterstreicht die enge Verbindung zwischen dem Begriff der „Ausschaltung“ und den späteren
Formulierungen dieses Begriffs. Sie schreibt, dass „Husserl wenige Zeit nach den Vorlesungen über das
Zeitbewusstsein von 1905 die Entwicklung der Epoché und phänomenologischen Reduktion begonnen
[hat], welche zu einer Vorurteilslosigkeit führen und schließlich eine Philosophie als strenge Wissenschaft
ermöglichen sollten. Sein erster Schritt in die Phänomenologie der Zeit besteht in einer Vorform der
Epoché, und zwar in einer ,Ausschaltung der objektiven Zeit‛ “ (Römer, Inga: Das Zeitdenken bei
Husserl, Heidegger und Ricoeur, Dordrecht 2010, 28).
340 Hierzu betont Dieter Lohmar: „Die Konzeption der Vorlesungen sieht vor, dass der objektiven Zeit
eine subjektive-immanente Zeit zugrunde liegt, die sich wiederum auf der tiefsten Schicht der
Zeitkonstitution ausbildet. Die Ereignisse der objektiven Zeit stellen sich sozusagen in der subjektiven
erlebten Zeit perspektivisch dar. [...] Husserl versucht in den Vorlesungen, von dem Produkt, das in einer
synthetischen Leistung des Bewusstseins konstituiert wurde, d.h. der objektiven Zeit, auf die zugrunde
liegende Schicht der Erfahrung zurückzugehen, d.h. die subjektive Zeit“ (Lohmar, Dieter: Konstitution
der Welt-Zeit. Die Konstitution der objektiven Zeit auf der Grundlage der subjektiven Zeit, in: Ferrarin,
Alfredo (Hrsg.): Passive Synthesis and Life-world – Sintesi passiva e mondo della vita, Pisa 2006, 57).
341 Hua X, 7.
Staiti erläutert deutlich den Unterschied zwischen objektiver und phänomenologischer Zeit durch ein
Beispiel: „Mögen mein Zimmer, wo ich heute morgen aufgestanden bin, das Bergdorf, wo ich auch dieses
Jahr meine Sommerferien verbringen werde und die Bibliothek, wo ich in diesem Moment sitze, vom
objektiven Standpunkt zeitgleich sein (ich weiß, dass sie alle an sich jetzt gleichzeitig existieren), so sind
sie es strictu sensu nicht, sobald ich ihr Erscheinen für mich phänomenologisch in Betracht ziehe. Dabei
stellt sich heraus, dass jeder Gegenstand oder Sachverhalt (mag er Zimmer, Dorf, Bibliothek oder sonst
etwas sein) ursprünglich in einer Kontinuität von bewusstseinsmäßigen Erscheinungen sich konstituiert
hat und nur dadurch von mir her eine eindeutige Zeitstelle in der unveränderlich strömenden Ablaufsform
meines Bewusstseins erteilt bekommen hat. Hierdurch wurden sein Wirklichkeitscharakter und daher die
Form seiner von nun an immer möglichen Reproduzierbarkeit in der Erinnerung festgelegt sowie alle
vorgreifenden, erwartungsmäßigen Intentionen, die die Möglichkeit seiner näheren Bestimmung
a u f r e c h t e r h a l t e n “ ( S t a i t i , G e i s t i g k e i t , L e b e n u n d g e s c h i c h t l i c h e We l t i n d e r
Transzendentalphänomenologie Husserls, 175).
339
90
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
werden die objektiven Vorurteile vom Phänomenologen nicht für falsch erklärt, sondern
vielmehr in Klammern gesetzt, um das ursprüngliche ichliche Leben
wiederzuerlangen.342 Durch die phänomenologische Reduktion stellt das Bewusstsein
„seine Einordnung in die kosmische Zeit“ ein und die Wirkung besteht darin, dass
„[d]iejenige Zeit, die wesensmäßig zum Erlebnis als solchem gehört, mit ihren
Gegebenheitsmodis des Jetzt, Vorher, Nachher, des durch sie modal bestimmten
Zugleich, Nacheinander usw., [...] durch keinen Sonnenstand, durch keine Uhr, durch
keine physischen Mittel zu messen und überhaupt nicht zu messen “ 343 ist. Husserl
wählt in den schon zitierten Vorlesungen von 1905 über das innere Zeitbewusstsein oft
das Beispiel des Hörens des Tones einer Melodie und hebt deutlich hervor, dass den
durch Reduktion ermöglichten phänomenologischen Blick – mit den Worten Helds –
„nicht die dingliche Einheit ,der Ton’ [interessiert], die irgendwann in einer wirklich
oder phantasiemäßig als quasi-wirklich erfahrenen Welt auftritt, sondern allein die
zeitliche Struktur des gegenwärtigenden oder [...] originären
Wahrnehmungsbewußtseins-vom-Ton.“ 344 Dieser neue phänomenologische Ansatz zum
Zeitfeld hat eine Übereinstimmung mit dem Raumbewusstsein. Wenn wir nämlich die
Augen öffnen, dann finden wir „visuelle Empfindungsinhalte, die eine
Raumerscheinung fundieren, eine Erscheinung von bestimmten, räumlich so und so
gelagerten Dingen“345, und zwar einen objektiven Raum. Die phänomenologische
Ausschaltung dieses objektiven Raumes schließt das Abstrahieren von jeder
Transzendenz ein und das Zurückkehren zu den gegebenen
342
Mit diesen Worten drückt Husserl in Ding und Raum diese Suspendierung der objektiv durch
Chronometer bestimmbaren Zeit aus: „Die Hauswahrnehmung dauert etwa eine Minute, und diese Dauer
ist zerstückbar, etwa in zwei halbe Minuten. Und jedem Stück der Dauer entspricht ein Stück der
Wahrnehmung; ein Stück, d.h. eine voll konkrete Wahrnehmung, wofern die Abstückung wirklich
vollzogen ist. Ist die Möglichkeit derselben evident gewährleistet, so liegt darin, daß die Wahrnehmung
evidenterweise ein Ganzes ist, ein Konkretum, das teilbar ist, und zwar wieder in volle und ganze
Wahrnehmungen. Vollziehen wir die phänomenologische Reduktion, so fällt die objektive Zeit, die
Bestimmung als Minute und halbe Minute dahin“ (Hua XVI, 61-62).
Noch stärker nimmt Husserl Bezug auf den Ton in einem Text von 1908/09: „Liegt eine Absurdität darin,
daß der Zeitfluß wie eine objektive Bewegung angesehen wird? Ja! Andererseits ist doch Erinnerung
etwas, das selbst sein Jetzt hat, und dasselbe Jetzt etwa wie ein Ton. Nein. Da steckt der Grundfehler. Der
Fluß der Bewußtseinsmodi ist kein Vorgang, das Jetzt-Bewußtsein ist nicht selbst jetzt. Das mit dem JetztBewußtsein ‚zusammen‛ Seiende der Retention ist nicht ‚jetzt‛, ist nicht gleichzeitig mit dem Jetzt, was
vielmehr keinen Sinn gibt“ (Hua X, 333).
343 Hua III/1, 181.
344 Held, Klaus: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei
Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Den Haag 1966, 18.
345 Hua X, 5.
91
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Wahrnehmungserscheinungen, wo keine objektiv-räumlichen Zusammenhänge
eintreten, da „[e]s gar keinen Sinn [hat], etwa zu sagen, ein Punkt des Gesichtsfeldes sei
1 Meter entfernt von der Ecke dieses Tisches hier oder sei neben, über ihm usw.“ 346
Wenn man sich ebenso phänomenologisch an das originäre Zeitbewusstsein wendet,
geht daraus hervor, dass die punktförmige Vorstellung einer Linie der Jetztfolge eine
Konstruktion ist, weil man phänomenologisch vor einem „beständigen Flusse“ 347 steht,
d.h. vor einem Ablauf, der „eine Kontinuität steter Wandlungen ist, die eine untrennbare
Einheit bildet, untrennbar in Strecken, die für sich sein könnten, und unteilbar in
Phasen, die für sich sein könnten, in Punkte der Kontinuität.“ 348
Dieser Fluss weist die zeitliche Struktur von Urimpression, Retention und Protention
auf, aus der nach Husserl das „originäre Zeitfeld“ 349 besteht. In einem ersten Schritt in
Richtung einer Erläuterung des Zeitfeldes und seiner Momente kann man von einer
Passage des zweiten Bandes von Erste Philosophie ausgehen. Hier bestätigt Husserl,
dass zu jedem Jetzt der lebendig strömenden Gegenwart „immerfort ein Gebiet
unmittelbar bewußter Vergangenheit, bewußt im unmittelbaren Nachklang der soeben
versunkenen Wahrnehmung[, gehört]; ebenso ein Gebiet der unmittelbaren Zukunft, der
als soeben kommend bewußten, der das strömende Wahrnehmen sozusagen zueilt.“ 350
Diese strömende Dynamik birgt in sich, dass ein unendlicher Horizont jeden Moment
des Bewusstseinslebens begleitet, da
[d]er Bewußtseinshorizont mit seinen intentionalen Implikationen, seinen Bestimmtheiten
und Unbestimmtheiten, seinen Bekanntheiten und offenen Spielräumen, seinen Nähen und
Fernen nicht bloß eine Umwelt der Gegenwart, eine jetzt seiende [umspannt]; sondern, [...]
auch offene Unendlichkeiten der Vergangenheit und Zukunft. 351
Das sich immerfort entwickelnde Entstehen des Nachklangs der soeben versunkenen
Wahrnehmung und des Gebietes der unmittelbaren Zukunft ist die Bedingung der
Unendlichkeit des Bewusstseinsfeldes, da „[h]inter dieser unmittelbar retentionalen
346
Hua X, 5.
Hua X, 24.
348 Hua X, 27.
349 Hua X, 31.
350 Hua VIII, 149-150.
351 Hua VIII, 149.
347
92
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Vergangenheit [...] das Reich der sozusagen niedergeschlagenen, erledigten
Vergangenheiten“ liegt und „[a]uf der anderen Seite haben wir ebenso einen Horizont
der offen endlosen fernen Zukunft.“ 352
Die phänomenologische Zeitanalyse macht den absoluten Urstrom des Bewusstseins
mit seiner Struktur „Jetzt-Soeben-Nachher sichtbar: Diese lebendig strömende
Gegenwart ist die Seinsweise der transzendentalen Subjektivität, der beständige
Ursprung des Lebens und die Bedingung der Konstitution der immanenten Zeit und
überhaupt jeder Konstitution.“ 353 Wie Husserl betont, „besteht [sie], wie wir sagen
können, in einem universalen formalen Rahmen, in einer synthetisch konstituierten
Form, an der alle anderen möglichen Synthesen Anteil haben müssen.“ 354 Als erste
Aufgabe stellt sich nun das Herausarbeiten der verschiedenen Momente des „JetztSoeben-Nachher“, die dieser lebendig strömende Fluss des Zeitbewusstseins und seine
Horizonte von unendlicher Vergangenheit und Zukunft bilden.
2.1 Das Jetzt der Urimpression
Wenn der Ausschluss der objektiven Ansicht der Zeit die punktförmige Vorstellung
der Jetztfolge entfernt, stellt sich nun die Frage nach dem Wesen des Jetzt aus
phänomenologischer Betrachtung. Das Jetzt, das Husserl auch „Urimpression“ oder
„Urpräsentation“ 355 nennt, zeigt sich als der „ewig fliehende Grenzpunkt zwischen
Vergangenheit und Zukunft“ 356, weil „kein dauerndes Erlebnis möglich ist, es sei denn,
daß es sich in einem kontinuierlichen Fluß von Gegebenheitsmodis als Einheitliches des
Vorganges, bzw. der Dauer konstituiert.“ 357 Im Rahmen dieses beständigen Stroms
zeichnet sich als Urimpression die eigentliche Phase der anwesenden Gegenwart, d.h.
352
Hua VIII, 150.
Hierzu betont Roberto Mancini: „Resta il fatto che la natura enigmatica del tempo, anche se riguardato
come tempo vissuto, porta a chiedersi quale sia la sua origine. Esso sembra cooriginario alla coscienza e
proprio per questo si può pensare come più originale ed effettiva la temporalità costituita che non il tempo
oggettivo e misurabile“ (Mancini, Roberto: Visione e verità. Un viaggio nella fenomenologia attraverso
le Ideen I di Edmund Husserl, Assisi 2011, 60).
354 Hua XI, 125.
355 Für eine deutliche Zusammenfassung der Entwicklung des Husserlschen Begriffes der Urimpression
im Laufe der Entwicklung seiner Phänomenologie siehe Rodemeyer, Lanei M.: Intersubjektive
Temporality. It´s About Time, Dordrecht 2006, 19-46.
356 Hua XIII, 162.
357 Hua III/1, 183.
353
93
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
das „fließende Zwischen eigentlicher Präsenz“ 358 ab. Die Erfassung dieses Zwischen
stellt sich allerdings als äußerst problematisch dar, wie Husserl selbst feststellt: „Ist das
hier eine so einfache Sache, daß hier weitere Fragen nicht mehr übrig bleiben? [...] Was
macht den wunderlichen Unterschied zwischen ,jetzt‛ und ,eben vergangen‛
verständlich und das ewige Schauspiel des immer neu sich erzeugenden Jetzt und
immer neu ins Vergangene zurücksinkenden Jetzt?“ 359 Dieser gegenwärtige Moment der
Urimpression ist nur in abstrakter Weise feststellbar, da jedes Jetzt die mitanwesenden
unendlichen Horizonte der unmittelbaren Vergangenheit und der unmittelbaren Zukunft
mit sich bringt.360 Obwohl sich nie ein rein punktuelles Jetzt bietet, liegt beständig die
Möglichkeit vor, „daß das Ich den Blick auf die temporale Gegebenheitsweise
richtet“ 361, wie Husserl in Ideen I klar feststellt:
Ich kann aber auch auf ihre Gegebenheitsweise achten: auf den jeweiligen Modus des
„Jetzt“ und darauf, daß an dieses Jetzt, und prinzipiell an jedes, in notwendiger Kontinuität
sich ein neues und stetig neues anschließt, daß in eins damit jedes aktuelle Jetzt sich
wandelt in ein Soeben, das Soeben abermals und kontinuierlich in immer neue Soeben von
Soeben usw. So für jedes neu angeschlossene Jetzt. 362
Die Urimpression ist daher ein strömender Moment, der nur durch das reflexive
Sichrichten des phänomenologischen Blickes auf den zeitlichen Fluss feststellbar ist.
Wie Held beobachtet, soll „[der] Reflexionsgegenstand [...] in ungetrübter Helligkeit
358
Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund
Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 22.
359 Hua XVI, 65.
Bernet stellt zu der sich so ergebenden Schwierigkeit fest: „Die Urimpression zeichnet sich also
gegenüber anderen Empfindungen als Empfindung des Jetzt aus, und das Jetzt zeichnet sich gegenüber
anderen Zeitstellenpunkten als urimpressional bewusster Zeitpunkt aus. Diese zirkelhafte Definition des
Zusammenhangs von Urimpression und Jetzt sowie Husserls Zugeständnis, dass es sich dabei um eine
eigentliche Definition nicht handeln könne, sind Ausdruck einer philosophischen Verlegenheit. Diese
Verlegenheit ergibt sich daraus, dass in eigentlicher Weise über die punktuell-jetzige Gegenwart wohl
überhaupt nicht gesprochen werden kann und jedenfalls nicht ohne Bezug auf ein Nicht-Jetzt“ (Bernet,
Rudolf: Die ungegenwärtige Gegenwart. Anwesenheit und Abwesenheit in Husserls Analyse des
Zeitbewusstseins, in: Phänomenologische Forschungen 14 (1983): Zeit und Zeitlichkeit bei Husserl und
Heidegger, Freiburg, 45).
360 „Wir haben also in der konkreten Gegenwart einen abstrahierbaren Kern eigentlicher Gegenwart als
eine ausgezeichnete Phase im Strömen, die die Gegenwart bezeichnet, die kein Soeben und Kommend
mehr in sich schliesst, sondern reine Gegenwart.” In der auf diese Zeilen bezogenen Fußnote bezeichnet
Husserl diesen abstrahierbaren Kern als Urimpression: „,Reine‛ Gegenwart. Zentrale Momente reiner
‚Weltgegenwart‛, in gewisser Weise Urimpression von der Welt. Zeitigung im Strömen“ (Mat. VIII, 27).
361 Hua III/1, 183.
362 Hua III/1, 183.
94
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
und nächster Nähe vom reflektierenden Ich ins Auge ,gefaßt‛, vor Augen gestellt und
fixiert werden.“ 363 Was die phänomenologische Reflexion auf das Jetzt zunächst erfasst,
ist „sein unaufhaltsames Verschwinden und Verströmen.“ 364 Husserl beobachtet denn
auch in den Vorlesungen von 1905, dass der „ ,Quellpunkt’ [...] eine Urimpression [ist].
Dies Bewußtsein ist in beständiger Wandlung begriffen: stetig wandelt sich das leibhafte
Ton-Jetzt [...] in ein Gewesen, stetig löst ein immer neues Ton-Jetzt das in die
Modifikation übergegangene ab.“ 365 Es handelt sich um eine „ewige Bewegung“, in der
„wie jedes Jetzt so jedes Vergangene ergriffen“366 ist: Jedes Jetzt
sinkt immer weiter zurück, aus dem Vergangenen wird ein ferner Vergangenes usw.
Erscheint so die Zeit als ein ewiger Fluß, der alles Zeitliche in den Abgrund der
Vergangenheit hinabstürzt, so gilt andererseits doch die Zeit als eine ewige starre Form,
denn jedes Seiende behält seine Zeitstelle. Die Zeitstellen der Ereignisse in der
Vergangenheit kann selbst ein Gott nicht ändern. 367
Diese „beständige Wandlung“ der Urimpression, die eine unaufhörliche
Umgestaltung des Jetzt in ein Soeben mit sich bringt, führt daher zum zweiten der oben
genannten Momente des Zeitfeldes, und zwar zur Retention. Urimpression und
Retention sind strukturell in dieser ewigen Bewegung aneinander gebunden, weil
„[j]edes aktuelle Jetzt des Bewußtseins [...] aber dem Gesetz der Modifikation
[unterliegt]. Es wandelt sich in Retention von Retention, und das stetig.“ 368 Auf Grund
dieses zum Zeitbewusstsein gehörigen Gesetzes der Modifikation wandelt sich „[d]as
Ton-Jetzt [...] in Ton-Gewesen, das impressionale Bewußtsein geht ständig fließend
über in immer neues retentionales Bewußtsein.“ 369
363
Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund
Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 23.
364 Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund
Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 23.
365 Hua X, 29.
366 Hua XVI, 65.
367 Hua XVI, 65.
368 Hua X, 29.
369 Hua X, 29.
95
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
2.2 Der Kometenschweif der Retention und die Wiedererinnerung
Der ewig strömende Fluss von Jetzt, Eben-Gewesen und immer mehr Vergangen
spielt eine zentrale Rolle im Rahmen der Frage nach dem beständigen Versinken und
der Sedimentierungen der Erlebnisse in der Passivität. Der Versuch einer Erfassung und
eines Verständnisses des Phänomens der Retention ist nämlich der Weg, der nach „dem
gesamten Reich der Vergessenheiten“ 370, d.h. „dem fernen Horizont, in den schließlich
alle Retentionen versinken“ 371, führt.
Bevor die dieses Thema unmittelbar betreffenden Implikationen vorgestellt und
vertieft werden, ist es wichtig zu klären, was Husserl mit dem Terminus „Retention“
meint. Eine Passage aus den Analysen zur passiven Synthesis kann hierzu einen
nützlichen Ausgangspunkt bilden:
Jeder Anschauung entspricht natürlich eine Leervorstellung, insofern eine jede nach ihrem
Ablauf nicht spurlos verschwunden ist. Was sie angeschaut hatte, das ist nun in
unanschaulischer Weise „noch“ bewußt, es verschwimmt freilich zuletzt in eine allgemeine,
unterschiedslose Leere. Jede solche Leervorstellung ist eine Retention, und ihr notwendiges
Sich-anschließen an vorgängige Anschauungen bezeichnet ein Grundgesetz der passiven
Genesis. 372
Was diesen Worten zunächst entnommen werden kann, ist die Behauptung Husserls,
dass die Retention nicht anschaulich gegeben ist. Sie hebt sich dagegen als eine
Leervorstellung ab, die dennoch jede Anschauung voraussetzt. Keine Anschauung
besteht tatsächlich in einem punktuellen Moment, sondern vielmehr in einem Ablauf,
der unvermeidlich Spuren von sich selbst hinterlässt.373 Gerade in der mit jeder
Urimpression verbundenen Spur besteht das Phänomen der Retention, die Husserl in
seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins durch eine
deutliche Metapher kennzeichnet: Die „Jetztauffassung ist gleichsam der Kern zu einem
Kometenschweif von Retentionen, auf die früheren Jetztpunkte der Bewegung
370
Hua XI, 123.
Hua XI, 78.
372 Hua XI, 72.
373 „Wenn ein Zeitobjekt abgelaufen, wenn die aktuelle Dauer vorüber ist, so erstirbt damit keineswegs
das Bewußtsein von dem nun vergangenen Objekt, obschon es jetzt nicht mehr als
Wahrnehmungsbewußtsein oder besser vielleicht impressionales Bewußtsein fungiert“ (Hua X, 30).
371
96
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
bezogen.“ 374 Wenn man die Aufmerksamkeit auf dieses Grundgesetz der passiven
Genesis richtet, dann stößt man – wie Husserl in den Cartesianischen Meditationen
betont – „auf eine paradoxe Grundeigenheit des Bewußtseinslebens, das so auch mit
einem unendlichen Regreß behaftet zu sein scheint. Die verstehende Aufklärung dieser
Tatsache bereitet außerordentliche Schwierigkeiten.“375
Gerade dieser retentional
unendliche Regress soll hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.
In seinen Analysen zur passiven Synthesis unterstreicht Husserl wiederholt, dass
„Retentionen, wie sie in ihrer Ursprünglichkeit auftreten, [...] keinen intentionalen
Charakter“376 haben. Dies ist ein wichtiges Element für das Verständnis des Wesens der
Retention zu verstehen, weil es ihren Unterschied zu den anderen Dimensionen der
Zeitlichkeit wie Wiedererinnerungen, Protentionen und Erwartungen festlegt. Während
die letzten zwei Elemente mit dem Horizont der Zukunft zu tun haben, dem wir uns
später zuwenden werden, ist es nützlich, den Unterschied zwischen Retention und
Wiedererinnerung – die Husserl begrifflich auch mithilfe der Ausdrücke primäre
Erinnerung für die Retention und sekundäre oder reproduktive Erinnerung für die
Wiedererinnerung fasst – sofort unter die Lupe zu nehmen, weil sie leicht wegen ihrer
gemeinsamen Zugehörigkeit zum Horizont des Schon-Gewesenen verwechselt werden
können.
Husserl beachtet, dass „[j]edes Jetzt der Retention [...] Retention von einem NichtJetzt, von einem Eben-Gewesenen [ist], und dieses Gewesene sei, sagten wir,
gegeben.“ 377 Auch die Wiedererinnerungen gehören zur Dimension des Nicht-Jetzt:
„Beiderseits, bei primärer und reproduktiver Erinnerung, gemeinsam ist, daß das
Vorgestellte ,nicht jetzt selbst da‛ ist.“378 Dennoch beziehen sich Wiedererinnerung und
374
Hua X, 30.
Hua I, 81.
376 Hua XI, 77.
Vincenzo Costa betont das Missverständis jener Interpretation des Husserlschen Begriffs der Retention
heraus, die ihr einen intentionalen Charakter zuschreibt: „Riguardo alle ritenzioni, non solo non vi è
un’intenzione intesa come atto dell’io, come atto dossico, ma neanche nel senso di un’intenzione passiva,
di una direzione-verso, di un tendere verso il riempimento tipico delle protenzioni o del ricordo. [...] non
hanno alcuna tendenza al riempimento, anzi non hanno alcuna tendenza in generale“ (Costa, Vincenzo:
L’estetica trascendentale fenomenologica. Sensibilità e razionalità nella filosofia di Edmund Husserl,
Mailand 1999, 107-108).
377 Hua XIII, 162.
378 Hua X, 166.
375
97
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Retention auf zwei verschiedene Bewusstseinsphänomene. Die sekundären
Erinnerungen erzeugen nämlich wieder Erlebnisse, die in der Vergangenheit versunken
sind, aber, wie Husserl betont, „[d]er Grundcharakter der Wiedererinnerung,
Reproduktion’“ 379 ist ein solcher, der allen Vergegenwärtigungsakten gehört, wie z.B.
d e r P h a n t a s i e .380
Die Wiedererinnerung besteht in der
„Vergegenwärtigungsmodifikation des Wahrnehmungsprozesses mit allen Phasen und
Stufen bis hinein in die Retentionen: aber alles hat den Index der reproduktiven
Modifikation.“381
Eben die Eigentümlichkeit der Vergegenwärtigungsmöglichkeit
unterscheidet sekundäre von primären Erinnerungen, da während der Wiedererinnerung
„sich selbst in einem Kontinuum von Urdaten und Retentionen auf[baut] und
konstituiert (oder vielmehr: re-konstituiert) in eins damit eine immanente oder
transzendente Dauergegenständlichkeit [...]. Die Retention dagegen erzeugt keine
Dauergegenständlichkeiten (weder originär noch reproduktiv).“ 382 Das ist der Grund der
Verweigerung des intentionalen Charakters der Retentionen: Sie richten sich eigentlich
an keinen intentionalen Gegenstand, sondern bilden den Kometenschweif oder den
„Zeithof“ 383, der zu jedem Zeitpunkt gehört. Retention und Wiedererinnerung
unterhalten dennoch eine strenge Beziehung, da die beständige Bewegung des
retentionalen Versinkens die Möglichkeitsbedingung der Bildung der Sedimentierungen
darstellt.384 Auf Grund dieses Wesens der Möglichkeitsbedingung der Retention jeder
379
Hua XI, 371.
So schreibt Husserl in der Beilage VIII zu seinen Analysen zur passiven Synthesis: „[J]ede Phantasie,
zufällig auftauchend oder frei erzeugt, ist eine Vergegenwärtigung, aber darum auch noch keine
Wiedererinnerung. Zur anschaulischen Vergegenwärtigung gehört, daß sie sich als eine Modifikation der
Wahrnehmung gibt. Phantasiemäßig etwas vorstellen, aber auch in einer Wiedererinnerung vorstellen, das
ist ,gleichsam wahrnehmen‛, aber eben nur ,gleichsam‛ “ (Hua XI, 371).
381 Hua X, 37.
382 Hua X, 36.
383 So drückt Husserl sich vollständig an dieser Stelle aus: „Der Jetztpunkt hat für das Bewußtsein wieder
einen Zeithof, der sich in einer Kontinuität von Erinnerungsauffassungen vollzieht, und die gesamte
Erinnerung der Melodie besteht in einem Kontinuum von solchen Zeithofkontinuen, bzw. von
Auffassungskontinuen der beschriebenen Art.“ (Hua X, 35-36).
384 Noch einmal erklärt Held: „Der Vergangenheitshorizont weckbarer identischer und individueller
Gegenstände entsteht durch die Sedimentation. Diese ist die ,unbewußte‛ Fortsetzung der Retention. Die
retentionale Implikation erwächst aus der urpassiven Übergangssynthesis des entgleitenlassenden
Behaltens. Damit hat sich diese Synthesis in ihrer urkonstitutiven Funktion zugleich als Urstiftung des
universalen Vergangeheitshorizontes der Wahrnehmungswelt erwiesen“ (Held, Lebendige Gegenwart. Die
Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der
Zeitproblematik, 81).
380
98
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Vergegenwärtigung385 geht Husserl so weit, der Retention „eine Intentionalität eigener
Art” zuzuerkennen. Er fährt nämlich fort: „Indem ein Urdatum, eine neue Phase
auftaucht, geht die vorangehende nicht verloren, sondern wird ‚im Griff behalten’ (d.i.
eben ,retiniert’), und dank dieser Retention ist ein Zurückblicken auf das Abgelaufene
möglich.“386 Diese Behauptung widerspricht keineswegs dem, was bisher festgestellt
worden ist, weil Husserl ferner bestimmt: „Die Retention selbst ist kein Zurückblicken,
das die abgelaufene Phase zum Objekt macht: indem ich die abgelaufene Phase im Griff
habe, durchlebe ich die gegenwärtige, nehme sie – dank der Retention – ‚hinzu’.“ 387
Kurz gesagt ist es also der Retention zu verdanken „daß das Bewußtsein zum Objekt
gemacht werden kann.“ 388
Auf diese Weise drückt Held deutlich den mit der Möglichkeit des Aktes der
Vergegenwärtigung verbundenen Unterschied zwischen Wiedererinnerung und
Retention aus:
Der Akt der Vergegenwärtigung selbst ist zwar eine sich gegenwärtig abspielende
Erfahrung; doch das darin „Erfahrene”, das Vergegenwärtigte, ist nicht mehr in der
Helligkeit und Nähe urimpressional-retentionaler Aktualität gegeben; es wird vielmehr aus
dem Dunkel und aus der Verdecktheit des endgültig Vergangenen wieder ins Licht gerückt,
ohne daß es damit seinen „Platz“ im Bereich des ein für allemal Verströmten jemals
aufgäbe. Es heißt darum „wieder-erinnert“, – im Gegensatz zum retentional Behaltenen,
das wegen seiner unmittelbaren, wenn auch schon-schwindenden Mitbewußtheit im
Präsenzfeld „primär erinnert“ heißen kann. 389
Auf die jeweiligen Rollen der primären und der sekundären Erinnerung sowie auf
ihre Bedeutungen im Rahmen der Konstitution der Persönlichkeit werden wir innerhalb
dieser Untersuchung alsbald zurückkommen.
385
Hierzu betont Dan Zahavi deutlich: „When reflection sets in, it initially grasps something that has just
elapsed, namely, the motivating phase of the act reflected upon. The reason why this phase can still be
thematized by the subsequent reflection is that it does not disappear, but is retained in the retention,
wherefore Husserl can claim that retention is a condition of possibility for reflection. It is due to the
retention that consciousness can be made into an object“ (Zahavi, Dan: Inner Time-Consciousness and
Pre-Reflective Self-Awareness, in: Welton, Donn (Hrsg.): The New Husserl: A Critical Reader.
Bloomington 2003, 163-164).
386 Hua X, 118.
387 Hua X, 118 (Meine Hervorhebung).
388 Hua X, 119.
389 Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund
Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 34.
99
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
2.3 Die Protention
Das letzte der von Husserl angegebenen Momente des Bewusstseinsflusses ist die
Protention, welche „die zweite Seite der genetischen Urgesetzlichkeit“ 390 bezeichnet
und – wie sich bereits ergeben hat – das Gebiet der „Zukunft als
Vorerwartungshorizont“391 darstellt. Die Protentionen sind also die zweite Seite des
Horizontes, den jedes Jetzt mit sich führt. „Wie die Vergangenheit als solche, und zwar
als Soeben-Gewesenheit, sich erst durch anschauliche Wiedererinnerungen in Klarheit
herausstellt, so die konstitutive Leistung der Protention als das soeben Kommende, als
die ursprünglich bewußt werdende Zukunft.“ 392 Auch Held bemerkt, dass es keine
beliebige Wahl ist, die Protention nach einer Auffassung der Retention zu untersuchen,
weil „[d]ie Entdeckung der Protention folgerichtig zunächst als Aufweis ihrer
Strukturähnlichkeit mit der Retention [sich vollzieht]: Sie ist wie diese ein
unthematisches Mit-Bewußt haben der Randphasen des Präsenten, die schon bzw. noch
in einer wesenhaften Verdecktheit, in einem unaufhebbaren Halbdunkel liegen.“ 393
Protention ist beständige Vorzeichnung, die jede Wahrnehmung oder jedes Erlebnis
kennzeichnet, da „alles eigentlich Erscheinende [...] nur dadurch Dingerscheinendes
[ist], daß es umflochten und durchsetzt ist von einem intentionalen Leerhorizont. Es ist
eine Leere, die nicht ein Nichts ist, sondern eine auszufüllende Leere, es ist eine
bestimmbare Unbestimmtheit.“ 394 Erneut bezeichnet Husserl diesen Leerhorizont als
„Bewußtseinshof“, der „in Form einer Vorzeichnung [...] dem Übergang in neue
aktualisierende Erscheinungen eine Regel vorschreibt.“ 395
Es ist außerdem wichtig, den wesentlichen Unterschied zwischen Retentionen und
Protentionen zu erfassen. Während die Retentionen nach Husserl keinen eigentlich
intentionalen Charakter besitzen, ist diesbezüglich etwas anderes bei den Protentionen
festzustellen. Retentionen und Protentionen bilden gemeinsam den Zeithof jeder
390
Hua XI, 73.
Hua XXXIX, 215.
392 Hua XI, 73.
393 Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund
Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 40.
394 Hua XI, 6.
395 Hua XI, 6.
391
100
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Urimpression396 , und „[w]ie den retentionalen Horizont, so kann man den
protentionalen enthüllen. [...] Aber neu ist es, wenn wir in den Brennpunkt die Frage
rücken, ob die beiderseitigen Leervorstellungen als Leervorstellungen im wesentlichen
gleichartig sind.“397 Unsere Erfahrung zeigt denn auch deutlich, dass Retentionen und
Protentionen eine unterschiedliche Dynamik aufweisen. Diesbezüglich
sprechen schon die Ausdrücke, die wir durch intuitive Versenkung in die beiderseitigen
Sachlagen unterscheidend wählen mußten. Wir sprachen bei der Protention, trotz der reinen
Passivität, von Erwartung und im Gleichnis davon, daß die Gegenwart der Zukunft offene
Arme entgegenbreitet. [...] Solche Ausdrücke gebrauchten wir nicht und konnten wir nicht
gebrauchen bezüglich der Retention. 398
Dieser in den jeweiligen Ausdrücken deutlich werdende Unterschied betrifft eben
den intentionalen Charakter. Eine phänomenologische Betrachtung des
Zeitbewusstseins zeigt, dass unser Gerichtetsein auf die Zukunft immer eine
intentionale Richtung aufweist: „Schlicht gewahrend sind wir auf das Gegenwärtige, auf
das immer neue Jetzt gerichtet, das als Erwartung erfüllendes eintritt, und durch es
hindurch weiter auf das Kommende. Das Gewahren folgt der protentionalen
Kontinuität.“ 399 Obwohl Retention und Protention leere Bewusstseinshöfe sind und
beide durch Wiedererinnerung und Erwartung eine anschauliche Enthüllung erfahren,
liegt in der Protention „das schon in der passiven Wahrnehmung selbst liegende
Vorgerichtet-sein patent“ 400 vor, während die Retention kein Gerichtetsein ist.
Es gibt einen weiteren Aspekt, der eine besondere Hervorhebung im Rahmen dieser
Untersuchung verdient und einen wesentlichen Zusammenhang mit dem gerade eben
396
Wie Retention und Wiedererinnerung sind auch Protention und Erwartung durch die Anerkennung
ihrer jeweiligen leeren und anschaulichen Charaktere zu unterscheiden. Hierzu schreibt Husserl:
„Diese ,bestimmten’ Retentionen und Protentionen haben einen dunklen Horizont, sie gehen fließend über
in unbestimmte, auf den vergangenen und künftigen Ablauf des Stromes bezügliche, durch die sich der
aktuelle Inhalt der Einheit des Stromes einfügt. Wir haben sodann von den Retentionen und Protentionen
zu scheiden die Wiedererinnerungen und Erwartungen, die nicht auf die konstituierenden Phasen des
immanenten Inhalts gehen, sondern vergangene bzw. künftige immanente Inhalte
vergegenwärtigen“ (Hua X, 84). Auf diesem Grund werden Protention und Erwartung – ähnlich wie
Retention und Wiedererinnerung – von Husserl auch als primäre und sekundäre Erwartung
gekennzeichnet (Vgl. Hua X, 39).
397 Hua XI, 73.
398 Hua XI, 74.
399 Hua XI, 74.
400 Hua XI, 74.
101
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
besprochenen Gerichtetsein der Protention aufweist: Die Protention bildet die
Voraussetzung sowohl für die implizite als auch für die explizite Willensspannung, die –
wie im letzten Kapitel bereits hervorgehoben – jeden Akt des gesamten Ichlebens
kennzeichnet. Jede Urimpression bringt mit sich einen zukünftigen Horizont, der ein
offener Horizont von Erwartung, Spannung und Begehren ist. So schreibt Husserl, dass
jede Wahrnehmung „ein beständiges Substrat von [beispielsweise] wirklich
erscheinenden Tisch-Momenten, aber auch von Hinweisen auf noch erscheinende“ 401
ist. Er fährt dann fort: „Diese Hinweise sind zugleich Tendenzen, Hinweistendenzen, die
zu den nicht gegebenen Erscheinungen forttreiben.“ 402 Das Ich ist ein System des „Ich
kann“ und die Vorzeichnungstendenzen der Protention bilden dafür die transzendentale
Bedingung, wie Husserl im § 59 des zweiten Bandes der Ideen („Das Ich als Subjekt der
Vermögen“) betont: Der Erfahrung als immer wieder offener Horizont von neuen
Erscheinungen entsprechen immer
gewisse Bekanntheit für das jeweilige Verhalten des Ich, gewisse Erwartungstendenzen
oder mögliche Erwartungstendenzen, die sich auf das Auftreten des jeweiligen Verhaltens
im Bewußtseinsstrom beziehen. Nun ist dieses Verhalten im Hintergrundsbewußtsein kein
eigentliches Erwarten, sondern eine auf das künftige Eintreten gerichtete Protention, die bei
Hinwendung des Ichblickes zur Erwartung werden kann. 403
Wie Husserl in diesen Passagen deutlich erklärt, spielen nicht nur das System des
retentionalen Versinkens, sondern auch die protentionalen Erwartungstendenzen eine
grundsätzliche Rolle bei der Konstitution des Ich und seiner Persönlichkeit, da durch die
Erwartungstendenzen „eine Gegenständlichkeit, eben das Subjekt der
Verhaltungsweisen [sich konstituiert]; das System solcher Protentionen und
401
Hua XI, 5.
Hua XI, 5.
Held zitiert eine Passage aus einem Manuskript, in der Husserl diese Beziehung zwischen Protentionen
und Begehren betont: „Urbefriedigung des instinktiven Begehrens <nach Urpräsentation> ist als Urakt
der impressionalen Wahrnehmunganzusetzen“ (C 13 III ,13). Held erläutert dies näher: „Obwohl also das
Gewärtigte Zukünftiges und damit doch einmal unbekannt war, bietet es sich dem phänomenologischen
Blick doch zunächst als solches dar, das in irgendeiner Weise in anschauliche Nähe gekommen und damit
bekannt geworden ist. Der Urmodus der Intentionalität, in der sie auf die ihr gemäßeste Weise
verwirklicht wird, ist die Urnähe des Bewußten, die Erfüllung der Intention durch Selbstgebung,
Präsentation, d.h. die ,Befriedigung’ der gleichsam instinktiven Erfüllungstendenz jeder
Wahrnehmung.“ (Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich
bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 41).
403 Hua IV, 256.
402
102
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Verflechtungen [...] schafft eine neue intentionale Einheit, bzw. korrelativ eine neue
Apperzeption.“404
Das Thema der Protention verbindet sich mit einer wichtigen phänomenologischen
Frage, die sich schon aus den Überlegungen zur Motivation im ersten Kapitel dieser
Arbeit ergeben hat, und zwar mit der Frage nach den Erfahrungszusammenhängen, die
eine beständige motivationale Verweisungsstruktur bilden, ohne den Charakter der
Unvorhersehbarkeit und immer wieder erneuerten Neuigkeit zu verlieren. Diese
problematische Beziehung hat natürlich mit der Protention und seiner
Erwartungsstruktur zu tun. In seinen Analysen zur passiven Synthesis geht Husserl
näher auf diese Problematik ein, wenn er behauptet, dass „zur Konstitution einer raumdinglichen Umwelt [...] eine überreiche Vorzeichnung für den Gang der weiteren
möglichen Erfahrungen“ 405 gehört. Dies berührt einen „Grundzug der Intentionalität“,
u n d z w a r d a s s „ [ j ] e d e s E r l e b n i s [ . . . ] e i n e n i m Wa n d e l s e i n e s
Bewußtseinszusammenhanges und im Wandel seiner eigenen Stromphasen wechselnden
Horizont — einen intentionalen Horizont der Verweisung auf ihm selbst zugehörige
Potentialitäten des Bewußtseins [hat].“ 406
Wie nämlich die Beobachtung jedes
Wahrnehmungsaktes zeigt, gehört
zu jeder äußeren Wahrnehmung [...] die Verweisung von den eigentlich wahrgenommenen
Seiten des Wahrnehmungsgegenstandes auf die mitgemeinten, noch nicht
wahrgenommenen, sondern nur erwartungsmäßig und zunächst in unanschaulicher Leere
antizipierten Seiten — als die nunmehr wahrnehmungsmäßig kommenden, eine stetige
Protention, die mit jeder Wahrnehmungsphase neuen Sinn hat.407
Es handelt sich – so fährt Husserl fort – um einen „motivierte[n]
Erfahrungsglaube[n], überreich bekräftigt und bestätigt durch unzählige
Zusammenstimmungen.“ 408 Wenn man anerkennt, dass „das bisherige Leben mir auch
in beständigen Protentionen und mittelbaren Vorerwartungen Linien künftigen Lebens,
404
Hua IV, 256.
Hua XI, 106.
406 Hua I, 82.
407 Hua I, 82.
408 Hua XI, 106.
405
103
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
und vernünftig (mit ,Grund’), vorzeichnet“ 409, dann stellen sich erneut die Fragen:
„[K]ann nicht die weitere Erfahrung mit ihren immer neuen Selbstgebungen schließlich
doch fortlaufen, wie sie will? Gegen alle und jede Erwartung, gegen alle noch so
kräftigen Vorüberzeugungen, Wahrscheinlichkeiten?“ 410 Oder nochmals: „Muß es denn
so bleiben, wie es bisher, nach Aussagen unserer Erinnerung, war? Muß sich in dieser
Weise kontinuierlich äußere Erfahrung an äußere Erfahrung anreihen?“ 411. Zu jeder
Urimpression gehört ein protentionaler Horizont als soeben kommend bewußte Zukunft,
aber dieser motivationale Bewusstseinszusammenhang desavouiert nicht den Charakter
der Neuigkeit des Erfahrungsgeschehens: „Was die immanenten Gegebenheiten anlangt,
und speziell die Empfindungsdaten, so bringt jedes Jetzt neue.”412 Auch wenn „ein
prophetisches Bewußtsein” denkbar ist, d.h. ein Bewusstsein, „dem jeder Charakter der
Erwartung des Seinwerdenden [...] vor Augen steht“ – wie Husserl in seinen
Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins als paradoxe Hypothese
annimmt –, „wird auch da manches Belanglose in der anschaulichen Antizipation der
Zukunft sein, das als Lückenbüßer das konkrete Bild ausfüllt, das aber vielfach anders
sein kann, als das Bild es bietet: es ist von vornherein charakterisiert als Offenheit.“ 413
Die Protentionen implizieren nämlich keine Vorhersehbarkeit, sondern die
Verständlichkeit des Erfahrungsverlaufs und ihren motivationalen Charakter: „Die
Vorzeichung selbst ist zwar allzeit unvollkommen, aber in ihrer Unbestimmtheit doch
von einer Struktur der Bestimmtheit.“414
Die bisher behandelten Analysen über die verschiedenen Momente des
Zeitbewusstseins und ihr beständiges Strömen fungieren als unabdingbare
Voraussetzung für den Zugang zur Sphäre der Passivität und daher zum Reich des
409
Hua XIV, 279.
Hua XI, 106.
411 Hua XI, 107.
412 Hua XI, 106.
413 Hua X, 56.
414 Hua I, 83.
Hierzu ist auf eine Passage Husserls in seinen Vorlesungen zur transzendentalen Logik von 1920/21
hinzuweisen, wo er diese Eigentümlichkeit der Protention und des Erwartungssystems hervorhebt: „Im
Fortgang des Bestimmens wird nach den protentionalen Gesetzen selbstverständlich über die Folge der
aktuell konstituierten Bestimmungen hinaus ein offener Horizont für zu erwartende neue Eigenheiten
entstanden sein. Jede gegliederte geistige Fortbewegung, in gleichmäßigem Stil fortschreitende, führt
einen solchen offenen Horizont mit sich; einen offenen, denn nicht ein nächstes Glied ist als einziges
vorgezeichnet, sondern Fortgang des Prozesses, ein Glied und noch eins usw.“ (Hua XXXI, 34-35).
410
104
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Unbewussten. Wie Husserl betont, ist „[j]ede aktuelle Gegenwart in ihrem Strömen [...]
konkret in der Form strömender urimpressionaler Gegenwart und retentionaler (sowie
protentionaler) Abwandlungen, trägt also schon strömend eine Vergangenheit in
sich.“415 Gerade diese Dynamik soll hier nachfolgend vertieft und verstanden werden.
Der Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung wird von Husserl mit diesen Worten
beschrieben:
Ich bin auch das Subjekt, das an den und den Sachen Gefallen zu haben pflegt, das und das
habituell begehrt, wenn die Zeit kommt, zum Essen geht usw.: Subjekt gewisser Gefühle
und Gefühlsgewohnheiten, Begehrungsgewohnheiten, Willensgewohnheiten, bald passiv,
sagte ich, bald aktiv. Es ist klar, daß sich da in der Subjektivität gewisse Schichten
konstituieren, sofern gewisse Gruppen von Ichaffektionen oder passiven Ichakten sich
relativ für sich organisieren und zur empirischen Einheit konstitutiv zusammenschließen.
Eine nähere Untersuchung müßte diese Schichten herausstellen.416
Es handelt sich, kurz gesagt, um eine Untersuchung, die das Ziel verfolgt, die
Phänomenologie der unbewussten Schichten des Ichlebens zu beleuchten.
§ 3. Das Unbewusste als „Reich der scheinbar
zu nichts gewordenen Vergessenheiten”
3.1 Die Sedimentierungen der nicht mehr aktuellen Akten
a) Die retentionalen Abwandlungen und das Versinken jeden Bewusstseinsinhalts
Die phänomenologische Betrachtung des inneren Zeitbewusstseins hat etwas für das
Verständnis des Wesens und der Rolle der Passivität Grundlegendes offengelegt, weil
gerade die Dynamik des Zeitflusses die transzendentale und tiefere Voraussetzung für
jede Konstitution bildet. „[B]ei der originären Gegebenheit eines Zeitobjektes fanden
wir, daß er zuerst lebendig, klar erscheint, dann mit abnehmender Klarheit ins Leere
übergeht. Diese Modifikationen gehören zum Fluß.“ 417 Der Fluss der Zeitlichkeit stellt
415
Hua XXXIX, 608.
Hua IV, 256-257.
417 Hua X, 48.
416
105
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
den Urstrom dar, in dem die Gegenstände und das Ich selbst sich konstituieren. Deshalb
soll eben dieser originäre Fluss näher als grundlegende Voraussetzung befragt werden,
um das Wesen der Sedimentierungen zu erfassen. Husserl schreibt hierzu:
An die Urimpression schließt sich Retention an. Der retentionale Prozeß ist, wie wir gelernt
haben, ein Prozeß eigentümlicher stetiger Modifikation der Urimpression. Das im Modus
originaler Anschaulichkeit, der leibhaften Selbsthabe, Gegebene erfährt die modale
Abwandlung des „immer mehr vergangen“. Der konstitutive Prozeß dieses sich
bewußtseinsmäßig Modifizierens ist eine kontinuierliche Synthesis der Identifikation.
Bewußt ist stetig dasselbe, aber immer weiter in die Vergangenheit zurückrückend. 418
Dass durch die notwendige retentionale Wandlung jede lebendige Urimpression
immer weiter in die Vergangenheit versinkt, „führt dabei notwendig in das affektive
Nullgebiet, dem es sich einverleibt und in dem es nichts ist. So müssen wir überhaupt
zur lebendigen Gegenwart einen mit ihr selbst sich beständig wandelnden affektiven
Nullhorizont rechnen.“ 419 Die „immerfort mitfungierende Retention“ zeigt sich daher
als „die Urstätte dieser Leistung“420, die ein beständiges Versinken jeder Gegenwart mit
sich bringt: „Die ursprünglich auftretenden [Retentionen] bleiben ja unanschaulich und
versinken in den unterschiedslosen, gleichsam leblos gewordenen allgemeinen Horizont
der Vergessenheit – wenn nicht assoziative Weckung statthat.“ 421
Verschiedene
Ausdrücke – Nullhorizont, unterschiedsloser oder lebloser Horizont, Nullgebiet usw. –
werden daher von Husserl verwendet, um die Sphäre zu bezeichnen, in welche die
lebendige Gegenwart schrittweise versinkt.
Husserl gibt eine mögliche Analogie zu dem Phänomen der räumlichen Perspektive,
um die zeitliche Modifikation des „immer mehr vergangen“ zu erfassen:
Eine reflektive Versenkung in die Einheit eines gegliederten Vorgangs läßt uns beobachten,
daß ein artikuliertes Stück des Vorgangs beim Zurücksinken in die Vergangenheit sich
„zusammenzieht“ – eine Art zeitlicher Perspektive (innerhalb der originären zeitlichen
Erscheinung) als Analogon zur räumlichen Perspektive. Indem das zeitliche Objekt in die
Vergangenheit rückt, zieht es sich zusammen und wird dabei zugleich dunkel.422
418
Hua XI, 168.
Hua XI, 167.
420 Hua XI, 8.
421 Hua XI, 80.
422 Hua X, 26.
419
106
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Aufgrund der eigentümlichen phänomenologischen Modifikation des retentionalen
Zurücksinkens versinkt also allmählich die lebendige Urimpression. Zugleich „nimmt
die Anschaulichkeit gegen die Vergangenheit hin immer mehr an Sattheit ab bis zur Null
der Anschaulichkeit“, aber – und das ist einer der wichtigsten Punkte – „[m]it dem Nullwerden der Anschaulichkeit ist also die affektive Kraft nicht Null.“ 423 Auch wenn die
vergangenen Erlebnisse in einer unterschiedslosen Nullsphäre versunken sind, bedeutet
das nicht, dass sie keine Affektion besitzen. Husserl betont nämlich:
Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß das fortschreitende Verschwimmen der
Retentionen bloße Schwächung der Affektion sei, vielmehr liegt es im Wesen der
retentionalen Abwandlung, daß sie die inhaltlichen Affinitäten und Kontraste zwar nicht
abändert in der Weise, wie in der Klarheit sachliche Abwandlung statthat, aber daß die eine
neue Dimension der Verwischung der Unterschiede beibringt, eine wachsende Vernebelung,
Verunklarung, die wesensmäßig die affektive Kraft abschwächt.424
Das Zurücksinken in die Vergangenheit führt daher zu einer kontinuierlichen und
zunehmenden Modifikation der affektiven Kraft, „eine[r] Schwächung Hand in Hand,
die schließlich in Unmerklichkeit endet“.425 Diese Unmerklichkeit entspricht jedoch
einem einfachen Nichts 426, wie später bezüglich der motivationalen Kraft der
versunkenen Sedimentierungen noch deutlicher gezeigt werden soll. Der strömende
Fluss des Zeitbewusstseins zieht gewiss ein Verschwinden nach sich, aber dieses
Verschwinden besteht nicht in einem Sich-in-Nichts-Auflösen. Demgemäß stellt Husserl
in Bezug auf den Wahrnehmungsprozess fest: „[S]owie eine neue Seite sichtig wird,
wird eine eben sichtig gewordene allmählich unsichtig, um schließlich ganz unsichtig
zu werden. Aber was unsichtig geworden ist, ist für unsere Kenntnis nicht verloren.“ 427
Das bedeutet, dass „ein bestimmtes Sinnesmoment [...] zwar im Fortgang zu neuen
Wahrnehmungen aus dem eigentlichen Wahrnehmungsfeld entschwindet, aber
423
Hua XI, 169.
Hua XI, 156.
425 Hua X, 30-31.
426 Hierzu betont Yamaguchi: „Der Sinngehalt der Retention wird durch den retentionalen Prozeß immer
mehr vernebelt und schließlich völlig unterschiedslos, aber er wird nicht zum Nichts, sondern
zur ,Leervorstellung’ im Hintergrundbewußtsein, in dem sie als ,Unbewußtes’ impliziert
wird“ (Yamaguchi, Ichiro: Die Frage nach dem Paradox der Zeit, in: Recherches Husserlienne, 17
(2002), 9).
427 Hua XI, 9.
424
107
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
retentional erhalten bleibt.“ 428 Mit den folgenden Worten erläutert Vargas Bejarano
diesen wichtigen Punkt: „[D]ie Urimpression wird in eine andere Gegebenheitsweise
modifiziert; obgleich ihre affektive Kraft stetig erlahmt, bewirkt diese Modifikation
keine Umwandlung des Sinnesdatums.“ 429
Husserl selbst beschreibt dieses Bewusstseinsphänomen noch weitläufiger:
Wenn ein Zeitobjekt abgelaufen, wenn die aktuelle Dauer vorüber ist, so erstirbt damit
keineswegs das Bewußtsein von dem nun vergangenen Objekt, obschon es jetzt nicht mehr
als Wahrnehmungsbewußtsein oder besser vielleicht impressionales Bewußtsein fungiert.
(Wir behalten dabei wie bisher immanente Objekte im Auge, die sich nicht eigentlich in
einer „Wahrnehmung“ konstituieren). An die „Impression“ schließt sich kontinuierlich die
primäre Erinnerung oder, wie wir sagten, die Retention an.430
Wenn dieser „unterschiedslos und leblos gewordene [...] Horizont der
Vergessenheit“431
kein Nichts ist, dann ergibt sich die retentionale strömende
Abwandlung der Erlebnisse nicht als ein bloßes Vergehen, sondern als „ein Prozeß der
Aufnahme in die bleibende, habituell werdende Kenntnis.“ 432
Nichts geht spurlos verloren, sondern alles neigt dazu, zu verbleiben. Hierzu schreibt
Husserl:
428
Hua XI, 9.
Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 192-193.
Auch Alice Mara Serra verweilt länger bei diesem Aspekt: „Dies betrifft ebenso bereits abgelaufene
Vergegenwärtigungen (Phantasie und Erinnerungen) und andere bewusste Akte, die nach dem zeitlichen
Modell der Vergegenwärtigung in Schwächung der Anschaulichkeit ebenfalls retentional in den
unbewussten Hintergrund zurücksinken und von diesem her protentional wiederum sich in ihrer Intensität
steigern können. Die aktuell unbewusste Konstitution bzw. ,die sekundäre Sinnlichkeit’ ist den ichlichen
Betätigungen jedoch nicht unzugänglich, sofern Reize aus dem Unbewussten durch aktuelle
Wahrnehmungen oder andere bewusste Akte assoziativ ebenfalls ins Bewusstsein übergehen können und
auf das Ich als affizierende Kräfte wirken“ (Serra, Alice Mara: Archäologie des (Un)bewussten. Freuds
frühe Untersuchung der Erinnerungsschichtung und Husserls Phänomenologie des Unbewussten,
Würzburg 2010, 24).
430 Hua X, 30.
Noch in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins bemerkt Husserl hierzu:
„Es ist eine allgemeine und grundwesentliche Tatsache, daß jedes Jetzt, indem es in die Vergangenheit
zurücksinkt, seine strenge Identität festhält. Phänomenologisch gesprochen: Das Jetztbewußtsein, das sich
aufgrund der Materie A konstituiert, wandelt sich stetig in ein Vergangenheitsbewußtsein um, während
gleichzeitig immer neues Jetztbewußtsein sich aufbaut. Bei dieser Umwandlung erhält sich (und das
gehört zum Wesen des Zeitbewußtseins) das sich modifizierende Bewußtsein seine gegenständliche
Intention“ (Hua X, 62).
431 Vgl. Hua XI, 80.
432 Hua XI, 8.
429
108
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Jede vorgängige Wachperiode, die jetzt wiedererinnert ist, ist wiedererinnert als ihre
Wiedererinnerung an die nächstfrühere Wachperiode in sich tragend, die Erinnerung an
diese abermals usw. Das Heute hat die Erinnerung an das Gestern in sich, das Gestern an
das Vorgestern etc., mittelbar aber (an) alle (früheren Wachperioden).433
Diese letzte Behauptung zeigt deutlich eine grundlegende Folge des Verständnisses
des retentionalen Versinkens jeder Gegenwart, eine Folge, die eben direkt mit der
Gegenwart zu tun hat. Da nämlich das Heute in sich das Gestern, das Vorgestern usw.
hat, spielt die versunkene Vergangenheit eine entscheidende Rolle in der Konstitution
und Gestaltung des Jetzt.
Wenn jede lebendige Urimpression allmählich versinkt, wird sie „immer weniger
affektiv. Und wenn von verschiedenen Gegenständen nichts affektiv wird, so sind diese
verschiedenen in eine einzige Nacht untergetaucht, im besonderen Sinn unbewußt
geworden.“434 Gerade die Rolle dieser unbewussten Niederschläge soll im Folgenden
näher untersucht und herausgestellt werden.
b) Phänomenologie des Unbewussten als
Phänomenologie der versunkenen Sedimentierungen
Ein Passus aus Husserls Analysen zur passiven Synthesis kann hier als übersichtlich
und exemplarisch angesehen werden, um innerhalb dieses Themas fortzuschreiten. Er
lautet: „Es wird uns hier wie überall sichtlich und immer besser noch sichtlich werden,
daß sozusagen das Schicksal des Bewußtseins, all das, was es an Wendungen und
Wandlungen erfährt, in ihm selbst nach der Wandlung als seine ‚Geschichte’
niedergeschlagen bleibt.“ 435 Der Ausdruck „Schicksal des Bewußtseins“ betont den
transzendentalen Charakter dieser Dynamik der beständigen Sedimentierung im
Bewusstsein jeder Erfahrung und jedes Erlebnisses. Husserl stellt ausdrücklich fest:
„Ich brauche nicht zu sagen, dass diesen ganzen Betrachtungen, die wir durchführen,
433
Hua XXXIX, 587 (meine Hervorhebung).
Hierzu schreibt Biceaga: „Husserl says that forgetting, if not plainly impossible, is just the temporary
withholding of access to safely stored meanings. The failes retrievial os not a sign of the irrevocable loss
of past experiences. Consciousness does not really forget; it is just unaware of all that it has managed to
preserve. The effect of passivity in all this would be to postpone the eventually successfull
recall“ (Biceaga, Victor: The Concept of Passivity in Husserl’s Phenomenology, Dordrecht 2010, 64).
434 Hua XI, 172.
435 Hua XI, 38 (meine Hervorhebung).
109
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
auch ein berühmter Titel gegeben werden kann, der des ‚Unbewussten’. Es handelt sich
also um eine Phänomenologie dieses sogenannten Unbewussten.“ 436 Die Rolle und die
Implikationen der sedimentierten Geschichte des Ich sollen später durch die Analyse des
Husserlschen Begriffs von bleibenden Meinungen und transzendentalen Habitualitäten
genauer herausgearbeitet werden, während jetzt das Wesen dieser unbewussten
Sedimentierungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken soll.
Im Rahmen einer Phänomenologie des Unbewussten spielt der oben genannte
Begriff der affektiven Kraft eine zentrale Rolle. Wie schon hervorgehoben wurde,
versinkt nämlich jede lebendige Erfahrung immer weiter und gleichzeitig erfährt die
affektive Kraft eine allmähliche Modifizierung und eine bis zur Unmerklichkeit
gelangende Schwindung. Husserl betont mehrfach und mithilfe verschiedener
Formulierungen, dass
jede lebendige Gegenwartsleistung [...] sich im Gebiet der toten oder vielmehr schlafenden
Horizontsphäre niederschlägt, und zwar in der Weise einer festen Sedimentordnung, da
stetig, während am Kopfende der lebendige Prozeß neues, ursprüngliches Leben erhält, am
Fußende alles, was gewissermaßen Enderwerb der retentionalen Synthese ist, sich
niederschlägt.437
Jedes Erlebnis und jede Gegenwart besitzen eine gewisse affektive Kraft und üben
einen mehr oder weniger starken motivationalen Reiz auf das Bewusstsein aus. Es gilt
schließlich festzustellen, dass eine Affektion nur abstrakterweise als alleinstehend
betrachtet werden kann: Die Dynamik des Bewusstseinslebens zeigt deutlich, dass
mehrere Reize beständig das Ich erregen, aber einige dieser Reize stehen im
Vordergrund, während andere im Hintergrund bleiben. Durch eine Beobachtung unserer
alltäglichen Erfahrung kann man anerkennen, dass „[d]ie Umwelt [...] für jede wache
Person, gemäss dem Unterschiede der cogitationes ihres Lebens in ‚Affektionen und
436
Hua XI, 154 (meine Hervorhebung).
Francesco Saverio Trincia erklärt mit diesen Worten den Husserlschen Begriff von „unbewusst“:
„[L’inconscio] è un accadimento della vita della coscienza che si genera e che si incontra quando l’io
perde il contatto con la dimensione passiva di tale vita che non lo affetta, che non lo ,colpisce’ più.
La ,fenomenologia dell’inconscio’ è il titolo di questa specifica situazione. Essa si caratterizza come
un’interruzione della continuità che lega in base allo schema del tempo la vita intenzionale della
coscienza con la sua passività“ (Trincia, Francesco Saverio, Husserl, Freud e il problema dell’inconscio,
Brescia 2008, 104)
437 Hua XI, 178.
110
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Aktionen der spezifischen Wachheit’ (derjenigen, die die ausgezeichnete Form des ich
bin affiziert, ich erfahre, ich denke, ich tue etc. <haben>), andererseits der unwachen
Hintergrunderlebnisse [sich gliedert]“, und zwar: „1) in das Umweltliche, das die
Person gerade „angeht“, das für sie in Betracht ist, sie beschäftigt, sie stört, Reize übt
etc., 2) andererseits das Umweltliche, das toter Hintergrund ist.“ 438 Hierzu schreibt
Husserl:
In jeder universal überschauten lebendigen Gegenwart haben wir natürlich ein gewisses
Merklichkeitsrelief, ein Relief der Bemerksamkeit und Aufmerksamkeit. Es scheidet sich
da also Hintergrund und Vordergrund. Der Vordergrund ist das im weitesten Sinne
Thematische. Das Null der Merklichkeit liegt in einer eventuell beträchtlichen Lebendigkeit
des Bewussthabens, die aber keine besondere antwortende Tendenz im Ich erregt, bis zum
Ichpol nicht vordringt. 439
Man könnte eigentlich von lebendigen Bewusstseinsdaten sprechen, ohne das
gesamte Bewusstseinsleben sowohl in seinen aktiven, lebendigen als auch in seinen
passiven, unbemerkten Dimensionen und in ihrer gleichzeitigen Verflechtung zu
berücksichtigen. „Vordergrund ist nichts ohne Hintergrund. Die erscheinende Seite ist
nichts ohne nicht erscheinende. Ebenso in der Einheit des Zeitbewußtseins.“ 440
Gerade diese Gradualität der Merklichkeit der affektiven Kraft ist einer der
grundlegenden Schlüsselpunkte des Husserlschen Begriffs des Unbewussten, wie er im
Folgenden deutlich hervorhebt:
Unabhängig von der Artung der Bewusstseinsdaten [...] gibt es eine Gradualität der
Lebendigkeit, und dieser Unterschied bleibt noch erhalten im Rayon der Aufmerksamkeit.
Diese Gradualität ist es, die auch einen bestimmten Begriff von Bewußtsein und
Bewußtseinsgraden bestimmt und den Gegensatz zu dem im entsprechenden Sinn
Unbewussten. Letzteres bezeichnet das Null dieser Bewußtseinslebendigkeit und, wie sich
zeigen wird, keineswegs ein Nichts. Ein Nichts nur an affektiver Kraft und damit an
denjenigen Leistungen, die eben eine positiv wertige Affektivität (über dem Nullpunkt)
voraussetzen. Es handelt sich also nicht um ein Null nach Art eines Null der Intensität
qualitativer Momente.441
438
Hua XV, 54.
Hua XI, 167.
440 Hua X, 55.
441 Hua XI, 167.
439
111
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Das Synonym für das Unbewusste ist hier für Husserl also das Null von
Bewusstseinslebendigkeit, oder – wie er es zusätzlich noch nennt – „ein Hintergrund
oder Untergrund von Unlebendigkeit, von affektiver Wirkungslosigkeit (Null).“ 442
Es ist wichtig, noch einmal genauer anzugeben, dass dasjenige, was hier im Zentrum
der Untersuchung steht, nicht das allgemeinere phänomenologische Thema der von
Vordergrund und Hintergrund gekennzeichneten Struktur des Bewusstseinslebens ist.
Vielmehr steht etwas Spezifischeres im Blick, und zwar die Frage, wie von
Unbewusstem hinsichtlich dessen, was retentional versunken ist, gesprochen werden
kann. Husserl sagt in seinen Vorlesungen von 1920/21: „Alles aktiv Konstituierte
versinkt aber in den Hintergrund und verwandelt sich in eine Passivität, aus dem
Gedächtnis auftauchend kann sie ähnlich affizieren wie eine sonstige Passivität. Und
doch trägt sie den Stempel ihres Ursprungs und ihre wesentliche Eigenart immerfort an
sich.“443
Dieser „Stempel des Ursprungs“ bezeichnet die strenge Beziehung, welche die aktive
und passive Sphäre vereinigt und führt auf die Betrachtungen des letzten Kapitels über
den Unterschied zwischen aktiven und passiven Motivationen zurück. Eine weitere
Implikation des Husserlschen Motivationsbegriffs betrifft nämlich das, was er
„sekundäre Passivität“ 444 oder „sekundäre Sinnlichkeit“ 445 nennt.446 In diesem Kontext
bemerkt er,
dass jeder Ichakt [...] in das ichlose Reich der Passivität versinkt und dort, inaktiv
geworden, passive Motivationskraft übt, sich passiv mit anderem verflicht, so dass wir zu
442
Hua XI, 168
Hua XXXI, 40.
Hierzu schreibt Husserl außerdem: „Aber das im aktuellen Jetzt tätige Ich umgreift mit seinem aktuellen
Interesse einen besonderen Vergangenheits- und Zukunftshorizont als den Interessenhorizont. Obschon
als Horizont nur gelegentlich in Erinnerungen wirklich anschaulich vergegenwärtigt, bildet er einen
umschriebenen lebendigen dunklen Hintergrund, der in dieser beständigen Gewecktheit und als das in der
Bereitschaft zu unmittelbar vermöglicher Rückerinnerung und Vorveranschaulichung wohl unterschieden
ist von dem weiteren Hintergrund des sedimentierten Lebenshorizontes seiner sedimentierten
Interessen“ (Hua XV, 39).
444 Vgl. Hua XXXVII, 111; Husserl, Erfahrung und Urteil, 300.
445 Vgl. Hua XXX, 364.
446
Vargas Bejarano erklärt hierzu: „Die sekundäre Passivität bezeichnet diejenigen Akte bzw.
Sinneseinheiten, die in die Vergangenheit versunken sind, aber die noch einen gewissen motivierenden
Einfluss auf die gegenwärtigten Akte haben können“ (Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens,
178).
443
112
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
scheiden haben zwischen primärer und sekundärer Passivität, wobei die Letztere aus
Aktivität herstammt und natürlich dieses intentionale Gepräge auch behält. 447
Von solchen Grundgesetzlichkeiten war bereits im Zusammenhang der willentlichen
Selbstbestimmung die Rede: Auch wenn das willentliche Fiat jederzeit unaufhörlich
erneuert wird, ist „das personale Ich [...] ständig in einer universalen ,Setzung‘ –
weitester Willensmodus – [...], in der alles, was ihm gilt und galt in allem intentionalen
Wandel, doch gilt, ihm Geltendes ist, stand gehalten, behalten“ 448. Alles, was erlebt
wurde, neigt dazu zu verbleiben. Diese transzendentale Tendenz, erhalten zu bleiben,
hört nie auf, wie Husserl hier deutlich erklärt:
Natürlich bleibt das Wesentliche erhalten, wenn die retentionale Verdunkelung den letzten
Rest an Affektivität verloren hat und der Prozeß selbst den letzten Rest der Lebendigkeit
des Strömens. Früher meinte ich, daß dieses retentionale Strömen und VergangenseinKonstituieren auch noch im vollen Dunkel unaufhörlich fortgehe. [...] Aber diese
retentionale Abwandlung führt immer wieder in das eine Null. Was sagt dieses Null? Es ist
das beständige Reservoir der in dem lebendigen Gegenwartsprozeß zu lebendiger Stiftung
gekommenen Gegenstände. Für das Ich sind sie darin verschlossen, aber sehr wohl zu
seiner Verfügung. [...] Dieses Sein und selbst Bewußt-bleiben hört nicht auf, wenn der
Prozeß hinsichtlich der betreffenden retentionalen Identitätslinie im Nullpunkt sein Ende
erreicht hat.449
Das unbewusste Null wird hier von Husserl wieder als ein stetig erneuertes Reservoir
bestimmt, wo alles einsinkt und weiterbesteht, was das Ich erlebt hat. Sämtliche
vergangenen Erfahrungen gehen niemals verloren, sondern verbleiben und fahren mit
der Konstitution des Ich und der Herausbildung des „im Verborgenen seiende[n] und
kontinuierlich zusammenhängende[n] System[s] der Sedimente“ fort, und zwar in
„ein[em] Zusammenhang, der [...] aber nur reproduktiv verwirklicht wäre, wenn wir
unser ganzes Leben von Anfang an und in einem Zuge stetig reproduzieren würden,
reproduzieren könnten.“ 450
Die versunkenen Sedimentierungen sind also die
„Komponenten des Gedächtnisuntergrundes. Dieses birgt in sich geordnete
Niederschläge, in fester Ordnung gelagerte, aller besonderen Retentionen, aller
447
Hua XXXVII, 111.
Hua XXXIV, 473.
449 Hua XI, 177 (Meine Hervorhebung).
450 Hua XI, 183-184.
448
113
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
konstituiert gewesenen Gegenwarten.“ 451 Die Ordnung dieser Niederschläge ist durch
die transzendentalen Urgesetze des inneren Zeitbewusstseins und besonders durch die
motivationale Gesetzlichkeit geregelt, die im Zusammenhang der verschiedenen
Momente des Zeitstromes beständig wirkt.
Diese letzten Überlegungen profilieren Ergebnisse, die direkt das Wesen des Ich
berühren. Wie schon im letzten Kapitel bezüglich der Analyse der Willensakte und
seiner verschiedenen Modalitäten – besonders dank der Beiträge Husserls und Geigers –
hervorgehoben wurde, ist eine irrtümliche Darstellung des Ichlebens jene, die sie als
eine Reihe von punktuellen Momenten vorstellt. Wie nämlich der Wille nicht nur im
Moment der Entscheidung oder der Stellungnahme wirkt, sondern beständig in seinen
verschiedenen Modi und Gradualitäten auch in der passiven Sphäre des Ichlebens am
Werk ist, so ist etwas Ähnliches in Bezug auf die Beziehung zwischen der lebendigen
Gegenwart und den versunkenen Niederschlägen des Ich zu beobachten. Das Ich
erscheint eben gleichsam als ein Eisberg: Seine Spitze bilden die gegenwärtigen
Urimpressionen und die entsprechenden Umstände, aber sie schließen in sich die
unendliche Tiefe von vergangenen und verbleibenden Erwerben.
In der Lebendigkeit früherer Gegenwart lag ihre Verwandlung in neue und von da aus in
immer neue Gegenwart, wobei im Lebensprozess vergangene Gegenwart allmählich ins
Dunkel versinkt eines „Unbewusstseins“, während doch die jeweilige Gegenwart in sich
selbst die Vergangenheitshorizonte als dunkle, aber auch befragbare enthält, natürlich am
Leitfaden der bleibenden und in ihrer zunächst leeren horizonthaften Historizität
verständlichen Erwerbe. 452
Die sedimentierten Erwerbe sind befragbar und verständlich – wie diese Bemerkung
Husserls erläutert und wie es hier auch bereits gezeigt worden ist – aufgrund ihres
motivationalen Charakters, der das gesamte Leben des Ich umfasst. Was retentional
versinkt, verläuft nicht in einer gänzlich chaotischen und unsinnigen Dimension,
sondern behält seine verständlichen Sinnesverbindungen bei.
Dieses transzendentale Phänomen bezeichnet eine Dynamik, die jedermann in seiner
eigenen Erfahrung auffinden kann. Husserl beobachtet nämlich Folgendes: „Indem die
451
452
Hua XI, 194 (Meine Hervorhebung).
Hua XV, 395.
114
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Wahrnehmung ursprünglich Kenntnis erwirbt, erwirbt sie auch ein für die Dauer
bleibendes Eigentum des Erworbenen, einen jederzeit verfügbaren Besitz.“ 453 Wenn
man darüber nachdenkt, wie man auf die Frage „Wer bist du?“ spontan antworten
würde, wird schnell deutlich, dass jede mögliche Antwort darauf mit den eigenen
Erwerben und Sedimentierungen zu tun hat. Man könnte auf diese Frage z.B. unter
Bezugnahme auf seine eigene Familie, seinen Herkunftsort, seine eigenen Interessen,
seinen Beruf usw. antworten. Dies wäre natürlich keine exhaustive Antwort, weil dabei
sowohl der Horizont der eigenen Erwartungen oder Hoffnungen und auch – dies ist
besonders wichtig – der Bezug zum Kern seiner persönlichen Eigentümlichkeit und
Einzigartigkeit fehlt, d.h. zu dem persönlichen Spezifikum, das nie ausschließlich auf
eine Reihe vergangener Ereignisse zurückgeführt werden kann. In allen diesen Fällen
stünde mit Sicherheit ein unvermeidlicher Bezug auf die eigene Geschichte im Zentrum
der Antwort, d.h. ein Bezug zu „dem weiteren Hintergrund des sedimentierten
Lebenshorizontes seiner sedimentierten Interessen.“454 In seinen letzten Überlegungen
über den Begriff der Intersubjektivität schlägt Husserl einige Überlegungen vor, die
dieses Thema betreffen und einen etwas problematischen, aber gleichzeitig sehr
interessanten Charakter aufweisen. Er schreibt nämlich:
Das Wickelkind, das neugeborene. Wie ist es als Ich seiner Daten und von diesen als
affizierenden und von den Ichakten für sich selbst konstituiert? Es ist schon erfahrendes Ich
einer höheren Stufe, es hat schon Erfahrungserwerbe vom mutterleiblichen Dasein her, es
hat schon seine Wahrnehmungen mit Wahrnehmungshorizonten. Daneben neuartige Daten,
Abhebungen in den Sinnesfeldern, neue Akte, neue Erwerbe auf dem Untergrund, der
schon Vorerwerb ist, es ist schon Ich der höheren Habitualitäten, aber ohne Reflexion auf
sich, ohne ausgebildete Zeitlichkeit, ohne verfügbare Wiedererinnerungen, strömende
Gegenwart mit Retention und Protention. 455
Wenn Husserl feststellt, dass schon das Wickelkind, wenngleich mit
altersspezifischen Eigentümlichkeiten, über Erfahrungserwerbe verfügt, dann betont er
noch einmal den strukturellen Charakter dieser beständigen Dynamik des
453
Hua X, 10.
Hua XV, 398.
455 Hua XV, 605.
454
115
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
retententionalen Niederschlags der Erfahrung: Es gibt ein Ich und keine gegenwärtige
Ich-Erfahrung ohne diese unbewusst auftretenden Horizonte.
Husserl schreibt in den Cartesianischen Meditationen, dass „[d]as ego [...] für sich
selbst sozusagen in der Einheit einer Geschichte [sich konstituiert]“ 456. Das ist einer der
wichtigsten Kernpunkte der Anschauung des Ich im Rahmen der
Transzendentalphänomenologie Husserls: Die Subjektivität wird von ihm nicht als ein
geschichtsloses, reines Ich aufgefasst, sondern – mit den Worten Brudzinskas – „als ein
aktives, urteilendes und stellungnehmendes, aber zugleich auch als ein erleidendes,
passiv motiviertes und rezeptives Ich vorgefunden, das in seinem Leib wurzelt und
Sinnstiftung nur im Horizont seiner Geschichte und kraft eigener Affektivität leisten
kann.“457
3.2 Die Wirksamkeit des Verdeckten
Es ist wichtig, nun einen Punkt hervorzuheben, der schon in der Thematik des
motivationalen Charakters des passiven Lebens des Ich latent präsent war. Im ersten
Kapitel wurde bereits betont, dass die passive Stufe des geistigen Lebens eine
motivationale Kraft aufweist, die beständig wirksam ist und infolgedessen immer
wieder die aktiven Handlungen, Gedanken und Gefühle beeinflusst und bewegt, auch
wenn es sich um eine unbemerkte und verdeckte Wirksamkeit handelt. Husserls
wichtige Entdeckung des motivationalen Wesens der Passivität erweist sich im Rahmen
der vorliegenden Überlegungen als äußerst aufschlussreich, um den Husserlschen
Begriff des Unbewussten genauer zu fassen.
Diesbezüglich erweist sich ein Text Husserls von 1934 als besonders bedeutsam.
Husserl schreibt darin, dass „[s]chlechtin, im äußersten Sinn unbewusst [...] die
sedimentierte Aktivität und ihr ständiges Mitfungieren in den Weckungen, in der
ständigen Assoziation, und damit innig zusammengehörig die ständige und ständig sich
456
Hua I, 109.
Brudzinska, Jagna; Die phänomenologische Erfahrung und die
Überlegungen im Anschluss an Husserl und Freud, in: Lohmar,
Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie. Neue Felder der
Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und
2006, 57.
457
Frage nach dem Unbewussten.
Dieter; Fonfara, Dirk (Hrsg.):
Kooperation: Cognitive Science,
Religionswissenschaft, Dordrecht
116
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
wandelnde Habitualität [ist].“ 458
Noch einmal wird von Husserl die besondere
phänomenologische Bedeutung des Begriffes des Unbewussten vorgestellt, und zwar
eines Unbewussten, das in den retentional versunkenen Sedimentierungen vorheriger
Erlebnisse besteht. Was dennoch hier von Husserl hervorgehoben wird, ist das
beständige assoziative Mitfungieren dieser Niederschläge und die entsprechende
Urstiftung der Habitualitäten. Husserl vertieft sodann seine Überlegungen durch eine
Bezugnahme auf das Verhältnis zwischen Wachheit und Schlaf. Das Phänomen des
Schlafes ist – wie das des Unbewussten – ein Rätsel und ein Grenzproblem für den
phänomenologischen Ansatz, weil der Schlaf sich einer direkten Beobachtung entzieht
und keine lebendige Gegebenheit aufweist. Der Schlaf kann in Verbindung mit der
Frage nach dem Unbewussten gebracht werden (wie es Freud ausführlich in seiner
Theorie der Traumdeutung entwickelt hat), weil der Schlaf ein Reich des
Bewusstseinslebens ist, in dem das Ich sich seiner selbst nicht eigentlich bewusst ist. In
einem anderen Text aus den frühen dreißiger Jahren beschreibt Husserl den Schlaf als
den „Limes totaler Affektionsentspannung und Aktionslosigkeit, der Willenslosigkeit,
Willensentspanntheit“, der als Eigentümlichkeit „die Universalität des Passivwerdens
des Ich als Interessen-Ich“ 459 aufweist. Husserl bemerkt in dem bereits zitierten Text
von 1934, dass das beständige Phänomen des Wechsels von Wachheit und Schlaf „eine
Schichtung des Aktlebens in einen Hintergrund und Vordergrund, als Vordergrund die
vonstatten gehenden aktuellen Akte im ursprünglichen Vollzug“ mit sich bringt und dass
„der Schlaf [...] diesen Modus periodisch und gelegentlich [ändert].“ 460 In dieser
transzendentalen Dynamik von Vordergrund und Hintergrund, die – wie schon
ausführlich gezeigt worden ist – das Strömen des Bewusstseinslebens unaufhörlich
begleitet, zeichnet sich eine bestimmte Eigentümlichkeit ab, welche die Beziehung
zwischen aktiver und passiver Stufe kennzeichnet, und zwar die Wirkung des
Hintergrundes auf den Vordergrund. So stellt Husserl fest: „Alles Sedimentierte ist noch
458
Hua XXXIV, 472.
Hua XXXIX, 591.
460 Hua XXXIV, 472.
459
117
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
‚lebendig’“461 und er fragt: „[K]lopft es nicht an, ist es nichts, ist es nicht ein anderer
Modus personalen Seins, immer noch personal?“ 462
Die Antwort auf diese Frage beruht auf einer phänomenologischen Analyse des
Ichlebens, welche die stets untrennbare Verflechtung zwischen Bewusstem und
Unbewusstem vor allem in seiner gegenseitigen Beeinflussung berücksichtigt. Die
ersten Seiten des Manuskripts E III 10 von 1930 sind sehr wichtig, um diesen Punkt zu
klären, nicht nur wegen des betreffenden Themas, sondern auch wegen der
ungewöhnlichen, von Husserl verwendeten Terminologie, die auf einen
psychoanalytischen Themenbereich zu verweisen scheint. Hier schreibt Husserl:
Eingeklemmte Affekte, leidenschaftliche Erregungen, die unerfüllt bleiben, die einer
Epoché unterworfen werden – aber nicht durchstrichen: Sie gelten fort. Worin bestand die
Epoché? Nicht nur Enthaltung davon, ihnen Folge zu leisten, obschon ev. Möglichkeiten
der aktiven Erfüllung beständen, etwa gar solche Möglichkeiten herzustellen versuchen.
Sondern eine Enthaltung, die unter allen Umständen innegehalten werden soll. 463
Husserl weist hier auf einen in der Phänomenologie eher unüblichen Begriff von
Epoché hin: Es handelt sich um eine Epoché von leidenschaftlichen Affekten und
Erregungen, die sich der psychoanalytischen Verdrängung zu nähern scheint. Trotz
dieser Epoché gelten – mit den Worten Husserls – die unerfüllten Affekte nach wie vor,
weil sie lediglich unterworfen, aber nicht durchgestrichen werden können. Daran kann
man noch einmal deutlich die Lebendigkeit der Sedimentierungen erkennen.
Ein Zeugnis der Wirksamkeit der Strebungen, die der Epochè unterworfen sind, ist
das unvermeidliche Unbehagen, das einigen spezifischen Verdrängungen entspricht und
im Bereich des Pathologischen enden kann. Es handelt sich um das „Problem
des ,eingeklammten Affektes’ als ‚Krankheit’ der Seele: eine habituelle Unbefriedigung,
die nicht ein Nichts ist, auch wenn nicht daran gedacht wird.“ 464 In der Inhaltsangabe
des Manuskripts fasst Husserl diese unvermeidliche Motivationskrakt zusammen, die
461
Hua XXXIV, 472.
Hua XXXIV, 473.
463 E III 10, 1.
464 E III 10, 1-2.
Husserl beschreibt hier mit diesen Worten einen pathologischen Zustand, in dem das Gehemmte sich
durch Kompensation in einer neuen Form vorstellt: „Krankenheitsbilder: Kompensation – unbefriedigt
sucht man nach Befriedigung anderer Sphäre“ (E III 10, 2).
462
118
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
jede gehemmte Erregung bzw. jeder Instinkt auf das Ich ausübt: „Wie kann ein Urtrieb,
wie der Geschlechtstrieb, durchstrichen werden – Askese? Jede verdeckte Geltung
fungiert assoziativ mit (Freud).“465
In dieser Sphäre verflechten sich mehrfache und komplexe Stufen von Aktivität und
Passivität; Wille und Unfreiwilligkeit sowie willentliche und verborgene Motivationen
kämpfen miteinander:
Zur Epoché von dem Gewährenlassen der Möglichkeit der Auswirkung (bei instinktiven
Begehrungen liegt darin eine Periodizität von Genuß und wieder Aufwachen des Triebes als
Begehren) gehört das „Wegsehen“ und Wegsehen-wollen. Was ich nicht „weiß“ (was mir
nicht lebendig vor Augen steht), macht mich nicht heiß. [...] Wegsehen und Wegsehenwollen. Aber damit ist der Affekt nur „verdeckt“, hinuntergedrückt und doch da, wirksam
wie alles Verdeckt-hinuntergedrückte. 466
Das Verdeckte ist also noch da und es dringt immerzu auf das Ich ein, auch wenn
dies nur in Form einer Kompensation geschehen kann oder die verdeckten Affekte
zuweilen weit in der Vergangenheit Ereignissen entsprechen oder so kraftlos sind, dass
ihre Motivationskraft gegen Null geht. In diesem letzten Fall „[senden s]innliche Daten
(und so Daten überhaupt) [...] gleichsam affektive Kraftstrahlen auf den Ichpol, aber in
ihrer Schwäche erreichen sie ihn nicht, werden nicht wirklich für ihn zu einem
weckenden Reiz.“ 467 Wenn dagegen das gerichtete Hintergrundelement über eine
genügende Kraft verfügt, verwirklicht es das „eventuelle [...] Lebendig-werden der
untergedrückten Proteste“ 468, und zwar „affiziert [es] das Ich – dieses reagiert mit der
Zuwendung, die Vorstellung nimmt die Gestalt der erfassenden an, in der der Ichblick
auf das Gegenständliche gerichtet ist.“ 469
465
E III 10, VI.
Wie es später noch erklärt werden soll, handelt es sich um eine erhebliche Passage, weil sie eine der
seltenen expliziten Hinweise Husserls auf Freud ist.
466 E III 10, 2.
467 Hua XI, 149.
„Die Bestandstücke a und b sind nach wie vor Stücke von intentionalen Ganzen, sie haben verdrängte
Ergänzungsstücke, welche gegen die im Scheinbild von a auf b und umgekehrt gerichteten Forderungen
und vor allem gegen ihre wechselseitigen Erfüllungen vom Untergrund her protestieren, obschon die
Proteste zu schwach sind, zu wenig hörbar sind, um zu einem klaren Zweifel und einer Negation zu
führen“ (Hua XI, 199).
468 Hua XI, 199.
469 Hua XI, 84.
119
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Eine Passage in Husserls Ethik-Vorlesungen zeigt sich hier als besonders bedeutsam:
Ich mag noch so sehr vergessen; was einmal für mich Mittel ist, behält, solange es für mich
als dasselbe erkennbar ist, seinen intentionalen Charakter, selbst durch alle Modifikationen
hindurch, die ich damit vornehmen mag. [...] Es kann nichts verloren gehen. Jede
Modifikation eines Charakters hat in sich selbst den bleibenden Sinn, Modifikation von
einem vor dem anderen Charakter zu sein. Die Charakteristiken können freilich in gewisser
Art „unbewusst“ werden. Aber darin liegt nur, die Charaktere <können> zeitweise verdeckt,
verborgen, in ihrer Motivationskraft gehemmt sein. Das Verborgene ist aber nicht nichts,
und das Gehemmte ist keine verbale sondern eine wirkliche Potenzialität, der man,
nachdem sie wieder wirksam geworden 〈ist〉, es ansehen kann, dass sie nicht tot, sondern
eben nur schlafendes Leben war.470
Nichts geht verloren und alles, was gehemmt und somit unbewusst ist, ist nicht tot,
sondern noch lebendig. Das Verborgene ist eine potenziell wiedererweckbare Stufe von
Erlebnissen, d.h. – immer mit den Worten Husserls – ein schlafendes Leben.
3.3 Husserl und Freud: Zwei Perspektiven auf das Unbewusste
Die letzteren Überlegungen bieten die Gelegenheit, einen Schritt zu entwickeln, der
jetzt für die Behandlung des Begriffs des Unbewussten notwendig wird. Die Analysen
über die Wirksamkeit der schlafenden Affekte führten unmittelbar zu diesem Schritt hin.
Die bisherige Erläuterung dieses Begriffs bei Husserl erfolgte noch ohne eine
explizite Bezugnahme auf die zentrale denkerische Persönlichkeit jeder Untersuchung
der unbewussten Dimension des Ichlebens – auf Sigmund Freud, der, wie allgemein
bekannt ist, ebenso wie Husserl Philosophiestudent bei Franz Brentano an der Wiener
470
Hua XXXVII, 327 (Meine Hervorhebung).
120
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Universität gewesen ist.471
Diese gemeinsame biographische Wurzel lässt eine
gewissenhafte Rekonstruktion der Beziehung beider Denker noch interessanter werden,
aber dies wäre ein Thema für weitere umfangreiche Forschungen, die im Rahmen dieser
Arbeit nicht geleistet werden können.472 Zumindest aber sollen einige grundlegende
Kernpunkte einer Gegenüberstellung zwischen dem phänomenologischen und
psychoanalytischen Ansatz zum Unbewussten kurz hervorgehoben werden, um
insbesondere die jeweiligen Eigentümlichkeiten beider Ansätze zu verdeutlichen.
Die Thematisierung Freuds bietet im Rahmen der vorliegenden Untersuchung
zuallererst die Gelegenheit, nochmals die problematische, aber grundsätzliche Frage
aufzuwerfen nach der Rechtmäßigkeit, von einem phänomenologischen Standpunkt aus
einen philosophischen Ansatz zum Problem des Unbewussten zu versuchen. Mit
anderen Worten, man kann die Frage stellen: Sind die dunklen Gebiete der Subjektivität
wirklich zugänglich für eine phänomenologische Untersuchung oder entziehen sie sich
471
Obwohl Husserl und Freud Zeitgenossen sind (1856 bzw. 1859 geboren und 1938 bzw. 1939
gestorben), die beide durch Brentano beeinflusst wurden, ist es nötig zu bemerken, dass sie zwar parallel
gearbeitet haben, ohne sich jedoch tatsächlich begegnet zu sein. Wie Ziegler zum Verhältnis von
Phänomenologie und Psychoanalyse feststellt, „beginnt die Kommunikation zwischen den Disziplinen
erst in der jeweils zweiten Generation. Die Begründer – Husserl und Freud – hielten sich ganz an ihre
Methoden und Wissenschaften und scheuten Anleihen bei anderen psychologischen und philosophischen
Ansätzen“ (Ziegler, Robert Hugo: Die Phänomenologie und die Provokation des Unbewussten, in:
Husserl Studies 26/2 (2010), 107). Holenstein bemerkt hierzu: „Die direkten Bezüge Husserls auf Freud
sind einmal gering an der Zahl und zum zweiten durchgehend marginaler Natur. Bemerkenswerter sind
schon gewisse indirekte Beziehungen und zwar über gemeinsame Lehrer wie über gemeinsame
Nachfahren. Bei den Lehrern ist hier weniger an Brentano zu denken, den beide in Wien hörten, als an
Herbart und seine Schule [...]. Zur eigentlichen Kontaktnahme mit den Entdeckungen der Psychoanalyse
kam es erst in der nachhusserlschen Phase der Psychoanalyse, insbesondere in deren französischen
Richtung” (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 320). Aus diesem Grund finden sich explizite
Hinweise Husserls auf Freud nur sehr selten. Hierzu gehört z.B. Ms. B II 3/16a vom Juni 1934, in dem
Husserl seine Überlegungen zum Thema der Triebe als „eine Vordeutung auf die ,Freudsche’
Psychoanalyse – mit ihren eingeklammerten Affekten, ihren ,Verdrängungen’ usw.” bezeichnet, oder das
im Rahmen dieser Arbeit bereits zitierte Ms. E III 10, 3. Darüber hinaus – wie wieder Holenstein betont –
finden sich „in Husserls Privatbibliothek [...] nur zwei kleine Schriften von S. Freud, seine fünf
Vorlesungen von 1909 Ueber Psychoanalyse und seine Selbstdarstellung in der Ausgabe von 1936, beide
ohne Lesespuren!“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 321).
472 Das Thema der Berührungspunkte und der Unterschiede zwischen den Anschauungen Husserls und
Freuds wird in einer umfangreichen zu einem tieferen Verständnis Literatur thematisiert. Siehe hierzu
z.B.: Bernet, Rudolf: Unconscious consciousness in Husserl and Freud, in: Welton, Donn: The new
Husserl: a critical reader, Bloomington 2003; Brudzinska, Jagna; Die phänomenologische Erfahrung und
die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen im Anschluss an Husserl und Freud, in: Lohmar,
Dieter; Fonfara, Dirk (Hrsg.): Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie. Neue Felder der
Kooperation: Cognitive Science, Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und
Religionswissenschaft, Dordrecht 2006; Perreau, Laurent: Phénoménologie husserlienne et
métapsychologie freudienne: la pulsion et l’incoscient, in: Alter – Revue de phénoménologie 14 (2006);
Serra, Alice Mara: Archäologie des (Un)bewussten. Freuds frühe Untersuchung der
Erinnerungsschichtung und Husserls Phänomenologie des Unbewussten, Würzburg 2010; Trincia,
Francesco Saverio, Husserl, Freud e il problema dell’inconscio, Brescia 2008; Ziegler, Robert Hugo: Die
Phänomenologie und die Provokation des Unbewussten, in: Husserl Studies 26/2 (2010).
121
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
– gerade, weil sie unbewusst sind – jedweder transzendentalen Klärung? Schon
dasjenige, was bisher zu Husserls Phänomenologie des Unbewussten hervorgehoben
wurde, legt eine erste Antwort nahe, löst aber noch nicht die Problematik dieser Frage
auf, die nun besser durch eine kurze Gegenüberstellung mit der psychoanalytischen
Methode geklärt werden soll. So scheint genau betrachtet das Thema des Unbewussten
eines der größten theoretischen Rätsel der Phänomenologie zu sein („Index d’une
énigme“473, wie Merleau-Ponty es mit einem bekannten und wirksamen Ausdruck
genannt hat), weil es die Schattenseite jener Subjektivität ist, die sich dank der
phänomenologischen Reduktion an sich selbst wenden will. Wie diesbezüglich Bernet
betont:
Taking its point of departure from this Freudian determination of the connection between
the conscious and the Unconscious, a transcendental phenomenology of consciousness is
confronted with the task of showing how it is possibile that consciousness can bring to
present appearance something unconscious, that is, something foreign or absent to
consciousness, without thereby incorporating it into or subordinating it to the conscious
present. 474
Es ist zunächst wichtig zu verdeutlichen, dass die Wege Husserls und Freuds – trotz
der oben genannten gemeinsamen Brentanoschen Wurzel – etwas gewaltig anderes sind.
Der Ansatz Freuds im Blick auf die Tiefen des Ich ist vor allem klinisch und erst danach
theoretisch.475 Sein klinischer Ansatz und die daraus folgenden Beobachtungen lassen
im übrigen auch in der spekulativeren, mit dem Namen „Methapsychologie“
bezeichneten Phase seines Werkes nicht nach: Das ursprüngliche und hauptsächliche
Ziel Freuds ist von vornherein, die Motive der psychischen Störungen oder Krankheiten
zu enthüllen sowie Neurosen und Psychosen zu heilen. Bei Husserl fehlt eine ähnliche
klinische Erfahrung hingegen ganz und gar. Außerdem muss erwähnt werden, dass die
473
Merleau-Ponty, Maurice: Préface, in: Hesnard, Angélo: L’œvre de Freud et son importance pour le
monde moderne, Paris 1960, 9.
474 Bernet, Unconscious consciousness in Husserl and Freud, 329.
475 Dazu betont Bernet nochmals: „Freud’s understanding of the Unconscious is rooted in the clinicalempirical observation of phenomena such as dreams, slips of the tongue and other neurotic symptoms,
regressive-infantile types of behaviour in adults, delusions in schizophrenia, etc. Based on this are in
Freud’s word also ,metapsychological’ observations that strive for a theoretical determination of the
essence of the Unconscious in its relation to consciousness“ (Bernet, Unconscious consciousness in
Husserl and Freud, 327).
122
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
ersten Schritte Freuds, welche dem tatsächlichen Beginn der Psychoanalyse
vorausgehen, sich im medizinischen und daher physiologischen Gebiet bewegen476,
während das Werk Husserls einen vollständig anderen Anfang nimmt. All diese
Merkmale machen allerdings eine fruchtbare Gegenüberstellung von Husserl und Freud
keineswegs unmöglich, sondern bestimmen vielmehr die methodische Grenze dieser
schon lange als interessant und ertragreich angesehenen Konfrontation.477
Ein erster Punkt soll sofort hervorgehoben werden, der direkt in der vorliegenden
Arbeit das zentrale Thema der Motivation direkt berührt. Was im ersten Kapitel
hinsichtlich der Anerkennung Husserls einer motivationalen Gesetzlichkeit der
gesamten Erfahrung und daher auch ihrer passiven und irrationalen Schichten gezeigt
wurde, findet einen festen Berührungspunkt mit der Freudschen Psychoanalyse, wie
Husserl selbst in einer der sehr seltenen Bezugnahmen mit einem direkten Zitat aus
Freuds Passagen erkennt, wenn er schreibt: „Alles Verdeckte, jede verdeckte Geltung
fungiert mit assoziativ und apperzeptiv, was die freudsche Methode ermöglicht und
voraussetzt.“ 478 Die Bedingung der Existenz der psychoanalytischen Methode ist
nämlich die Behauptung, dass auch die scheinbar unwesentlichen Erscheinungen des
Ichlebens eine verborgene Bedeutung besitzen, wie die Überlegungen Freuds zur
Traumdeutung oder zur Psychopathologie des Alltagslebens deutlich erweisen. Kein
Geschehen, so banal oder anscheinend zufällig es auch ist, ergibt sich außerhalb einer
476
Über den Entwicklungsgang Freuds von einer physiologischen zur psychoanalytischen Perspektive
schreibt Serra: „Demnach stehen Freud frühe, sogenannte vor-psychoanalytischen Arbeiten ausschließlich
auf physiologisch-physikalischer Basis, während die zweite, mit der Traumdeutung (1900) beginnende
Phase die systemathische Grundlage für die Psychoanalyse gelegt habe. Diese Neuorientierung Freuds
zeigt sich erstmals nach seinem Pariser Aufenthalt 1885/86 bei Charcot, sofern er ab dann aufgehört habe,
die Hysterie durch physiologische Gründe oder – wie es in seinem wissenschaftlichen Umfeld üblich war
– als ,anatomische Läsion’ aufzuklären, und sie stattdessen psychologisch bzw. metapsychologisch mit
den Begriffen ,Vorstellung’ und ,Affekt’ erläutert habe. Mit dieser neuen Perspektive sei in der
entstehenden Psychoanalyse die Psychologie anstelle der Anatomie und der Physiologie zu einer
‚nosologischen Alternative’ geworden“ (Serra, Archäologie des (Un)bewussten. Freuds frühe
Untersuchung der Erinnerungsschichtung und Husserls Phänomenologie des Unbewussten, 11-12).
477 Hierzu schreibt Jagna Brudzinska: „Berücksichtigt man, dass bei Freud all diese Strukturen und
Relationen einen triebhaften Charakter aufweisen und die Psychoanalyse die seelische Entwicklung (und
somit die subjektive Genesis) als Geschichte der Triebschicksale begreift [...], könnte die Absicht, die
freudschen Thesen mit den Mitteln der Phänomenologie als Bewusstseinsphilosophie anzugehen, Zweifel
hervorrufen. Doch eine eingehende Lektüre Husserls zeigt, dass die Phänomenologie als
Subjektivitätstheorie für den Dialog mit der Psychoanalyse geradezu prädestiniert ist“ (Brudzinska, Die
phänomenologische Erfahrung und die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen im Anschluss an
Husserl und Freud, 56).
478 E III 10, 3.
123
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Verflechtung von Sinnzusammenhängen, die sich während einer psychoanalytischen
Therapie entdecken lassen. Wie Freud z.B. im Rahmen seiner Überlegungen zur
Hysterie betont,
ist zunächst ein Kern vorhanden von solchen Erinnerungen (an Erlebnisse oder
Gedankengänge), in denen das traumatische Moment gegipfelt oder die pathogene Idee
ihrer reinste Ausbildung gefunden hat. Um diesen Kern herum findet man eine oft
umglaublich reichliche Menge von anderem Erinnerungsmaterial, das man bei der Analyse
durcharbeiten muss. 479
Die psychoanalytische Therapie stützt sich auf die Voraussetzung, dass die Fragen,
warum z.B. eine Hysterikerin diese bestimmten Symptome aufweist oder – auf einer
alltäglicheren und nicht-pathologischen Ebene – warum ich das geträumt habe,
sinnvolle Antworten finden können. Die oben schon erwähnte Psychopathologie des
Alltagslebens ist vollständig begründet auf dieser theoretischen Voraussetzung, wie
Freud bezüglich des Vergessens von Eigennamen deutlich darlegt:
Meine Voraussetzung ist nun, daß diese Verschiebung nicht psychischer Willkür überlassen
ist, sondern gesetzmäßige und berechenbare Bahnen einhält. Mit anderen Worten, ich
vermute, daß der oder die Ersatznamen in einem aufspürbaren Zusammenhang mit dem
gesuchten Namen stehen, und hoffe, wenn es mir gelingt, diesen Zusammenhang
nachzuweisen, dann auch Licht über den Hergang des Namenvergessens zu verbreiten. 480
Das Vergessen von Namen fungiert hier natürlich nur als ein Beispiel, das allerdings
diese psychoanalytischen Grundlagen beleuchten kann. Wie Ziegler deutlich
hervorhebt, stellt „[d]ie Psychoanalyse [...] also als Behauptung auf, dass jedes
psychische Phänomen auch einen psychischen Sinn hat, der allerdings häufig erst
entdeckt werden muss. Sie bestätigt sich auch in eben dem Maße, in dem ihr diese
Entdeckung gelingt.“ 481
479
Freud, Sigmund: Zur Psychotherapie der Hysterie, in: Studien über Hysterie. GW 1: Werke aus den
Jahren 1892-1899, Frankfurt a. M. 1977, 291.
480 Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: GW 4, Frankfurt a. M. 1941, 7.
481 Ziegler, Die Phänomenologie und die Provokation des Unbewussten, 112.
Hierzu schreibt Holenstein: „Die assoziativen Beziehungen stellen nur eine Begünstigung der
Fehlleistung dar. Allein das Sinnmotiv macht die faktische Auswahl unter den vielen möglichen
Assoziationen verständlich und die affektive Energie, mit der es besetzt ist, ihre
Durchsetzung“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 320).
124
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Eine Passage aus dem zweiten Band der Ideen zeigt sich hier als grundlegend, weil
es sich außerdem um einen der seltenen Punkte es handelt, wo Husserl explizit auf die
Psychoanalyse Bezug nimmt. Gerade diese Passage bietet jedoch gleichzeitig die
Möglichkeit, einige tiefe Differenzen zwischen den Begriffen des Unbewussten bei
Husserl und Freud zu erfassen. Den Rahmen dieser Überlegungen Husserls bildet die
Analyse des Begriffes der Motivation, und hier insbesondere die „Assoziation als
Motivation“, d.h. der sogenannte Kreis der passiven Motivationen, welche Husserl mit
den folgenden Worten beschreibt:
Motivation von Stellungnahmen durch Stellungnahmen (aktive Thesen durch aktive
Thesen), sondern [...] Erlebnissen beliebiger Art, und zwar entweder von solchen, die
„Niederschläge“ aus früheren Vernunftakten, Vernunftleistungen sind oder nach „Analogie“
von solchen als apperzeptive Einheiten auftreten, ohne von der Vernunftaktion wirklich
gebildet zu sein, oder von solchen, die völlig vernunftlos sind: die Sinnlichkeit, das sich
Aufdrängende, Vorgegebene, das Getriebe in der Sphäre der Passivität. 482
In dieser Auflistung kommen Erlebnisse vor, die nicht als bloße Synonyme
angesehen werden können. Während nämlich die erstgenannten eine schwächere
Bedeutung von passiver Motivation – d.h. als Niederschlag vergangener Vernunftakte,
die jetzt nicht mehr lebendig sind – bezeichnen, scheinen die letzteren Ausdrücke etwas
adäquater das psychoanalytische Unbewusste anzugeben, besonders wenn Husserl von
der völlig vernunftlosen Sinnlichkeit und dem sich aufdrängenden Getriebe spricht. Die
Fortsetzung der Passage zeigt den nicht aufhebbaren Abstand zwischen Husserls und
Freuds Anschauungen, weil Husserl hier klarstellt:
Das einzelne darin ist im dunklen Untergrunde motiviert, hat seine „seelischen Gründe”,
nach denen man fragen kann: wie komme ich darauf, was hat mich dazu gebracht? Daß
man so fragen kann, charakterisiert alle Motivation überhaupt. Die „Motive“ sind oft tief
verborgen, aber durch „Psychoanalyse“ zutage zu fördern. Ein Gedanke „erinnert“ mich an
andere Gedanken, ruft ein vergangenes Erlebnis in die Erinnerung zurück usw. In manchen
Fällen kann das wahrgenommen werden. In den meisten Fällen aber ist die Motivation zwar
im Bewußtsein wirklich vorhanden, aber sie kommt nicht zur Abhebung, sie ist unbemerkt
oder unmerklich („unbewußt“).483
482
483
Hua IV, 222.
Hua IV, 222-223.
125
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Husserl weist zum einen eine tiefe Übereinstimmung mit der oben genannten
psychoanalytischen Voraussetzung der Entdeckbarkeit des verborgenen Sinnes der
psychischen Erscheinungen auf, markiert zum anderen aber auch einen grundlegenden
Unterschied zur Freudschen Kategorie des Unbewussten. Freud zufolge ist das
Unbewusste das zentrale Moment des Seelenlebens und wirkt und drängt sich durch
eine gewisse Unabhängigkeit von den Motivationsgesetzen des Bewusstseinslebens
auf.484 Eine Passage Freuds von 1913 kann diesen Punkt verdeutlichen, weil er hier
behauptet: „Das Unbewußte umfaßt einerseits Akte, die bloß latent, zeitweilig unbewußt
sind, sich doch aber sonst von den bewußten in nichts unterscheiden, und andererseits
Vorgänge wie die verdrängten, die, wenn sie bewußt würden, sich von den übrigen
bewußten aufs grellste abheben müßten.“485 Und kurz darauf gibt er genau an, dass ein
psychischer Akt der ersten Art „noch nicht bewußt, wohl aber bewußtseinsfähig [...]
[ist], d.h. er kann nun ohne besonderen Widerstand beim Zutreffen gewisser
Bedingungen Objekt des Bewusstseins werden. Mit Rücksicht auf diese
Bewußtseinsfähigkeit heißen wir das System Bw auch das ,Vorbewußte’.“ 486 Im
Gegensatz hierzu ist die zweite Gattung unbewusster Vorgänge das, was Freud
eigentlich das Unbewusste (Ubw) nennt. Zusammenfassend kann man Freud zufolge
sagen, „daß das System Vbw die Eigenschaften des Systems Bw teilt, und daß die
strenge Zensur am Übergang vom Ubw zum Vbw (oder Bw) ihres Amtes waltet.“ 487
Diese Worte Freuds weisen darauf hin, dass der phänomenologische Begriff des
Unbewussten – wie es von vielen betont worden ist – sich mehr dem Vorbewussten
484
Hierzu betonen Askay und Farquhar: „Freud’s natural-scientific approach to the unconscious simply
presupposed the understanding that only transcendental phenomenology couls offer; the problematic of
the unconscious could only be adequately dealt with after the phenomenological analysis of
consciousness. Hence, from Husserl’s standpoint, Freud had it reversed: consciousness is not constructed
upon and hence a derivative of the unconscious (as with Schopenauer); instead, a proper
phenomenological analysis of consciousness provides the genuine grounding for an understandig of
various levels of ,unconscious intentionalities’ “ (Askay, Richard; Farquhar, Jensen: Apprehending the
inaccessible: Freudian Psychoanalysis and Existential Phenomenology, Evanston 2006, 170).
485 Freud, Sigmund: Das Unbewusste, in: GW 10: Werke aus den Jahren 1913-1915, Frankfurt a. M.
1967, 270.
486 Freud, Das Unbewusste, 270.
487 Freud, Das Unbewusste, 270.
126
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Freuds als dessen Unbewusstem nähert.488 Das, was Husserl das „Unbewusste“ nennt,
entspricht einer Kategorie, die auch bei Freud vorhanden ist, aber die in seiner
psychoanalytischen Perspektive nur als ein erstes, schwaches und – in gewissem Sinn –
uneigentliches „Unbewusstes“ bezeichnet werden kann. In der Neuen Folge der
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse von 1932 gibt Freud an, dass nur in
einem deskriptiven, aber nicht eigentlich in einem dynamischen Sinn das Vorbewusste
als unbewusst bezeichnet werden kann, und dass wir von einem deskriptiven
Standpunkt „einen Vorgang unbewußt heißen, wenn wir annehmen müssen, er sei
derzeit aktiviert, obwohl wir derzeit nichts von ihm wissen. Diese Einschränkung läßt
uns daran denken, daß die meisten bewußten Vorgänge nur kurze Zeit bewußt sind; sehr
bald werden sie latent, können aber leicht wiederum bewußt werden.“ 489
Die
dynamische Perspektive leitet etwas Neues ein und ohne sie „hätten wir [...] nicht das
Recht erworben, den Begriff eines Unbewußten in die Psychologie einzuführen.“ 490
Zusammenfassend erklärt Freud mit diesen Worten die begriffliche Unterscheidung:
Die Berücksichtigung dieser dynamischen Verhältnisse gestattet uns jetzt, zweierlei
Unbewußtes zu unterscheiden, eines, das leicht, unter häufig hergestellten Bedingungen,
sich in Bewußtes umwandelt, ein anderes, bei dem diese Umsetzung schwer, nur unter
erheblichem Müheaufwand, möglicherweise niemals erfolgt. [...] Wir heißen jenes
Unbewußte, das nur latent ist und so leicht bewußt wird, das Vorbewußte, behalten die
Bezeichnung „unbewußt“ dem anderen vor. 491
488
Ricoeur behauptet hierzu, dass „[l]‘inconscient de la phénoménologie, c’est le preconscient de la
psychoanalyse, c’est-à-dire un inconscient descriptiv et non encore topique“ (Ricoeur, Paul:
L’interprétation. Essai sur Freud, Paris 1965, 382). Ebenso schreibt Holenstein: „Was hier unbewusst
genannt wird, sind Konstitutionsprozesse, die vor der ichlichen Erfassung und der gegenständlichen und
sinnstiftenden Auffassung liegen. Es handelt sich dabei, wie bei den meistens als phänomenologische
Unbewusstheiten angeführten Tatsachen des unthematisierten Horizontes und der vorreflektiv
fungierenden Intentionalität jedes aktuellen Bewusstseinserlebnisses um Phänomene, welche die
Psychoanalyse als ‚vorbewusst’ einstuft“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 320).
Desgleichen betont diesbezüglich Trincia: „Di qui prende le mosse il passo indietro di Husserl nei
confronti della massima vicinanza appena raggiunta rispetto a Freud. Da questo momento, l’inconscio
husserliano tende a presentarsi nei panni del preconscio freudiano. Catturato nel meccanismo temporale
del ,ricordare’, esso tende a fondarsi sull’equivalenza della motivazione ,oscura’ e della lontananza
temporale, che distanzia il contenuto del vissuto dal centro dell’attenzione e lo relega nell’ambito di ciò
che resta ,inavvertito’ “ (Trincia, Francesco Saverio: Husserl, Freud e il problema dell’inconscio, Brescia
2008, 86-87).
489 Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: GW 15,
Frankfurt a. M. 1969, 77.
490 Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 77.
491 Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 77-78.
127
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Wie Ziegler deutlich hervorhebt, ist das Unbewusste in der psychoanalytischen
Perspektive „eben das, was als solches, d.h. als Unbewusstes niemals ganz bewusst
werden kann, das aber das Bewusste dennoch bestimmt, das sich in ihm ausdrückt [...].
So muss, für die Phänomenologie undenkbar, ein selbst nicht Gegebenes durchgehend
für die Erklärung des allein Gegebenen herangezogen werden.“ 492
Für die
Phänomenologie gilt eher das Gegenteil: Das „allein Gegebene“, und zwar das
Bewusstsein, seine Wesensstrukturen und seine anschaulichen Gegebenheitsmodi,
bilden den einzigen Weg, um auch das nicht direkt erscheinende Seelenleben zu
erfassen. So schreibt Husserl bezüglich der Unterstufe der Passivität:
Es liegt in der Natur der Sachlagen, dass man von diesen Unterstufen nur sprechen kann,
wenn man schon das fertig und aktiv Konstituierte vor Augen hat, und wenn man von der
Aktivität abstrahiert, so ist sie zunächst unvermeidlich eine wesensmäßig noch
unbestimmte, so dass erst die nachkommende Untersuchung der höheren Stufe auch für
(die) untere Reinheit des Verständnisses ihrer Leistung geben kann. 493
Wenn Husserl von passiven oder irrationalen Motivationen spricht, folgt daraus
keineswegs ein völliger Bruch mit den Vernunftmotivationen. Besser gesagt,
Vernunftmotivationen besitzen eine rationale und willentliche Eigentümlichkeit, die in
unbekannter Form der instinktiven und unbewussten Sphäre zugehört, aber es handelt
sich nicht um zwei verschiedene Welten, sondern um zwei Dimensionen, die einen
beständigen Sinnzusammenhang aufweisen.
Das Bewusste und seine bewussten Motivationen bilden also das zentrale Moment
der Husserlschen Vorstellung des Seelenlebens und stellen den Schlüssel dar, um das
Unbewusste zu erfassen und wiederzuerwecken. Es ist bedeutsam, dass Husserl am
Ende des besagten Zitats aus den Ideen II die Begriffe „unbemerkt“ und „unmerklich“
als Synonyme für „unbewusst“ vorschlägt: Das Wiedererlangen der im Unbewussten
versunkenen Zusammenhänge und Erlebnisse ergibt sich als ein Zurückverfolgen der
vergangenen, aber noch lebendigen Sedimentierungen. Wie Husserl in seinen Analysen
zur passiven Synthesis deutlich hervorhebt, ist „[j]edes gewesene Erlebnis [...] gewesen:
492
493
Ziegler, Die Phänomenologie und die Provokation des Unbewussten, 110.
Hua XXXI, 3.
128
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
an sich. Aber doch für das Ich, nämlich so, daß es für das Ich ein vorhandenes, ein
wahrhaft seiendes, ein erkennbares ist. Wäre dem nicht so, so wäre von einem
Bewußtseinsstrom überhaupt nicht zu reden.“ 494 Kurz danach fügt er hinzu, dass „in
jedem Fall, und schon in der Passivität [...], doch all das bereit [ist], was die Leistung
des aktiven Ich ermöglicht, und es steht unter den festen Wesensgesetzen, nach denen
die Möglichkeit dieser Leistung verständlich werden kann.“ 495
Im psychoanalytischen Ansatz Freuds verhält es sich dagegen anders, wie Serra
hervorhebt:
In seiner Theorie der Erinnerungsschichten geht Freud [...] zunächst nicht von der
Untersuchung der psychischen Phänomene schlechthin aus, so dass daher die zugrunde
liegenden Konstitutionsschichten untersucht werden. Dies ist der von Husserl bevorzugte
Weg. Freud wendet sich hingegen zunächst der Untersuchung der dem Bewusstsein
unzugänglichen Vorgänge zu. 496
Freud beobachtet nämlich, dass „[m]an [...] sich dann auf den Standpunkt stellen
[muss], es sei nichts anderes als eine unhaltbare Anmaßung, zu fordern, daß alles, was
im Seelischen vorgeht, auch dem Bewußtsein bekannt werden müsse.“497 Diese in
letzter Konsequenz wesentliche Unzugänglichkeit des Unbewussten bei Freud
bezeichnet den radikalsten Unterschied zum phänomenologischen Ansatz Husserls.498
Freud schreibt nämlich in Triebe und Triebschicksale von 1915: „Da das Studium des
Trieblebens vom Bewußtsein her kaum übersteigbare Schwierigkeiten bietet, bleibt die
494
Hua XI, 208.
Hua XI, 209.
Hierzu bemerkt Perreau: „L’inconscient phénoménologique apparaît donc comme une possibilité intime
de la conscience. De ce point de vue, les réflexions husserliennes ont le mérite de suggérer une
conception psychoanalytique des rapports entre le conscient et l’inconscient qui ne les pense plus en
termes d’opposition tranchée entre deux instances de la vie psychique du sujet. Husserl disqualifie ainsi la
conceptualisation psychoanalytique de l’inconscient qui est bien la plus discutable, celle qui apparaît au
cours de la détermination topique des différents lieux de la vie psychique“ (Perreau, Phénoménologie
husserlienne et metapsychologie freudienne: la pulsion et l’inconscient, 28-29).
496 Serra, Archäologie des (Un)bewussten. Freuds frühe Untersuchung der Erinnerungsschichtung und
Husserls Phänomenologie des Unbewussten, 180.
497 Freud, Das Unbewusste, 265.
498
Hierzu schreibt Bernet: „Thus a phenomenological understanding of the phenomena of the
Unconscious analysed by Freud implies a critique of every attempt to determine the Unconscious in total
independence from consciousness or as its hidden origin“ (Bernet, Unconscious consciousness in Husserl
and Freud, 348).
495
129
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
psychoanalytische Erforschung der Seelenstörung die Hauptquelle unserer Kenntnis.“ 499
Diese Behauptung erweist sich als äußerst wichtig, weil sie das Wesen des
psychoanalytischen Ausgangspunktes zeigt: Obwohl Freud in Das Unbewusste erkennt,
dass „dabei die Bewusstheit nicht umgehen [kann], da sie den Ausgangspunkt aller
unserer Untersuchungen bildet“ 500, schreibt er in eben demselben Werk, dass „die Daten
des Bewußtseins in hohem Grade lückenhaft sind; sowohl bei Gesunden als bei
Kranken kommen häufig psychische Akte vor, welche zu ihrer Erklärung andere Akte
voraussetzen, für die aber das Bewußtsein nicht zeugt.“ 501 Mit anderen Worten: Auch
nach Freud stellt das Bewusstsein den verbindlichen Zugang zum Unbewussten dar,
aber es handelt sich hier nicht um das Bewusstsein selbst, sondern um seinen Mangel,
seine „Lücke“. Dies impliziert eine wesentliche Distanz zwischen Bewusstem und
Unbewusstem und die jeweilige Anerkennung zweier verschiedener Wirkungsebenen.
Husserl selbst bestätigt mit dem Ausdruck „Vor-Ich“ 502
die Existenz einer
genetischen Vorstufe des Bewusstseins, die jene ursprünglich triebhafte Passivität
bezeichnet, welche der Konstitution der Vernunftakte des Ich vorangeht. Wie Nam-In
Lee deutlich erklärt, handelt es sich um „das blinde Ausstrahlungszentrum der
ursprünglichen Instinkte.“503 Es ist die Aufgabe der genetischen Phänomenologie, diese
transzendentale Stufe des Ich hervorzuheben und zu rekonstruieren.504 Gerade diese
Aufgabe wird von Husserl immer weiter verfolgt und eingehend untersucht: Das
Ergebnis des genetisch-phänomenologischen Weges ist der Begriff der
Triebintentionalität, d.h. des „Gedanken[s] der ursprünglichsten Intentionalität“ 505, den
499
Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale, in: GW 10: Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt
a. M. 1967, 270.
500 Freud, Das Unbewusste, 271.
501 Freud, Das Unbewusste, 265.
502 Siehe hierzu: Taguchi, Shigeru: Das Problem des ,Ur-Ich’ bei Edmund Husserl, Dordrecht 2006,
116-122; Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 214-218. Beide heben die
Eigentümlichkeit des Begriffs des Vor-Ich gegenüber dem vom Ur-Ich als „Urboden aller Geltungen“
hervor.
503 Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 214.
504
Hierzu schreibt Taguchi, dass „das Vor-Ich für mich als Phänomenologisierenden in einer
weiteren ,Ferne’ [liegt], da es um eine vergangene Vorstufe geht, in der ich noch nicht dieses Ich bin, die
aber in meiner Geschichte des Bewußtseins tief verborgen ist. Das Vor-Ich muß erst rekonstruiert
werden“ (Taguchi, Das Problem des ,Ur-Ich’ bei Edmund Husserl, 119).
505 Yamaguchi, Ichiro: Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, Den Haag 1982, 35.
Yamaguchi zeigt auf den folgenden Seiten außerdem, dass der Begriff der Triebintentionalität – wenn
auch ohne diese Benennung – eine wichtige Quelle in den Überlegungen zur passiven Synthesis hat.
130
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Husserl besonders in den dreißiger Jahren ausarbeitet.506 Obwohl die letzen Analysen
Husserls zu diesen Themen kompliziert und aus terminologischer Sicht ungenau
scheinen, ist zu bemerken, dass sich für ihn auch in der vorichlichen Stufe keine
Ichlosigkeit zeigt. Wie Taguchi betont, ist „[d]ie passive Intentionalität [...] zwar nicht
im spezifischen Sinne ‚ichlich’, setzt aber die Zentrierung des Ich bereits voraus.“ 507
Es ist eben das Wesen der phänomenologischen Methode, das es dagegen unmöglich
macht, das Unbewusste als etwas völlig anderes als das Bewusstsein zu denken. „Will
man das Unbewusste“ – so schreibt Brudzinska – „im Rahmen der Phänomenologie
zum Thema machen, muss man also zuerst die Möglichkeiten seiner – sozusagen –
Phänomenologisierung befragen.“ 508
Einer der wichtigsten Vertreter dieser
Phänomenologisierung des Unbewussten ist sicherlich Eugen Fink, der in der
sogenannten „Finks Beilage zum Problem des ,Unbewußten’“ 509 diese problematische
Thematik behandelt. Fink präzisiert sogleich die theoretische und methodische
506
Die Texte über Intersubjektivität, die Husserl in den dreißiger Jahren geschrieben hat und die im 15.
Band der Husserliana veröffentlicht wurden, stellen den hauptsächlichen Bezugspunkt dar, um den
Begriff der Triebintentionalität zu erfassen. Hier schreibt Husserl nämlich: „Das Ich als spezifisches
Subjekt der instinktiven Triebe (als Triebhabitualitäten), der durch alle lebendige Gegenwart
hindurchgehenden Triebintentionalitäten“ (Hua XV, 148). „Indessen ist die Frage, ob nicht, und
notwendig, Triebintentionalität, auch die auf Andere (geschlechtlich-sozial) gerichtete, eine Vorstufe hat,
die vor einer ausgebildeten Weltkonstitution liegt — mag die Weltkonstitution auch nicht so weit reichen
wie für den Menschen als ‚Vernunftwesen’. Ich denke hier an die Probleme Eltern, oder vor allem, Mutter
und Kind, die aber auch im Zusammenhang der Kopulationsproblematik erwachsen. Die Primordialität ist
ein Triebsystem. [...] Dürfen oder müssen wir nicht eine universale Triebintentionalität voraussetzen, die
jede urtümliche Gegenwart als stehende Zeitigung einheitlich ausmacht und konkret von Gegenwart zu
Gegenwart forttreibt derart, dass aller Inhalt Inhalt von Trieberfüllung ist und vor dem Ziel intendiert ist,
und dabei auch so, dass in jeder primordialen Gegenwart transzendierende Triebe höherer Stufe in jede
andere Gegenwart hineinreichen und alle miteinander als Monaden verbinden, während alle ineinander
impliziert sind — intentional?“ (Hua XV, 594-595).
507 Taguchi, Das Problem des ,Ur-Ich’ bei Edmund Husserl, 117.
In dem genannten Text über Triebintentionalität aus dem 15. Band fügt Husserl hinzu: „Die Rückfrage
und Rekonstruktion führt auf die ständige Zentrierung durch den Ichpol jeder Primordialität, der ständig
Pol bleibt in ständigem Gang der Objektivation, in der auf der weltlichen Seite das objektivierte Ich mit
seinem Leib steht.“ (Hua XV, 595)
508 Brudzinska, Die phänomenologische Erfahrung und die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen
im Anschluss an Husserl und Freud, 56.
In Richtung einer Phänomenologisierung der Psychoanalyse geht die interessante Arbeit von Bernet. Er
will zeigen, dass schon die Husserlsche Analyse der anschaulichen Vergegenwärtigung bei
Wiedererinnerung und Phantasie ein Weg zum Unbewussten ist, weil sie die Möglichkeit des
Bewusstseins, etwas Unbewusstes zur Erscheinung zu bringen, darstellt. Er behauptet nämlich: „Taking
its point of departure from this Freudian determination of connection between the conscious and the
Unconscious,a transcendental phenomenology of consciousness is confronted with the task of showing
how it is possible that consciousness can bring to present appearance something unconscious, that is,
somethig foreign or absent to consciousness, without thereby incorporating it into or subordinating it to
the conscious present“ (Bernet, Unconscious consciousness in Husserl and Freud, 329).
509 Fink, Eugen: Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, in: Hua VI, 473-475.
131
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Voraussetzung seiner Überlegungen und schreibt dann: „Die unter dem Titel
des ,Unbewußten’ sich meldenden Probleme sind in ihrem eigentlichen
Problemcharakter erst zu begreifen und methodisch zureichend zu exponieren nach der
vorgängigen Analytik der ‚Bewußtheit’.“510
Eine „Beleuchtung des
erfahrungstheoretischen Sinns des Unbewussten“ 511 setzt nach Fink also notwendig eine
Analyse des Bewusstseins voraus. Fink ist sich der möglichen Einsprüche bewusst,
denen ein solcher Ansatz begegnen kann, und schreibt hierzu:
Man wird schnell mit dem Einwand bei der Hand sein daß die Ansetzung der Problematik
des „Unbewußten“ als einer intentionalen von vornherein schon ein fragwürdiges
methodisches Präjudiz sei, gleichsam den Versuch darstelle, das „Un-Bewußte“ mit den
methodischen Mitteln des Verstehens von Bewußtsein zu interpretieren. Hat man damit
denn nicht eine Vorentscheidung getroffen derart, daß das Unbewußte irgendwie
verdunkeltes Bewußtsein, aufweckbar es Bewußtsein, Vorstufe oder Nachgestalt des
Bewußtseins sei, also letzten Endes auf Bewußtsein zurückleitbar? Hat man damit nicht
hinsichtlich des Lebens der Subjektivität die vorgefaßte Meinung, daß Leben und
Bewußtsein dasselbe sei? 512
Solche Einwände sind nach Fink allerdings Ergebnisse „einer prinzipiellen
philosophischen Naivität“, die das Fundament von „auf dem Untergrund einer
undurchsichtigen Empirie entworfenen ,mythischen’ Theorien über das (in den
Phänomenen des ,Unbewußten’ sich anzeigende) eigentliche Wesen des Lebens, sei es
den naturalistischen Mechanismus der ‚libido’ oder sonst eine ,Dynamik’ der Triebe und
Instinkte”513 bildet. Der Ausdruck „ ,mythischen’ Theorien“ erinnert unweigerlich an
eine bekannte Passage aus den Neuen Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse Freuds, in denen er feststellt: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere
Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir
können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nicht
510
Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 473.
Brudzinska, Die phänomenologische Erfahrung und die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen
im Anschluss an Husserl und Freud, 55.
512 Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 473.
513 Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 474.
511
132
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
sicher, sie scharf zu sehen.“ 514 Eine solche Behauptung ist in der Perspektive Finks
gerade gekennzeichnet von einer theoretischen Naivität, die in Folgendem besteht:
Man glaubt immer schon zu kennen, was das „Bewußte“, das Bewußtsein ist, und
entschlägt sich der Aufgabe, zuvor den Begriff, gegen den alle Wissenschaft vom
Unbewußten ihr Thema immer abgrenzen muß, eben den des Bewußtseins, zu einem
vorgangigen Thema zu machen. Weil man aber nicht weiß, was Bewußtsein ist, verfehlt
man prinzipiell den Ansatz einer Wissenschaft von „Unbewußten“.515
Mit den Worten von Perreau kann verdeutlicht werden, dass in einer
phänomenologischen Perspektive „l’inconscient [...] participe essentiellement de notre
vie psychique, non comme un ,néant totalement mystérieux’, mais bien comme cette
autre part de nous-mêmes, où gît une pulsionnalité transcendentale qui n’œuvre pas
encore avec suffisamment de force pour qu’on puisse la déceler.“ 516
Fink zufolge ist das Bewusstsein „uns gewissermaßen das Nächste“517, weshalb man
in den Irrtum verfallen könnte, es als selbstverständlich vorauszusetzen, als ob es etwas
schon Bekanntes und Überschaubares wäre. Das Ziel der Phänomenologie und
insbesondere der phänomenologischen Reduktion ist es gerade, diese angebliche
Selbstverständlichkeit aufzudecken, um die transzendentalen Bewusstseinsstrukturen
hervortreten zu lassen und sie sowie ihre Gegebenheitsmodi zu beschreiben. Die
Überschreitung dieser „fast unausrottbare[n] Naivität“ 518 stellt den ersten notwendigen
Schritt jedes Ansatzes zur Frage nach dem Wesen des Bewusstseins und des
Unbewussten dar, wie Fink nachdrücklich feststellt:
Die intentionale Analytik der Phänomenologie aber zerstört den Schein „unmittelbarer
Gegebenheit des Bewußtseins“ und führt in eine neuartige und schwer durchzuhaltende
Wissenschaft hinein, in der man allmählich erst sehen und begreifen lernt, was Bewußtsein
ist. Und wenn man auf den langen Wegen intentionaler Analytik sich zu einem Verständnis
des „Bewußtseins“ durchgearbeitet hat, kann man die Problematik des Unbewußten nie
514
Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 101.
Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 474.
516 Perreau, Phénoménologie husserlienne et metapsychologie freudienne: la pulsion et l’inconscient, 14.
517 Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 474.
518 Hua VI, 82.
515
133
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
mehr in der Naivität exponieren wollen, die mit Bewußtsein und Unbewußtem umgeht wie
mit alltäglich bekannten Dingen. 519
Wie Perreau klar zusammenfasst, „la phénoménologie [...] est ici envisagée comme
une possible contribution positive à la théorisation de l’inconscient, et à vrai dire, aux
yeux de Fink, comme la seule véritablement possible.”520
Durch diese kurze Gegenüberstellung zwischen den Positionen Husserls und Freuds
ist noch einmal deutlich geworden, dass die wirkliche Potentialität, die unbewussten
Motivationen jeder Handlung wieder wirksam und verstehbar werden zu lassen, das
eigentliche Merkmal eines phänomenologischen Ansatzes zum Rätsel des Unbewussten
ist. Aus diesem Grund verdient dieser Punkt im Folgenden eine größere
Aufmerksamkeit.
3.4 Die Möglichkeit der Weckung
Eine Feststellung Husserls aus den Cartesianischen Meditationen bestätigt die
erkannte Eigentümlichkeit des Unbewussten aus phänomenologischer Perspektive, d.h.
die Möglichkeit der Weckung von versunkenen Erlebnissen. Husserl schreibt hier
nämlich:
Vernunft und Unvernunft, im weitesten Sinn verstanden, bezeichnen keine zufälligfaktischen Vermögen und Tatsachen, sondern gehören zur allgemeinsten Strukturform der
transzendentalen Subjektivität überhaupt. [...] Jedes vage, leere, unklare Bewußtsein ist von
vornherein nur Bewußtsein von dem und dem, sofern es auf einen Weg der Klärung
verweist, indem das Vermeinte als Wirklichkeit oder als Möglichkeit gegeben wäre. Jedes
vage Bewußtsein kann ich befragen, wie sein Gegenstand aussehen müßte. 521
Diese Möglichkeit, jedes eigene Bewusstseinserlebnis zu befragen, gehört strukturell
zur transzendentalen Subjektivität und bildet die Voraussetzung für die Ablehnung, die
passive Dimension des Lebens des Ich als ein unzugängliches Reich zu erachten. Der
unausgesetzte Prozess der Sedimentierung all dessen, was einst lebendig und bewusst
519
Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 474.
Perreau, Phénoménologie husserlienne et metapsychologie freudienne: la pulsion et l’inconscient, 14.
521 Hua I, 22.
520
134
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
gewesen ist, führt dazu, – wie bereits betont worden ist – dass „die retentionale
synthetische Linie [...] in das allgemeinsame Null der Unterschiedslosigkeit [sich
verliert]. Und doch, in der Kontinuität dieses Prozess hat der Sinn sich identisch
erhalten, er hat sich nur verhüllt, er ist aus explizitem Sinn zu einem impliziten
geworden.“522 Da dieses Versinken fortwährend geschieht, entsteht eine Gradualität
zwischen den Niederschlägen, die mehr oder weniger verborgen im Unbewussten liegen
können. Diesbezüglich unterscheidet Husserl zwischen Naherinnerungen und
Fernerinnerungen, und zwar „zwischen Wiedererinnerungen, die geweckt sind durch die
noch urlebendige [...] Retention“ und „Wiedererinnerungen, <die> [...] in den
retentionalen Fernhorizont hineingreifen.“ 523 Die Fernerinnerungen sind jene, die das
Problem der Weckung des Unbewussten direkter betreffen, weil sie „nicht in dem
unmittelbaren Gegenwartsbereich ihre retentionale Anknüpfung haben, vielmehr eine
ferne, längst versunkene Bewußtseinsvergangenheit wiederaufleben lassen“ 524. Für sie
ist daher der Terminus Wiedererinnerung nicht ganz passend, weil es für diese tiefe
Stufe der Sedimentierung keine Möglichkeit gibt, sie wieder anschaulich zu
vergegenwärtigen: Es handelt sich eher um die Möglichkeit der Weckung unbewusster
Erinnerungen. Hier muss noch einmal betont werden, dass gerade die Weckung des
Unbewussten jene Aufgabe darstellt, welche Husserl der Psychoanalyse zuerkennt.525
Die Erlebnisse „versinken in den unterschiedslosen, gleichsam leblos gewordenen
allgemeinen Horizont der Vergessenheiten – wenn nicht assoziative Weckung
statthat.“ 526
Die Möglichkeitsbedingung der Weckung ist die Assoziationssynthese. Wie im ersten
Kapitel schon hervorgehoben wurde, besitzen die passiven Assoziationen eine
Motivationsgesetzlichkeit und stellen das unbemerkte Gewebe der Erfahrung selbst dar.
522
Hua XI, 174.
Hua XI, 112.
524 Hua XI,114.
525 Vgl. Hua IV, 222.
526 Hua XI, 80.
Siehe hierzu auch Hua XI, 78: „Es geht also eine assoziative Weckung von der Gegenwart aus auf eine
retentionale Vergangenheit [...]. Ebenso kann aus dem Reich der scheinbar zu nichts gewordenen
Vergessenheiten, aus dem fernen Horizont, in den schließlich alle Retentionen versinken, eine der alten,
unlebendigen, nicht mehr abgehobenen Retentionen gewissermaßen wieder geweckt werden, wobei sie
zunächst die Gestalt einer abgehobenen leeren Retention annimmt und annehmen muß.“
523
135
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Die Assoziation motiviert die Weckung und ermöglicht damit die Rückgewinnung des
scheinbar Verlorenen. Husserl spricht diesbezüglich von „weckende[m] Bewußtsein“:
„Das Gegenwärtige erinnert an das Vergangene. Ebenso kann, während eine
Wiedererinnerung abläuft, eine zweite Wiedererinnerung auftreten, mit ihr in dem
Zusammenhang, der sich noematisch darin charakterisiert, dass der erste erinnerte
Vorgang an den zweiten erinnerten erinnert.“ 527 Wie diese letzte Bemerkung Husserls
deutlich verstehen lässt, ist die Bedingung der Weckung eine „Ähnlichkeitsbeziehung
zwischen Weckendem und Gewecktem.“ 528
Das Wiederauftauchen auch von
versunkener Bewusstseinsvergangenheit ist
möglich [...] denn unter Vermittlung einer Ähnlichkeitsweckung. Man sieht dann, daß hier
sicher Wesensgesetze walten. Jede Weckung geht von einer impressionalen oder schon
unanschaulich oder anschaulich reproduzierten Gegenwart auf eine andere reproduktive
Gegenwart. Diese Beziehung oder, wie wir sogleich sagen können, diese Synthese setzt ein
„Brückenglied“ voraus, ein Ähnliches; von da aus wölbt sich die Brücke als eine spezielle
Synthese durch Ähnlichkeit. Dadurch vermittelt, tritt eine Gegenwart mit einer anderen
vergangenen Gegenwart, korrelativ ein volles Gegenwartsbewußtsein mit einem anderen,
versunkenen in eine universale Synthese, die den Rahmen abgibt für besondere
Weckungssynthesen und besondere Reproduktionen.529
Serra bemerkt dazu, dass diese Bewusstseinsdynamik, die Husserl beschreibt, „zur
Erklärung der freudschen Fehlleistung grundsätzlich bei[trägt] [...]. Jedes Moment einer
Vergegenwärtigung kann Momente anderer vorheriger Wahrnehmungen oder
Erinnerungsakte dadurch assoziativ wecken, dass sie einmal in einem bereits
vollzogenen Akt mitbewusst waren.“ 530
Alle alltäglichen Vergesslichkeiten und
Fehlleistungen sind in der Freudschen Perspektive Beweise dieser beständig
mitfungierenden weckenden Assoziation, die trotz der Hemmung oder Verdrängung des
bewussten Ich wirkt. Einen unüberwindbaren Unterschied zwischen ihren Positionen
527
Hua XI, 118.
Hua XI, 123.
529 Hua XI, 123.
530 Serra, Archäologie des (Un)bewussten. Freuds frühe Untersuchung der Erinnerungsschichtung und
Husserls Phänomenologie des Unbewussten, 205.
528
136
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
markiert dennoch, dass Husserl zufolge nichts Unbewusstes – im Gegensatz zu Freud –
eine totale Unzugänglichkeit und daher Unverständlichkeit besitzt.531
§ 4. Die bleibenden Meinungen und die transzendentalen Habitualitäten
In der Behandlung des Themas der retentional versunkenen Sedimentierungen und
ihrer Wirksamkeit und Beeinflussung des aktuellen Lebens des Ich wurde bereits ein
Punkt hervorgehoben, der im Folgenden besondere Aufmerksamkeit verdient: Es
handelt sich um die niedergeschlagene „Geschichte“ des Ich, ihre Bedingungen, ihre
transzendentale Dynamik sowie ihre theoretischen Implikationen für die gesamte
Husserlsche Auffassung der Subjektivität.
In den Analysen zur passiven Synthesis findet man eine Äußerung, die dieses Thema
zweckmäßig einleiten kann:
Der Leitgedanke ist: Nichts kann in einem Bewußtseinsstrom bzw. seinem Ich bewußt
werden, ohne daß dieses Bewußtsein nach Wesensgesetzen, also nach schlechthin
unaufhebbaren Gesetzen und aus seinem Material hyletischer Bestände die entsprechende
intentionale Genesis vollbracht hat, deren Ausschlag das betreffende retentionale System
ist, in welchem die Vorbedingungen für das Ansich eines so gearteten Typus intentionaler
Objektivität und für seine Normierung liegen. Bewusstsein ist ein unaufhörliches Werden.
Aber es ist nicht eine bloße Aufeinanderfolge von Erlebnissen, ein Fluß, wie man sich
einen objektiven Fluß denkt. Bewusstsein ist ein unaufhörliches Werden als ein
unaufhörliches Konstituieren von Objektivitäten in einem unaufhörlichen progressus der
Stufenfolge. Es ist eine nie abbrechende Geschichte. Und Geschichte ist ein stufenweises,
von einer immanenten Teleologie durchherrschtes Konstituieren immer höherer
Sinngebilde. 532
Was hier von Husserl beschrieben wird, ist der sich immerfort entwickelnde
Charakter des vom genetischen Standpunkt betrachteten Bewusstseins: Es zeigt sich
531
Hierzu schreibt Nathalie Depraz: „[L]’inconscient n’a pas le même sens pour l’un et pour l’autre:
Husserl comprend l’inconscient comem un pré-conscient, un irréfléchi qui peut toujours se meur en préréflechi, ce qui donne un accés possible aux zones inconscientes de notre conscience, par une réactivation
possible qui correspond à une dynamique d’avènement à la conscience; Freud voit au contraire dans
l’inconscient un noyau d’opacité irréductible, qui ressortit en dernière instance à cette part de
déterminisme mécanique foncier en nous“ (Depraz, Nathalie: Pulsion, Instinct, Desir. Que signifie Trieb
chez Husserl? – à l’epreuve des perspectives de Freud, Merleau-Ponty, Jonas et Scheler-, in Alter – Revue
de phenomenologie 9 (2001), 117).
532 Hua XI, 218-219 (Meine Hervorhebung).
137
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
nämlich als ein unaufhörliches Werden, d.h. als eine progressive, stufenweise sich durch
das Zeitströmen vollziehende Geschichte, in der sich alles bis zur unterschiedslosen
Nullsphäre niederschlägt. Der transzendentale Fluss von Urimpression, Retention und
Protention – wie am Anfang des Kapitels bereits betont worden ist – stellt eben die
Bedingung der Geschichte als Horizont und strukturelle Dynamik des
Bewusstseinslebens dar. Die Aufgabe ist es jetzt, eine genetische Perspektive
einzunehmen, um das Wesen und die Rolle dieses nie abbrechenden Werdens in der
Bildung des aktuellen Bewusstseins zu untersuchen.
Der § 29 des zweiten Bandes der Ideen, dessen Titel „Konstitution von Einheiten
innerhalb der immanenten Sphäre. Die bleibenden Meinungen als Niederschläge im
reinen Ich“ ist, kann als einer der bedeutungsvollen Anhaltspunkte solcher
Untersuchung herausgestellt werden, um das Thema danach durch andere Stellen des
Husserlschen Werkes zu vertiefen. Die genannten Seiten aus den Ideen II bieten die
Gelegenheit, einen wesentlichen Punkt herauszugreifen: Die Dynamik des
fortschreitenden Versinkens des Bewusstseinslebens, sein progressives UnbewusstWerden und die beständige Wirksamkeit der unbewussten Stufen, die nie
„durchgestrichen“ werden können, auch wenn ihre Motivationskraft fast unmerklich
geworden ist – all diese Momente sind keine bloß empirischen oder psychologischen
Kennzeichnungen des realen Ich, sondern haben einen transzendentalen Charakter. Es
handelt sich deshalb nicht um etwas Kontingentes oder Nebensächliches, das nur das
empirische Ich betrifft, sondern um etwas, das mit den transzendentalen
Möglichkeitsbedingungen des Ich zu tun hat. Der genannte Paragraph nimmt hierzu
eine zentrale Stellung ein, weil Husserl darin „eine Wesensgesetzmäßigkeit des reinen
Ich“533 darlegen möchte, die folgendermaßen lautet:
[J]ede „Meinung” [ist] eine Stiftung [...], die solange Besitz des Subjekts bleibt, als nicht
Motivationen in ihm auftreten, die eine „Änderung“ der Stellungnahme, eine Dahingabe
der alten Meinung, bzw. hinsichtlich ihrer Komponenten eine partielle Preisgabe,
hinsichtlich der ganzen eine Veränderung fordern. Jede Meinung eines und desselben Ich
533
Hua IV, 112.
138
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
verbleibt notwendig in der Kette von Wiedererinnerungen, solange sie nicht auf Motive hin
durchgestrichen wird. 534
Was meint Husserl mit dem Ausdruck „Meinung“ bzw. mit den „,bleibenden
Meinungen’ eines und desselben Subjekts“535? Der Ausdruck bezieht sich auf „gewisse
Einheitsbildungen“, die „[i]nnerhalb eines monadischen absoluten Bewußtseinsstromes
[auf]treten [...], die aber von der intentionalen Einheit des realen Ich und seiner
Eigenschaften durchaus verschieden sind.“ 536 Husserl betont mehrfach, dass solche
Meinungen das rein transzendentale Ich betreffen, weshalb sie keine empirische oder
psychologische Geltung haben und führt dies konkret aus: „Man kann sie in gewissem
Sinn ,habituelle’ nennen, es handelt sich aber nicht um einen gewohnheitsmäßigen
Habitus, als ob das empirische Subjekt reale Dispositionen, die da gewohnheitsmäßige
heißen, gewinnen würde. Der Habitus, um den es sich hier handelt, gehört nicht zum
empirischen, sondern zum reinen Ich.“ 537
Dieses Wesensgesetz hat zum Gegenstand die Konstitution der Identität des Ich und
ihre Möglichkeitsbedingungen, wie Husserl im Folgenden näher ausführt:
Die Identität des reinen Ich liegt nicht nur darin, daß ich (wieder das reine Ich) im Hinblick
auf jedes cogito mich als das identische Ich des cogito erfassen kann, vielmehr: ich bin
auch darin und a priori das selbe Ich, sofern ich in meinen Stellungnahmen notwendig
Konsequenz übe in einem bestimmten Sinn; jede „neue“ Stellungnahme stiftet eine
bleibende „Meinung“, bzw. ein Thema [...], so daß ich von nun ab, so oft ich mich als
denselben erfasse, der ich früher war, oder als denselben, der jetzt ist und früher war, auch
meine Themata festhalte, sie als aktuelle Themata übernehme, so wie ich sie früher gesetzt
habe. 538
Diese Ausführungen verweisen auf das Thema der Motivation, weil man Husserl
zufolge Themata nur aufgrund von bestimmten Motiven setzt (Husserl betont eben, dass
die „Motivlosigkeit [...] als Nullfall der Motivation genommen [wird]“)539: Die
Motivationszusammenhänge zeigen sich noch einmal als das, was jede Icherfahrung
534
Hua IV, 113.
Hua IV, 111.
536 Hua IV, 111.
537 Hua IV, 111.
538 Hua IV, 111-112 (Meine Hervorhebung).
539 Hua IV, 112.
535
139
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
strukturiert und bewegt. Die Konstitution der Identität des Ich und ihre Entwicklung
sind immer wieder motiviert und zudem hält Husserl fest:
Bin ich derselbe, der ich bin, so kann die Stellungnahme nicht anders als „bleiben“ und ich
bei ihr bleiben, ich kann eine Änderung nur dadurch vollziehen, daß die Motive andere
werden. [...] Ich kann mir [...] nur dadurch in meiner Stellungnahme „untreu“ werden, ich
kann nur dadurch „inkonsequent” werden, daß ich eben ein anderer geworden bin, insofern
ich anderen Motivationen unterliege. In Wahrheit bin ich mir aber nicht untreu, ich bin
immerfort derselbe, aber im wechselnden Strom der Erlebnisse, in denen öfter neue Motive
sich konstituieren. 540
Die Identität des Ich bildet sich also durch eine gewisse den
Motivationszusammenhängen zugrunde liegende Folgerichtigkeit, so dass ich mich im
Weiterbestehen oder Ändern der sich vorstellenden Motive und meiner entsprechenden
Stellungnahmen wandle, aber letztlich immerfort derselbe bin: „Schon darin liegt eine
Art Konsequenz des Ich. Denn ein ‚stehendes und bleibendes’ Ich könnte sich nicht
konstituieren, wenn sich nicht ein stehender und bleibender Erlebnisstrom
konstituierte.“ 541 Noch deutlicher drückt sich Husserl in der Beilage dieser Seiten aus,
wenn er schreibt: „[D]ie Überzeugung ändern ist ‚sich’ ändern. Aber in der Änderung
und Unveränderung ist das Ich identisch dasselbe eben als Pol.“ 542
Dies stellt die transzendentale Voraussetzung der beständigen Möglichkeit der
Weckung versunkener Erlebnisse dar: Kraft dieses konsequenzialen Sich-Konstituierens
des Ich „kann [es] sich als identisches in seinem Verlauf finden. Es kann also in
Wiedererinnerungen auf frühere Cogitationen zurücksehen und seiner als des Subjekts
dieser wiedererinnerten bewußt werden.“543 Es gäbe kein Ich, wenn die Meinungen
nicht in der Kette der Wiedererinnerungen verbleiben würden und „wenn nicht die
540
Hua IV, 112 (Meine Hervorhebung).
In den Analysen zur passiven Synthesis betont Husserl: „So bleibt es als Ich einstimmig, einstimmig mit
‚sich selbst’, als Ich konsequent. Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, was ich entschieden habe, bleibt
entschieden. So bin ich immer derselbe, identisches Subjekt einstimmiger Spontaneität“ (Hua XI, 360).
541 Hua IV, 113.
542 Hua IV, 311 (Meine Hervorhebung).
543 Hua IV, 112-113.
„Indessen, was sich bewusstseinsmäßig als Gegenstand ursprünglich konstituiert, also derart, daß der
Gegenstand als er selbst originaliter bewußt wird, das konstituiert sich in Wesensnotwendigkeit im
ursprünglichen Zeitbewußtsein als kontinuierlich Identisches und bleibend Identifizierbares –
identifizierbar dann auch über die Sphäre der lebendigen Gegenwart hinaus vermittels von Verkettungen
der Wiedererinnerungen“ (Hua XI, 144).
140
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Möglichkeit bestünde, das Dunkel zur Klarheit zu bringen.“544 Die Weckung hat nach
Husserl strukturell mit der Freiheit des Ich zu tun oder, genauer gesagt, mit jenen fast
unmerklichen Stufen des Willens, die einer echten Stellungnahme – mit den Worten
Husserls, einem eigenen Ja – vorangehen:
Die frühere Überzeugung (Erfahrung usw.) behält für mich Geltung — das sagt nichts
anderes als: ich „übernehme” sie, reproduzierend mache ich den Glauben mit. Es ist nicht
ein Zustimmen, ein Jasagen derart wie bei einer Frage, einem Zweifel, einer bloßen
Zumutung. Und doch muß ich so etwas wie zustimmen, sofern wir doch die zwei Schichten
unterscheiden können: die Erinnerung mit dem früheren Subjekt, dem früheren Glauben,
Überzeugtsein, Erfahren etc., während das jetzige Subjekt nicht mitmacht. Und dasselbe in
eins mit dem Mitmachen, wobei das Mitmachen freilich kein eigener Schritt ist, kein
eigenes Ja. 545
Um diese Wesensgesetzlichkeit zu beleuchten, führt Husserl ein einfaches Beispiel
an, und zwar den Fall, dass ich einen Groll hege. Er bemerkt hierzu:
Die verschiedenen dauernden Erlebnisse, zugehörig zu Dauerstrecken, die innerhalb der
phänomenologischen Zeit getrennt sind, haben eine Beziehung zueinander und
konstituieren ein dauernd Bleibendes, die Überzeugung, den Groll, der damals, in dem und
dem Zeitpunkt aus den und den Motiven entsprang und von da an bleibendes Eigentum des
Ich ist, und er ist auch in den Zwischenstrecken der phänomenologischen Dauer, in denen
er nicht erlebnimäßig konstituiert war. 546
Der damals aktuelle Groll lebt also als bleibendes Eigentum des Ich fort, auch wenn
er nicht mehr aktuell lebendig oder bewusst ist. Er geht nie völlig verloren, sondern
bleibt seit dem Moment seiner Urstiftung bestehen: „Für alle Zeit ‚besteht’ diese
Erinnerung, solange nicht Motive auftreten, die sie aufheben und damit auch der
ursprünglichen Erinnerung ihr Recht nehmen.“ 547 So wie einige auftretende Motive die
544
Hua IV, 113.
„Nach diesen Prozessen aktueller Kenntnisnahme, Prozessen der Explikation ist der Gegenstand, auch
wenn er in der Passivität versunken ist, bleibend konstituiert als der durch die betreffenden
Bestimmungen bestimmte. Er hat die in den beschriebenen Akten ursprünglich konstituierten
Sinnesgestaltungen in sich aufgenommen als habituelles Wissen. Im ersten Blick einer späteren neuen
Wahrnehmung ist er bewusst mit dem freilich leeren Horizont erworbener Kenntnisse, und jede neue
Explikation hat den Charakter einer Wiederholung und einer Reaktivierung der Assoziation des schon
erworbenen ,Wissens’“ (Hua XXXI, 23).
545 Hua IV, 117.
546 Hua IV, 113-114.
547 Hua IV, 115.
141
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Möglichkeit der Erinnerung eines Bewusstseinsinhalts entfernen können, genauso wäre
„in jeder Stelle der Zeit [...] die Wiederholung dieser Erinnerung etwas Motiviertes.“ 548
Wieder betont Husserl:
Auf Grund einer Überlegung und gewisser Motive komme ich zur Überzeugung A, sie wird
hier als meine bleibende Überzeugung gestiftet. Späterhin rekurriere ich darauf als auf
meine bekannte Überzeugung; eine Erinnerung taucht auf, unklar oder klar, die Motive, die
Urteilsgründe vielleicht völlig dunkel: meine alte Überzeugung, gestiftet ich weiß nicht
mehr wann, sie hat ihre Gründe, nach denen ich vielleicht suche, was ein anderes ist als
nach neuen Gründen für sie suchen. 549
Sogleich gibt er genau an, dass das, was hier in Betracht zu ziehen ist, das SichKonstituieren und das Sich-Entwickeln der Identität des Ich sind: „Es handelt sich hier
nicht um den überall identischen Gehalt der Überzeugung als ideale Einheit, sondern
um den Gehalt als Identisches für das Subjekt, als ihm Eigenes, von ihm in früheren
Akten gewonnen, aber nicht mit den Akten vorübergehend, sondern dem dauernden
Subjekt zugehörig als ihm dauernd Verbleibendes.“ 550
Es bietet sich an, die Behandlung dieser Seiten der Ideen II mit einer letzten, dieser
Stelle entnommenen Äußerung Husserls zu schließen, weil sie wieder auf den
Hauptpunkt verweist und den weiteren Horizont der möglichen theoretischen
Implikationen, die auch andere Stellen Husserls thematisieren, eröffnet: „Es bedarf
aufhebender Gründe, um von der alten Überzeugung abzugehen. Es fragt sich freilich,
was hierin liegt, in diesem ‚es bedarf’. Es ist kein empirisch-psychologisches Faktum —
wir haben es ja mit dem reinen Bewußtsein vor der Konstitution des realen psychischen
Subjekts zu tun.“ 551 Hierzu stellt sich dennoch eine Frage, welche die bisher erreichten
Ergebnisse zusammenfasst: Was bedeutet es, dass die bleibenden Meinungen eine
Grundgesetzlichkeit nicht des empirischen, sondern des reinen Ich darstellen? Sie
werden von Husserl auch als Habitus des Ich bezeichnet. Aber wie kann ein Habitus,
der schlechthin die empirische und geschichtliche Stufe der Erfahrung darstellt, zum
reinen Ich gehören? In welchem Sinn spricht Husserl der transzendentalen Habitualität?
548
Hua IV, 115.
Hua IV, 116.
550 Hua IV, 116.
551 Hua IV, 117 (Meine Hervorhebung).
549
142
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Im § 32 der Cartesianischen Meditationen, dessen Titel eben Das Ich als Substrat
von Habitualitäten lautet, finden sich hierzu wichtige Erläuterungen. Im vorangehenden
Paragraphen hatte Husserl gerade bemerkt, dass „[d]as ego selbst [...] für sich selbst
seiendes in kontinuierlicher Evidenz [ist], also sich in sich selbst als seiend
kontinuierlich konstituierendes“ 552, und im Anschluss daran formuliert er nun:
Aber nun ist zu bemerken, daß dieses zentrierende Ich nicht ein leerer Identitätspol ist (so
wenig irgendein Gegenstand das ist), sondern vermöge einer Gesetzmäßigkeit der
transzendentalen Genesis mit jedem der von ihm ausstrahlenden Akte eines neuen
gegenständlichen Sinnes eine neue bleibende Eigenheit gewinnt. Entscheide ich mich z.B.
erstmalig in einem Urteilsakte für ein Sein und So-sein, so vergeht dieser flüchtige Akt,
aber nunmehr bin ich und bleibend das so und so entschiedene Ich, ich bin der betreffenden
Überzeugung. 553
Das transzendentale Ich ist also kein leerer Pol: Jede Stellungnahme stiftet eine neue
bleibende Eigenheit, die das Ich prägt, so dass „[j]ede Überzeugungsänderung [...] eine
Ichänderung [ist].“ 554 So bemerkt Husserl in den Pariser Vorträgen: „Das Ich ist nicht
bloß Pol auftretender und verschwindender Stellungnahmen; jede Stellungnahme
begründet im Ich etwas Verharrendes, seine bis auf weiteres bleibende
Überzeugung.“ 555 Das verweist auf jene strukturelle Bewusstseinsdynamik, die im
Rahmen der Phänomenologie des Willens – sowohl bei Husserl als auch bei Pfänder
und Geiger – hervorgehoben worden ist, d.h. die Selbstbestimmung jeder
Willensentscheidung. Husserl betont hier nämlich: „Ich entschließe mich — das
Akterlebnis verströmt, aber der Entschluß verharrt — ob ich passiv werdend in dumpfen
Schlaf versinke oder andere Akte durchlebe — er ist fortdauernd in Geltung; korrelativ:
ich bin hinfort der so Entschlossene, und solange, als ich den Entschluß nicht
aufgebe.“ 556 Es gibt also eine selbstbestimmende Rückwirkung jeder Stellungnahme auf
das Ich, dessen Konstitution deshalb genetisch rekonstruiert werden kann, da „[i]ch
selbst, der in seinem bleibenden Willen Verharrende, [mich] ändere, wenn ich
552
Hua I, 100.
Hua I, 100-101.
554 Hua IX, 214.
555 Hua I, 29.
556 Hua I, 101.
553
143
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Entschlüsse oder Taten durchstreiche, aufhebe.“ 557 In den Pariser Vorträgen findet man
dieselbe Betonung: „Habe ich mich z.B. in einem Urteilsakt für ein So-sein entschieden,
so vergeht dieser flüchtige Akt, aber ich bin nun weiter das Ich, das so entschieden ist,
ich finde mich selbst, und bleibend, als das Ich meiner mir bleibenden Überzeugungen.
So für jede Art Entscheidungen, z.B. Wert- und Willensentscheidungen.“ 558
Der neue hier zu vollbringende Schritt besteht nun darin, dass sich die Dynamik der
bleibenden Überzeugungen als eine transzendentale Struktur des Ich und seiner
Erfahrung erweist, und nicht als etwas, das bloß das empirische geschichtliche Leben
jedes Ich-Menschen betrifft. In den Ideen II beschreibt Husserl mit diesen Worten den
Unterschied zwischen reinem und personalem Ich: Das reine Ich „ist [...] nicht zu
verwechseln mit dem Ich als der realen Person, mit dem realen Subjekt des realen
Menschen; es hat keine ursprünglichen und erworbenen Charakteranlagen, keine
Fähigkeiten, Dispositionen usw. Es ist nicht auf wechselnde reale Umstände mit realen
Eigenschaften und Zuständen wechselnd bezogen.“559 Auf jeden Fall ist dieses reine Ich
„ganz und gar nichts Geheimnisvolles oder gar Mystisches“560, sondern der
transzendentale Pol jeder Erfahrung, d.h. das „Zentrum aller Intentionalität.“ 561 Husserl
betont nämlich, dass „es sich als reines Ich im Menschen und der Persönlichkeit
wieder[findet], sofern diese Gegenstände mit einem Auffassungssinn gesetzt sind,
demgemäß das reale Ich das reine Ich einschließt in der Art eines apperzeptiven
Kerngehaltes“ 562, so dass, wenn „ich [...] also mehrere Menschen [setze], so auch
mehrere prinzipiell gesonderte reine Ich und zugehörige Bewußtseinsströme. Es gibt
soviele reine Ich als es reale Ich gibt.“ 563
557
Hua I, 101.
Hua I, 26.
Hierzu betont Husserl in den Analysen zur passiven Synthese: „Als urstiftender stiftet er mit der
Entscheidung eine bleibende Entschiedenheit des Ich. Das Ich, das sich so entschieden hat, ist als Ich von
nun ab ein anderes. In ihm hat sich etwas niedergeschlagen als seine verbleibende Bestimmtheit, und
wenn nun das Ich das Urteil wiederholt, so ‚aktualisiert’ es, verwirklicht es nur die Entscheidung, die von
früher in ihm war, als seine bleibende Entschiedenheit“ (Hua XI, 360).
559 Hua IV, 104.
560 Hua IV, 97.
561 Hua IV, 109.
562 Hua IV, 110.
563 Hua IV, 110.
558
144
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Wenn die Wesensgesetzmäßigkeit der Urstiftung der bleibenden Meinungen zum
reinen Ich gehört, ist es rechtmäßig, den scheinbar oxymoronischen Begriff von
transzendentaler Habitualität einzuführen. Die Habitualität kann als transzendental
bezeichnet werden, wenn ihre Urstiftung immer wieder einen neuen transzendentalen
Horizont der ichlichen Erfahrung eröffnet.564 So betont Vargas Bejarano: „[I]n diesem
Prozess [spielen] ebenfalls die Habitualitäten eine wichtige Rolle [...], die den
transzendentalen Horizont ausmachen, durch den Gegenständlichkeit aufgefasst
wird.“ 565 Das reine Ich ist nicht – wie schon hervorgehoben wurde – ein „bloße[r]
leere[r] Pol, sondern jeweils [...] das stehende und bleibende Ich der verharrenden
Überzeugungen, der Habitualitäten, in deren Veränderung sich allererst Einheit des
personalen Ich und seines personalen Charakters konstituiert.“ 566 In seinen Analysen zur
Phänomenologie der Intersubjektivität von 1933 bemerkt Husserl, dass
[d]ieses zu jedem Einzelphänomen als Subjekt gehörige transzendentale Ich [...] auch
transzendentales Ich für mich als dieses Menschen-Ich [ist]. Als transzendentaler Betrachter
meines transzendentalen Seins und Lebens sehe ich, dass dieses menschliche Ich und
menschliche Ichleben in der Welt zwar mein transzendentales Gebilde ist, aber so, dass
darin dieses Gebilde den Charakter der Selbstapperzeption des transzendentalen Ich hat, das
dadurch eingegangen ist in apperzeptive transzendentale Leistungen, die ihm einen
besonderen, den weltlichen Seinssinn geben vermöge zugehöriger transzendentaler
Habitualitäten. Nicht der pure Ichpol, dieser ist etwas Abstraktes; er ist, was er ist, in
seinen Affektionen und Aktionen und in seinen entsprechenden Habitualitäten und dem
ganzen konkreten Untergrund seines Bewusstseinsstromes. 567
564
Hierzu stellt Held fest: „Interessen (im geläufigen Sinne,) Gewohnheiten, Kenntnisse usw. Sie sind das
noetische Analogon zu den bleibenden Typen der Dingerfahrung. Husserl nennt die Habitualitäten. Es
sind erworbene ,Eigenschaften’ des transzendentalen Ich, und das Ich ist entsprechend als ihr ,Träger’, ihr
Substrat aufzufassen. Träger von Habitualitäten kann es aber nur sein, weil es durch seine mannigfachen
Noesen hindurch als identisches verharrt“ (Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise
des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 88).
565 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 159.
566 Hua I, 26.
Hierzu betont Hiroshi Goto: „Der frühere Bewußtseinszustand kann entweder selbst eine Habitualität
oder ein stellungnehmender Akt – und wohl auch eine aktuelle Affektion – sein. Im Fall des
stellungnehmenden Aktes, nämlich der aktiv-aktuellen ,Spontaneität’ (Hua XI, 358), fungiert die
Habitualität als die Fortsetzung der ursprünglichen Stellungnahme durch Bildung der habituellen
Stellungnahme wie als Grundlage der Wiederaktualisierung dieser ,habituell gewordene[n]’
Stellungnahme (Hua XIV, 17). Die freie Stellungnahme untersteht somit zunächst in diesem
Habitualisierungs- und Reaktivierungsvorgang in zweifacher Weise dem Gesetz der Habitualität“ (Goto,
Hiroshi: Der Begriff der Person in der Phänomenologie Edmund Husserls: Ein Interpretationsversuch
der Husserlschen Phänomenologie als Ethik im Hinblick auf den Begriff der Habitualität, Würzburg
2004, 112).
567 Hua XV, 541.
145
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Die transzendentalen Habitualitäten, d.h. die beständige potenzielle und motivierte
Stiftung bleibender Meinungen, lassen das reine Ich in neuem Licht erscheinen, weil es
aus dieser Perspektive die transzendentale Möglichkeitsbedingung der Entwicklung und
der Geschichte des Ich-Menschen darstellt, wie Husserl deutlich in einer Beilage seiner
Analysen zur passiven Synthesis erklärt:
Wir könnten sagen, das Ich als Ich entwickelt sich fortgesetzt durch seine ursprünglichen
Entscheidungen und ist jeweils ein Pol mannigfaltiger aktueller Entschiedenheiten, Pol
eines habituellen Strahlensystems von aktualisierbaren Potenzen für positive und negative
Stellungnahme, und ihnen entsprechend trägt es, allerdings mittels Wiedererinnerung, seine
ganze wieder aufzuwickelnde Geschichte in sich. 568
Jede Urstiftung einer bleibenden Überzeugung ist transzendental, weil sie zu einem
„habituellen Niederschlag“ wird, und „[s]ie ist nun ein bleibender Zug in meinem Ich,
solange ich sie nicht in neuen Akten aufgegeben habe. Jedes aktuelle Meinen
verwandelt sich in meine hinfort verbleibende Meinung. Mit jedem Akt erweitert sich
der habituelle Bestand meines Ich, das also mit seinen immer neuen Akten wächst und
wird.“ 569
Die Geschichte des Ich gewinnt also eine transzendentale Geltung: Die
Motivationskraft der Erfahrungsereignisse und die entsprechenden Stellungnahmen des
Ich eröffnen jederzeit einen transzendentalen Horizont, den nur eine motivierte
Stellungnahme modifizieren kann.
§ 5. Die Konstitution des bleibenden Charakters und der Persönlichkeit
Wenn – wie es sich bereits ergeben hat – das reine Ich den apperzeptiven Kerngehalt
des realen Ich darstellt, ist die Gesetzmäßigkeit der transzendentalen Genesis der
568
569
Hua XI, 360.
Hua XXXVII, 334.
146
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Identität des reinen Ich die Bedingung der Konstitution des bleibenden Stils jeder
Person und ihres personalen Charakters.570 Hierzu schreibt Husserl:
Indem aus eigener aktiver Genesis das Ich sich als identisches Substrat bleibender IchEigenheiten konstituiert, konstituiert es sich in weiterer Folge auch als stehendes und
bleibendes personales Ich – in einem allerweitesten Sinn, der auch von untermenschlichen
Personen zu sprechen gestattet. Sind auch die Überzeugungen im allgemeinen nur relativ
bleibende, haben sie ihre Weisen der Veränderung (durch Modalisierung der aktiven
Positionen, darunter Durchstreichung oder Negation, Zunichtemachung ihrer Geltung), so
bewährt das Ich in solchen Veränderungen einen bleibenden Stil mit durchgehender
Identitätseinheit, einen personalen Charakter.571
Das Ich erhält durch die sich immer wandelnden und ihn motivierenden Zustände
einen bleibenden Stil und eine bleibende Persönlichkeit, weil jede Stellungnahme einen
Horizont eröffnet, der zunächst ein neuer Horizont seiner selbst ist 572: Der
selbstbestimmende Charakter jeder Überzeugung und jedes Willensaktes hat zur Folge,
dass diese jeweils eine irreversible Bestimmung in der Identität des Ich selbst
bezeichnen.573 Aus diesem Grund bemerkt Husserl, „dass das Ich, indem es jetzt so will,
damit eine Willensgesinnung, einen habituellen, bleibenden Willen stiftet und, im
allgemeinen wenigstens, bei seinem Willen ‚bleibt’. Und so wird es verstanden.“ 574 Man
kann von Irreversibilität nicht in dem Sinne sprechen, dass das Ich nach einer
bestimmten Stellungnahme immer dasselbe bleiben wird, da – wie die
570
Hierzu betont Vargas Bejarano: „Nachdem eine Entscheidung vollzogen wurde, gerät sie nicht in
Vergessenheit, sondern sie kann die nachkommenden Akte derart beeinflussen, dass ein Stil, eine
personale Verhaltensweise aufgebaut wird. In diesem Sinne wird sich hier zeigen, wie der feste Stil bzw.
die Habitualitäten entscheidend für die Bildung der Personalität sind” (Vargas Bejarano, Phänomenologie
des Willens, 260). Auch In-Cheol Park stellt fest: „Die Habitualität ist die Grundlage für die Bildung der
Personalität eines Subjekts. Der Grundzug einer Habitualität ist ihre Dauerhaftigkeit. Wenn eine
Habitualität von einem Subjekt einmal angenommen wurde, bleibt sie von da an solange bestehen, als sie
vom Subjekt nicht willentlich abgestreift wird“ (Park, In-Cheol: Die Wissenschaft von der Lebenswelt:
Zur Methodik von Husserls später Phänomenologie, Amsterdam 2001, 110).
571 Hua I, 101.
572 „Wir sehen damit zugleich, wie eine Persönlichkeit, ein Ich als durch seine Zeit hindurch bleibendes
Ich in seinen bleibenden Interessenrichtungen und ihren Themen eine Identitätstruktur hat. In jeder dieser
Richtungen strebt es konsequent nach Einstimmigkeit mir sich selbst, wobei zugleich alle diese
Einstimmigkeiten zu einer höheren Zusammenstimmung kommen müssen“ (Hua IX, 412).
573 Hierzu betont Noor: „La volition se déroule dans le tempes er s’achève dans une continuité du vouloir.
La conscience de l’identité de l’ego somme sujet du vouloir requiert la continuité de la prise de position.
Dans ce contexte Husserl se réfère à la mémoire. La conscience de l’identité de soi comme sujet du
vouloir s’effectue dans le souvenir des actes de volition passés qui valent encore dans le présent. Cette
relation se manifeste comme affirmation de la volition passée, affirmation qui est aussi affirmation du
soi“ (Noor, Individualité et volonté, 138).
574 Hua XIV, 168-169.
147
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
Wesensgesetzlichkeit der bleibenden Meinungen gezeigt hat – sich bei Änderung der
Motive sich auch das Ich ändern kann: Diese Irreversibilität ist dagegen eine andere
Bezeichnung, um jenes „Nie-Verlorenwerden-Können“ jedes Bewusstseinsinhalts
auszudrücken. Wie in der Behandlung des retentionalen Versinkens der
Sedimentierungen schon hervorgehoben wurde, ist das innere Zeitbewusstsein die
transzendentale Bedingung des Strömens und der Sich-Niederschlagens jeder aktuellen
Ich-Erfahrung. Dasselbe gilt für jede selbstbestimmende Stellungnahme.
Diese transzendentale Dynamik betrifft „alle meine mir ebenfalls selbsteigenen
Habitualitäten, die im Ausgang von selbsteigenen stiftenden Akten sich als bleibende
Überzeugungen konstituieren.“ 575 Das Fortschreiten des Lebens bringt also strukturell
das fortlaufende Entstehen des personalen Charakters mit sich, d.h. der personalen
Identität: „Durch alle Modi aber geht hindurch die Identität des Ich, des Identischen des
Interesses, des Identischen im Wandel der Modi seines Interessiert-Sich-Auslebens, im
weitesten Sinne gesprochen der Willensmodi, die ihrerseits in ihrem modalen Wandel
eine innere Einheit haben, die auch bloße Affektion und Aktion verbindet.“ 576
Stufenweise entwickelt sich „[d]asselbe Ich, das immerfort schon seine ‚erworbenen’
bleibenden Interessen hat und immer neu nun sich entzünden lässt.“ 577 Das Ich ist
deshalb kein statischer, sondern ein beständig werdender Pol:
Die Vorhabe bezieht sich immerzu auf (das), was ich im Voraus und von früher schon habe
als das, womit ich weiteres vorhabe. Und so habe ich immer schon Vorgegebenes, eine
vorgegebene Welt in strömender Beweglichkeit und darauf bezüglich den Prozess der
aktuellen Tätigkeiten, letztlich in aktuell umbildende Handlung ausmündend und endend in
einer neuen Habe, einem nunmehr für mich Seienden. Aber seiend im Allgemeinen mit
einem praktischen Sinn, der noch weitere Handlungen erfordert, oder mit einem Sinn des
Erwerbs, mit dem künftig, in den sich im Lebensgang vorzeichnenden Zwecksetzungen, zu
wuchern sein wird. 578
Zu diesem beständigen Werden des Ich tragen sowohl alle freien und bewussten
Stellungnahmen bei als auch die gesamte Sphäre der unbewussten, aber noch
575
Hua I, 134.
Hua XXXIX, 594.
577 Hua XXXIX, 591-592.
578 Hua XXXIX, 597.
576
148
Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich
motivierenden Sedimentierungen, weil alle diese Momente die Identität des Ich
modellieren und prägen.
Die letzen Überlegungen führen die Untersuchung zu neuen Fragenstellungen,
genauer: zu ethischen Fragen. Was bisher aus den verschiedenen Analysen
hervorgegangen ist, ist gerade eine bestimmte Anschauung der Subjektivität: Es handelt
sich um ein Ich, das immer die Möglichkeit der willentlichen Selbstbestimmung hat, das
aber gleichzeitig in verschiedenen graduellen Modalitäten der Willensspannung lebt und
das immer wieder von unbewussten Tendenzen motiviert und beeinflusst wird. Es ist
schließlich ein Mensch mit einem geschichtlichen und gleichzeitig bleibenden Wesen.
Husserl beschreibt die Personen als jene,
die als letzte Elemente von personalen Gemeinschaften und zuoberst Menschheiten
fungieren können und fungieren: Es gehören ihnen, wo es sich um bleibende Einheiten
handelt, bleibende personale Charaktere zu, und sofern sie selbst in dieser Hinsicht für sich
selbst und Andere erfahrbar sind, haben sie, als Gegenstände der Umwelt (zu der die
Subjekte der Umwelt, die einzelnen wie die Gemeinschaften, in Rückbezogenheit auf sich
selbst immer auch mitgehören), ihre personalen Bedeutungscharaktere [...]. 579
Das Bewusstseinsleben zeigt sich Husserl zufolge „als Geltungsleben, Geltungen als
habituelle Überzeugungen stiftend, in deren Einstimmigkeit ich mich selbst erhalten“ 580
kann.
Das nächste Ziel dieser Untersuchung ist es nun, die ethischen Folgen dieser
Husserlschen Auffassung der Subjektivität und seines Lebens zu erfassen.
579
580
Hua XV, 58.
Hua XV, 519.
149
Drittes Kapitel
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs:
Das willentliche Ich-Werden
§ 1. Einleitung: Die ethische Frage als
Kern der Phänomenologie Husserls
Bisher wurden einige grundwesentliche Dimensionen der Husserlschen Auffassung
der Subjektivität hervorgehoben, insbesondere die jeden Akt begleitende
Willensspannung sowie der motivationale Charakter des gesamten Lebens des Ich, der
sowohl die aktive Handlungen als auch die passive und unbewusste Dimension umfasst.
Diese Ergebnisse regen weitere Untersuchungen an, welche die ethischen Implikationen
der Husserlschen Konzeption des personalen Subjekts betreffen.
Es ist wichtig festzuhalten, dass Husserl nie aufgehört hat, sich mit ethischen Fragen
zu befassen. Housset betont deutlich, „La question de l’éthique n’est pas une annexe de
la réflexion phénoménologique, mais constitue l’horizon de toute recherche théorique
en tant qu’elle est une praxis. Le savoir fonde, pour Husserl, une vie dans la constante
responsabilité de soi.“ 581 Die Ethik ist kein bloßer Zusatz zu den bisher entwickelten
theoretischen Überlegungen Husserls, sondern bildet ihre andere Seite. Zu erfassen ist
nun der ethische Kern, der die Husserlsche Phänomenologie antreibt.
Es ist nicht einfach, ein Gesamtbild der ethischen Überlegungen Husserls zu
gewinnen, da – wie Ullrich Melle zu Recht hervorhebt – „[e]ven Husserl’s is ethics not
limited to a few lofty and rhetorical generalities […], Husserl’s ethical reflections and
investigations do not amount to a fully developed ethical theory.“ 582 Einige Texte, die
den wesentlichen Anhaltspunkt für die folgenden Untersuchungen darstellen, fassen in
gewissem Sinn seine grundlegenden ethischen Betrachtungen zusammen, so z.B. die
Vorlesungen über Ethik aus den Jahren 1908-1914 und 1920-1924 (die im XXVIII. und
XXXVII. Band der Husserliana veröffentlicht wurden) oder die Kaizo-Artikel von
581
582
Housset, Emmanuel: Personne et sujet selon Husserl, Paris 1987, 235.
Melle, Ullrich: The development of Husserl’s ethics, in: Études phénoménologiques 13/14 (1991), 116.
150
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
1923-1924.583 Allerdings beschränkt sich der ethische Kern der Phänomenologie nicht
nur auf solche expliziten Abhandlungen, sondern begleitet ein als roter Faden den
gesamten denkerischen Weg Husserls, trotz der zuzeiten durchaus verschiedenen
Perspektiven seiner ethischen Überlegungen.
Ein näheres Eingehen auf die ethische Frage wird von der Natur der Phänomenologie
selbst gefordert: Die Phänomenologie steht für Husserl nämlich einer ethischen
Entscheidung viel näher als einem theoretischen philosophischen System, wie im letzten
Teil dieses Kapitels noch deutlicher ausgeführt werden soll. Sebastian Luft bemerkt
hierzu: „Philosophie zu betreiben ist für Husserl aus zutiefst ethischen Gründen
motiviert. Philosophie, und damit einhergehend wahre Wissenschaft, sind somit [...]
eine ‚Anleitung zum seligen Leben’, beziehungsweise umgekehrt, die moralische
Aufgabe des Menschen ist von tiefsten Gründen aus auf Wissenschaft und Philosophie
angelegt.“ 584 Zahlreiche Passagen in den Texte Husserls zeigen diese bedeutungsvolle
ethische Spannung, die jeden Denkschritt und jede theoretische Analyse beseelt, wie
z.B. die folgende aus den Cartesianischen Meditationen, in denen Husserl deutlich den
personalen und selbstverantwortlichen Charakter der Entscheidung jedes Philosophen
hervorhebt:
Jeder, der ernstlich Philosoph werden will, muß sich „einmal im Leben“ auf sich selbst
zurückziehen und in sich den Umsturz aller ihm bisher geltenden Wissenschaften und ihren
Neubau versuchen. Philosophie — Weisheit (sagesse) — ist eine ganz persönliche
Angelegenheit des Philosophierenden. Sie soll als seine Weisheit werden, als sein
selbsterworbenes, universal fortstrebendes Wissen, das er von Anfang an und in jedem
Schritte verantworten kann aus seinen absoluten Einsichten. 585
Die Phänomenologie entspricht als Philosophie der ganz persönlichen und jedem
Philosophieren zugehörigen Anspannung, Gewissheit und Glückseligkeit zu gewinnen.
„Das universale rein theoretische Interesse nimmt also zugleich eine dienende Funktion
an für ein universales Interesse nicht nur physischer, sondern geistiger
583
Vgl. Hua XXVII.
Luft, Sebastian: Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des
Personenbegriffs, in: Merz, Philippe; Staiti, Andrea; Steffen, Frank (Hrsg.): Geist–Person–Gemeinschaft.
Freiburger Beiträge zur Aktualität Husserls, Würzburg 2010, 221.
585 Hua I, 44.
584
151
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Selbsterhaltung.“ 586 Dies liegt darin begründet, dass der Mensch strukturell „Herr seiner
selbst und seiner Umwelt werden [will], er [...] ein dauernd ihn befriedigendes Leben
durch ein Verständnis der Welt und seiner selbst als Subjekt [sucht], das in ihr lebt, in
sie hineinstrebt.“ 587
Eine solche ethische Entscheidung, sich auf sich selbst zurückzuziehen, wird von der
Erfahrung einer beständigen und immer stärker werdenden Enttäuschung motiviert und
im alltäglichen Leben zeigt sich deutlich: „Die ursprünglich mehr oder minder
vollkommen freie Aktivität in der Bildung von Vorhaben und ihren Verwirklichungen
verwandelt sich in eine ‚blinde’ Passivität, muß sich bei ähnlichen Situationen
quasiinstinktiv zum Tun fortziehen lassen.“ 588
Aber dies ist keine echte menschliche Existenzweise und führt daher unvermeidlich
zu einem Eindruck des Versagens. Diese peinliche Lebenslage beschreibt Husserl mit
folgenden Worten: „Als reifes, waches Ich in seiner jeweiligen Umwelt leben, ist nicht
nur überhaupt irgendwie leben, sondern gelingend leben wollen. Daher sagt der Mensch
bei sich häufendem Mißlingen: ,So kann man nicht leben’, und umgekehrt antwortet der
erfolgreiche Mensch auf die Frage: ,Wie geht’s?’, einfach mit den Worten: ,Man kann
leben’.“ 589 Jeder Mensch glaubt jeweils, ein Gutes gefunden zu haben, das ihm eine
fortdauernde Glückseligkeit garantieren kann, aber „solche Entwertungen [erwachsen]
in der peinlichen Erkenntnis, das erzielte ,Gute’ sei nur ein vermeintliches Gutes; die
ihm gewidmete Arbeit sei also eine nutzlose, die Freude daran eine sinnlose gewesen,
und darnach eine solche, die hinfort nicht mehr zur Glückssumme des bisherigen
Lebens gerechnet werden dürfe.“ 590 Das Leben sei so immer wieder von einem
„Mißraten der Vorhaben“ 591
bestimmt, was deutlich unerträglich und „wider
die ,Vernunft’“ 592 ist.
Aus dieser peinlichen Erfahrung erwächst allerdings die Möglichkeit, den Gang
eines neuen und echten Lebens zu eröffnen: „Das Versagen als vorausgesehene
586
Hua XXXII, 12-13.
Hua XXXII, 12.
588 Hua XXIX, 383.
589 Hua XXIX, 384.
590 Hua XXVII, 30.
591 Hua XXIX, 383.
592 Hua XXIX, 383.
587
152
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Möglichkeit motiviert m.a.W. das fürsorgliche freie Eingreifen, nämlich eine freie
Besinnung, eine habituelle Willensrichtung darauf, die Vorhaben klärend zur Evidenz zu
bringen, und natürlich ihre Bezogenheit auf die so oft nur ganz vage apperzipierte
Situation, die also mit zu klären ist.“ 593 Es ist deshalb immer die freie Gelegenheit
gegeben, sich auf sich selbst zurückzuziehen, so dass „das spezifische Wahrheitsstreben
bzw. das Streben nach Bewährung, nach ,endgültiger’ Rechtfertigung durch einsichtige
Begründung“594
erneut entstehen kann. Mit dem Entstehen eines solchen
Wahrheitsstrebens
wird dann für jeden Höherstrebenden die Frage brennend: Wie soll ich mein Leben und
Streben vernünftig ordnen, wie dem quälenden Zwiespalt mit mir selbst entgehen, wie dem
berechtigten Tadel der Mitmenschen? Wie kann ich mein ganzes Leben zu einem schönen
und guten gestalten und, wie der traditionelle Ausdruck lautet, wie die echte Eudaimonie,
die wahre Glückseligkeit, erlangen?595
Diese Fragen weisen eine starke ethische Kennzeichnung auf und stellen den Inhalt
des echten menschlichen Selbstbewusstseins dar, da es „[z]um Wesen des
Menschenlebens [...] ferner [gehört], daß es sich beständig in der Form des Strebens
abspielt.“596 Das Streben nach einer wertvollen Existenz, nach der Überschreitung von
Enttäuschungen oder Entwertungen, stellt sich nicht als eine Entscheidung dar, die ein
für alle Mal getroffen wird, sondern vielmehr als ein beständiger Kampf zwischen
Werten. Es „treten neue wirkliche und praktisch mögliche Werte in den Gesichtskreis,
streiten mit den soeben noch geltenden und entwerten sie eventuell für den Strebenden,
indem sie selbst als höherwertige den praktischen Vorzug fordern.“ 597 Diese Dynamik
führt schließlich dazu, dass „das Subjekt [...] im Kampf um ein ,wertvolles’, gegen
nachkommende Entwertungen, Wertabfälle, Wertleeren, Enttäuschungen gesichertes,
sich in seinen Wertgehalten steigerndes Leben [lebt], um ein Leben, das eine fortlaufend
einstimmige und sichere Gesamtbefriedigung gewähren könnte.“ 598
In einem
593
Hua XXIX, 383-384.
Hua XXVII, 30
595 Hua XXVIII, 11.
596 Hua XXVII, 25.
597 Hua XXVII, 25.
598 Hua XXVII, 25.
594
153
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Manuskript aus dem Jahr 1933 versieht Husserl diesen ethischen Spannungs- und
Kampfcharakter des Lebens mit dem bedeutungsvollen Ausdruck „Existenzsorge“: Vor
dem Ich eröffnet sich immer wieder ein „offene[r] Horizont von Möglichkeiten, und
zwar Vermöglichkeiten, mehr oder minder bestimmten und unbestimmten
Vermöglichkeiten von ,Existenzweisen’ “ 599, was dazu führt, dass „[a]lles Leben in der
Hoffnung [...] Leben in der Existenzsorge [ist]. [...] Der Mensch, der im normalen
Leben lebt, ((lebt)) in der normalen Lebenshoffnung überhaupt, innerhalb ihrer aber
natürlich in ständiger Sorge des Wie der Erfüllung.“600
Die hohe Bedeutung, die der Ethik von Husserl zugeschrieben wird, impliziert als
Voraussetzung und als Folge die Hervorhebung der Freiheit des Ich, welche schon im
ersten Kapitel mit dem Ausdruck „Ich kann“ bezeichnet worden ist. Nur weil der Kern
jedes Menschen strukturell ein „Ich kann“ ist, entsteht die beständige Möglichkeit, zu
wählen und sich für einen höheren Wert zu entscheiden.
Der Mensch allein hat nicht nur singuläre praktische Möglichkeiten vor sich, sondern
überschaut offene Horizonte von Möglichkeiten in Form bewußtseinsmäßig konstruierter
[...] Unendlichkeiten. […] Und indem er sich damit in Möglichkeiten hineindenkt, [...]
befreit er sich von dem Drang und Zwang der singulären Aktualitäten, von den Triebreizen
der erfahrenen Wirklichkeiten, der singulären, durch antizipierende Vermutung sich
entgegendrängenden und in der Reizkraft streitenden realen Möglichkeiten. In die Bereiche
freier Möglichkeiten und in das konstruktive Spiel der Unendlichkeiten eintretend,
unterbindet er die Aktualität und wird frei Wählender; er wählt nicht nur zwischen
gegebenen Einzelheiten, sondern er bezieht sie in das Universum von Möglichkeiten, das
praktisch in Betracht kommen kann. 601
Dieser Horizont von unendlichen Möglichkeiten stellt – worauf in den folgenden
Überlegungen näher eingegangen wird – das Wesen der personalen Subjektivität bei
Husserl dar. „Im menschlichen Leben, als dem des animal rationale, liegt also schon
eine stets bereite Motivation zur Wahrung und Übung seiner immer schon ausgebildeten
Vermögen der Erkenntnis-Freiheit.“ 602 Dies zieht die Ethik als phänomenologische
599
E III 6, 2.
E III 6, 2.
601 Hua XXVII, 100.
602 Hua XXIX, 384.
600
154
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Aufgabe nach sich, da „Ziele, Aufgaben [...] nur Personen [haben], die sich Aufgaben
stellen.“603
§ 2. Die ethischen Folgen der Motivationsgesetzmäßigkeit
Der erste Schritt besteht darin, die ethischen Implikationen der bisher erreichten
theoretischen Ergebnisse herauszuarbeiten. Die Analysen des ersten Kapitels haben die
Willensdimension des gesamten Ichlebens hervorgehoben, besonders den
Selbstbestimmungscharakter, der sowohl jeden expliziten als auch unbemerkten
Willensakt kennzeichnet. In jedem Wollen ist das Ich Subjekt und zugleich Objekt des
Aktes, weil es jede Stellungnahme prägt. Sodann stellten die Überlegungen des zweiten
Kapitels in der Thematisierung des beständigen Sich-Sedimentierens der Erlebnisse die
nicht nur empirische, sondern auch transzendentale Rolle der Habitualitäten in der
Konstitution des Ich und der Persönlichkeit heraus. Die theoretische Vorbedingung all
dieser Ergebnisse ist – wie bereits mehrfach im Laufe der Arbeit gezeigt wurde – das
Verständnis der Motivation als Grundgesetzlichkeit des gesamten Lebens des Ich,
sowohl für seine aktive als auch für seine passive und unwillentliche Stufe. Die
Motivationsgesetzmäßigkeit impliziert nämlich, dass kein Akt des Ichlebens wie ein
bloß kausaler Mechanismus behandelt werden darf, sondern vielmehr wie eine freie
Entgegnung auf Sinnzusammenhänge. Somit kann Motivation in einem gewissen Sinn
als Synonym für geistige Freiheit verstanden werden. Was im Folgenden dargestellt
werden soll, ist gerade die andere, nämlich die ethische Seite dieser transzendentalen
Dynamik, da – wie Janet Donohoe deutlich unterstreicht – ohne diese
Grundgesetzlichkeit „Husserl would not have been able to develop such an
understanding of the ego’s habits and character that contribute directly to this ethical
position. [...] The true self of the ego is maintained in the streaming living present
through the sedimentation of ethical, as well as other, positions taken.“604 Wenn jede
willentliche Stellungnahme eine neue bleibende Eigenheit des Ich stiftet und jede
603
Hua XXIX, 373.
Donohoe, Janet: Husserl on Ethics and Intersubjectivity. From Static to Genetic Phenomenology, New
York 2004, 130.
604
155
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Änderung der Motive eine Änderung der Stellungnahme motivieren kann, zeigt sich
nun eine transzendentale Gesetzmäßigkeit der Genesis des Ich, die zugleich Bedingung
der Konstitution des ethischen Stils jeder Persönlichkeit bildet.605 Alois Roth hebt
diesen Punkt deutlich hervor:
In dieser Korrelation von Ich und Umwelt vollzieht sich eine doppelte Entwicklung.
Einerseits begründet die Subjektivität in ihrem mannigfaltigen, sowohl passiven wie
aktiven Bewußtseinsleben ihre eigene Umwelt. [...] Andererseits entfaltet sich in eben
diesem Prozeß das Ich selbst als Personalität, gewinnt seinen relativ bleibenden und doch
immerfort sich wandelnden Habitus, seinen Charakter mit den verschiedensten
Charaktereigenschaften, seinen bleibenden und neugewonnenen Kenntnissen und
Fertigkeiten.606
Husserl schreibt hierzu:
So ist jedes Preisgeben eines Willens, und ebenso überhaupt eines Aktes [...], eine
Änderung meines Ich als Ich, dem man keineswegs gerecht wird, indem man dem Ich eine
tabula rasa zugesellt, auf der Akterlebnisse kommen und wieder verschwinden, sei es auch
nach empirisch-induktiv zu findenden Regelungen, nicht als ob ich ein „anderes Ich“
dadurch würde, sondern ich bin dabei dasselbe verharrende Ich, verharrend in dieser Art
spezifisch ichlicher Veränderungen.607
Das Ich ist daher keine „tabula rasa“, sondern eine verharrende Einheit, die in einer
sich entwickelnden Geschichte sich konstituiert und ausprägt.608 Nach Husserl ist
„[j]eder Akt, ‚erstmalig’ vollzogen, [...] ,Urstiftung’ einer bleibenden Eigenheit, in die
immanente Zeit hinein dauernd [...]. Das Ich bleibt solange unverändert, als es ,bei
605
Dorion Cairns hebt in seinen Conversations with Husserl und Fink die wesentliche Rolle des Willens
in der Konstitution der Persönlichkeit hervor: „The structure of personality is basically volitional,
‚decisional’. Logic has its validity for me through my subjecting of my will and though to it – a
recognizing of its authority“ (Cairns, Dorion: Conversations with Husserl und Fink, Den Haag 1976, 47).
Hierzu schreibt außerdem Enzo Paci: „Si pone qui il problema dell’Ich Pol e cioè il problema
dell’autocostituzione dell’Ich che acquista il carattere di un Io personale, […]. Ciò che l’Io sente e decide
(e anche ciò che non ha deciso) forma la sua personalità: l’Ich Pol è costituito da decisioni, da
convinzioni e atti che in lui permangono. Ciò che permane costituisce il complesso delle qualità personali
dell’Io“ (Paci, Enzo: Tempo e verità nella fenomenologia di Husserl, Bari 1961, 118).
606
Roth, Alois: Edmund Husserls ethische Untersuchungen dargestellt anhand seiner
Vorlesungsmanuskripte, Den Haag 1960, 142.
607 Hua XXIX, 372.
608 Melle betont: „For Husserl, personal identity presupposes lasting convictions. Such lasting convictions
are habitual sediments of the free, theoretical, axiological and practical position-takings of the ,ego’. My
person would fragment and disintegrate if my position-takings would not crystallize into habitual
convictions. I am I only so long as I have harmonious opinions. Only then can I preserve myself as
me“ (Melle, The development of Husserl’s ethics, 126).
156
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
seiner Überzeugung, Meinung bleibt’; die Überzeugung ändern ist ,sich’ ändern. Aber in
der Änderung und Unveränderung ist das Ich identisch dasselbe eben als Pol.“ 609 Keine
Entscheidung lässt das Ich gleichgültig oder immun, im Gegenteil, die Entscheidung
wirkt sich auf das Ich aus. Ullrich Melle sieht deutlich, dass das „Ich [...] mehr als ein
leerer Identitätspol in den von ihm vollzogenen Akten [ist]. Das Ich hat einen Charakter,
hat bleibende personale Eigenheiten und Eigenschaften. Diese entstehen aus den
Ichakten durch Habitualisierung, durch Urstiftung und Nachstiftung.“ 610
Wenn jede Stellungnahme eine bleibende Eigenheit stiftet und eine bleibende
Überzeugung bestimmt, zeigt sich eine ethische Kennzeichnung, die auf allen Urteilen
und Entschlüssen des Subjekts lastet. So hält Husserl in einem Manuskript fest: „Ich bin
in meinen Ueberzeugungen. Ich erhalte mein eines und selbes Ich – mein ideales
Verstandes-Ich –, wenn ich immerzu und gesichert fortstreben kann zur Einheit einer
Gesamtüberzeugung.“ 611 Die Identität des Ich besteht nicht nur in seinen Vermögen,
Eignungen oder Gaben, sondern bildet sich durch seine bisherigen Überzeugungen, die
von Mal zu Mal von den sich vorstellenden Motiven geleitet werden.612 Neue Motive
führen das Ich zu neuen Stellungnahmen, so dass sich fortwährend die eigentlich
ethische Persönlichkeit gemäß dieser transzendentalen Gesetzlichkeit „als Substrat der
Entscheidungen“ 613 ausbildet. So kann Husserl sagen:
609
Hua IV, 311.
„Ich kann nicht ein Mensch sein, ich kann nicht Person sein, wenn ich jedem Reiz blind folge, wenn ich
bloß instinktiv in gleichen Linien reagiere, wenn ich bloss Subjekt psychophysischer Dispositionen bin,
die mich passiv in gleichen Reaktionstypen dirigieren. Ich kann Person nur sein, sofern ich nicht nur
bleibende Apperzeptionen habe und durch sie eine standhaltende und mir als ichfremd gegenüberstehende
Welt, sondern sofern ich bleibende ‚Überzeugungen’ habe, selbsterworbene, selbsttätig gewonnene
Überzeugungen, durch tätige Stellungnahmen vom Ich her, bleibende Wertungen, bleibenden Willen,
bleibend in dem Sinn, dass für mich selbst konstituiert ist dieses Identische [...] dieser bleibende Wille,
diese feste Willensrichtung, ihr wirklich genugzutun etc.“ (Hua XIV, 196).
610 Melle, Ullrich: Husserls personalistische Ethik, in: Centi, Beatrice; Gigliotti, Gianna (Hrsg.):
Fenomenologia della ragion pratica: L'etica di Edmund Husserl, Neapel 2004, 335.
611 A VI 30, 54b.
612 Melle kommentiert diesen Gedanken: „Ich bin, der ich bin als Person, durch meine habituellen
Überzeugungen, Wertungen, Zielsetzungen, Ideale und Projekte. Auch meine Fähigkeiten beruhen zu
einem großen Teil auf habitualisierten und sedimentierten Ichleistungen, dem Lernen und Üben. Die Welt,
in der wir leben im ganzen Reichtum ihrer sachlichen, axiologischen und praktischen Bestimmungen und
die vergemeinschafteten personalen Subjekte im ganzen Reichtum ihrer personalen Hexis sind Korrelate;
es sind korrelative Gerinnungsprodukte von urstiftenden Ichleistungen, die letztlich
Auffassungsleistungen an vorgegebenen, in der Urpassivität entstandenen Erlebniseinheiten sind“ (Melle,
Husserls personalistische Ethik, 336).
613 Hua IV, 331.
157
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Sein als Ich, als Person, ist, wie wir sehen, in eigener, eben in personaler Weise, verharrend
und in Veränderungen derselbe <zu> sein. Im Wachleben (dem Urmodus alles Lebens)
vollziehe ich Akte und immer wieder neue Akte, alle darin einig, daß sie von dem einen
und selben Ichzentrum ausstrahlen, als meine Setzungen. Jede ,neue’, als erstmalige
charakterisierte Setzung stiftet einen neuen Modus meines verharrenden Seins, in dem ich
nach Vorübergehen des Aktus ,hinfort’ bin, z.B. nach ,Fassung’ eines neuen Entschlusses
(und nach seinem Vergehen als Aktus) eben hinfort der so Entschlossene, so Gewillte bin.
Mein bleibender Wille geht nun als eine Komponente in meinen jeweiligen Gesamthabitus
ein.614
Jeder Willensakt besitzt eine Selbstbestimmungskraft und wirkt deshalb auf die
ethische Natur des Ich ein. Jede willentliche Stellungnahme „hinterlässt einen
Niederschlag im Bereich des Habituellen, der dann seinerseits wieder in die künftige
Praxis hineinwirkt; wie z.B. jeder gute Wille, jeder Akt ethischer Selbstüberwindung
den habituellen Kraftfonds für weitere gute Taten in der Seele erhöht, wie jeder
schlechte Wille ihn mindert.“ 615 Dieser Niederschlag in der eigenen Habitualität führt
dazu, dass jede willentliche Entscheidung nicht unabhängig ist, sondern vielmehr in
enger Verbindung steht mit der Kette der vorangegangenen Entscheidungen und –
allgemeiner noch – mit der vorangehenden persönlichen Geschichte, die sich immer
wieder durch neue Zustände und Motive entwickelt. Husserl beschreibt dies sehr
präzise:
Ich hänge von Motiven ab, ich hänge in der neuen Betätigung einer alten Entscheidung von
der früheren Entscheidung ab, ich bin, der ich jetzt bin, durch mein früheres Sein (Michentscheidend-Sein) bestimmt. Und so bin ich auch als personales Subjekt von wirklichen
und möglichen Entscheidungen, sowohl nach meiner ursprünglichen Eigenart als nach den
in faktischen Verhältnissen zur Auswirkung gekommenen Entscheidungen, eine Einheit von
Bestimmungen (von ihren Stellungen und Eigenheiten in ihren Stellungen), die nicht
Einheit aus bloßer Assoziation ist, sondern dieser vorhergeht. 616
Diese Abhängigkeit des Ich von seinen früheren Erlebnissen besteht keineswegs in
irgendeiner deterministischen Auffassung der Entwicklung der Persönlichkeit, weil
diese nach Husserl immer dafür frei ist, eine neue sinnvolle Stellung einzunehmen, die
614
Hua XXIX, 365.
Hua XXXVII, 8.
616 Hua IV, 331-332.
615
158
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
nicht vorhersehbar ist. Es ist auf jeden Fall einfach festzustellen, dass jedermann seinen
habituellen Stil von Stellungnahmen und Überzeugungen hat, der „zu einer
entsprechenden Selbstapperzeption führen wird, und so kann auch über mich und
Andere induktiv ausgesagt werden, wie die Stellungnahmen verlaufen dürften.“ 617
Obwohl solcher Selbstapperzeption keine Vorhersehbarkeit der künftigen Entwicklung
einer Persönlichkeit entspricht, stellt sie gleichsam eine gewisse Selbstbeeinflussung
fest, die jeden Schritt des Ich begleitet. Husserl erläutert dies näher: „Jedenfalls, wie ich
bin, wie ich, als der ich bin, mich gegebenenfalls verhalten würde (stellungnehmend),
kann ich voraussagen für eine klar umschriebene und von mir klar vorgestellte
Situation, während, wofern sie unbestimmt ist, ich darüber auch nichts Sicheres werde
aussagen können.“ 618 Im Laufe des Lebens bildet sich eine moralische Persönlichkeit
heraus mit einem gewissen Kreis von praktischen Möglichkeiten durch Erziehung,
Ausbildung, positive oder negative Erfahrungen und besonders durch die jederzeit freie
persönliche Antwort auf all diese geschichtlichen Erlebnisse. Husserl gibt hierzu eine
ausführlichere Erläuterung:
Das „ich kann eine gewisse Entscheidung, z.B. die für einen Mord, nicht vollziehen“, „ich
kann so etwas nicht tun“ besagt, wie ich bin (und ev. früher, wie ich war, und wie ich
voraussichtlich sein werde); alle die Motive, die zu einem Mord als die ihn möglicherweise
bestimmenden gehören, sind für mich keine wirkenden Motive. Die Möglichkeit des
Mordes ist eine praktische Möglichkeit, sofern ich, gesetzt daß ich ihn wollte, ihn
ausführen könnte. Jede Willenshandlung bezieht sich auf einen praktischen Bereich und so
auch diese. Und in diesem Sinn kann ich so ziemlich jede irrige Handlung (obschon,
genauer, manche, die von Anderen ausgeführt worden ist, mein praktisches Können
übersteigt, etwa das Fassadenklettern) vollziehen. Aber hinsichtlich der Stellungnahme gilt,
daß ihre Möglichkeit überhaupt nicht in den Rahmen der praktischen Möglichkeiten
gehört. 619
Jedem persönlichen Stil entspricht deshalb ein praktisches Können, d.h. ein Kreis
von vorhersehbaren praktischen Möglichkeiten, der sich für jedermann – ohne die
Möglichkeit plötzlicher und unvorhersehbarer Handlungen auszuschließen – aus den
vorangehenden Stellungnahmen bildet. Jede einzelne Stellungnahme ist also von einer
617
Hua IV, 331.
Hua IV, 331.
619 Hua IV, 331.
618
159
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
ethischen Verantwortung gekennzeichnet, wie Husserl in seinen Vorlesungen zur Ethik
mit diesen Fragen unterstreicht:
Welche Motivationen spielen hierbei, und welche Rolle spielt insbesondere dieses
wunderbare Phänomen der Selbstbestimmung, in dem das Ich nicht etwa wie sonst einen
Akt naiv aus sich entlässt und durch ihn dies oder jenes vernünftig tut, sondern in dem das
Ich sich selbst als Ich, und zwar als von nun ab rein das Gute wollendes Ich, willentlich
setzt und sich eventuell „innerlich“ völlig ‚erneuert’, oder mindest sich dazu bestimmt, ein
neues werden zu wollen?620
Diese von Husserl als „wunderbares Phänomen der Selbstbestimmung“ bezeichnete
Dynamik bildet den grundlegenden Kern seiner ethischen Überlegungen. Wie im ersten
Kapitel bereits hervorgehoben wurde, unterscheidet Husserl zwischen aktiven und
passiven Motivationen und stellt fest, dass die ersten, d.h. die Vernunftmotivationen,
jene sind, welche die eigentlich geistige Dimension der Subjektivität betreffen, weil sie
Freiheit, echten Willen und Selbstbewusstsein hineinziehen. Diese sind deshalb die
eigentlichen ethischen Motivationen, weil sie die menschliche Fähigkeit der
Selbstbestimmung mitberücksichtigen. Die aktiven Motivationen stellen die
Verantwortung des Subjekts in jeder seiner Handlungen und Stellungnahmen dar, weil
sie beweisen, dass es jederzeit die freie Möglichkeit hat, sich selbst und sein Leben zu
prägen, die Instinkte einzudämmen und die höchsten Werte anzunehmen. Der Begriff
der geistigen Subjektivität, d.h. der Person, ist bei Husserl strukturell verbunden mit der
Kategorie von Verantwortung, weil Verantwortlich-Sein dem Bewusstsein des
selbstbestimmenden Charakters der eigenen Stellungnahmen entspricht. Im zweiten
Band der Ideen betont Husserl nämlich, dass
[vor allem] gegenüber dem allgemeinen und einheitlichen empirischen Subjekt die
„Person” in einem spezifischen Sinne abzugrenzen [ist]: das Subjekt der unter dem
Gesichtspunkt Vernunft zu beurteilenden Akte, das Subjekt, das „selbst-verantwortlich“ ist,
das Subjekt, das frei und geknechtet, unfrei, ist; Freiheit im besonderen Sinne genommen,
und wohl im eigentlichen Sinne.621
620
621
Hua XXXVII, 162.
Hua IV, 257.
160
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Aus diesem Grund neigt man allgemein dazu, jeden Menschen trotz der
Berücksichtigung externer und unkontrollierbarer Faktoren als voll verantwortlich für
den Zustand seines eigenen Lebens anzusehen. Edith Stein erkennt diese
Eigentümlichkeit der menschlichen Person sehr deutlich, wenn sie bemerkt:
Wenn wir eine Pflanze oder ein Tier sehen, die „verkümmert“ sind, d.h. bei denen das für
sie Spezifische nicht zur Entfaltung gebracht ist, so machen wir die ungünstigen
Lebensbedingungen dafür verantwortlich, evtl. den Menschen, der sie in diese ihnen nicht
gemäßen Lebensbedingungen versetzt hat. Bei dem Menschen ziehen wir die
entsprechenden Faktoren auch in Betracht, aber außerdem machen wir ihn selbst
verantwortlich für das, was aus ihm geworden und nicht geworden ist. 622
Auch Scheler stimmt mit dieser Betonung der Verantwortung als grundsätzlicher
Eigenschaft jeder menschlichen Handlung und Entscheidung überein, wenn er
unterstreicht, dass die Zurechenbarkeit einer Handlung bei einigen bestimmten
Zuständen wie z.B. psychischen Erkrankungen nicht gelte: „Es sollte daher bei
psychiatrischen Analysen des krankhaften Charakters immer in sorgfältigster Weise
vermieden werden, sittlich tadelnde und lobende Ausdrücke anzuwenden.“623 Allerdings
„hebt die psychische Erkrankung wohl die ,Zurechenbarkeit’ der betreffenden
Handlungen zur Person auf, keineswegs aber hebt sie die ,Verantwortlichkeit’ der
Person überhaupt auf, denn diese steht mit dem Sein der Person in
Wesenszusammenhang.“ 624
Im Aufweis der motivationalen Gesetzmäßigkeit aller Dimensionen des Ich-Lebens
tritt die Unwahrheit jeder bloß mechanischen Erklärung der menschlichen Handlungen
zutage. Der Mensch ist immer frei, weil er nur von Sinnzusammenhängen, nie aber von
einer blinden Kausalität motiviert wird:
Die Seele ist kein Klavier, vor dem das Ich als Spieler sitzt, als ob es sich eine schöne
Fertigkeit einüben wollte, dergemäß wie die Töne so die Lebensakte nach schönen Weisen
und gewisserweise mechanisch abliefen [...]; sondern das moralische Ich, das Ich der
beständigen und unaufhörlichen Selbsterziehung, ist das Ich, das sich bessern, das sich
622
Stein, Edith: Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie,
Freiburg i. Br. 2004, 77-78.
623 Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bonn 2000, 478.
624 Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bonn 2000, 478.
161
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
selbst so umschaffen will (sich selbst als Ich), dass es als ethisches Ich eo ipso nur gutwollendes sein kann. 625
Diese Bestimmung des Begriffs des moralischen Ich zeigt, dass eine Person nach
Husserl in ethisch gültiger Weise lebt, wenn sie sich in einer beständigen Spannung
hinsichtlich der echten Selbstbestimmung hält, nach den höchsten Werten strebt und
sich ihrer persönlichen Verantwortung bewusst ist. „Das moralische Ich weiß sich als
causa sui seiner Moralität.“ 626 Es lebt eine beständige Spannung, die alle seine Akte
begleitet, auch wenn diese Spannung nicht immer den Charakter einer expliziten
Stellungnahme haben muss. Der Wille kann in verschiedenen Erscheinungsformen und
Modalitäten auftreten, wie auch schon im Beitrag Geigers hervorgehoben wurde: Die
Freiheit des Ich ist beständig am Werk, nicht nur in den eigentlichen Entscheidungen,
sondern auch in den „Quasi-Stellungnahme[n]“ 627 sowie in den beinahe unbemerkten
Habitualitäten.628
Hierzu schreibt Husserl, dass im moralischen Ich „die
Selbstbestimmung und Selbstnormierung aktuell sein [kann und soll], während sie im
Strom des eigentlich moralischen Lebens […] habituell ist und habituell sein muss.“ 629
Es gibt deshalb eine ethische Habitualität und diese „bedeutet hier wie sonst hinsichtlich
des Ich und seines moralischen Lebens einen imprägnierten phänomenologischen
Charakter, einen moralischen Stempel, dessen Intentionalität jederzeit entfaltet werden
625
Hua XXXVII, 162.
Hua XXXVII, 163.
Donn Welton schreibt: „On the one hand, ,the absolutely rational person is causa sui in reference to its
rationality.’ Essence is defined by existence. On the other hand, it is the ideal of rationality that brings us
as persons into the condition of being rational persons, that serves as the ideal of a process of becoming
rational. Existence is defined by essence. Husserl’s ethical theory culminates in a self-referential ideal of
humanity“ (Welton, Donn: The other Husserl. The Horizons of Transcendental Phenomenology,
Bloomington 2000, 317).
627 Hua XXXVIII, 402.
628 Hierzu schreibt Mensch: „Three Husserlian positions allow us to see the self as embracing all these
aspects. The first is that the self is not a substance or a thing, but rather a process. When Husserl says that
subjectivity ‚constitutes itself, he means that it is engaged in the ongoing process of self-constitution. In
fact, subjectivity is this process. The process involves all the aspects of freedom. They appear as levels or
stages in the self’s constitution. This does not mean that a level, once achieved, is left behind. It is not the
case that the self enjoys a spontaneous childhood, gets caught by desire, and finally proceeds beyond this
to reach the stage of autonomous, rational selfhood. Nothing is left behind. All the aspects of freedom are
copresent as different stages of the same ongoing process. The process called the ,self’ is constantly
proceeding from a pure undetermined spontaneity through intermediate stages to a rationally autonomous
selfhood“ (Mensch, Freedom and Selfhood, 42).
629 Hua XXXVII, 163.
626
162
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
kann durch Wiederholung der entsprechenden, die Moralität bestätigenden Akte.“ 630
Jede moralische Stellungnahme stiftet eine bleibende Richtung im Ich und bekräftigt die
ethische Habitualität, sein eigenes Leben frei zu bestimmen.
Das Wort „Habitus”, in all seinen den verschiedenen Akten entsprechenden
Besonderungen, darf nicht von außen her, nicht aus einer Menschen in der Welt
betrachtenden Empirie verstanden werden, somit nicht als Titel für gewohnheitsmäßige
Erwartungen, für empirische Anzeigen ihres künftigen Aktverhaltens; sondern jenes bis auf
weiteres bleibende Sein (einen Willen, ein Urteil haben, eine Wertschätzung usw.)
bezeichnet etwas, das überhaupt und in Wesensnotwendigkeit aus jedem neuen Aktus
entspringt und nunmehr der Person als solcher – bis auf weiteres – zu eigen ist und in
sinngemäß bestimmtem Entsprechen: dem jeweiligen Wollen der bleibende Wille, dem
jeweiligen Urteilen das Urteil usw. Freilich heißt es da immer „bis auf weiteres”. 631
Der eigentliche Ursprung des echten moralischen Lebens liegt nach Husserl in der
eigentlichen Willensentscheidung, die eine bestimmte willentliche Stellungnahme
impliziert, aber besteht die in dieser Stellungnahmen implizierten Folge daraus, eine
echte moralische Habitualität zu stiften. Wie Peucker betont, „[a]lthough Husserl, like
Aristotle, claims that virtuous acting becomes almost automatically a kind of ,second
nature’ of the person, he primarily stresses that the real ethical life has its origin in the
activity of the acting ego and not in a passive and naïve process of habituation.“ 632 Nur
durch eine aktive Urstiftung kann ein ethisches Leben anfangen und immer wieder
erneuert werden. Da die moralische Verantwortung der Selbstbestimmung jede
Stellungnahme oder Quasi-Stellungnahme belastet, kann Husserl sagen: „Den höchsten
630
Hua XXXVII, 163.
„So ist er der identisch verharrende Mensch und ist zugleich eben als planend-erwerbender in der
Ständigkeit eines aktuellen Lebens, strömend-leistenden, immer neue Habitualitäten, personale
Gerichtetheiten und Erwerbe für es, für sein Identischsein und -Haben stiftend, realisierend“ (Hua XXIX,
382).
Housset betont die Beziehung zwischen Habitualität und aktiver Verantwortung: „Toutes ces habitualités
sont comme ,l’avoir’ du je pur. L’expression est certes équivoque, mais sert à distinguer l’ipséité
sédimentée, l’habituel, de l’ipséité véritablement active, ou personnelle, par laquelle le sujet s’engage et
s’expose dans ses convinctions persistantes. Plus encore, la simple conséquence porte en elle un télos,
celui du sujet rationnel qui se décide par des raisons. L’habitualité ne suffit donc pas à fonder la
subjectivité rationnelle, mais constitue le sol qui rend possible la vie rationnelle, par example celle du
mathématicien qui persiste dans ses convictions. La sédimentation du sens fonde la possibilité d’une
responsabilité à l’égard du sens“ (Housset, Personne et sujet selon Husserl, 79).
631 Hua XXIX, 365.
632 Peucker, Henning: From Logic to the Person: An Introduction to Edmund Husserl’s Ethics, in: The
Review of Metaphysics 62 (2008) 324.
163
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Wert repräsentiert die Person, die habituell dem echten, wahren, gültigen, freien
Entschließen höchste Motivationskraft verleiht.“ 633
§ 3. Die erste Richtung der Ethik Husserls: Die formale Ethik und der
Parallelismus zwischen Logik und Ethik
Die jeweiligen Sinnzusammenhänge und Akzentsetzungen der ethischen
Überlegungen Husserls ändern sich beträchtlich innerhalb der Entwicklung seines
Werkes. Im Rahmen dieser Arbeit ist es selbstverständlich nicht möglich, eine
vollständige Behandlung der Entwicklung und der Veränderungen seiner
phänomenologischen Ethik vorzunehmen. Allerdings ist ein zusammenfassender
Durchblick hilfreich, um den roten Faden freizulegen, der sich durch die gesamte Ethik
Husserls zieht.
In der Husserlschen Ethik können zwei unterschiedliche Richtungen ausgemacht
werden, welche zwei verschiedenen Phasen seines Werkes entsprechen. Ullrich Melle
sieht im Ersten Weltkrieg ein wichtiges Kriterium für die Erkenntnis der verschiedenen
Momente.634 Der Krieg sei ein historisches Ereignis, welches einen Wendepunkt in den
ethischen Überlegungen Husserls markiere.635 Melle führt hierzu aus:
To speak of a pre- und post-war ethics in Husserl could give the false impression that there
exists a radical rupture, or a full-turn in Husserl’s ethical thought. This ist not the case, as
least insofar as Husserl’s own self-understanding is concerned. Many fundamentals and
basic positions of his ethics remain essentially unchanged. What can be said is that the
experience of the war and its aftermath lent Husserl’s ethics a greater practical urgency. 636
Obwohl man sagen muss, dass diese Klassifizierung aufgrund der tiefen, das gesamte
ethische Werk Husserls kennzeichnenden Kontinuität philosophisch noch strenger
633
Hua IV, 268.
Vgl. hierzu Melle, The Development of Husserl’s Ethics, 115-135; Melle, From Reason to Love, in:
Drummond, John; Embree, Lester (Hrsg.): Phenomenological Approaches to Moral Philosophy. A
Handbook, Dordrecht 2002, 229-248.
635 Melle schreibt hierzu: „In considering the development of Husserl’s ethics, it is useful to distinguish
an earlier phase from a later phase. Indeed, one can speak of a pre-war and a post-war ethics, for it was
the First World War, with its grave consequences and also the personal suffering and shock which it
brought, that can be seen as a certain caesura in Husserl’s ethical reflections“ (Melle, The Development of
Husserl’s Ethics, 115).
636 Melle, The Development of Husserl’s Ethics, 117.
634
164
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
gefasst werden müsste, erweist sie sich doch als sehr hilfreich, um die Veränderungen
des Interesses Husserls an der Ethik verstehen zu können. Knapp zusammengefasst
besteht die „Vorkriegsethik“ 637 aus den Vorlesungen von 1897, 1902, 1908/09 und 1911,
die im XXVIII. Band der Husserliana versammelt sind.638 Die späteren ethischen
Überlegungen Husserls finden sich in den Vorlesungen über „Fichtes Menschheitsideal“
von 1917/18 639, in der Vorlesung über Ethik aus den Sommersemestern 1920/1924 im
XXXVII. Band der Husserliana sowie in den Aufsätzen über Erneuerung, die er in den
Jahren 1923 und 1924 für die japanische Zeitschrift Kaizo geschrieben hat.640 Zudem
existieren zahlreiche ethische Bemerkungen in anderen Texten Husserls, so z.B. im
zweiten Teil der Vorlesungen über Erste Philosophie oder in einigen Manuskripten, die
in den drei Bänden über Intersubjektivität641 veröffentlicht wurden. Es ist wichtig
festzuhalten, dass sich die vorliegende Arbeit besonders auf die Inhalte der späteren
Husserlschen Ethik konzentriert, die auch den Kern der folgenden Überlegungen dieses
Kapitels bilden. Aus den bisherigen Ausführungen kann jedoch zusammenfassend
festgehalten werden, dass gerade auch der Horizont der frühen Ethik Husserls zu
berücksichtigen ist, weil diese erste Phase die Grundlage für seine spätere Ethik bildet
und zahlreiche Anregungen gibt für die Bestimmung der gesamten phänomenologischen
Ethik Husserls.
637
Vgl. Melle, Objektivierende und nicht-objektivierende Akte, 35-49.
Dieser Band der Husserliana enthält vor allem die „Vorlesungen über Ethik und Wertlehre”, die
Husserl im Wintersemester 1908/09 und in den Sommersemestern 1911 und 1914 in Göttingen gehalten
hat. Der wesentliche Kern dieser Vorlesungen besteht aus dem, was bereits 1908/09 vorgetragen wurde,
während die anderen Teile ihre Erweiterung und Überarbeitung darstellen. Von den frühen ethischen
Vorlesungen vom Sommersemester 1897, die Husserl als Privatdozent in Halle gehalten hat, sowie vom
Sommersemester 1902 sind nur einige Blätter erhalten und als ergänzender Text im Band veröffentlicht.
639 Hua XXV, 267-293.
640 Hua XXVII, 3-124.
641 Vgl. Hua XIII; Hua XIV; Hua XV.
638
165
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Einen wesentlichen Bezugspunkt für die ersten ethischen Überlegungen Husserls
stellt ohne Zweifel Franz Brentano642 dar, der besonders in seinem Werk Vom Ursprung
sittlicher Erkenntnis643
von 1889 ein deutliches Interesse für ethische Probleme
bekundet. Husserl gibt offen zu, dass die Überlegungen Brentanos zur Ethik die Quelle
seiner ethischen Perspektive bilden:
Hier können wir an Brentanos geniale Schrift Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1889)
anknüpfen, der zuerst solche Gesetze formuliert hat, wie denn diese Schrift überhaupt den
Anstoß für all meine Versuche einer formalen Axiologie gegeben hat. Brentano steht
freilich auf psychologischem Boden und hat, ebensowenig wie in der logischen Sphäre die
Möglichkeit und Notwendigkeit einer formalen Bedeutungslogik, so hier nicht diejenige
einer idealen und formalen Ethik und Axiologie erkannt. Aber das hindert nicht, daß bei
Brentano die fruchtbaren Keime liegen, die zu Weiterbildungen berufen sind. 644
Das von Brentano übernommene Ziel der ersten Husserlschen Ethik besteht kurz
gesagt darin, den ethischen Skeptizismus und Relativismus durch die Grundlegung einer
formalen und apriorischen Ethik und Axiologie zu überwinden, d.h. durch formale
moralische Gesetze, die nicht bloß induktiv oder empirisch, sondern apriorisch verfasst
sind und „nach denen man logisch korrekt handeln soll [...]. Anders als so zu handeln
wäre ‚irrational’ und damit ethisch verwerflich.“ 645 Einer der von Husserl genannten
„fruchtbaren Keime“, die bei Brentano anzutreffen sind, ist also ohne Zweifel, dass er
die dringende Notwendigkeit einer wissenschaftlich begründeten Ethik erfasst hat.
Brentano möchte nämlich eine Antwort auf die folgende Frage finden: „Gibt es ein
natürliches Sittengesetz in dem Sinne, daß es, seiner Natur nach allgemeingültig und
642
Als Herausgeber des Bandes der ersten ethischen Vorlesungen bemerkt Melle: „Wie die Fragmente aus
den Anfangsstücken von Husserls ethischen Vorlesungen aus den neunziger Jahren zeigen, begann
Husserl seine frühen ethischen Vorlesungen wie Brentano mit der Aristotelischen Bestimmung der Ethik
als praktische Wissenschaft von den höchsten Zwecken und der Frage nach der Erkenntnis der richtigen
Endzwecke. Von da ging Husserl ebenso wie Brentano in seinen Vorlesungen über zur Frage nach den
ethischen Grundwahrheiten, den Prinzipien. Es folgen bei Husserl wie bei Brentano Ausführungen über
die Unbeweisbarkeit der Prinzipien und über Evidenz. Brentano wendet sich dann der Frage nach dem
Ursprung der ethischen Prinzipien zu, wobei es um die Frage geht, ob die Prinzipien der Ethik
Erkenntnisse oder Gefühle sind. Im Zusammenhang damit geht Brentano sowohl auf den Gegensatz
zwischen rationalistischer und empiristischer Ethik in der klassischen englischen Moralphilosophie wie
vor allem auf den Gegensatz zwischen Hume und Kant ein. Im Anschluß an die historisch-kritischen
Ausführungen folgt Brentanos eigener Grundlegungsversuch der Ethik.“ (Melle, Ullrich: Einleitung des
Herausgebers, in: Hua XXVIII, XVI-XVII).
643 Brentano, Franz: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1921.
644 Hua XXVIII, 90.
645
Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des
Personenbegriffs, 225.
166
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
unumstößlich, für die Menschen aller Orte und aller Zeiten, ja für alle Arten denkender
und fühlender Wesen Geltung hat, und fällt seine Erkenntnis in den Bereich unserer
psychischen Fähigkeiten?“ 646 Gibt es nun eine Möglichkeit, wirklich zu wissen, dass
etwas gut ist? Zahlreiche Beispiele aus der täglichen Erfahrung scheinen eine positive
Antwort auf diese Frage nahezulegen647, aber wenn man um jeden Preis versucht, eine
universelle Antwort zu etwas zu finden, das an sich und nicht nur für einzelne Fälle gut
ist, „[scheint d]ie Sache [...] rätselhaft.“ 648 Gerade diese Unfähigkeit zur Antwort bildet
die Quelle des ethischen Skeptizismus und Relativismus, die als Hauptfeinde von
Brentano bezeichnet werden können.649 Die Lösung dieses Rätsels besteht nach
Brentano in der Feststellung von ethischen Geboten, d.h. Geboten
in der Bedeutung, in welcher man von Geboten der Logik spricht für unser Urteilen und
Schließen. [...] Die Gebote der Logik sind natürlich gültige Regeln des Urteilens, d.h. man
hat sich darum an sie zu binden, weil das diesen Regeln abweichende Urteilen dem Irrtum
zugänglich ist; es handelt sich also um einen natürlichen Vorzug des regelgemäßen vor dem
regelwidrigen Denkverfahren. Um einen solchen natürlichen Vorzug und eine darin
gründende Regel, nicht aber um ein Gebot fremden Willens wird es sich also auch bei dem
Sittlichen handeln müssen. 650
Auch Husserl weiß darum, dass es auf Grund des herrschenden ethischen
Relativismus nötig ist, eine Arbeit über den Aufbau der Ethik zu verfassen. Er übersteigt
646
Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 9.
Hierzu schreibt Brentano: „Wir geben, wie der Einsicht vor dem Irrtum, so, allgemein gesprochen, der
Freude (wenn es nicht gerade eine Freude am Schlechten ist) vor der Traurigkeit den Vorzug. Wenn es
Wesen gäbe, welche hier umgekehrt bevorzugten, so würden wir dies, und mit Recht, als ein verkehrtes
Verhalten bezeichnen“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 9).
648 Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 20.
Brentano selbst erkennt diesen Mangel in der Geschichte der Philosophie an: „Indessen, wie immer der
Weg, der zur ethischen Erkenntnis führt, den Laien und auch den Philosophen vielfach im Nebel lag, so
müssen wir doch, da der Prozeß ein komplizierter ist, und viele Momente dabei zusammenwirken,
erwarten, daß Spuren auch von der Wirksamkeit jedes einzelnen von ihnen für sich in der Geschichte sich
aufzeigen lassen werden“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 36-37).
649 Durch ein klares Beispiel versucht Brentano, die Falschheit der „Relativitätslehre“ zu zeigen: „Nach
dieser würde kein Satz der Ethik, auch nicht der, daß man das Beste des weitesten Kreises beim Handeln
maßgebend machen solle, ausnahmslose Gültigkeit haben. In der Urzeit und auch später, lange
Jahrhunderte hindurch, wäre, wie er ausdrücklich behauptet, ein solches Verfahren ebenso unsittlich
gewesen wie in spätern das entgegengesetzte. Wir müßten, in die Zeiten der Menschenfresserei
zurückblickend, mit den Menschenfressern und nicht mit dem sympathisieren, der innerlich etwa seiner
Zeit vorauseilend, schon damals die allgemeine Nächstenliebe gepredigt hätte. Das sind Irrtümer, welche
nicht bloß durch die philosophische Reflexion auf die Erkenntnisprinzipien der Ethik, sondern auch durch
die Erfolge unserer christlichen Missionäre schlagend widerlegt werden“ (Brentano, Vom Ursprung
sittlicher Erkenntnis, 34).
650 Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 12.
647
167
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
dennoch die Position Brentanos und erkennt den Ursprung des Relativismus nicht in
den jeweiligen Falschheiten der verschiedenen Philosophien, sondern allgemeiner in der
Psychologisierung der ethischen Prinzipien651, wie er auch deutlich in den „Logischen
Untersuchungen“ bezüglich des Psychologismus in der logischen Gebiet betont, wenn
er schreibt, dass „der Psychologismus in allen seinen Abarten und individuellen
Ausgestaltungen nichts anderes als Relativismus [ist], nur nicht immer erkannter und
ausdrücklich zugestandener.“652 Der ethische Skeptizismus hat nach Husserl gewaltige
Auswirkungen: Er führt nämlich zur
Leugnung jeder sozusagen wirklich verpflichtenden Pflicht. Begriffe wie „gut“ und „böse“,
„praktisch vernünftig“ und „unvernünftig“ werden zu bloßen Ausdrücken empirischpsychologischer Fakta der menschlichen Natur, wie sie nun einmal ist, wie sie sich
kulturgeschichtlich unter den zufälligen Umständen menschlicher Kulturentwicklung, und
weiter zurückgehend, biologisch in der Entwicklung der menschlichen Spezies im Kampf
ums Dasein und dergl. ausgebildet hat. Sie drücken, wenn der Empirist recht hat, keine
absoluten Ideen aus, die ihren allgemeinen Sollenssinn für jedes wollende und fühlende
Wesen haben, mag es welcher Welt immer, welcher wirklichen oder einstimmig denkbaren,
angehören. 653
651
Es ist bedeutsam, dass Brentano selbst dieses Verdienst Husserls anerkennt. In seinem Werk
„Grundlegung und Aufbau der Ethik”, das erst 1952 von Franziska Mayer-Hillebrand aus dem Nachlass
veröffentlicht wurde, schreibt er nämlich: „In neuerer Zeit ist die Lehre von der Evidenz und ihrem
Analogon auf dem Gebiete der Gemütstätigkeiten als ,Psychologismus’ bezeichnet worden. Husserl, der
Begründer der Phänomenologie, hat diesen Namen geprägt. Die Psychologisten fassen die Evidenz
als ,Gefühl der Überzeugung’ auf. Aber ein Gefühl der Überzeugung könne die Wahrheit des betreffenden
Urteils nicht verbürgen und führe zum Relativismus, weil jedes Urteil, das mit diesem geheimnisvollen
Evidenzgefühl ausgestattet ist, wahr wäre und daher bei anderen Wesen Urteile, die unseren ,evidenten’
entgegengesetzt sind, diesen Bewußtseinsindex tragen könnten. Es ist jedoch eine gänzliche Verkehrung
des Phänomens der Evidenz, wenn man sie als ein ,Gefühl der Überzeugung’ bezeichnet“ (Brentano,
Franz: Grundlegung und Aufbau der Ethik, Bern 1952, 155).
652 Hua XVIII, 130.
Philippe Merz gibt genauer die verschiedenen Ausführungen des ethischen Skeptizismus an, die Husserl
unter dem Titel „Psychologismus” zusammennimmt, und schreibt, dass „seit dem 18. Jahrhundert
verschiedene psychologistische und empiristische Positionen [sich entwickelt haben], die dafür plädieren,
dass die Ideen von ,gut’ und ,böse’ oder ,praktisch vernünftig’ und ,unvernünftig’ keine überzeitlich
gültigen Normen darstellen, sondern entweder (1.) Ausdrücke der empirisch-psychologischen
Funktionsweisen und Zustände des menschlichen Geistes, (2.) der kulturrelativen menschlichen
Normensysteme oder (3.) der evolutionsbiologisch erklärbaren Anpassungsstrategien der Spezies
Mensch. Diese Hauptvarianten des Psychologismus, Konventionalismus und Biologismus eint ihr
Reduktionismus und Relativismus, die, konsequent zu Ende gedacht, zu einer nonkognitivistischen und
skeptischen Theorie der Praxis führen“ (Merz, Philippe: Husserls analytische Begründung der Ethik, in:
Merz, Philippe; Staiti, Andrea; Steffen, Frank (Hrsg.): Geist–Person–Gemeinschaft. Freiburger Beiträge
zur Aktualität Husserls, Würzburg 2010, 277).
653 Hua XXVIII, 13.
168
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Während die Widerlegung des theoretischen Skeptizismus durch eine reiche und
lange Gedankengeschichte nachgewiesen wird, stellt sich die Situation für die Ethik
anders dar. In der Antike war zwar die formale Logik entstanden und hatte sich etabliert,
nicht aber eine formale Ethik. Hierzu bemerkt Husserl: „Aristoteles war der Vater der
Logik, weil er eigentlich der Schöpfer der logischen Analytik, dessen, was wir auch
formale Logik nennen, gewesen ist [...]. Durch seine Nikomachische Ethik, so viel
Schönes sie bieten mag, ist er nicht im gleichen Sinn Vater der Ethik geworden.“ 654 Die
extremen Auswirkungen des ethischen Skeptizismus rufen eine bestimmte
gefühlsmäßige Reaktion, eine Art Empörungsgefühl hervor über das, was Husserl einen
„praktischen Widersinn“ 655
nennt, der aber noch keineswegs als Analogon der
Widerlegung des logischen Skeptizismus gelten kann. So stellt Husserl seinen Hörern
die Frage:
Hebt sich auch der ethische und axiologische Psychologismus durch so etwas wie einen
Widersinn auf? Etwa durch einen praktischen Widersinn? Aber was ist das, fragen wir, ein
praktischer Widersinn? Handelt es sich etwa nur um praktische Konsequenzen, vor denen
wir gefühlsmäßig zurückschrecken, gegen die sich unser Gefühl aufbäumt? Aber Gefühle
widerlegen doch nichts. Eine Widerlegung ist doch eine theoretische Sache und muß sich
theoretisch als theoretischer Widersinn bekunden. 656
654
Hua XXVIII, 37.
Hua XXVIII, 30.
656 Hua XXVIII, 30.
655
169
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Nur eine auf der formalen Logik beruhende formale Ethik, nicht dagegen ein bloßes
Abstoßungsgefühl, kann den Skeptizismus wirklich ausschließen.657 Der Leitgedanke
der Husserlschen Ethik zwischen 1897 und 1914 ist es, die Notwendigkeit einer
formalen Ethik und Axiologie gegen jeden Relativismus zu begründen, und der Weg
dorthin besteht aus einem Parallelismus und einer ernsten Gegenüberstellung mit der
Logik, wie schon Brentano gesehen hatte.658 Perreau formuliert deutlich: „L’analogie
établie par Husserl entre éthique et logique constitue l’épine dorsale de cette entreprise.
Husserl affirme avec force qu’il est possible d’établir un parallèle entre éthique et
logique; c’est-à-dire phénoménologique analogue à celle accomplie pour la logique par
657
Husserl bemerkt weiter, dass der Skeptizismus dieselbe Dynamik und denselben inneren Widerspruch
sowohl im logischen als auch im ethischen Gebiet aufweist: „Extremer ethischer Skeptizismus muß in
weiterer Folge zunächst besagen Leugnung einer praktischen Vernunft überhaupt, Leugnung jedweder
unbedingt objektiven Geltung in dem ganzen Feld der Praxis. Hier finden wir die Analogie. Skeptische
Behauptungen hätten das Charakteristische, daß sie in ihrem Inhalt generell das negierten, was sie als
Behauptungen sinnvoll voraussetzen. Skeptische Forderungen wären danach und in genauer Parallele
solche Forderungen, die in ihrem Inhalt generell das negierten, was sie ihrem Sinn nach als Forderungen
vernunftgemäß voraussetzen. Auch Forderungen, und nicht bloß Aussagen, können negativ sein; dem ,Es
ist nicht’ entspricht ein ‚Tue das nicht!’. Wenn nun ein generelles ‚Tue nicht!’ das verwehren will, was
Voraussetzung jeder vernünftigen Forderung als solcher ist, so wäre das ein skeptischer Widersinn“ (Hua
XXVIII, 33-34). Vincenzo Costa betont in diesem Zusammenhang: „Questo parallelismo tra le due forme
di scetticismo – osserva Costa – indica che, come vi sono regole puramente logico formali, allo stesso
modo vi sono anche regole etiche puramente formali“ (Costa, La fenomenologia, 461). Siehe auch Gianna
Gigliotti: „La confutazione dello scetticismo etico [è] imperniata sulla perfetta analogia con la
confutazione dello scetticismo gnoseologico, entrambe fondandosi sulla contraddittorietà del porre
qualcosa che contemporaneamente si toglie“ (Gigliotti, Gianna: Materia e forma della legge morale
nell’interpretazione husserliana del formalismo di Kant, in: Centi, Beatrice; Gigliotti, Gianna (Hrsg.):
Fenomenologia della ragion pratica: L'etica di Edmund Husserl, Neapel 2004, 49).
658 Es ist wesentlich zu beachten, dass Husserl auch schon in dieser Phase seines ethischen Denkens klar
wird, dass die formale Ethik eine ergänzende Dimension der materiellen Ethik darstellt. Diese
Unterscheidung zwischen formaler und materieller Ethik fällt unter den Rahmen der Analogie zwischen
Logik und Ethik, da sowohl eine formale als auch eine materielle Logik besteht. Hierzu schreibt Husserl,
dass „die Analogie von Formalem und Materialem in der praktischen Sphäre mit demjenigen in der
logischen Sphäre durchaus statthat“ (Hua XXVIII, 139). Während die Aufgabe der formalen Ethik in der
Entdeckung der formalen Universalität der Prinzipien der vernünftigen Handlung besteht, beschäftigt sich
die materielle Ethik mit der Konkretheit des praktischen Lebens und der Handlung. Wie Perreau betont:
„Queste due discipline sono entrambe necessarie affinchè l’etica sia completa“ (Perreau, Laurent: La
double viseé de l’éthique husserlienne: intentionnalité et téléologie, in: Alter – Revue de phénoménologie
13 (2005), 22). Der Mangel einer materiellen Ethik wird von Husserl selbst anerkannt, wenn er bemerkt:
„Dieses formale Prinzip sich vor Augen zu halten, es ausdrücklich auszusprechen, kann nützlich sein, so
wie es nützlich sein kann, sich formal-logische Gesetze zu formulieren und sich von ihnen mahnen <zu>
lassen. Aber die Frage, was gut und besser und Bestes ist, wird uns so nicht beantwortet; und auch
theoretisch ist nur ein kleiner, wenn auch der fundamentalste Teil der Aufgabe einer wissenschaftlichen
und zunächst apriorischen Ethik erledigt. Denn nun wären die Grundklassen von Werten zu fixieren bzw.
die von praktischen Gütern und dann theoretisch zu erforschen die zugehörigen Vorzugsgesetze“ (Hua
XXVIII, 140). Trotz der Anerkennung der Wichtigkeit der Aufgabe einer materiellen Ethik gibt es jedoch
keine Spur von ihr in diesen ersten Vorlesungen.
170
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
les Recherches Logiques.“ 659 Der allgemeinere Rahmen dieser Unternehmung ist die
Kritik der theoretischen, axiologischen und praktischen Vernunft, die Husserl in jenen
Jahren durch die Vermittlung der Brentanoschen Klassifizierung der verschiedenen
Aktklassen herausarbeitet, wie bereits im ersten Kapitel bezüglich des Problems des
Fundierungszusammenhangs zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden
Akten hervorgehoben wurde. Wie bei den Gesetzen der formalen Logik, die auf die
reine Form hinweisen, die ein Urteil unabhängig von seinem Inhalt besitzen muss, so
sind die rein formalen Gesetze der Ethik zu erkennen und zu formulieren. Der
Parallelismus zwischen formaler Logik und formaler Ethik setzt nämlich voraus, dass
die Werte aus Objektivitäten als Korrelaten der wertenden Akte analog zu den logischen
Gegenständlichkeiten der doxischen Sphäre und nicht nur aus subjektiven Gefühlen
oder Empfindungen bestehen660 : Aufgrund dieser Voraussetzung herrschen „[i]n diesen
659
Perreau, La double viseé de l’éthique husserlienne: intentionnalité et téléologie, 19.
Auch im logischen Gebiet ist nach Husserl der Ursprung des logischen Skeptizismus im Psychologismus
zu erblicken: „Jede Lehre, welche die rein logischen Gesetze entweder nach Art der Empiristen als
empirisch-psychologische Gesetze faßt oder sie nach Art der Aprioristen mehr oder minder mythisch
zurückführt auf gewisse ,ursprüngliche Formen’ oder ,Funktionsweisen’ des (menschlichen) Verstandes,
auf das ,Bewußtsein überhaupt’ als (menschliche) ,Gattungsvernunft’, auf die ,psychophysische
Konstitution’ des Menschen, auf die ,Gattungsvernunft’ des Menschen, auf den ,intellectus ipse’, der als
angeborene (allgemein menschliche) Anlage dem faktischen Denken und aller Erfahrung vorgeht u. dgl. –
ist eo ipso relativistisch, und zwar von der Art des spezifischen Relativismus“ (Hua XVIII, 130-131).
Oder: „Werden im Sinn der psychologistischen Auffassung die logischen Gesetze überhaupt und darunter
die Gesetze der Aristotelischen Analytik wesentlich auf die menschliche Natur bezogen, drücken sie also
Besonderheiten der menschlichen Seelenausstattung aus, so kommt ihnen nur temporäre Geltung zu, sie
geraten selbst in den Fluß der Entwicklung. Extreme Psychologisten, die den rühmlichen Mut der
Konsequenz hatten, haben dies auch ausdrücklich anerkannt“ (Hua XXVIII, 22). Der psychologistische
Relativismus ist dennoch in sich widersprüchlich, und Husserl enthüllt seine Widersinnigkeit mit dem
klassischen Argument gegen den Skeptizismus: „Überlegen wir aber, daß jede Behauptung, sofern sie den
Anspruch auf Wahrheit erhebt, den Satz vom Widerspruch voraussetzt. Sie will Wahres aussagen, sie
sagt ,So ist es’ und selbstverständlich gehört es zu ihrem Sinn, daß damit ausgeschlossen sei, daß es, so
nicht ist’. Daß ein ,So ist es’ das entsprechende ,So ist es nicht’ ausschließt, dies und nicht mehr sagt der
Satz vom Widerspruch aus; und somit verliert ohne seine Geltung jede auf Wahrheit Anspruch erhebende
Behauptung ihren Sinn. Wir erkennen so die Widersinnigkeit der psychologistischen Auffassung“ (Hua
XXVIII, 22).
660 Peucker hebt diesen Punkt deutlich hervor: „The closeness of Husserl’s theory to Brentano becomes
even more obvious when one compares how both philosophers combine reason with the accomplishments
of our consciousness. Both think that the three disciplines of reason have their subjective origin in certain
acts of consciousness, which can be clarified through an investigation of these acts: logic by going back
to acts of presenting and judging, ethics through the acts of willing and acting, and axiology through the
acts of feeling and evaluating. According to Brentano and Husserl, in all three types of acts we can also
raise the question of their correctness or validity, since all three can be either right or wrong, correct or
incorrect. Because of that, these acts stand in a very close and intricate relation to the normative
distinctions that we make in the sphere of reason when we, for example, claim something as being true or
good“ (Peucker, From Logic to the Person: An Introduction to Edmund Husserl’s Ethics, 311). Philippe
Merz schreibt hierzu: „Die Analyse dieser Aktarten mit ihren noematischen Korrelaten und jeweiligen
Zusammenhängen von Intention und Erfüllung bildet die systematisch tiefste, akttheoretische
Begründungsstufe für eine pluralistische Theorie der Vernunft“ (Merz, Husserls analytische Begründung
der Ethik, 281).
171
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
sowohl für unser alltägliches Erleben und Handeln als auch für unser Selbstverständnis
zentralen Lebensbereichen [...] demzufolge nicht allein irrationale Affektivität oder
kulturrelative Zufälligkeit, sondern Wesensgesetze.“ 661
Formale Ethik und formale Axiologie führen zu Formulierungen formaler Gesetze,
die eine formale Axiologie und eine formale Praktik bilden. Husserl ist in der
Verwirklichung dieser Aufgabe von den axiologischen Prinzipien Brentanos662
beeinflusst, besonders von seinem kategorischen Imperativ: „Tue das Beste unter dem
Erreichbaren!“ Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es nicht angebracht, die
einzelnen formalen Gesetze detailliert darzulegen, aber es ist besonders wichtig
hervorzuheben, dass alle ethischen Gesetze auf apriorischen Motivationsgesetzen
beruhen, die „Gesetze vernünftiger Konsequenz“ 663 sind. Hierzu schreibt Husserl:
[W]as die Zusammenhänge der Wertungsakte anlangt, so bestehen in allen Sphären
Zusammenhänge der Motivation: Das Grundwerten motiviert das Werten für die
abgeleiteten Werte. Und Motivation in all ihren Arten untersteht der Rechtsbeurteilung: sie
ist vernünftig oder unvernünftig und untersteht Normgesetzen, insbesondere aber formalen
Normgesetzen, die von der Materie der jeweiligen Endwerte und Mittelwerte abstrahieren.
Überall können wir hierbei von Gesetzen der Konsequenz sprechen, das sind eben überall
das Wort Motiv am Platz. 664
Diese motivationalen formalen Normgesetze der Konsequenz setzen noch einmal
den Parallelismus zwischen logischer, ethischer und axiologischer Vernunft, da „[s]o
wie wir auf logischem Gebiet und speziell in den Verhältnissen mittelbaren Denkens
661
Merz, Husserls analytische Begründung der Ethik, 273-274.
Vgl. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 24-30. Husserl vertieft und erweitert die
Brentanosche Formulierung. Brentano konzentriert sich besonders auf die Begriffbestimmung des Guten
und des Besseren. Er schreibt hierzu, dass „das Bessere [...] dasjenige [sei], was mit Recht mehr geliebt
werde, was mit Recht mehr gefalle“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 25). Hier stellt sich
allerdings die Frage, wann etwas besser als etwas anderes ist und als Besseres von uns erkannt wird.
Diesbezüglich schlägt er als Kriterium des Summierungsprinzips vor: „Schon Aristoteles hebt es hervor,
daß bei Gutem die Summe immer besser sei als der einzelne Summand. Ein solcher Fall von Summierung
liegt auch vor bei längerer Dauer. Die gleiche Freude, welche eine Stunde währt, ist besser als die, welche
im Augenblick erlischt“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 27). Brentano ist sich dessen
bewusst, dass solche Kriterien selbstverständlich scheinen können, aber er formuliert genauer:
„Selbstverständlich sind sie nun allerdings, müssen es aber auch wohl sein, da wir ja hier von dem, was
Grundlage werden soll, handeln“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 28).
Für eine gründlichere Analyse der Berührungspunkte und der Unterschiede zwischen den
Gesetzesformulierungen bei Husserl und Brentano siehe Gérard, Vincent: L’analogie entre l’éthique
formelle et la logique formelle chez Husserl, in: Centi, Beatrice; Gigliotti, Gianna (Hrsg.):
Fenomenologia della ragion pratica: L'etica di Edmund Husserl, Neapel 2004, 132-138.
663 Hua XXVIII, 70.
664 Hua XXVIII, 71.
662
172
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
von analytischem Grund und analytischer Folge sprachen, so hätten wir hier zu
sprechen von analytisch-praktischen Gründen und analytisch-praktischen Folgen.“ 665 Im
Gebiet der Logik gilt: „Wer überzeugt ist, daß A gilt, kann vernünftigerweise nicht
zweifeln, ob A gilt.“ 666 Und wie in der Logik ist „[d]er Zielentschluß, der Zielvorsatz
[...] zu bezeichnen als Willens-Grundsatz, Willens-Prämisse für den auf das Mittel
bezüglichen Entschluß als Willens-Folge-Satz.“667 Diese in der praktischen Vernunft
geltenden Motivationszusammenhänge besitzen keinen psychologischen Charakter,
denn die Erfahrung zeigt deutlich, dass es immer möglich ist, etwas Schädigendes zu
wählen oder das einem bestimmten Ziel entsprechende Mittel abzulehnen. Es handelt
sich um apriorische Gesetze, die an sich rational sind: Prinzipien wie „Das Nichtsein
eines Unschönen ist gut (erfreulich), das Sein eines Unschönen ist von Übel“ 668 oder
„Man kann nicht das Wollen des A wollen und A schlechthin nicht wollen“ 669 sind an
sich rational und unabhängig von unseren jeweiligen psychologischen Zuständen oder
unseren faktischen Überzeugungen. 670
Am Ende dieser kurzen Darlegung der ersten Phase der ethischen Überlegungen
Husserls kann man besser verstehen, welche Ansicht seine Analyse anregt. Es handelt
sich hier um eine Ansicht, die Husserl nie aufgibt, da sie die Grundlage und den Kern
seines Begriffs der menschlichen Vernunft betrifft, was im Folgenden näher erläutert
werden soll. Melle stellt klar das Zentrum der Husserlschen Ethik heraus, von dem
bereits die ersten ethischen Vorlesungen ausgehen
Die Willensvernunft, so könnte man sagen, besteht im Vernunftwillen, im prinzipiellen
Willen zur Vernunft, d.h. in der Bereitschaft und im Entschluss, sein Aktleben als Ganzes
und ein für allemal unter das Vernunftgesetz des kategorischen Imperativs zu stellen. Aus
dem Wissen um seine Trägheit und seine beständige Neigung, den Mächten der Passivität
665
Hua XXVIII, 70.
Hua XXVIII, 71.
667 Hua XXVIII, 70.
668 Hua XXVIII, 75.
669 Hua XXVIII, 128.
670 Hierzu schreibt Paolo Spinicci: „Il senso delle argomentazione husserliane è da un lato molto più
impegnativo dall’altro assai più debole. È più debole, perché sostenere che non si può desiderare ciò che
si ritiene dannoso non significa affatto che non possa darsi il caso di un desiderio siffatto […]. Ma è
anche molto più impegnativa: che non si debba volere ciò che non si desidera che sia è una proposizione
in sé razionale, la cui evidente necessità non è affatto relativa alla nostra umana natura poiché non poggia
sulla nostra disposizione psicologica di fatto“ (Spinicci, Paolo: Indicazioni per una lettura dei Lineamenti
di etica formale di Edmund Husserl, in: Husserl, Edmund: Lineamenti di etica formale, Florenz 2002, 9).
666
173
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
blind zu folgen, entschließt sich das personale Ich, den kategorischen Imperativ zu seinem
Lebensgesetz zu machen, also sein Aktleben selbst dem kategorischen Imperativ
entsprechend zu gestalten. 671
Der kategorische Imperativ „Wolle einsichtig das Beste unter dem Erreichbaren“672
ist nun für Husserl das höchste formale Willensgesetz der menschlichen Vernunft, wie
auch Alois Roth deutlich betont, wenn er schreibt: „Nicht das Beste überhaupt im
jeweiligen praktischen Bereich ist das Geforderte, sondern der auf dieses Beste
gerichtete einsichtige Wille und diesem folgend die Realisierung des einsichtig
Besten.“ 673 Die radikale Dringlichkeit für jeden Menschen, sein eigenes Leben nach
diesem kategorischen Imperativ auszurichten, stellt auch den Kern der späteren Ethik
Husserls dar. Die Akzente verschieben sich, die direkte Beeinflussung durch Brentano
wird weniger ausdrücklich, das Beharren auf der Notwendigkeit einer formalen Ethik
und auf ihrem Parallelismus mit der formalen Logik lässt nach. Aber zugleich werden
als Herzstücke die Zentralität der Rolle des „Willens zur Vernunft“ und der Kampf
gegen den ethischen Relativismus festgehalten.674 In der Krisis sagt Husserl nämlich,
671
Melle, Husserls personalistische Ethik, 344.
F I 21, 20.
673 Roth, Edmund Husserls ethische Untersuchungen dargestellt anhand seiner Vorlesungsmanuskripte,
136.
674 Es ist wichtig zu bemerken, dass Husserl nie aufgehört hat, die Notwendigkeit der Begründung einer
formalen Ethik zu betonen. In seinen Vorlesungen über Fichte von 1917 schreibt Husserl bezüglich der
Kantischen Lehre der praktischen Vernunft: „Das menschliche Trieb- und Willensleben steht wie sein
Erfahrungs- und Denkleben unter apriorischen Gesetzen. Der theoretischen Vernunft steht zur Seite eine
praktische Vernunft. Hier werden wir des erhabenen Sittengesetzes bewußt, des kategorischen Imperativs
der Pflicht, der schlechthin unbedingten Forderung, ohne jede Rücksicht auf unsere Neigungen und auf
irgend erwachsende Folgen unsere Pflicht zu erfüllen. In seiner absoluten Geltung zweifellos, gehört
dieses Gesetz nicht zu den eine Natur konstituierenden. Aber es erhebt uns, zugleich indem es uns sich
unterwirft, zur Würde moralischer Menschen, macht uns zu Mitgliedern einer sittlichen Welt“ (Hua XXV,
273). In den Kaizo-Artikeln beschreibt Husserl nämlich die formale Ethik als „Wissenschaft vom Wesen
und den möglichen Formen eines solchen Lebens in reiner (apriorischer) Allgemeinheit“ (Hua XXVII,
20) und bemerkt hierzu: „Hier fehlt eben die parallele apriorische Wissenschaft, sozusagen die mathesis
des Geistes und der Humanität; es fehlt das wissenschaftlich entfaltete System der rein rationalen, der
im ,Wesen’ des Menschen wurzelnden ,apriorischen’ Wahrheiten, die als der reine Logos der Methode in
die geisteswissenschaftliche Empirie in einem ähnlichen Sinne theoretische Rationalität hineinbrächten
und in einem ähnlichen Sinne rationale Erklärung empirischer Tatsachen möglich machten, wie die reine
Mathematik der Natur empirische Naturwissenschaft als mathematisch theoretisierende und somit rational
erklärende möglich gemacht hat“ (Hua XXVII, 7). Eine anderweitige Bestätigung der wesentlichen
Kontinuität der ethischen Überlegungen Husserls lässt sich darin finden, dass er die formalen
axiologischen Gesetze in den zwanziger Jahren erneut vorschlägt. Im zweiten Teil von Erste Philosophie
nimmt Husserl erneut das Absorptionsgesetz auf und spricht von „eine[r] endlose[n] Kette sich nicht nur
aneinanderreihender, die frühere absorbieren, sie dabei in gewisser Weise erhalten, Werte und Zwecke —
Werte und Zwecke, deren spätere Summen sondern aufeinander bauender, sich integrierender, erhöhender
und doch wieder durch Überschießung entwerten, ferner Werte, die in diesem endlosen Stufenbau der
erhöhenden Steigerung selbst ein Wertganzes ausmachen“ (Hua VIII, 13)
672
174
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
dass die Skepsis zum „Zusammenbruch des Glaubens an die ‚Vernunft’ “675 führt, und
er setzt hinzu: „Verliert der Mensch diesen Glauben, so heißt das nichts anderes als: er
verliert den Glauben ‚an sich selbst’, an das ihm eigene wahre Sein, das er nicht immer
schon hat, nicht schon der Evidenz des ‚Ich bin’, sondern nur hat und haben kann in
Form des Ringens um seine Wahrheit, darum, sich selbst wahr zu machen.“ 676
§ 4. Husserls späte Ethik: Erneuerung und Verantwortung
Um das Wesen der zweiten, neuen Richtung der Ethik Husserls sichtbar machen zu
können, ist es hilfreich, kurz auf das Ereignis des Ersten Weltkriegs zurückzukommen,
weil es einen entscheidenden Wendepunkt für die von ihm behandelte Problematik
darstellt. Dieses dramatische Geschehnis lässt im Husserlschen Denken das wesentliche
Bedürfnis reifen nach einer radikalen Erneuerung sowohl in individueller als auch in
gesellschaftlicher Hinsicht.
Ein wichtiges Zeugnis dessen stellen die drei Vorlesungen über „Fichtes
Menschheitsideal“ dar, die Husserl erstmals im November 1917 in Freiburg im Rahmen
von Kursen für Kriegsteilnehmer gehalten hat.677 Bei dieser Gelegenheit zeigt Husserl
eine starke persönliche Anteilnahme gegenüber dem Krieg und trägt Passagen vor,
deren Charakter und Tonlage weit entfernt scheinen von denen seiner ersten ethischen
Vorlesungen: „[D]azu kam nun dieser Krieg, dieses über alles Begreifen große und
schwere Schicksal unserer deutschen Nation. Welches Phänomen! [...] Es ist eine Zeit
der Erneuerung all der idealen Kraftquellen, die dereinst im eigenen Volk und aus
seinen tiefsten Seelengründen erschlossen worden sind und die schon früher ihre
rettende Kraft bewährt hatten.“ 678 Abgesehen von der auf den ersten Blick rhetorisch
anmutenden Tonart der Ausführungen Husserls über den Krieg besteht der Kern dieser
Vorlesungen in einem nachdrücklich persönlichen und gemeinschaftlichen Aufruf zur
ethischen Erneuerung. Der Standpunkt Husserls zum Krieg ändert sich besonders
675
Hua VI, 10.
Hua VI, 11.
677 Husserl wiederholte diese Vorlesungen noch zweimal im Januar 1918 und im November 1918 (kurz
vor dem Abschluss des Waffenstillstands) für die Hörer aus der Philosophischen Fakultät. Siehe hierzu:
Nenon, Thomas; Sepp, Hans Reiner: Einleitung des Herausgebers, in: Hua XXV, XXVIII.
678 Hua XXV, 268.
676
175
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
aufgrund seines von diesem geschichtlichen Ereignis verursachten schwerwiegenden
persönlichen Verlusts.679
Gerade dieses Drama aber bestärkt Husserl in dem
Bewusstsein der Notwendigkeit einer Neugeburt des menschlichen Lebens und der
Wiederentdeckung des Wesens der europäischen Kultur. Der Krieg erweist sich freilich
als der denkbar größte Irrweg für eine Erneuerung. In zwei Briefen von 1920 an
William Hocking und an Winthrop Bell drückt Husserl seine tiefe Enttäuschung und
Erschütterung darüber aus: „Was der Krieg enthüllt hat, ist das unsägliche nicht nur
moralische u. religiöse, sondern auch philosophische Elend der Menschheit. [...] Aus
dem geistigen Elend ist nun auch das physische Elend geworden, das nun seinerseits
immer neues moralisches Elend in furchtbaren Progressionen erzeugt.“ 680 Und weiter:
„Dieser Krieg, der universalste und tiefste Sündenfall der Menschheit in der ganzen
übersehbaren Geschichte, hat ja alle geltenden Ideen in ihrer Unklarheit und Unechtheit
erwiesen. [...] Der Krieg der Gegenwart, zum Volkskrieg im wörtlichsten und
grauenvollsten Sinne geworden, hat seinen ethischen Sinn verloren.“ 681
Trotz der unterschiedlichen und in gewisser Weise auch naiven Auffassungen über
die Bedeutung des Weltkriegs bestimmt dieses Moment auch Husserls Vorlesungen von
1917 und zwar in einer bestimmten Betonung der beständigen menschlichen
Möglichkeit, immer höheren Zwecken zu folgen. Basierend auf den Prinzipien der
Philosophie Fichtes unterstreicht Husserl, dass das Wesen der Subjektivität im Handeln
besteht, da „Subjekt sein [...] durchaus und nichts anderes als Handelnder sein [ist].“ 682
Aber dies genügt nicht, weil es nicht nur um ein bloßes Handeln geht, sondern um ein
zielgerichtetes, d.h. ein teleologisches Handeln:
Subjekt sein ist eo ipso eine Geschichte, eine Entwicklung haben, Subjekt sein ist nicht nur
Handeln, sondern notwendig auch von Handlung zu Handlung, von Handlungsprodukt in
neuem Handeln zu neuen Produkten fortschreiten. Im Wesen des Handelns liegt es, auf ein
679
Der Erste Weltkrieg markiert einen sehr schmerzhaften persönlichen Einschnitt im Leben Husserls:
Sein jüngerer Sohn Wolfgang wird 1916 im Krieg getötet, sein älterer Sohn Gerhart schwer verwundet.
Zudem kehrt auch einer seiner engsten und liebsten Schüler, Adolf Reinach, nicht mehr aus dem Krieg
zurück. Vgl. Orth, Ernst Wolfgang: Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls Ethos der
Erneuerung in seinen japanischen Kaizo-Artikeln, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993),
341. Siehe hierzu: Dok I, 200.
680 Dok. III/3, 163.
681 Dok. III/3, 12.
682 Hua XXV, 275.
176
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Ziel gerichtet sein. Handelt das Ich, so wäre es im ersten Erzielen tot und nicht lebendiges
Ich, wenn nicht jede Erzielung neue Ziele, jede Aufgabe neue Aufgaben aus sich
hervortriebe in unendlicher Folge. Die unendliche Kette von Zielen, Zwecken, Aufgaben
kann aber nicht zusammenhanglos sein, sonst wäre das Ich nicht ein Ich, sonst motivierte
nicht eine Erzielung, die Erfüllung einer ersten Aufgabe, eine neue und so fort. Jedes Ziel
ist ein Telos, aber alle Ziele müssen zusammenhängen in der Einheit des Telos, also in
teleologischer Einheit. – Und das kann nur der oberste sittliche Zweck sein. 683
In diesen letzten Zeilen wird die synthetische Erscheinung jener dynamischen
Struktur des Lebens der Subjektivität sichtbar, die den Grund der Ethik darstellt, welche
Husserl in den Jahren nach dem Krieg ausarbeitet. Die ethische Frage kommt ins Spiel,
wenn das Ich sich seiner strukturellen, auf ein oberstes Telos gerichteten Spannung
bewusst wird und die Erneuerung als persönliche Verantwortung auf sich nimmt. Der
Krieg hat schmerzlich vor Augen geführt, dass die europäische Kultur dringend einer
geistigen Erneuerung bedarf, woraus neue ethische Erfordernisse erwachsen. Husserl
schreibt hierzu in den Kaizo-Artikeln:
Erneuerung ist der allgemeine Ruf in unserer leidensvollen Gegenwart und ist es im
Gesamtbereich der europäischen Kultur. Der Krieg, der sie seit dem Jahre 1914 verwüstet
und seit 1918 nur statt der militärischen Zwangsmittel die ,feineren’ der seelischen Torturen
und der moralisch depravierenden wirtschaftlichen Nöte gewählt hat, hat die innere
Unwahrheit, Sinnlosigkeit dieser Kultur enthüllt. 684
Aus diesem Grund stellt Husserl die Frage: „Sollen wir warten, ob diese Kultur nicht
von selbst in ihrem Zufallspiel wertzeugender und wertzerstörender Kräfte gesunde?
Sollen wir den ,Untergang des Abendlandes’ als ein Fatum über uns ergehen lassen?
Dieses Fatum ist nur, wenn wir passiv zusehen – passiv zusehen könnten. Aber das
können auch die nicht, die uns das Fatum verkünden.“685 Ernst Wolfgang Orth erfasst
deutlich die ethische Spannung des Bewusstseins der Notwendigkeit einer Erneuerung,
die bei Husserl in den Jahren nach dem Krieg und insbesondere in den Kaizo-Artikeln
zum Ausdruck kommt: „Husserl reagiert auf die deutsch-europäische Katastrophe. Und
er versucht auch, Europa dessen eigene Ideale vorzuhalten, an denen es sich wieder
683
Hua XXV, 275.
Hua XXVII, 3.
685 Hua XXVII, 4.
684
177
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
aufrichten und erneuern sollte. Hier muß man weniger von einem interkulturellen als
von einem innerkulturellen Problem sprechen.“ 686
Wenn der Begriff der persönlichen Erneuerung das Hauptmoment der Überlegungen
Husserls darstellt, stellt sich eine wesentliche Frage, die von Luft wie folgt diskutiert
wird: „Was aber ist es, was erneuert werden soll? Von woher soll die Erneuerung
kommen und wohin soll sie führen? Ausgangspunkt ist der naiv dahinlebende Mensch,
der sich nicht selbst inne seiende. Was diese Person nicht kennt, ist ihr wahres Wesen,
das erfahren werden muss, da nur von ihm die Erneuerung zur ,eigentlichen’ Person
ausgehen kann.“ 687 Der oberste sittliche Zweck, das Telos, muss also der unendlichen
Kette von Zielen im Alltag des naiv dahinlebenden Menschen entnommen werden. Wie
in der Einleitung des Kapitels bereits hervorgehoben wurde, motiviert das gespannte
Bedürfnis nach eigentlicher Erneuerung allererst die peinliche Erfahrung einer
fortlaufenden Enttäuschung, weil jedes vermutete Gut sich immer wieder als
unbefriedigend erweist: „Jeder Mensch findet sich in einer endlos offenen Werte-Welt,
und zwar Welt praktischer Werte, die ,in infinitum’ zu übersteigern sind, die in
Steigerungen menschlich erwachsen sind. Alles, was man schafft, verweist auf Besseres
und hat im allgemeinen ein Besseres, das schon Andere erworben haben, das man aber
nicht selbst genießen kann, neben sich.“ 688 Die Werte überwinden sich beständig selbst,
weil sich immer wieder ein höherer Wert zeigt. „Werte haben ihre besonderen Arten der
Entwertung, nicht bloss vom Sein des Wertobjektes und der antizipierten
Werteigenschaften her, sondern auch die Weisen der Entwertung [...] durch
Minderwertigkeit im Vergleich mit höheren Werten.“689 Dies erfolgt in Form eines
Streites, der auch schmerzvoll sein kann, wie Husserl konstatiert: „Das Ich kommt im
Streit niederen und höheren Wertlebens immer wieder in die Lage, dessen bewußt
werden zu müssen in Form tiefster Unbefriedigung, daß es erstrebt, was ihm letztlich
686
Orth, Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls Ethos der Erneuerung in seinen
japanischen Kaizo-Artikeln, 339.
687
Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des
Personenbegriffs, 226.
688 Hua XV, 405.
689 Hua XV, 405.
178
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
zuwider ist, eine Weise des Lebens und Strebens, die es mit sich selbst in Streit bringt
(im Gefühl ausgedrückt: in Unseligkeit verfallen läßt).“ 690
Eine solche beständige Enttäuschung impliziert einen unendlichen Weg, der
stufenweise zum obersten Gut führt. Diese unaufhörliche Annäherung wird von Husserl
auch durch das Bild eines Wanderweges verdeutlicht: In einem Text von 1931 bemerkt
Husserl, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Menschen und Tieren darin
besteht, dass „für mich und dann für jedermann (als Mitmenschen) ein ,Lebensweg’
konstituiert ist, meine Lebenszeit, meine ,Lebensgeschichte’.“ 691 Dieses Bild ist
allerdings „doch nicht ganz passend“ 692, weil in einem Wanderweg schon von
vornherein ein Endziel (z.B. eine schöne Aussicht) „vorbedacht und vorgewollt“693 ist,
während der sogenannte Lebensweg eine fortlaufende Entwicklung impliziert, und von
vornherein keine teleologische Einheit, die alle Sonderzwecke und -handlungen
vereinheitlicht“ 694, einschließt. Die ständige freie Möglichkeit des Menschen, sich durch
äußerlich treibende Kräfte beeinflussen zu lassen, und die schmerzvolle Erfahrung der
Entwertung aller Ziele, die sich danach als eitel oder leer erweisen695, zeigen sehr
deutlich, dass das Leben kein geradliniger Weg ist, wie es ein vorherbestimmter Plan für
eine Wanderung sein könnte. Die Zwecke des Lebens bekunden sich schrittweise, wie
die Erfahrung des Kindes zeigt:
690
Hua VI, 485.
Die existentiellen Folgen eines Lebens, das sich bei niederen und nur scheinbaren Werten aufhält, werden
von Husserl folgendermaßen gefasst: „[E]in Leben, das sich in Scheinbefriedigungen verliert, verliert sich
selbst, ist Scheinleben, ist ein leeres, sich selbst negierendes Leben“ (Hua XXV, 285).
691 Hua XV, 419.
692 Hua XV, 419.
693 Hua XV, 419.
694 Hua XV, 419.
695 Im Rahmen der formalen Praktik, die Husserl in seinen ersten ethischen Vorlesungen behandelt, wird
das formale, diese Erfahrung der Enttäuschung betreffende Gesetz formuliert. Husserl schreibt hierzu:
„Jedenfalls ist es das Eigentümliche, daß die Hintansetzung eines Besseren eben unter allen Umständen
den Positivwert der gleichzeitigen Vorziehung eines Guten so sehr verdirbt, daß sie aufhört, noch positiv
zu sein. Es ist gleichsam eine aufgehobene Kraft, aufgehoben durch eine im selben Angriffspunkt (in
selben Ich und derselben Zeit) wirkende Gegenkraft” (Hua XXVIII, 131). „Sowie also einer dieser
Höherwerte neu in den Gesichtskreis der Wahl tritt, verschiebt sich also die richtige Willensantwort; was
vordem das Beste war, ist nachher als ein einzelnes Summenglied ein minder Gutes, dessen Wahl also
schlecht wäre. Immerfort heißt es nach unserem Gesetz, das Bessere bzw. Beste geht voran, aber immer
nur in dem Sinn, daß ein minder Gutes zu wählen, wo ein Besseres im Wahlkreis liegt, verkehrt
wäre“ (Hua XXVIII, 133). Der existentielle Gegenwert dieses formalen Gesetzes besteht gerade in der
peinlichen Entwertung jeder vermuteten Erlangung.
179
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Das Kind ist vorweg mit Zweckobjekten umgeben; im alltäglichen Gebrauch lernt es sie in
ihrer Zweckhaftigkeit verstehen, und so lernt das Kind auch, umgeben von zwecktätigen
Nächsten, ihre Zwecktätigkeit als solche verstehen und Zweckobjekte verstehen nicht nur
als Gebrauchsobjekte, sondern als teleologisch gewordene (Urgeschichte). Nachahmend ist
es tätig und spielt es Tätigkeit; es erwächst Neugier, Interesse für das Gewordene, Interesse
für das „warum das so ist“. Die Frage des Warum ist ursprünglich Frage nach der
„Geschichte“.696
Diese letzte Äußerung Husserls weist auf die zitierte Passage der Vorlesungen über
Fichte hin, wo Husserl betont, dass Subjektsein eine Geschichte, eine Entwicklung und
eine unendliche Kette von Zwecken und Aufgaben impliziert. Diese Kette stellt sich
nicht als zusammenhanglos dar, sondern als ein Weg, der eine innere sich entwickelnde
Teleologie, oder in den Worten Husserls, einen „bleibende[n] teleologische[n]
Charakter“697 aufweist, der im Laufe der persönlichen Geschichte vor jedermann
erscheint und sich entfaltet. Wie Hoyos Vásquez betont, hat „[d]ie Lebenswelt [...] nach
Husserl ein ,teleologisches Gesicht’, das allgemein betrachtet das ,Zweck-Gesicht’ der
vorgegebenen Welt ist.“ 698 Hierzu schreibt Husserl:
Dergleichen Objekte [...] erfahren nachträglich, wenn sie als fertige in unseren
Gesichtskreis treten und uns vom Hintergrund her affizieren, sofort eine entsprechende
Auffassung gemäß ihrem Zwecksinn. Sofort erkennen wir sie wieder als so und so
zweckgestaltet, als allgemein dienlich für die und die Zwecke und als dazu bestimmt. [...]
Ganz unmittelbar folgt der Blick ihrer teleologischen Gliederung und Formung in ihrer
Sonderbedeutsamkeit; so daß für das auffassende Subjekt ein doppelschichtiger Gegenstand
dasteht: alles, was in den erfahrenden Sonderblick tritt, hat teils seine ursprüngliche
eigenwesentliche Bestimmung als auch die in ihm fundierte Zweckbestimmung.699
696
Hua XV, 420.
Bereits zehn Jahre früher, in einem Text von 1921, drückt Husserl den fortlaufenden Charakter der
Entwicklung des Bewusstseins durch das Beispiel des Wachstums eines Kindes aus: „Entwickelt sich das
Kind, so lernt es die Forderung verstehen, es lernt das Sollen der Reinlichkeit u.dgl., es lernt sich
unterwerfen, dulden, gehorchen und lernt schliesslich selbst frei wollen und von sich aus passiv erstreben,
was ihm vordem aufgezwungen war, es lernt selbst den Wert der Gesundheit verstehen und ihr zuliebe
einem momentanen Reiz, einer momentanen Annehmlichkeit, Bequemlichkeit widerstehen“ (Hua XIV,
178).
697 Hua IX, 408-409.
698 Hoyos Vàsquez, Guillermo: Intentionalität als Verantwortung. Geschichtsteleologie und Teleologie
der Intentionalität bei Husserl, Den Haag 1976, 139.
699 Hua IX, 409.
180
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Jedes Objekt zeigt unmittelbar eine teleologische Zweckbestimmung, weil es ein
ursprüngliches Gerichtetsein der Subjektivität gibt, das zur kontinuierlichen Erfüllung
in diesem und jenem gelangt. Die Lebenswelt erscheint allerdings nicht als eine Summe
oder Reihe von Sonderzwecken, sondern als ein teleologischer Gesamthorizont, der alle
Sonderzwecke umfasst und auf ein endgültiges ideales Telos gerichtet ist. Husserl hebt
den originären Charakter dieser teleologischen Spannung hervor, die jeden Akt des
Ichlebens durchdringt, da „durch jedes transzendentale Dasein, aber nicht bloss einzeln,
sondern in der intersubjektiven Vergemeinschaftung und als intersubjektive Totalität [...]
ein Einheitsstreben der ,Vervollkommnung’ [hindurchgeht].“700 Nur dem Menschen
eignet strukturell dieses Streben, das Tier kennt es nicht. „Das Tier ist an die
Wirklichkeit gebunden, das ist, es folgt blind, passiv der Motivationskraft der auf es
einstürmenden Affektionen, der Sinnesaffektion, der Neigungen, der Begierden, der
passiv sich auswirkenden realisierenden Tendenz.“ 701 Der Mensch ist dagegen immer
frei, d.h. „für ihn geht die Möglichkeit den Wirklichkeiten vorher. Er beherrscht die
Wirklichkeit durch Beherrschung der Möglichkeiten.“ 702 In dieser interessanten Beilage
seiner Kaizo-Artikel entwickelt Husserl die Beschreibung dieser Eigentümlichkeit des
Menschen im Vergleich zum Tier weiter:
Nur der Mensch hat ein Schicksal, hat bewußt im Auge die offenen Unendlichkeiten der
sein freies Wirken hemmenden Zufälle, Hemmungen, Störungen, Widerstände, nur <er>
seine personale Selbsterhaltung, die durch das Bewußtsein der vielfältigen in ihm selbst, in
der äußeren Natur, in der Tierwelt, in der ihn als Mitglied umspannenden Menschenwelt
liegenden Unendlichkeiten in seinem Leben und Streben bestimmt <wird>, nur er strebt
nach „Glückseligkeit“ und erhebt sich zu unendlichen Zwecken, zu Zwecken, die
Zweckideen sind, <die> einzelne Zwecke niederer Ordnung in sich schließen, einzelne
Zwecke, die selbst schon, wie alle menschlichen Zwecke, Zweckideen sind, [...] die
unendlichen Aufgaben, die sich nur verendlichen in Form endloser Wiederholung gleicher
Zwecktätigkeit mit gleichen nützlichen Leistungen.703
Dieses Streben, das den Menschen zu immer neuen Zwecken treibt, entsteht aus der
menschlichen Erfahrung und ist darin feststellbar: Nur der Mensch erfährt beständig vor
700
Hua XV, 404.
Hua XXVII, 98.
702 Hua XXVII, 98.
703 Hua XXVII, 98.
701
181
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
sich selbst den unendlich offenen Horizont der Möglichkeiten und das unaufhörliche
Streben nach der höchsten Befriedigung, d.h. nach der echten Seligkeit, wie Husserl in
seinen Vorlesungen über Fichte mit aller Deutlichkeit hervorhebt: „Alles Leben ist
Streben, ist Trieb nach. Befriedigung. Durch alle noch unvollkommene Befriedigung
geht dieser Trieb hindurch, das ideale Ziel ist also immerfort reine und volle
Befriedigung, mit einem Wort Seligkeit. Seinem Wesen nach will also alles Leben
seliges Leben sein.“ 704 Wenn dieses Streben nach Seligkeit im Menschen derart
strukturell verankert ist, so ist es
kein Zufall, dass der Mensch, immerfort mit Einzelheiten der Erfahrung, der Bewertung,
der begehrenden und handelnden Abzielung (Bezweckung) beschäftigt, niemals zu einer
Zufriedenheit kommt, oder vielmehr, dass keine Befriedigung im einzelnen und in der
Endlichkeit wirkliche und volle Befriedigung ist, und dass Befriedigung auf eine
Lebenstotalität und personale Seinstotalität verweist, auf eine Einheit in der Totalität der
habituellen Geltungen, die alle Endlichkeit übersteigt. [...] Die Persönlichkeit [...] schliesst
von vornherein, und wesensmässig, als unselbständige Schichten erfahrend, wertend,
strebend auf Verwirklichung (Realisierung) Gerichtetsein, und das ist zur Geltung Bringen
und dann habituell in Geltung Haben, ein.705
Hier ist zu beachten, dass dieses Gerichtetsein nicht nur die eigentliche rationale
Stufe des menschlichen Lebens betrifft, sondern auch die Unterschicht der Passivität,
der Instinkte und Triebe, die beständig an jeder Handlung des Ich wesentlich mitwirken,
denn es erwachsen „auch in der Passivität und Aktivität habituelle Seiten der
Persönlichkeit“ 706, wie Husserl in der Vorlesung über phänomenologische Psychologie
unterstreicht. Unsere Betrachtungen über den Begriff von Motivation haben bereits die
beständige, jeden Moment des Ich-Lebens begleitende Verflechtung zwischen Aktivität
und Passivität, Vernünftigkeit und Unvernünftigkeit hervorgehoben: Husserl schmälert
keineswegs die wesentlichen Abweichungen zwischen der aktiven Sphäre – welche die
willentliche und daher eigentlich ethische Sphäre darstellt – und der passiven Sphäre, er
sieht diese jedoch nicht wie zwei Welten an. Beide Dimensionen, sowohl die rationale
als auch die triebmäßige, sind Dimensionen der Motivation, die einerseits irrational,
704
Hua XXV, 285.
Hua XV, 404.
706 Hua IX, 414.
705
182
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
passiv und ichlos, andererseits dagegen aktiv, rational und frei sind. Eine wesentliche
Verständlichkeit vereinigt also diese Sphären und diese Einheit führt dazu, dass das
Gerichtetsein auf Befriedigung, das zu einem echten ethischen Streben nach Erneuerung
werden kann, sich bereits innerhalb der passiven Dimension des Lebens teleologisch
ausrichtet und wirksam wird.707 Noch einmal hören wir auch aus ethischer Sicht die
Worte Husserls: „Die passive Motivation ist der Mutterboden der Vernunft.“ 708 Vargas
Bejarano spricht diesbezüglich von einem „Reifungsprozess”, da „niemand eine für sein
Leben radikale Entscheidung [trifft], ohne zuvor durch Motivationen beeinflusst zu sein
und Einschätzungen abzuwägen.“709 An diesem Reifungsprozess nach der Erneuerung
seines eigenen Lebens haben nun sowohl rationale Entscheidungen und Stellungnahmen
als auch Triebe, Habitualitäten und verborgene Wünsche teil. Wie Husserl bemerkt,
trägt „[d]as Ich als Person [...] in sich (als aus ihm herauserkennbar, auch wenn es
davon nichts weiss) die Idee eines Seins als wahrer Person (die Idee seiner echten
Existenz, seines echten Daseins). Diese Idee besagt eine aktuell in ihm liegende
Potentialität.“ 710 Diese Potentialität bezeichnet daher ein latentes vorantreibendes
Streben, das jeden Akt des Ich begleitet, auch wenn es nicht immer die Form einer
rationalen und expliziten Stellungnahme annimmt. Dieses beständige Streben ist die
Möglichkeitsbedingung für die Konstitution der Einheit der Person, weil sich durch den
Einklang und die Beständigkeit des Strebens ein bestimmter, charakteristischer
persönlicher Stil konstituiert. Husserl drückt dies folgendermaßen aus:
Letztlich geht durch das Ichleben hindurch ein Streben, zu einer Einheit und zu
Einhelligkeit in der Mannigfaltigkeit seiner Überzeugungen zu kommen, derart, daß das Ich
707
Perreau hebt diesbezüglich hervor: „La pulsion imprime un élan ou plutôt une poussée première qui
est toujours pour Husserl une tension vers. C’est sur ce point que se joue en définitive l’alternative entre
la théorie de la pulsion promue par la métapsychologie freudienne et la conception phénoménologique de
la pulsion. Husserl pense la pulsion sur un mode qui n’est pas celui de la détermination causale, mais
celui de l’orientation en finalité (vers une fin qui n’est toutefois pas d’emblée déterminée dans son
contenu)“ (Perreau, Phénoménologie husserlienne et metapsychologie freudienne: la pulsion et
l’inconscient, 25). Hierzu betont auch Irene Angela Bianchi: „In un esistente intelligente anche la
tendenza è intenzionalità, e tuttavia per quanto in essa non sia ancora presente l’‚intendere ragionevole’,
non manca l’intenzionalità, che è il principio dell’essere, un’apertura al mondo nella sua totalità. Così il
livello inferiore, inteso come impulso, aspirazione, tendenza, riceve il suo senso d’essere dal ,superiore’
cioè il volere cosciente e pensante, ma non il contrario“ (Bianchi, Irene Angela: Fenomenologia della
volontà. Desiderio, volontà, istinto nei manoscritti inediti di Husserl, Mailand 2003, 126).
708 Hua XXXVII, 332.
709 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 304.
710 Hua XIV, 297.
183
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
zu einem solchen werden will, das sich selbst treu bleibt bzw. sich treu bleiben kann, sofern
es nie mehr geneigt ist, seine Überzeugungen preiszugeben, und, was damit wesensmäßig
zusammenhängt, unselig zu werden. 711
Dieses Streben nach Einhelligkeit besteht auch aus einer beständigen triebmäßigen
Spannung, d.h. – mit den Worten von Yamaguchi – einer „Uraffektion des Triebs“,
welche „nicht von Anfang an feste, bestimmte Richtungen, Ziele hat“ 712, aber der
eigentlich willentlichen Entscheidung vorangeht und in ihr bewusst und rational werden
kann. Das echte Wollen bahnt sich den Weg zum Ziel mittels eines triebmäßigen
Strebens, da „jeder Wille, der sich nicht unmittelbar, nicht sogleich in der lebendigen
Evidenz der Vorhabe verwirklichen kann, die Verwandlung in eine Sonderform des
Triebes [erfährt], der sich günstigenfalls, wenn ,seine Zeit’ kommt, in der Weise der
Auslösung eines fiat auswirkt.“ 713 Dieses beständige Streben bildet die Einheit einer
allgemeinen und personalen Richtung. In den Vorlesungen über „Fichtes
Menschheitsideal“ fragt sich Husserl diesbezüglich: „Was gibt der Unendlichkeit von
Tathandlungen und der Typik ihrer Leistungen eine feste teleologische Direktion? Die
Antwort lautet: Durch das unendliche Handeln geht ein unendlicher, nach Befriedigung
sich sehnender Trieb.“714 Noch deutlicher drückt sich Husserl in einem Text von 1931
aus:
Dieser teleologische Prozess, der Seinsprozess der transzendentalen Intersubjektivität, trägt
in sich einen universalen, zunächst in den einzelnen Subjekten dunklen „Willen zum
Leben“, oder vielmehr, Willen zum wahren Sein (vielleicht können wir sagen, der jeweilige
Wille in seiner patenten Form hat einen latenten „Willenshorizont“). In der Entwicklung
wird er in einzelnen Subjekten zunächst patent, oder aus dem offen-leeren, ungeformten
Horizont wird ein geformter, der Mensch in seinem Transzendentalen erwacht, es erwacht
in ihm der Horizont des echten Menschentums. 715
Dieser dunkle „Wille zum Leben“ oder latente „Willenshorizont“ stellt den passiven
und triebmäßigen Hintergrund dar, welcher den Menschen drängt und durch eine
711
Hua IX, 214.
Yamaguchi, Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, 59.
713 Hua VI, 485.
714 Hua XXV, 277.
715 Hua XV, 378 (Meine Hervorhebung).
712
184
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
vernünftige Stellungnahme von Latenz zu Patenz übergehen kann.716
In einem
Manuskript von 1935 geht Husserl näher auf diesen Punkt ein:
Der Mensch im menschlichen Selbstbewusstsein [...] weiss [...] sich als darin
hineingeboren, hineinerzogen, mit einem Trieb Mensch zu sein, strebend, getrieben, im
Trieb zur Menschlichkeit; schon Mensch, aber im Menschwerden immerzu begriffen – er
ist schon und ist im Wollen, ist Ich in seinen Interessen als habituellen Wollungen – und
darin ist er zukünftig auf künftiges Menschsein und künftige Weltlichkeit gerichtet. 717
Und er fügt hinzu: „Hier haben wir: verborgene ,Vernunft’ als Trieb, der ständig
lebendig ist und dem Menschen als solcher, als Streben in einen Horizont bewusst ist.
Patenz ist dabei der Wille, der ,weiss’, was er will, der Trieb ist aber trieberfüllende
Ziele schon vor Augen haben. [...] Der Mensch ist schon im menschlichen Trieb.“ 718
Ferner heißt es: „Im Mensch ist Latenz immer schon Patenz der Vernunft.“ 719 Das
instinktive Gerichtetsein zeigt sich daher als ein ahnungsloses Streben, es ist jedoch –
mit den Worten von Hoyos Vàsquez – „teleologisch vom Subjekt her, weil Menschen
im ,Instinkt’ immer schon gerichtet sind auf einen Endsinn als ,Zielvorstellung.’ “ 720
Des Weiteren lesen wir bei Husserl: „Alles Leben vollzieht sich im weitesten Sinn im
Streben und ist insofern praktisch, es vollzieht sich als Triebleben passiv oder als
eigentliches Willensleben aktiv in Ichakten.“ 721 Nur im Rahmen dieser beständigen
Verflechtung zwischen Passivität und Aktivität kann man von einer wirklichen
Persönlichkeit sprechen, weil nur auf der Grundlage des passiv fortdauernden Strebens
ein einheitliches Subjekt, d.h. die Person, entstehen kann. Husserl schreibt in einem
716
Rolf Kühn betont mehrfach in seinem Werk über den Husserlschen Begriff der Passivität die
wesentliche Rolle, welche die angeborenen Instinkte und Strebungen in der sowohl subjektiven als auch
intersubjektiven teleologischen Entwicklung spielen: „Der angeborene Urtrieb, der gerade den
lebensweltlichen Wandel als offene Möglichkeiten impliziert [...], enthält eine ,Typik’ der Trieberfüllung,
die sich bereits mit dem Übergang vom ,dunklen Ahnen’ zur eigentlichen Intentionalität inchoativ
auswirkt. Deshalb haben wir schon hier lebensweltlich-kulturelle ,Entwicklung’, das heißt periodischrhythmisierte Lebenswelt im Modus des Begehrens und Befriedigtseins als ständige Auswirkung von
instinktiven Sonderhorizonten, die einerseits der individuellen ,Selbsterhaltung’ sowie andererseits als
Spielraum der Ko-praxen aller Beteiligten dienen, um die mannigfachen ,Interessen’ zu vereinen“ (Kühn,
Rolf: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der genetischen
Phänomenologie, Freiburg/München 1998, 426).
717 A V 20, 1-2.
718 A V 20, 2.
719 A V 20, 3.
720
Hoyos Vàsquez, Intentionalität als Verantwortung. Geschichtsteleologie und Teleologie der
Intentionalität bei Husserl, 141.
721 Hua XXXVII, 248.
185
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Text von 1936: „Ich lebe ein intentionales Leben, und Intentionalität der Ursprungsform
ist aktuell abzielen, erzielen, erzielend haben eine Habe. [...] Alle meine Intentionen,
Intentionen dieses ersten Sinnes, in ihrer Bewegung bilden, nicht ein Nebeneinander, sie
sind alle Strahlen meines einheitlichen ,Willens’, meines einheitliches Seins.“ 722 Das
Ichleben wird daher von einem Willenszug bestimmt, der die verschiedenen
Interessenrichtungen der Subjektivität umfasst und die personale Identität fortwährend
prägt: Es handelt sich gerade um einen „einheitliche[n] Trieb, der durch alles Streben
und durch alle Sonderakte hindurchzielt.“ 723 Die Person hat nämlich ihre personale
Einheit in der Einheit ihres mannigfaltigen Strebens und der Willenszug führt – wie
hinsichtlich der transzendentalen Geltung der Habitualitäten bereits hervorgehoben
wurde –auf diese Weise durch die Mannigfaltigkeit von Stellungnahmen, Strebungen
und Erwerbe zur Begründung von festen Habitualitäten oder „Themata“ 724, wie sie
Husserl in den Ideen II nennt: Diese bleibenden Habitualitäten stellen die dauernde
Basis jeder möglichen, zukünftigen und neuen Stellungnahme dar. Hierzu schreibt
Husserl:
Einstellung, allgemein gesprochen, besagt einen habituell festel Stil des Willenslebens in
damit vorgezeichneten Willensrichtungen oder Interessen, in den Endzwecken, den
Kulturleistungen, deren gesamter Stil also damit bestimmt ist. In diesem bleibenden Stil als
Normalform verläuft das jeweilig bestimmte Leben. [... Das] Leben hat immer einen
Normalstil und eine beständige Historizität der Entwicklung in diesem. 725
Eine bleibende Willensrichtung umspannt beständig das Leben des Menschen. Diese
Dynamik spielt zudem eine zentrale Rolle in den ethischen Überlegungen Husserls, weil
nur aufgrund der Möglichkeit der Begründung eines habituellen und festen Lebensstils
von einer echten ethischen Persönlichkeit die Rede sein kann. „Jede Person [hat] in sich
722
Hua VI, 470.
Hua VI, 485.
724 Hua IV, 112.
So schreibt Husserl: „[J]ede ,neue’ Stellungnahme stiftet eine bleibende ,Meinung’, bzw. ein Thema (ein
Erfahrungsthema, ein Urteilsthema, ein Freudenthema, ein Willensthema), so daß ich von nun ab, so oft
ich mich als denselben erfasse, der ich früher war, oder als denselben, der jetzt ist und früher war, auch
meine Themata festhalte, sie als aktuelle Themata übernehme, so wie ich sie früher gesetzt habe. Und das
sagt: Themata sind ursprünglich gesetzt, schlechthin oder auf Motive hin (Motivlosigkeit wird als Nullfall
der Motivation genommen); auf Grund derselben Motive kann ich, das stellungnehmende Ich, nicht
anders mich verhalten“ (Hua IV, 112).
725 Hua VI, 326.
723
186
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
eine universale Einheit des Lebens, [...] den beweglichen Stil eines sich im strömenden
Leben in seinen erfahrenden Stellungnahmen durch Selbstkorrektur ständig erhaltenden
Ich“726: Die Einheit des Lebens wird hier von Husserl als ein beweglicher Stil gefasst,
der durch die neuen Stellungnahmen und Selbstkorrekturen fest und zugleich wandelbar
bleibt. „Da jedes Streben, also jede Intention die Willensgestalt, also die eines
willentlichen Wahrnehmens [...], eines willentlichen Erinnerns, Produzierens, Wertens
usw. annehmen kann, so verstehen wir die Möglichkeit einer willkürlichen und von da
ab habituellen Willenseinstellung des Ich auf eine allgemeine bleibende thematische
Sphäre.“727 Die Möglichkeit, eine ethische Persönlichkeit auszubilden und sein eigenes
Leben wesentlich zu erneuern, entsteht gerade aus dieser beständigen Möglichkeit des
Auftretens einer willkürlichen und habituellen Willenseinstellung des Ich. Wie Vargas
Bejarano betont, ist „[d]ie Veränderung einer personalen Lebenseinstellung [...]
dermaßen bedeutend, dass sie als eine Art von Neugeburt des Subjektes auszulegen ist;
daher hat Husserl den Terminus ,Erneuerung’ für die Kaizo-Aufsätze gewählt.“ 728 Es
handelt sich nur dann um eine ursprünglich ethische Erneuerung, wenn eine echte
willentliche Neugeburt stattfindet. Eine Passage aus den Vorlesungen über Ethik und
Wertlehre von 1920 ist diesbezüglich von Bedeutung, weil Husserl hier den Inhalt der
Entscheidung für die ethische Erneuerung verdeutlicht:
Jeder von uns sagt: Ich – ich will mein Leben, mein ganzes Leben von nun ab in allen
seinen Akten und mit seinem gesamten Erlebnisgehalt so leben, dass es mein bestmögliches
Leben sei; mein bestmögliches, d.h. das bestmögliche, das ich kann. Dies ist das für mich
gesollte und absolut gesollte Leben. Das Sollen ist Korrelat des Wollens, und zwar eines
vernünftigen Wollens, das Gesollte ist die Willenswahrheit. 729
Das Sich-Erneuern entspricht deshalb der willentlichen Wahl des bestmöglichen
Lebens und des Gesollten als vernünftige Willenswahrheit; das Sollen zeigt sich
innerhalb der konkreten und empirischen Geschichte des Ich. So unterstreicht Luft mit
Recht: „Was ich im Innersten bin, kann ich aber nur erfahren und realisieren im
726
Hua XV, 404.
Hua IX, 413.
728 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 288.
729 Hua XXXVII, 252.
727
187
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
ständigen Austausch mit der Welt und den Situationen, mit denen sie mich
konfrontiert.“730 Hierzu bemerkt Husserl:
Was ich soll, ist bestimmt durch das „Ich kann“, und was ich kann, ist ein anderes, als was
ein jeder andere kann. Was ich kann, ist aber nicht bloß in meiner momentanen Umgebung
beschlossen, sondern mein gegenwärtiger Wille umspannt meinen gesamten
Zukunftshorizont, weil mein „ich kann” in seine mehr oder minder unbestimmten und
bestimmten Weiten hineinreicht. Mein Bestes ist, genauer gesprochen, bestimmt durch
meine Vergangenheit und Gegenwart, und meine Zukunft ist noch völlig ohne
Vorzeichnung.731
Der Horizont meines „Ich kann“ umreißt den Umkreis meiner möglichen
Entscheidungen732, aber im Rahmen dieses Horizonts spielt der Wille die Hauptrolle, da
„[d]ie entscheidendste Vorzeichnung [...] mein Wille [vollzieht]. Mein ganzes Leben
liegt ausgebreitet vor mir, und ausgebreitet vor mir liegt die um mich herum orientierte
Umwelt als meine Umwelt.“ 733 Der Zeitpunkt der ethischen Willensentscheidung wird
von Husserl oft als eine eigentliche Berufung aufgefasst, die den Moment der
wirklichen Entdeckung des eigenen menschlichen Wesens festlegt. In seinen
Vorlesungen über „Fichtes Menschheitsideal“ hebt er diese Dimension ethischer
Berufung hervor, wenn er bemerkt, dass dem sittlichen Menschen die „Glückseligkeit“
im Sinne des „Ziel[s] einer möglichst großen Summe des Genusses“ 734 nur ein als ein
„äffende[s] Trugideal“ erscheinen kann, weshalb er
frei [...] der aus seiner praktischen Vernunft ertönenden Stimme [folgt]: Handle nach
deiner Bestimmung! Nie kann dieses Leben in ethischer Freiheit sein Ende haben, wie die
wahre Philosophie lehrt, es entfaltet sich in einer Unendlichkeit von Aufgaben als ein
unendlich sie lösendes Handeln. Und darin findet der echte Mensch seine Seligkeit, es ist
die Seligkeit der sittlichen Autonomie in der Befreiung von aller sinnlichen Sklaverei.735
730
Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des
Personenbegriffs, 230.
731 Hua XXXVII, 252.
732 Hierzu führt Husserl aus: „Vor dem wirklichen und eigentlichen Handeln und seiner wirklichen
Erzielung liegt also sozusagen als ein Apriori, als Evidenz im voraus (vor der Tat) diejenige unseres SoKönnens. Diese Evidenz, die der subjektiven Möglichkeit, der Echtheit, der Vernünftigkeit, von beidem in
eins, von Ziel und Weg, versichert“ (Hua XXIX, 375).
733 Hua XXXVII, 252.
734 Hua XXV, 279.
735 Hua XXV, 280 (Meine Hervorhebung).
188
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Der Kern der ethischen Erneuerung besteht gerade in dieser inneren Stimme, die den
Menschen auffordert, nach seiner ihm eigentümlichen vernünftigen Natur zu leben. Luft
gibt zu dieser Thematik eine interessante Anregung, wenn er schreibt:
Wie folge ich dem Ruf aber, nachdem er erhört ist? Den Ruf zu erhören, mein innerstes
Wesen zu erfahren ist, Husserl zufolge, die Bedingung der Möglichkeit für
Selbsterneuerung. Doch wie geht das konkret vor sich? Die Selbsterneuerung durch
„ethische Epoché“ [...] kreiert ja nicht ein neues Selbst [...]: Indem das Subjekt die
Berufung erfährt, wird dieses auch explizit zu dem, was sie implizit schon war. 736
Die innere Stimme appelliert an jenes zuvor schon genannte Streben nach
Befriedigung, das den Menschen bereits im naiven und alltäglichen Leben bestimmt
und vorantreibt, im Alltag jedoch, ohne dass dies bewusst geschieht, zu einem
tatsächlich wirksamen Erneuerungsträger wird. Die ethische Willensentscheidung, d.h.
das ethische fiat, markiert die Übergangsstelle von einer impliziten zu einer expliziten
Suche nach einer Lebensveränderung. Aus diesem Grund legt Husserl ein beträchtliches
Gewicht auf die Selbstbesinnung, da „[d]ie Frage der Selbstbesinnung, die das Ich an
sich selbst stellt, die [ist], worauf es in diesem ganzen Leben als einem Ganzen des
Strebens und im einzelnen sich tätig Verwirklichens hinauswill.“737 Die Möglichkeit der
Selbstbesinnung ist eine menschliche Eigentümlichkeit und „gehört zum Grundwesen
des Menschen – das Wort Mensch so verstanden, wie es im tätigen Leben immer
verstanden wird: als Person, die sich selbst anspricht als Ich.“738 Nur wenn ein Mensch
eine echte Selbstbesinnung durchlebt, kann er sein angeborenes Telos entdecken und
736
Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des
Personenbegriffs, 230.
Hierzu schreibt Strasser: „The movement in question is an ,evolution’ in the primitive sense of the
Latin ,e-volvere’; that is, it is a continual process of successive disengagements. It is a question of a
constant transition from the implicit to the explicit, from that which is hidden to the manifest state, from
that which is unconscious to the conscious state“ (Strasser, Stephan: History, Teleology and God in the
Philosophy of Husserl, in: Analecta Husserliana, IX, „The Teleologies in Husserlian Phenomenology. The
irreducible Element in Man”, Dordrecht 1979, 322).
737 Hua VI, 485.
738 Hua VI, 485 (Meine Hervorhebung).
Hierzu hebt Hoyos Vásquez hervor: „Die Freiheit als Wesenseigentümlichkeit der Person gründet also in
der teleologischen Einheit des Ich. Die Vermöglichkeit zwischen dem praktischen ,ich könnte’ und
dem ,ich kann oder ich kann es nicht tun’ der freien Entscheidung zu unterscheiden, gehört als
Selbstbesinnung zum Grundwesen des Menschen. Selbstbesinnung ist nicht bloße vergegenständlichende
Beschreibung meines retenierten Ich. Sie stellt vielmehr eine eigenartige Antizipation dar“ (Hoyos
Vàsquez, Intentionalität als Verantwortung. Geschichtsteleologie und Teleologie der Intentionalität bei
Husserl, 147).
189
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
eine willentliche neue Selbstbestimmung verwirklichen. Das Gesollte deckt sich also in
diesem Fall mit dem wirklichen Inhalt des Willens, wie Husserl deutlich herausstellt:
„Was ich da erwirken kann, das unterliegt meiner Überlegung, und das Beste von dem,
was ich überhaupt für jetzt und für meine ganze Zukunft kann dazu erwirken, das ist
mein, dieses Individuums, Gesolltes.“ 739 Der kategorische Imperativ, den Husserl schon
in seiner früheren formalen Ethik unter dem Eindruck Brentanos formuliert hatte,
wandelt sich jetzt in einen Aufruf zu einer ethischen Erneuerung und zum Inhalt der
Aufforderung der inneren Stimme.740 Husserl fährt fort:
Aber darauf kommt es an, dass ich mir das sage, dass ich es erkenne, dass ich einen
universalen Normwillen stifte, der ein für alle Mal diesen kategorischen Imperativ vor mir
aufrichtet: Tue von nun ab und ohne Wanken das Beste, dein Bestes für immerdar, ergreife
es in normgerechter Erkenntnis und wolle es in normbewusstem Willen. Also darauf kommt
es an, darauf, dass nicht naiv, zufällig, ohne Normgewissheit, sondern eben im strengsten
Sinn nach bestem Wissen und Gewissen das Beste erwählt und getan ist, und dass dieses
„nach bestem Wissen und Gewissen“ aus dem einen, das ethische Leben ein für alle Mal
stiftenden Willen hervorgegangen und zum habituell leitenden kategorischen Imperativ des
ganzen Lebens geworden ist. 741
Durch die selbstbestimmte Willensentscheidung wird daher der kategorische
Imperativ zur Struktur und zum Kern des menschlichen Lebens, das nicht mehr die
Form eines naiven Strebens nach Befriedigung, sondern einer selbstbewussten
Zustimmung zum Besten annimmt. Donohoe hebt diesbezüglich hervor: „The very
process of becoming human, then, is an ethical process. Vocation sets up for each
individual his absolute ought. This seemingly relative interpretation of the best possible
life is demanded absolutely of the subject and becomes thereby an absolute
imperative.“ 742 Dadurch wird der kategorische Imperativ zu einem Habitus des Ich:
„Der den Modus des persönlichen Seins in Form der Selbstregierung urstiftende Wille
739
Hua XXXVII, 252-253.
Hierzu schreibt Fröhlich: „Im Sinne eines kategorischen Imperativs ist gefordert (gesollt), das Gut
dieser Wahl eines höchsten Guts innerhalb des praktischen (und material bestimmten) Bereichs auch zu
realisieren. Diese Realisierung und ihre Bewertung ist dabei keineswegs mehr Gegenstand einer formalen
Gesetzlichkeit. Hier richtet sich der Wille unmittelbar auf Reales und damit auch auf
Gegebenes“ (Fröhlich, Günter: Form und Wert, Würzburg 2011, 330).
741 Hua XXXVII, 253.
742 Donohoe, Husserl on Ethics and Intersubjectivity. From Static to Genetic Phenomenology, 131.
740
190
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
wird habituell.“ 743 In jeder willentlichen Stellungnahme ist das Ich sowohl Subjekt als
auch Objekt des Aktes. Jede Entscheidung prägt daher die Persönlichkeit und sie
motiviert und stiftet – wie die Analyse des zweiten Kapitels ausführlich gezeigt hat –
eine neue bleibende Eigenheit des Ich. Jeder Stellungnahme eignet eine gewisse
Irreversibilität, und das betrifft in besonderem Maße die Willensentscheidung als
persönliche Antwort auf die ethische Berufung „Handle nach deiner Bestimmung!“
Denn „wenn erst einmal dieses neue Selbst (wie auch immer) entdeckt ist, gibt es kein
Zurück, ähnlich einer religiösen Konversion: Man kann den ,alten Adam’ nie wieder
rück-konstituieren.“ 744
Die dringende Notwendigkeit einer ethischen Erneuerung führt Husserl zu keinem
unbestimmten ethischen Aufruf, sondern zur Freilegung jener einzigen Lebensform, die
dieses Lebensideal verkörpern kann. Es handelt sich um die Philosophie: Nur sie kann
das angeborene Telos der Menschheit auf sich nehmen.
§ 5. Die Phänomenologie als die höchste ethische Willensentscheidung
5.1 Die universale ethische Epoché
Die notwendige Voraussetzung für jede ethische Erneuerung ist eine radikale
Selbstbesinnung, wie im vorangegangenen Abschnitt herausgestellt wurde. Aber etwas
muss noch bestimmt werden, weil die vorherigen Überlegungen noch nicht genau
gezeigt haben, dass nach Husserl die echte und höchste Form von Selbstbesinnung einer
bestimmten Stellungnahme entspricht, derjenigen des Philosophen nämlich, die durch
die phänomenologische Epoché sich verwirklicht. Nur wenn die ethische Rolle der
phänomenologischen Reduktion berücksichtigt wird, kann man das echte ethische Ideal
Husserls ergreifen. Es handelt sich dabei um ein Ideal, das in der Gestalt des
Phänomenologen gipfelt, was im Folgenden näher erläutert werden soll.
Im Laufe dieser Arbeit sind der Husserlsche Begriff des Willens und seine innere
Komplexität mehrfach ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt worden. Der Mensch
743
Hua VI, 485.
Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des
Personenbegriffs, 231.
744
191
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
wird beständig von einer Willensspannung belebt und das Wollen bekundet sich in
verschiedenen Modi, die sich in immer neuen Verflechtungen mit triebmäßigen
Strebungen zeigen: Aus diesem Grund ist es möglich, dass Husserl auch von
Willenspassivität und Geiger von einem unerlebten Wollen spricht, da ein beständiger
Willenszug dem aktiv willentlichen fiat vorangeht. Aber Husserl zufolge bildet die
phänomenologische Epoché jenen echten willentlichen Entschluss, der den Höhepunkt
der menschlichen Aktivität und den höchsten Ausdruck seiner Freiheit darstellt. Die
Epoché entspricht nämlich einer „totalen Interessenwendung, durchgeführt in einer
neuen, durch einen besonderen Willensentschluß gestifteten Konsequenz.“ 745 Eine
Passage aus dem zweiten Teil der Vorlesungen 1923/24 über die Erste Philosophie hebt
deutlich den willentlichen Charakter der Epoché hervor:
Die Reflexion ist ursprünglich eine solche im Willen. Das Subjekt faßt ja, indem es sich
zum philosophischen Subjekt bestimmt, einen auf sein gesamtes künftiges Erkenntnisleben
gerichteten Willensentschluß. Es will von nun ab nicht mehr überhaupt und irgendwie
erkennen, nicht so – ob vorwissenschaftlich oder wissenschaftlich – wie bisher, sondern
willentlich bestimmt es sich als immerfort nur absolut gerechtfertigte Erkenntnis, und eine
systematische, universale, eine Philosophie Wollenden. Aus diesem reflektiven Willen
entspringen die Besinnungen über den Sinn dieses Zieles und die Möglichkeiten seiner
Verwirklichung.746
Der anfängliche Akt der Reflexion besteht daher in einem Willensentschluss, den das
Subjekt frei fasst, wenn es beschließt, sich selbst vom Nebel der Unklarheit zu
befreien.747 Dieser tiefe Sinn der phänomenologischen Reduktion lässt sie in einem
neuen Licht erscheinen. Die mehrfache Betonung der absoluten Notwendigkeit dieser
Methode durch Husserl, um zum Feld der reinen transzendentalen Subjektivität zu
gelangen, hat nämlich oft den Vorwurf der Abstraktion auf sich gezogen. Allein ein
solcher Vorwurf macht deutlich, dass die ursprüngliche Motivation der
phänomenologischen Epoché nicht begriffen wurde: Die Epoché ist von einem
745
Hua VI, 147-148.
Hua VIII, 6-7.
747 Hierzu schreibt Enzo Paci: „L’uomo, che vive nell’oscurità che lo circonda e che lotta con essa,
deve ,rivelarsi’ a se stesso. Con l’esercizio fenomenologico l’uomo si scopre come un essere che è tale in
quanto è chiamato ad una vita posta sotto il segno dell’evidenza, dell’apoditticità, della presenza“ (Paci,
Tempo e verità nella fenomenologia di Husserl, 163).
746
192
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
lebendigen ethischen Bedürfnis motiviert, und zwar der „Weisheitsliebe“.748 Als Dorion
Cairns Husserl daraufhin ansprach, dass viele Menschen von brennenden existentiellen
Fragen umgetrieben werden und deshalb annehmen, dass die phänomenologische
Reduktion doch einen eher abstrakten und vom Leben weitab liegenden Weg darstelle,
antwortete ihm Husserl, dass ein solches Vorurteil auf einem Missverständnis beruhe:
„They must see, however, that the long road of phenomenology is the only one that can
lead to real answers to such problems. Up to the time of the war he was, he agreed,
theoretisch eingestellt <set in theoretical attitude>, but since that time ,existential’
problems have been of primary interest to him too.“ 749 Husserl stellt die inneren Motive
der Epoché deutlich heraus:
Auch hier kann die Freiheit einer die Wirksamkeit dieser personalen „Tradition“
stillhaltenden Epoché einsetzen und die auf Verdeutlichung und Klärung gerichtete, die
rechtfertigende Besinnung. [...] Ursprünglich liegt das Motiv für eine Besinnung in der
früheren, öfteren unliebsamen Erfahrung, die wir mit der passiven Übernahme der im
natürlichen Gang der Traditionalisierung erfolgenden Verunklärung und mit der
Sinnverwandlung gemacht haben, die das passive Walten der assoziativen Übertragung von
Ähnlichem auf Ähnliches in solchen Fällen mit sich führt – wo die Ähnlichkeit nicht durch
den ursprungsechten Sinn, sondern durch den in Unklarheit getrübten bestimmt ist. Der
Anfang ist hier, nämlich im Aufspringen der Motivation zum Einsatz verdeutlichender und
klärender Besinnung selbst nur eine passiv, instinktiv fungierende Motivation. Die passiv,
mehr oder minder unklar auftauchende Erinnerung an mißlingende Erzielungen motiviert
ein Stillhalten und Sichbesinnen. 750
In der„früheren, öfteren unliebsamen Erfahrung“ stützt sich deshalb die Motivation,
welche den Philosophen antreibt, darauf, eine neue und absolute Selbstbesinnung in
748
Hua VIII, 10.
„Soweit übernimmt also der anfangende Philosoph die Motivationen des Wissenschaftlers überhaupt, sie
leben in ihm nur fort, da er ja vordem schon Wissenschaftler war. Im Grunde genommen will er
überhaupt daran gar nichts ändern, er will als Philosoph gar nichts anderes sein denn Wissenschaftler,
aber freilich echter, radikal echter Wissenschaftler, und wie den Wissenschaftler sonst bewegt ihn die
Weisheitsliebe, nach der er sich nennt und die zunächst nichts anderes als wissenschaftliche
Wahrheitsliebe ist, in der Weise einer habituellen Hingabe an das im Wesen der Urteilssphäre
beschlossene Wertereich der Wahrheit. Auch er läßt sich also durch diese Wahrheitsliebe zu einer
bleibenden Lebensentscheidung bestimmen, die auf das Größte und Beste dieses Wahrheitsreiches
gerichtet ist, im Rahmen praktischer Möglichkeit“ (Hua VIII, 10, meine Hervorhebung).
749 Cairns, Conversations with Husserl und Fink, 60.
750 Hua XXIX, 376.
193
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Gang zu setzen: Es handelt sich um eine „existentielle“ Motivation, könnte man sagen,
obwohl Husserl dieses Adjektiv nie verwendet hätte.
Die Möglichkeit der Epoché gehört zum Horizont des menschlichen „Ich kann“ und
stellt zugleich den Gipfel der menschlichen Freiheit dar, die ihn radikal vom Tier
unterscheidet. Denn nur der Person eignet „das Vermögen universaler Vorbetrachtung
der in unendliche Horizonte hineinzuzeichenden Möglichkeiten, Vermögen freier
Zurückhaltung aller ,Stellungnahme’, das ist aller Auswirkung der herrschenden
Stufungen transzendenter Zwecke, einer universalen Erwägung ihrer Werte und der
Ordnung des in sie hineinwirkenden bestmöglichen Lebens und einer ihm gemäß mit
besten Gütern ausgestatteten Umwelt.“751 Die Selbstbesinnung besteht in einer „Tat der
Freiheit“752 und immer radikaleren Stufen der Besinnung entspricht eine immer tiefere
Freiheit, wie Husserl im Folgenden bemerkt, indem er eine Art Gliederung von
fortlaufenden Stufen der Freiheit vornimmt:
[...] haben wir fürs erste das freie „Ich kann” jener Epoché, die für die Besinnung als
Vorbesinnung vorausgesetzt ist. Zweitens deren Leistung – im Fall vollkommen
einsichtiger Durchführung –. Oder die freie Tat der Verdeutlichung und Klärung besteht
darin, daß sie im voraus evident macht das Tun-Können. Das Tun ist dann vorgegeben,
antizipiert in der Form der evidenten Vor-Habe. Als drittes haben wir die Freiheit der
Ausführung, das ist das aufgrund der Evidenz der Vorhabe frei erfolgende ,Handeln’ (im
gewöhnlichen Sinne eben als ausführendes Tun). Dies ist das Tun selbst, das in seinem
Verlauf den Endcharakter der Habe von jener Vorhabe besitzt. 753
Für das Verständnis des Wesens der phänomenologischen Methode ist nun der
Zusammenhang zwischen menschlicher Freiheit und Epoché von größter Wichtigkeit,
da das Außer-Geltung-Setzen des positionalen Weltglaubens Husserl zufolge keine bloß
751
Hua XXVII, 99.
Francesco Saverio Trincia betont die zentrale Rolle der freien und schöpferischen Selbstbestimmung in
der Husserlschen Ethik und schreibt hierzu: „Not only what we are going to do in the future is in itself the
result of a creative process, but also what we have already done has been created by us, and we can
therefore speak of a ‚creative past’. If an ethical order can be given and must be obeyed, any action has to
have a ‚starting point with thefirst fiat which gives the first original creative impulse’ (Hua XXVIII, 110).
To the starting point corresponds, in the structure of acting described by Husserl in the ,phenomenology
of the will’, the ‚final point, which has the feature of the ‚it is done’’ (Hua XXVIII, 110). The process of
action springs (entquillt) from the continuity that binds any will to the will that comes after. The entire
process of action has the shape of the ‚creation peculiar to the will’ (Hua XXVIII, 111)“ (Trincia,
Francesco Saverio: The ethical imperative in Edmund Husserl, in: Husserl Studies 23/3 (2007), 177).
752 Hua XIX, 375.
753 Hua XIX, 375.
194
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
intellektualistische Vorstellung, sondern das Ergebnis eines motivierten und
persönlichen Willensentschlusses ist: „[I]ch kann mich auch in meiner Freiheit diesem
natürlichen Mitglauben der Reflexion versagen. Ich kann es so tun, daß ich mich rein
verhalte als ein an dem Dasein und Sosein des wahrgenommenen Hauses und an dem
Dasein der Welt überhaupt absolut uninteressierter Zuschauer.“ 754
Im zweiten Teil von Erste Philosophie wird eine weitere Vertiefung der Bestimmung
des ethischen Wesens der Epoché vorgenommen. Die phänomenologische
Einklammerung jeder naiven Geltung, die wir beständig „in voller Freiheit“ 755
vollziehen können, kann der Mensch auf sein eigenes Leben anwenden, wodurch sie die
Form einer eigentlich ethischen Epoché erhält. Tatsächlich gehören zu meinem
Möglichkeitshorizont ständig „verschiedene mögliche Reflexionen“ 756: Ich kann
tatsächlich jeweils Urteilsakte, Willensakte, Gefühlsakte, Begehrungsakte usw.
verwirklichen. Es gibt allerdings eine besondere Möglichkeit, in der ich „auch
entsprechende Entschlüsse fassen [kann], welche die ganzen Lebensstrecken
betreffen.“ 757 Husserl nennt hierzu einige klare Beispiele: „[I]ch kann die kommenden
Ferien einer Willensregel unterwerfen, sie nach meinen Zwecken zu gestalten; ich kann
auch in gewisser Weise Lebensstrecken der Vergangenheit zum Willensthema machen,
wie wenn ich eine Kritik meines Lebens in der Studentenzeit übe.“ 758 Der Horizont
meiner Kritik kann sich außerdem von meinem Leben als Student zu meinem gesamten
Leben erweitern: In diesem Fall handelt es sich um „eine universale Kritik meines
ganzen bisherigen Lebens“ und „in eins damit mein[es] ganze[n] künftige[n]
Leben[s]“ 759: Das Ergebnis dessen ist der Zugang „zu einer merkwürdigen, auf
754
Hua VIII, 92.
Hua III/1, 65.
756 Hua VIII, 154.
757 Hua VIII, 154.
In den Kaizo-Artikeln betont Husserl, dass die Möglichkeit des „Wollen[s] in den Formen des
Überhaupt“ (Hua XXVII, 24) den Unterschied zwischen Mensch und Tier markiert. Er schreibt hierzu:
„Das ,bloße Tier’ mag z.B. unter gewissen Umständen immer wieder in gleicher Weise tun, aber es hat
nicht den Willen in der Form der Allgemeinheit. Es kennt nicht, was der Mensch in den Worten
ausspricht: ,Ich will überhaupt, und wo immer ich derartige Umstände vorfinde, so handeln, weil mir
derartige Güter überhaupt wert sind“ (Hua XXVII, 25).
758 Hua VIII, 154.
759 Hua VIII, 154.
755
195
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
universale Überschau des Lebens bezogenen reflektiven Selbstregelung.“ 760
Die
ethische universale Epoché stellt also die Voraussetzung jener willentlichen
Stellungnahme dar, die „in eine umfassende universale Willensregelung eingeht.“ 761 In
einer diese Passage betreffenden Note gibt Husserl genauer an, dass die ethische Epoché
nicht mit der phänomenologischen transzendentalen Epoché zu verwechseln ist, da „die
ethische Epoché eine ganz andere Universalität [...] als die phänomenologische [hat].
Sie betrifft alle und jede Geltung, die in personalen Akten meines bisherigen Lebens ins
Spiel gesetzt war. Aber das sagt nicht: alle Geltung überhaupt, die in mir ihren Ursprung
hat. Z.B. die Seinsgeltung der Welt ist nicht betroffen.“762 Husserl erkennt deswegen an,
dass der Begriff von ethischer Epoché noch überhaupt „genau zu bestimmen“ 763 ist,
aber ohne Zweifel erfüllt die Universalität einer solchen das ganze Leben
umspannenden Epoché das Husserlsche Erfordernis einer absoluten ethischen Berufung
des Menschen. Das ethische Leben ist ein Leben in der radikalsten Selbstbesinnung, da
nur diese die Grundlage einer echten Erneuerung darstellen kann. Vor der
Selbstbesinnung lebt der Mensch einfach eine beständige und blinde Willensspannung,
die ihn jeweils zu bloß momentanen Zielen oder Interessenlagen führt. Hierzu schreibt
Melle:
On a somewhat higher level it is life in the tradition, the naive taking over of unquestioned
validities. However, the human person is capable of becoming distanced from all pregiveness; and is capable of universal critique and self-critique. The person can draw
together the totality of previous life, and can draw together from this totality the
conclusions for future life. The person can come to the insight, that the first life was neither
satisfactory nor good, and choose for a new life. The person can make a decision that
encompasses one’s entire future life.764
760
Hua VIII, 154.
Noor betont deutlich in seinem Artikel, dass nach Husserl die Möglichkeit einer universalen Selbstkritik
des Lebens die Eigentümlichkeit der Person bildet: „Le thème des valeurs absolues personnelles est
étroitement lié à la conception de la réflexion l’,universale ethische epoché’. Cette ,universale Kritik’
s’effectue dans la vue d’ensemble de la vie du sujet dans sa dimension aussi bine passée qu’à venir. Cette
vue critique met l’ensemble de cette vie personnelle, à travers ses prises de position, hors jeu, afin de
découvrir son caractère spécifique“ (Noor, Individualité et volonté, 160).
761 Hua VIII, 155.
762 Hua VIII, 319.
763 Hua VIII, 319.
764 Melle, The development of Husserl’s ethics, 125.
196
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Durch diese ethische Selbstbesinnung und reflektive Überschau seines ganzen
Lebens gewinnt das Ich „die Möglichkeit freier, selbsteigener Evidenz nach Ziel und
Methode. Sein Wille entkräftet die Tradition, und nun hat es die Möglichkeit einer
radikalen, freien Kritik und Entscheidung.“ 765 Wenn der Mensch sich entscheidet, die
absolute reflektive Selbstregelung zu vollziehen, erfährt er eine Befreiung von der
Sklaverei der Instinkte und entdeckt sein echtes und eigentliches Wesen. Das eigentliche
Ichleben
bleibt dem naiv seinen Interessen Hingegebenen völlig verborgen. Es bleibt das für uns,
solange als wir nicht die totale Einstellungsänderung vollziehen lernen [...]. In ihr sehen wir
erst das vordem in der alltäglichen Lebensnaivität nie Gesehene, das unser eigentliches
personales Ichsein als Sein in personal intendierenden, in personalen Akten bleibendes Sein
stiftendes Leben ausmacht. 766
Aus diesem Grund kann Husserl die ethische Epoché sogar mit dem bekannten
delphischen Spruch „Erkenne dich selbst!“ vergleichen, wenn er in den Pariser
Vorträgen bemerkt, dass „der notwendige Weg zu einer im höchsten Sinne
letztbegründeten Erkenntnis, oder, was einerlei ist, einer philosophischen, [...] der einer
‚universalen Selbsterkenntnis’“ führt. Er fügt erläuternd hinzu: „Das delphische Wort:
γνϖθι σεαυτòν hat eine neue Bedeutung gewonnen. Positive Wissenschaft ist
Wissenschaft in der Weltverlorenheit. Man muß erst die Welt durch Epoché verlieren,
um sie in universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen.“767 Wie die delphischen
Worte die Einladung waren, einen endgültigen Schritt zu verwirklichen, den man nicht
mehr rückgängig machen kann, so gibt auch die phänomenologische totale
Einstellungsänderung den Anstoß für einen neuen und unumkehrbaren Weg. Husserl
unterteilt daher die Menschen gemäß der ethischen Selbstbesinnung:
So haben wir für das personale Dasein zwei menschliche Stufen, die des Menschen, der
noch nicht im vollen Sinn Person ist, sofern er noch nicht die letzte Selbstbesinnung
vollzogen und in sich die Urstiftung der Selbstregierung vollzogen hat, und die des
765
Hua XXIX, 402.
Hua XXIX, 371.
767 Hua I, 39.
766
197
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Menschen, der das schon vollzogen hat. Selbstbesinnung bleibt die ständige Funktion des
zum vollen Menschen Werdens und das volle Menschentum Verwirklichens.768
Die Form der höchsten Verwirklichung des vollen Menschentums ist die des
Philosophen, da „die durch diesen Entschluß gestiftete habituelle Lebensform des
werdenden Philosophen“ 769 das Erkenntnisleben darstellt und sich „in vollkommener
und steter Selbstverantwortung“ 770 verwirklicht.
5.2 Die radikale Lebensentscheidung des Phänomenologen:
Ein Leben absoluter Berufung
In den Kaizo-Artikeln stellt Husserl heraus, dass „Erneuerung des Menschen – des
Einzelmenschen und einer vergemeinschafteten Menschheit – […] das oberste Thema
aller Ethik“ ist.771 Die Möglichkeitsbedingung einer Erneuerung liegt in der beständig
möglichen Selbstbestimmung, die jeder Mensch aus sich selbst heraus üben kann.
Gemäß dieser Voraussetzung ist Husserl interessiert an „a priori verschieden[en],
spezifisch menschliche[n] Lebensformen bzw. personale[n] Menschentypen, die uns zur
obersten Wertform des ethischen Menschen emporleiten und in ihr kulminieren.“ 772 Wie
Melle feststellt, „it is this individual ethical projekt which is the deepest ground of
personal identity and individuality. Every person has an individual ethical idea, its own
true ,I’, and the realization of this ,ego’, this ,I’ is the vocation of every person.“ 773 Je
nach dem allgemeinen Lebensziel, das jedermann für sein eigenes Leben wählt, gibt es
verschiedene Lebensformen bzw. eine ihnen entsprechende „Regelforderung“774, so
dass „eine Gesinnung unbedingter Hingabe an gewertete Ziele, entsprungen aus der
768
Hua VI, 486.
Hua VIII, 7.
770 Hua VIII, 7.
771 Hua XXVII, 20.
772 Hua XXVII, 26.
Irene Angela Bianchi schreibt zu diesem Themenkomplex: „La scelta etica della professione è per Husserl
basata su questa missione personale. La professione che una persona sceglie corrisponderebbe alla
missione individuale. Questo dovere professionale è l’autentico compito della mia vita e dà alla mia vita
un obiettivo razionale che abbraccia un’unità teleologica“ (Bianchi, Irene Angela: Etica husserliana,
Studio sui manoscritti inediti degli anni 1920-1934, Mailand 1999, 268).
773 Melle, The development of Husserl’s ethics, 131.
774 Hua XXVII, 27.
769
198
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Unbedingtheit ihres Begehrens, zum Prinzip einer Lebensregelung wird.“ 775 Die
Mannigfaltigkeit der Lebensformen hängt damit zusammen, dass – in den Worten von
Orth – die „Freiheit und Kritikfähigkeit in einer Kultur mehr oder weniger ausdrücklich
und in durchaus differenzierten Gestalten zur Geltung kommen“ 776 kann. Husserl geht
in diesem Zusammenhang darauf ein, dass „auch z.B. Reichtum, Ehre, Macht, Ruhm
den Charakter eines persönlichen Endzweckes haben und Formen eines sogenannten
Berufslebens bestimmen [können].“ 777 Da die Freiheit beständig am Werk ist, gibt es
auch Fälle einer irrationalen Hingabe, wenn z.B. eine „blinde Verliebtheit“ 778, der Ruhm
oder das Geld die einzigen Lebensziele bilden. Was Husserl hier hervorheben will, ist –
kurz gesagt – die strukturelle Dynamik, die jedem menschlichen Leben eignet, nach der
jedermann sich selbst einem angeblichen oder wahren Guten widmet. Die mehr oder
weniger bewusste Stellungnahme weist immer eine gewisse Unumkehrbarkeit auf, wie
Husserl hier klar bemerkt:
Allgemeine Züge, zur Einheit einer allgemeinen geistigen Form sich verbindend, finden wir
freilich in gleicher Weise wiederkehrend, wo immer in gewöhnlichem oder höherem Sinn
von Beruf die Rede ist. Z.B. wer sich für den kaufmännischen Beruf entscheidet, es darin
möglichst weit, zu größtmöglichem Reichtum, zu Macht, zu Ansehen zu bringen,
entscheidet sich auch [...] innerlich in der Form des Ein-für-allemal. 779
In den zahllosen Arten von Lebensformen hebt sich allerdings ein besonderer Fall ab,
und zwar „der einer Entscheidung für ein Berufsleben in einem prägnanten und höheren
Sinn“ 780: Husserl schlägt hierzu verschiedene Beispiele vor: „So ist die Kunst für den
e c h t e n K ü n s t l e r, d i e Wi s s e n s c h a f t f ü r d e n e c h t e n Wi s s e n s c h a f t l e r
775
Hua XXVII, 28.
Orth, Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls Ethos der Erneuerung in seinen
japanischen Kaizo-Artikeln, 343.
777 Hua VIII, 12.
In einem Manuskript von 1933 beschreibt Husserl mit diesen Wortern den Begriff des „Berufslebens”:
„Ein Berufsleben ist Leben in vielen Zwecken, die aber synthetisch einheitlich verbunden sind und derart,
daß das gesamte Leben als in diesem synthetischen Aufbau in besonderen Zwecken und Bestrebungen
selbst Einheit eines Lebenszweckes bedeutet und eines willentlichen Lebens überhaupt (eines das ganze
Leben umspannenden Lebenswillens), der auf diesen Lebenszweck geht: darauf geht in der ständigen
Form des Berufs als Lebenszweckes, immer neu im Einzelnen sich Ziele zu stellen und auf sie hin zu
leben, durch sie hindurch auf neu zu stellende Ziele gerichtet sein in neuen Erzielungen und so
immerfort“ (E III 6, 8).
778 Hua XXVII, 28.
779 Hua VIII, 12-23.
780 Hua XXVII, 28.
776
199
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
(den ,Philosophen’) ,Beruf’; sie ist das Gebiet geistiger Tätigkeiten und Leistungen, zu
dem er sich ,berufen’ weiß und so, daß nur die Schöpfung solcher Güter ihm
zu ,innerster’ und ,reinster’ Befriedigung gereicht, ihm mit jedem vollen Gelingen das
Bewußtsein der ,Seligkeit’ gewährt.“ 781 Die echte ethische Lebensform kann nur im
Kreis dieser verschiedenen Berufsleben verwirklicht werden, da hier das Ich „liebend
sich [den Werten] hingibt, sich mit ihnen in der schöpferischen Realisierung eint.“ 782
Wie Donohoe diesbezüglich unterstreicht: „It is only when we choose our vocation in
compliance with that love for a realm of value that we are following our professional
duty and claiming an authentical life. Such a love for a realm of value gives life an
encompassing, rational goal. In developing our habits and convictions in line with this
goal, we are realizing a true self.“ 783 Ein Berufsleben ist nach Husserl ein Leben, das
„sein Berufsziel [hat], das im ganzen durch das Leben des Berufsmenschen sich
hindurchziehenden Zusammenhang der Berufsbetätigungen den Charakter eines ein für
allemal erwählten Endzieles hat, dem alle Berufsbetätigungen zugeordnet sind.“ 784
Alle oben genannten zitierten Beispiele stellen Formen „universaler
Selbstregelung“785 dar, aber sie entsprechen auf keinen Fall voll den Kriterien des
absolut ethischen Lebens, da sie „zwar das gesamte Leben [umgreifen], aber doch nicht
so, daß sie jede Handlung bestimmend regeln, nicht jeder eine normative Gestalt
erteilen, die ihre Ursprungsquelle in dem allgemeinen, die Regel festsetzenden Willen
bemäße.”786 Solche Berufsleben wirken sich wieder „in einer gewissen Naivität“ 787 aus,
weil bei ihnen noch „die habituelle Intention auf eine Kritik der Ziele und ausführenden
Wege, sowohl was ihre Erreichbarkeit, ihre Zielangemessenheit und Gangbarkeit
781
Hua XXVII, 28.
Hua VIII, 13.
783 Donohoe, Husserl on Ethics and Intersubjectivity. From Static to Genetic Phenomenology, 130.
784 Hua VII, 317.
785 Hua XXVII, 28.
786 Hua XXVII, 29.
787 Hua XXVII, 30.
782
200
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
anlangt als auch ihre axiologische Gültigkeit, ihre werthafte Echtheit“788 fehlt. Einen
weiteren Schritt in der ethischen Selbstbestimmung bildet die
von derart peinlichen Entwertungen und Enttäuschungen ausgehende Motivation, die [...]
das Bedürfnis nach solcher Kritik und somit das spezifische Wahrheitsstreben bzw. das
Streben nach Bewährung, nach ,endgültiger’ Rechtfertigung durch einsichtige Begründung
motiviert. Ein solches Streben mag zunächst nur in einzelnen Fällen oder Klassen von
Fällen zutage treten und sich auswirken. Indessen, es bestehen hier wesensmäßige
Möglichkeiten für eine Motivation, welche in einem allgemeinen Streben nach einem
vollkommenen Leben überhaupt ausmünden, nämlich einem Leben, das in allen seinen
Betätigungen voll zu rechtfertigen wäre und eine reine, standhaltende Befriedigung
gewährleistete. 789
Welche Lebensform kann eine solche Vollkommenheit erreichen und daher das
höchste ethische Ideal verkörpern? Die Antwort darauf muss lauten: Das Leben des
Philosophen, dem „das Verantwortlichkeitsbewußtsein der Vernunft oder das ethische
Gewissen“ 790 gehört. Die Einzigartigkeit der Philosophie bekundet sich schon in ihrem
Anfang, weil die Philosophie – obschon jedes Berufsleben eine mehr oder weniger
bewusst stiftende Stellungnahme voraussetzt – nur dank dem höchsten und
selbstbewussten fiat anheben kann. Für den Wissenschaftler oder den Künstler entsteht
„diese Liebe und die ihr folgende persönliche Lebensentscheidung unvermerkt“ 791 und
„[d]ie eventuell später erfolgende ausdrückliche Berufswahl hat dann den Charakter
einer bloßen Bestätigung und zugleich ausdrücklichen Formung des ohnehin schon
natürlich erwachsenen habituellen Lebens- und Tatwillens.“792 Um in die Philosophie
einzutreten, muss das Ich in voller Freiheit sein fiat aussprechen und daher jenen
788
Hua XXVII, 30.
Hierzu schreibt Donn Welton: „Certainly, life-forms based on self-regulation (such as vocational goals)
are a step beyond ,animal naivety’ in that we freely choose and actively follow such goals. But it is
possible to be caught in a second naivety in which ,a critique of the goals and the paths we choose to
reach them is missing’. At first, critique may be concerned only with individual cases and maybe simply
preoccupied with questions of avoiding further pain or maximizing future pleasure. But there is also the
possibility that we will reach beyond particular goals and that critique will become part of a general
striving for a full and complete life, a life that can order and justify all its activities. As humans we have
the ability to ,overview’ our whole life, our possible activities, and their consequences“ (Welton, The
other Husserl. The Horizons of Transcendental Phenomenology, 315).
789 Hua XXVII, 30.
790 Hua XXVII, 32.
791 Hua VIII, 19.
792 Hua VIII, 19.
201
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Willensentschluss fassen, den die Phänomenologie als Epoché bezeichnet. Während
Künstler und Wissenschaftler ihre Berufungen sozusagen als vorgängig vorhanden
entdecken, steht es beim Philosophen „[g]anz anders. […] Er bedarf notwendig eines
eigenen, ihn als Philosophen überhaupt erst und ursprünglich schaffenden Entschlusses,
sozusagen einer Urstiftung, die ursprüngliche Selbstschöpfung ist. Niemand kann in die
Philosophie hineingeraten.“ 793 Die Willensentscheidung, welche dazu führt, in die
Philosophie einzutreten, stellt einen völlig selbstbewussten Schritt dar, und aus diesem
Grund bildet das Philosophieren eine einzigartige Lebensform, die von einem
eigentümlichen Verantwortungsbewusstsein bestimmt ist: Der Philosoph engagiert sich
mit höchster Gewissenhaftigkeit und bringt seine gesamte Existenz in eine unendliche
Aufgabe ein. Der Zusammenhang zwischen dem Wesen der philosophischen Praxis und
dem Willen wird von Husserl unaufhörlich unterstrichen: Die Philosophie entsteht
nämlich „aus einer durchgängigen höchsten und letzten Selbstbesinnung,
Selbstverständigung, Selbstverantwortung des Erkennenden für seine
Erkenntnisleistungen“794, und diese absolute Selbstbesinnung ist nach Husserl die
Bedingung für das willentliche fiat des anfangenden Philosophen795, das den wirklich
schöpferischen Akt der menschlichen Erneuerung bildet:
Die Reflexion ist ursprünglich eine solche im Willen. Das Subjekt faßt ja, indem es sich
zum philosophischen Subjekt bestimmt, einen auf sein gesamtes künftiges Erkenntnisleben
gerichteten Willensentschluß. Es will von nun an nicht mehr überhaupt und irgendwie
erkennen, [...] sondern willentlich bestimmt es sich als immerfort nur absolut
gerechtfertigte Erkenntnis, und eine systematische, universale, eine Philosophie
Wollenden. 796
Möglichkeitsbedingung der Philosophie ist es, die volle Verantwortung für das Ziel
auf sich zu nehmen sowie eine universale Schau und universale Kritik seines eigenen
bisherigen Lebens zu verwirklichen. „[D]as philosophierende Ich [muss] für sich selbst
zum Willensthema werden, um eine Philosophie erzielen zu können, so gilt es, aber erst
793
Hua VIII, 19.
Hua VIII, 3.
795 1937 betont Husserl nochmals: „Mich besinnen! Das ist schon ein neuer Anfang, sich in dieser
Situation besinnen ist die prinzipielle ,Möglichkeit’, die Philosophie in Frage zu stellen und nach ihren
Bedingungen zu fragen“ (Hua XXIX, 411).
796 Hua VIII; 9.
794
202
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
in weiterer Folge, daß es für sich selbst auch zu seinem ersten Erkenntnisthema werden
muß.“797
Wie Sophie Loidolt bemerkt, „[konstituiert sich d]as ethische Subjekt somit als frei
antwortendes“ 798: Das Leben des Philosophen erhebt sich also zum eigentlichen
menschlichen Leben in seiner Wahrheit, da nur der Philosoph dem ethischen Anspruch
gänzlich entspricht und in Einklang mit der menschlichen Berufung lebt:
Philosoph ist nur, wer sich der Philosophie weiht, wie nur der Künstler ist, der sich selbst
ganz und gar der Kunst weiht. Sich für Philosophie interessieren, gelegentlich über
Wahrheitsfragen nachdenken und selbst daran fortlaufend arbeiten, ist noch nicht Philosoph
sein [...]. Was da fehlt, ist der Radikalismus des Willens zum Letzten, der die Unendlichkeit
der reinen Idee und die Unendlichkeiten einer ganzen Ideenwelt vor Augen hat und sich nur
genugtun kann im Hinleben gegen die ewigen Pole, in welchem Hinleben und Sichschöpferisch-tätig-ausleben er sich selbst als ewiges Ich verwirklicht. 799
Philosoph-Sein ist nun keine gelegentliche Aktivität, sondern eine immer wieder
vollzogene Erneuerung des willentlichen fiat der Selbstbesinnung: Diese Stellungnahme
begründet ein bleibenden Habitus als „die durch diesen Entschluß gestiftete habituelle
Lebensform des werdenden Philosophen, so charakterisiert sie sich als die eines
Erkenntnislebens in vollkommener und steter Selbstverantwortung.“ 800 Es handelt sich
um eine neue Art des Willens und – allgemeiner – des Menschen. Vor diesem
Hintergrund kann Husserl sogar sagen, das philosophische Leben sei – ähnlich dem
Resultat einer religiösen Konversion – ein neues Leben:801
Und folge ich diesem Ruf, was tue ich anderes als mich, mich als endliches, als sinnliches,
unechtes, unwahres Ich verlieren, um mich selbst, mein echtes und wahres, mein
unendliches, vom Irdischen gereinigtes Ich zu gewinnen? So lebend, im Irdischen das
797
Hua VIII, 7.
Loidolt, Sophie: Husserl und das Faktum der praktischen Vernunft. Anstoß und Herausforderung einer
phänomenologischen Ethik der Person, in: Ierna, Carlo; Jacobs, Hanne; Mattens, Filip (Hrsg.):
Philosophy, Phenomenology, Sciences. Essays in Commemoration of Edmund Husserl, Dordrecht/
Heidelberg/London/New York 2010, 494.
799 Hua VIII, 17.
800 Hua VIII, 7-8.
801 Vargas Bejarano betont den Radikalismus der ethischen Entscheidung, die einen neuen Menschen
erschafft: „Die willentliche ,Sich-selbst-Veränderung’ in Bezug auf die echte Personalität ist so
entscheidend, dass das menschliche Leben sich in zwei Phasen einteilen kann, nämlich vor und nach der
ethischen Willensentscheidung. In dieser ganz und gar nicht alltäglichen Entscheidung kann das Subjekt
seine ,echte Personalität’ als Ziel entdecken. Es gelingt ihm, die verborgene Teleologie des Lebens zu
wecken“ (Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 326).
798
203
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Ewige, im Unreinen das Reine, im Endlichen das Unendliche herausahnend und in
unermüdlicher Liebestat als reine Schönheit verwirklichend, gewinne ich nicht bloß
„Glück“, sondern „Seligkeit“, nämlich jene reine Befriedigung, in der allein ich mich
befriedige; und eben damit verwirkliche ich mich selbst als den, der ich mich allein seiend
nennen kann im Geiste und der Wahrheit.802
Die Möglichkeitsbedingung des Erreichens einer solchen reinen Befriedigung ist
eine totale und beständige Selbstbesinnung: Wie Husserl nämlich mit einem starken
Ausdruck hervorhebt, kann „die Struktur des echt humanen Lebens als
ein ,Panmethodismus’“ 803
gekennzeichnet werden, und zwar „als ein Leben
der ,Methode’, [...] ein Leben in der Selbstzucht bzw. der Selbstkultur, der
Selbstregierung unter ständiger Selbstüberwachung.“ 804
Die Beschreibung der ethischen Rolle des Philosophen, seiner Eigentümlichkeiten,
seiner Aufgabe macht begreiflich, warum Husserl in der Krisis die Philosophen als
„Funktionäre der Menschheit“ bezeichnet. Er schreibt nämlich: „Die ganz persönliche
Verantwortung für unser eigenes wahrhaftes Sein als Philosophen in unserer
innerpersönlichen Berufenheit trägt zugleich in sich die Verantwortung für das wahre
Sein der Menschheit, das nur als Sein auf ein Telos hin ist und, wenn überhaupt, zur
Verwirklichung nur kommen kann durch Philosophie – durch uns, wenn wir im Ernste
Philosophen sind.“ 805 Solche Ausführungen bekräftigen mit Nachdruck, dass die
Lebensform des Philosophen der Form des echten Menschentums entspricht, weil er
echte willentliche Selbstbeherrschung der Instinkte, habituelle und bleibende
Selbstbesinnung, Selbstbewusstsein seines eigenen rationalen Wesens sowie
Verantwortung gegenüber dem in ihm lebendigen Telos und der Gesellschaft verkörpert.
802
Hua VIII, 16.
Hua XXVII, 39.
804 Hua XXVII, 38-39.
805 Hua VI, 15.
803
204
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
§ 6. Abschließende Betrachtungen: Der Vorrang des Willens
Die voranstehenden Betrachtungen verfolgten das Ziel, in der Husserlschen
Perspektive das Wesen der personalen Subjekte von intentionalen Erlebnissen zu
beleuchten. Es ist also an der Zeit, die Ergebnisse dieser Analyse zusammenzufassen.
„Das Ich-Sein ist beständiges Ich-Werden. Subjekte sind, indem sie sich immerfort
entwickeln“ 806, formuliert Husserl in seinen Vorlesungen über Ethik 1920-24. Diese
Behauptung schließt einen wesentlichen Kern der Husserlschen Auffassung der Person
ein, da sich für ihn die Person in der Entwicklung ihres eigenen Lebens herausbildet,
das – wie im Vorfeld hervorgehoben wurde – mit einem Wanderweg vergleichbar ist.
„Bewußtsein ist ein unaufhörliches Werden. [...] Es ist eine nie abbrechende
Geschichte“ 807: Im Laufe dieses werdenden Wanderweges entdeckt der Mensch
stufenweise seine Fähigkeiten, seine persönlichen Aufgaben und seine
Eigentümlichkeit, wie Husserl in den Ideen II ausführt:
Das Ich kann mehr sein und anderes als das Ich als apperzeptive Einheit. Es kann
verborgene Fähigkeiten (Dispositionen) haben, die noch nicht hervorgetreten sind [...].
Jemand „kennt“ sich nicht, „weiß“ nicht, was er ist; er lernt sich kennen. Beständig
erweitert sich die Selbsterfahrung, die Selbstapperzeption. Das „Sichkennenlernen“ ist eins
mit der Entwicklung der Selbstapperzeption, der Konstitution des „Selbst“, und diese
vollzieht sich in eins mit der Entwicklung des Subjektes selbst. 808
Dieses „Sichkennenlernen“ bekundet sich als ein unendlicher Vorgang, in dem das
„Selbst” sich konstituiert im Sinne eines immer mehr zunehmenden Selbstbewusstseins
seiner eigenen personalen Identität. Die schmerzhafte Erfahrung der Enttäuschung spielt
hierfür eine zentrale Rolle, da sie quasi eine Art von Schwindelgefühl darstellt, das die
Person immer wieder dazu motiviert, ihr wahres Selbst zu suchen. Es geht dabei um
sehr viel, nämlich um das eigentliche Wesen des eigenen Lebens: „Je mehr nun der
Mensch im Unendlichen lebt und bewußt die Möglichkeiten künftigen Lebens und
Wirkens überschaut, um so mehr hebt sich für ihn die offene Unendlichkeit möglicher
806
Hua XXXVII, 104 (Meine Hervorhebung).
Hua XI, 218-219.
808 Hua IV, 252.
807
205
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Enttäuschungen ab und erzeugt eine Unzufriedenheit, die schließlich – in Erkenntnis der
eigenen Wahlfreiheit und Freiheit der Vernunft – zur Unzufriedenheit mit sich selbst
und seinem Tun wird.“ 809
Was ist der Motor dieser entwickelnden Dynamik? Welche menschliche Fähigkeit
spielt die Hauptrolle in dem beständigen Ich-Werden? Ohne Zweifel ist dies der Wille:
Er stellt jene Kraft, jene lebendige Energie dar, die den Antrieb für jeden Schritt auf
dem Lebensweg ermöglicht. Man kann daher in der Husserlschen Auffassung des Ich
einen offenkundigen Vorrang der Willensfähigkeit vor allen anderen menschlichen
F ä h i g k e i t e n a u s m a c h e n , d a i m Wi l l e n d i e Vo r a u s s e t z u n g u n d d i e
Möglichkeitsbedingung auch der theoretischen Sphäre liegen. „Alles Wachleben ist
Willensleben, wir haben immer etwas vor, nicht nur neue Vorhaben, sondern immer
haben wir <auch> vor frühere Willensrichtungen, die noch nicht zur Realisierung
gekommen sind, weil es nicht ‚an der Zeit’ war.“ 810. Die willentliche Kraft motiviert
nämlich jene Stellungnahme der universalen ethischen Epoché, durch die das Leben
einen neuen Kurs einschlagen kann, der es von der Unzufriedenheit mit sich selbst
wegführt. Die jeden Akt begleitende Teleologie bekundet sich daher als ein „universaler
Voluntarismus“ 811, weil die Dimension des Willens vom beständigen Gerichtetsein auf
die Zukunft gekennzeichnet ist und sich gerade in diesem Gerichtetsein fortlaufend das
eigentliche Telos des Lebens verwirklicht. Vargas Bejarano kommentiert dies
folgendermaßen: „Die Teleologie besagt nicht eine von vornherein gegebene
Bestimmung des ,Lebensweges’, d.h. ihre Notwendigkeit gilt nicht unabhängig von den
Willensstellungnahmen des Subjektes, sondern sie entsteht und verwirklicht sich
aufgrund der Willensintentionalität und des Willensentschlusses.“ 812
Dieser Vorrang des Willens zieht eine wichtige Folge nach sich, nämlich das absolute
Vertrauen, das Husserl in die menschlichen Fähigkeit setzt, sein eigenes Leben frei und
809
Hua XXVII, 32.
Hua XXIX, 373.
811 Dorion Cairns berichtet von einer Konversation mit Husserl 1931: „Husserl said he has been working
on the carrying out of a universal voluntarism. He objects to regarding such classifications of acts as
Brentano’s as representing true fundamental distinctions. Every act as carried out by the ego is a decision,
a Bejahung, <affirmation> and there is furthermore a volitional aspect in the background phenomena of
the mind. There is a sort of Hintergrundsentscheidung <background decision>, which is not a full egodecision“ (Cairns, Conversations with Husserl und Fink, 61).
812 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 337.
810
206
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
vernünftig zu gestalten. Die Husserlsche Ethik ist somit von einem tief optimistischen
Rationalismus gekennzeichnet.813 In den Kaizo-Artikeln wird dieser Punkt deutlich
hervorgehoben, da Husserl hier konstatiert, dass der Mensch „Subjekt und zugleich
Objekt seines Strebens [ist], das ins Unendliche werdende Werk, dessen Werkmeister er
selbst ist.“ 814 Andererseits aber ist sich Husserl dessen bewusst, dass
[d]er Anfang jeder Selbstentwicklung [...] Unvollkommenheit [ist]. Vollkommenheit ist
zwar die konsequent leitende Zweckidee in der Entwicklung; aber der bloße Wille,
vollkommen zu werden, macht nicht mit einem Male die Vollkommenheit, deren
Realisierung an die notwendige Form eines endlosen Ringens, aber auch Erstarkens im
Ringen gebunden ist. Immerzu besteht dabei die Wesensmöglichkeit, daß der Mensch in ein
„sündhaftesƒ“ Weltleben hineingerät [...].815
Nun besteht immer die Gefahr eines sündhaftes Lebens, d.h. eines Lebens, das
„momentan oder in längeren Zeitstrecken, sich von ,äußeren Affektionen’ forttreiben
läßt und ,sich an die Welt verliert’.“816 Dieses ständige Risiko eines ethischen Falls ist
nach Husserl dem Menschen gleichsam angeboren, gehört immer schon zu ihm, denn
„ ,Es irrt der Mensch, solang er strebt’, also solang er Mensch ist. Wir würden darnach
das Irren jeder Art nicht nur als eine offene Wesensmöglichkeit, sondern auch [...] als
eine in jedem erdenklichen Menschenleben faktisch unvermeidliche Möglichkeit
ansehen.“ 817 Das Bild eines unfehlbaren Menschen, den Husserl als „paradiesischen
Menschen“ 818 bezeichnet, ist daher nur eine fiktive Situation, die nie zu einer wirklichen
Person passen kann. Mehr noch, der paradiesische Mensch wäre „[i]n seiner
reflexionslosen Naivität [...] nur ein durch blinde Instinkte an zufällig stabile
813
Hiroshi Goto merkt hierzu an: „Das Wesen der ethischen Person liegt in der höheren Habitualität des
höheren Willens, nämlich in der habitualisierten Gestalt der freien Stellungnahme durch Stellungnahme
(insbesondere Wollen von Wollen). Der Wille höherer Stufe muß sich einerseits gegen den immer
drohenden Verfall in die passive Habitualität selbst habitualisieren. Andererseits ermöglicht der habituelle
Wille höherer Stufe das unendliche Streben nach der ,Gottesidee’ als ,Limes’. Kurz: Die ethische
Lebensform ist kontinuierlich und diskontinuierlich zugleich“ (Goto, Der Begriff der Person in der
Phänomenologie Edmund Husserls: Ein Interpretationsversuch der Husserlschen Phänomenologie als
Ethik im Hinblick auf den Begriff der Habitualität, 148).
814 Hua XXVII, 37.
815 Hua XXVII, 38.
Hierzu betont Melle: „To be sure, the solemn decision to a new, ethical life does not guarantee its
realization. The decision must ever again be constantly revalidated in battle with the impulses“ (Melle,
The development of Husserl’s ethics, 126).
816 Hua XXVII, 38.
817 Hua XXVII, 34.
818 Hua XXVII, 34.
207
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Verhältnisse ideal angepaßtes Tier. Der Mensch aber ist kein bloßes [...] Tier. Es hat
[...] ,Selbstbewußtsein’.“819 Aufgrund seines wesenhaften Selbstbewusstseins, das den
Menschen durchgängig auszeichnet, kann er sich immer wieder willentlich seiner
personalen Eigentümlichkeit annehmen, seine beständige Irrtumsmöglichkeit
anzuerkennen und dadurch eine noch stärkere Selbstbeherrschung und
Selbstverantwortung ausüben. Die selbstbewusste und willentliche Rationalität ist daher
eine strukturelle Fähigkeit des Menschen und stellt ein Kampfmittel gegen jede
Irrationalität und jeden Rückfall in ein bloß instinktives Leben dar. Es gibt nun eine
„Gradualität der Vollkommenheit des Menschentums als solchen“, da
[j]e freier und klarer der Mensch sein gesamtes Leben überschaut, wertet und nach
praktischen Möglichkeiten überdenkt, je kritischer er die Lebenssumme zieht und für sein
gesamtes künftiges Leben des alles berücksichtigenden Ansatz macht; je entschlossener er
die erkannte Vernunftform des Lebens in seinen Willen aufnimmt und sie zum
unverbrüchlichen Gesetz seines Lebens macht: um so vollkommener ist er – als Mensch. 820
Husserl zeigt also ein standhaftes Vertrauen in die Kraft des menschlichen Willens
und in seine Möglichkeit, sich von der Sklaverei der Instinkte zu befreien. Damit
bekundet sich eine deutliche Priorität der Willens- und Vernunftssphäre vor der
Irrationalitätsdimension, obwohl die Beziehung zwischen diesen zwei Komponenten
sich als ein immerwährender Kampf erweist. Auf jeden Fall muss man konstatieren,
dass Husserl nie tiefgehend auf das Problem des Bösen und seine Implikationen in der
gesamten Auffassung des Ich eingegangen ist. Melle bemerkt hierzu:
[t]he most important philosophical foundation of Husserl’s post-war ethics is a rationalist
optimistic anthropology. According to Husserl, the individual person and the community of
persons are capable of a radically new beginning based on an autonomous rational will.
Self-esteem, self-cultivation, self-formation, self-determination, self-creation, selfdirection, self-regulation – are the concepts with which Husserl characterizes the essence of
ethical life.821
819
Hua XXVII, 34.
Hua XXVII, 35.
821 Melle, The development of Husserl’s ethics, 124.
820
208
Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden
Die Philosophie, und insbesondere die Phänomenologie, bildet also das echte
ethische Leben, weil in ihr der fortwährende selbstbewusste Willensvollzug der
menschlichen Selbstverantwortung geschieht: Der Phänomenologe besitzt ein „letztes
Selbstverständnis des Menschen als für sein eigenes menschliches Sein
verantwortlichen, sein Selbstverständnis als Sein im Berufensein zu einem Leben in der
Apodiktizität.“822 Wie die Analyse des zweiten Kapitels hervorgehoben hat, stiftet jede
willentliche Stellungnahme einen bleibenden und habituellen Willen, da sie einen
Horizont eröffnet, der zunächst ein neuer Horizont seiner selbst ist: Der
selbstbestimmende Charakter jedes Willensaktes hat die Eröffnung einer neuen
Bestimmung in der Identität der Person zur Folge. Das gilt ganz besonders für jene
höchste Willensentscheidung, welche die universale ethische Epoché verkörpert, weil es
die Ethik Husserls „immer zuläßt, daß Menschsein ein Teleologischsein und Sein-sollen
ist und diese Teleologie in allem und jedem ichlichen Tun und Vorhaben waltet, daß sie
in allem durch Selbstverständnis das apodiktische Telos erkennen kann.“ 823
822
823
Hua VI, 275.
Hua VI, 275.
209
Schluss
Am Ende dieser Überlegungen seien ein kurzer Rückblick und eine Betrachtung der
Ergebnisse der Analysen dargelegt.
Die Phänomenologie des Willens hat sich, dank Husserl, Pfänder und Geiger, im
ersten Kapitel als eine Untersuchung herausgestellt, die den inneren Kern der
menschlichen Erfahrung erfasst, da – mit den Worten Husserls – „[a]lles Wachleben [...]
Willensleben“ 824 ist und ständig von einer willentlichen Spannung begleitet wird. Der
Beitrag Pfänders hat die Eigentümlichkeit des echten Willensaktes hervorgehoben, seine
Kennzeichnungen dargelegt und sein Wesen als „ein eigentümliches Tun, in dem das
Ich-Zentrum aus sich selbst hinaus zentrifugal einen geistigen Schlag ausführt“ 825
anerkannt. Die Analysen Pfänders liegen der Husserlschen Phänomenologie des Willens
zugrunde und bilden für Husserl ohne Zweifel einen Bezugspunkt, doch geht dieser
noch einen Schritt über Pfänder hinaus, indem er die Komplexität des Phänomens des
Wollens mit einbezieht und mithin dessen Nuancen nicht einebnet. Zielerfassung,
bewusste Selbstbestimmung sowie echte Stellungnahme stellen nur einen temporären
Höhepunkt des weiten und vielschichtigen Willensphänomens dar, welches sich als ein
das gesamte Ichleben umfassendes Phänomen zeigt.
Pfänder strebt nun die Anerkennung der Freitätigkeit des Ich im Vergleich zur
mechanischen Kausalität der Naturphänomene an, aber seine Position verbirgt die
Kehrseite einer dualistischen Auffassung der Geistigkeit, denn sie impliziert, dass der
aktiven und der passiven „Partien der Seele“ 826 zwei verschiedene kausale Ordnungen –
die Motivationsgesetzlichkeit und die Naturkausalität – entsprechen. Husserl hingegen
übersteigt diesen Dualismus: Seine umfassendere Auffassung des Begriffs der
Motivation schmälert keineswegs die wesentlichen Abweichungen zwischen aktiver
Willenssphäre und passiver Sphäre der Triebe und unwillkürlicher Assoziationen,
sondern erkennt in diesen Dimensionen ein und dieselbe Motivationsgesetzlichkeit, die
sich jedoch nach zwei verschiedenen Modi manifestiert, nämlich nach dem rationalen/
824
Hua XXIX, 373.
Pfänder, Motive und Motivation, 135.
826 Pfänder, Motive und Motivation, 146.
825
210
Schluss
aktiven und dem irrationalen/passiven Modus. Die Motivation umfasst das gesamte
Reich der Geistigkeit und seiner Erfahrung, da sie dem Bereich der Verständlichkeit und
des Sinnes entspricht. Sowohl die rationalen als auch die passiven und irrationalen
Motivationen stellen also eine Weil-Ordnung dar, die mit der Frage nach dem Warum
und nicht mit dem mechanischen Reiz-Reaktions-Modell zu tun hat.
Genau aus dieser Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit der gesamten Struktur der
Erfahrung besteht die Grundlage der Husserlschen Phänomenologie des Unbewussten,
die im zweiten Kapitel ausführlich betrachtet worden ist. Wenn die gesamte Erfahrung
eine motivationale Struktur besitzt, besteht eine strenge Verbindung, welche die aktive
und die passive Sphäre vereinigt, da beide Sphären nach Sinneszusammenhängen
strukturiert sind. Obwohl also das unaufhörliche Werden des Bewusstseinslebens
sowohl ein beständiges Versinken der Erlebnisse in das Reich der Vergessenheiten als
auch eine zunehmende Modifikation der affektiven Kraft impliziert, geht nach Husserl
nichts spurlos verloren: Alles, was vom Ich erlebt wurde, neigt nun dazu, zu verbleiben.
Aus diesem Grund kann jeder Akt in Bezug auf seine verborgenen Motivationen und
Sinneszusammenhänge befragt werden und in dieser Hinsicht weist die Husserlsche
Phänomenologie des Unbewussten eindeutige Berührungspunkte mit dem Freudschen
psychoanalytischen Ansatz auf: Die Möglichkeitsbedingung der psychoanalytischen
Methode ist ja gerade die Behauptung, dass auch die scheinbar unwesentlichen
Erscheinungen des Bewusstseinslebens einen verborgenen Sinn besitzen. Wenn eine
Phänomenologie des Unbewussten möglich sein soll, kann demnach das Unbewusste
nicht etwas ganz anderes als das Bewusstsein sein, sondern muss im Gegenteil etwas
darstellen, das mit dem Bewusstsein und seinen Sinneszusammenhängen strukturell zu
tun hat, wie Fink klar hervorhebt. Vordergrund und Hintergrund des Bewusstseinslebens
verflechten sich beständig und jede aktive Stellungnahme oder Entscheidung schließt in
sich die Geschichte von vergangenem und verbleibendem Erwerben. Die bleibenden
Meinungen als Niederschläge im reinen Ich stellen daher die Wesensgesetzmäßigkeit
der Konstitution des Ich, seiner transzendentalen Habitualitäten und seiner persönlichen
Identität dar und drücken die „Art Konsequenz des Ich“827 aus. Jede willentliche
827
Hua IV, 113.
211
Schluss
Entscheidung stiftet eine neue, bleibende Eigenheit, die stufenweise an der Konstitution
der Geschichte des Ich und sowie an der Prägung seiner ethischen Persönlichkeit
mitwirkt.
Die Ergebnisse dieser ersten beiden Teile der Arbeit haben dann im dritten Kapitel
ihre ethische Kehrseite offenbart – besser gesagt, sie haben ihre ethische Voraussetzung
enthüllt: Diese besteht im Vorrang der Willensfähigkeit vor allen anderen menschlichen
Fähigkeiten. Ungeachtet ihrer vielfältigen Redigierungen bekräftigen die ethischen
Überlegungen Husserls beständig die Möglichkeit der willentlichen Selbstbestimmung
und ethischen Selbsterneuerung des Menschen: Immer wieder kann, nach Husserl, der
Mensch eine echte und wertvolle Willensentscheidung treffen, die seinem eigentümlich
rationalen Wesen entspricht. Obgleich rationale und irrationale Motivationen sich
beständig als miteinander verflochten offenbaren, und obwohl darüber hinaus jede
aktive Stellungnahme in gewissem Sinn die Kette der vorangehenden Motivationen in
sich einschließt, ist es die wesentliche Möglichkeit des durch Assoziationssynthese
stattfindenden Weckens versunkener, verborgener oder scheinbar irrationaler Erlebnisse
und folglich die Möglichkeit, die Dimension der Irrationalität wieder im Auge der
Vernunft zu behalten, welche den menschlichen Horizont beherrscht. Ein
Aufgerichtetsein auf das telos der idealen Rationalität regt das Leben des Ich an und
kommt zum echten Ausdruck in der höchsten Willensstellungnahme der Philosophie
bzw. der Phänomenologie, denn eine solche Stellungnahme lässt zu, sowohl dass die
Verständlichkeit der Motivationsgesetzlichkeit der Erfahrung und das angeborene telos
enthüllt werden als auch dass der Mensch sich dieses telos bewusst werden kann. Wie
Husserl in den Vorlesungen Einleitung in die Philosophie von 1922/23 betont: „Das
Eigentümliche der Phänomenologie und der phänomenologischen Philosophie ist
extremster Radikalismus der Wahrhaftigkeit oder extremster Radikalismus in der
Durchführung des Willens zu einer Erkenntnis aus vollkommen gutem Gewissen, in
weiterer Folge zu einem Werten und Wollen aus vollkommen gutem Gewissen.“ 828
828
Hua XXXV, 288.
212
Zusammenfassung auf Italienisch
VOLONTÀ, INCONSCIO, MOTIVAZIONE:
L’ORIZZONTE ETICO
DELLA CONCEZIONE HUSSERLIANA DELL’IO
INDICE
PRIMO CAPITOLO
FENOMENOLOGIA DELLA VOLONTÀ E DELLA MOTIVAZIONE
1. Introduzione: la volontà da un punto di vista fenomenologico
2. Alexander Pfänder
2.1 L’incontro e la collaborazione con Husserl
2.2 Una differenza fondamentale: il ruolo della riduzione fenomenologica
3. La fenomenologia della volontà: un confronto tra Husserl e Pfänder
3.1 Pfänder: il colpo spirituale dell’atto volontario
3.2 Husserl: la fenomenologia del volere
3.2.1 Il rapporto di fondazione tra atti obiettivanti e non-obiettivanti
a) Il sorgere del problema nelle Ricerche logiche
b) Sviluppo della concezione husserliana in Idee I e nei corsi sull’etica e
sulla dottrina dei valori del 1908-1914
3.2.2 La complessità del fenomeno della volontà e le sue modalizzazioni
3.2.3 Moritz Geiger: il volere non vissuto
3.2.4 Il carattere peculiare della volontà in Husserl
4. La motivazione come legge fondamentale del mondo spirituale
4.1 L’analisi pfänderiana della motivazione
4.2 La motivazione nella fenomenologia di Husserl
4.2.1 La motivazione come connessione di senso dell’esperienza
4.2.2 La motivazione passiva: pulsione e associazione
214
SECONDO CAPITOLO
IL RUOLO DELLE SEDIMENTAZIONI PASSIVE E DELLE ABITUDINI
TRASCENDENTALI NELLA COSTITUZIONE DELL’IO
1. Introduzione: l’enigma dell’inconscio
2. Il fenomeno di decorso e l’orizzonte infinito della coscienza interna del tempo
2.1 L’”ora” dell’impressione originaria
2.2 La “coda di cometa” delle ritenzioni e la rimemorazione
2.3 La protenzione
3. L’inconscio come “regno delle cose dimenticate e apparentemente ridotte ad un
nulla”
3.1 Le sedimentazioni di atti non più attuali
Le modificazioni ritenzionali e l’inabissarsi di ogni contenuto di coscienza
Fenomenologia dell’inconscio come fenomenologia delle sedimentazioni
inabissatesi
3.2 L’operatività di ciò che è nascosto
3.3 Husserl e Freud: due prospettive sull’inconscio
3.4 La possibilità del ridestamento
4. Le opinioni intenzionali permanenti e le abitualità trascendentali
5. La costituzione del carattere permanente e della personalità
215
TERZO CAPITOLO
L’ORIZZONTE ETICO DELLA CONCEZIONE HUSSERLIANA DELL’IO:
IL VOLONTARIO DIVENIRE-IO
1. Introduzione: il problema etico come nucleo della fenomenologia di Husserl
2. L’implicazione etica della legalità motivazionale
3. La prima etica di Husserl: il parallelismo tra logica formale ed etica formale
4. L’etica del dopoguerra: rinnovamento e responsabilità
5. La fenomenologia come decisione etica suprema
5.1 L’epoché etica universale
5.2 La radicale decisione di vita del fenomenologo: la vita come vocazione
assoluta
6. Considerazioni conclusive: il primato della volontà
216
Zusammenfassung auf Italienisch
Primo capitolo
Fenomenologia della volontà e della motivazione
1. Introduzione: la volontà da una prospettiva fenomenologica
Nel primo capitolo del mio lavoro ho posto al centro dell’indagine il tema della
volontà e della motivazione. Questi due ambiti possiedono un ruolo fondamentale
all’interno della fenomenologia di Husserl, come dimostrano le numerose pagine che il
filosofo vi ha dedicato: a partire dalle Ricerche logiche in avanti, Husserl, allo scopo di
comprendere e descrivere l’essenza degli atti volontari, non ha mai smesso di cimentarsi
in analisi tanto di carattere statico quanto genetico.
La volontà possiede agli occhi di Husserl una caratteristica che la distingue da ogni
altra dimensione dell’agire umano: essa, infatti, non può essere considerata come una
facoltà che si collochi semplicemente accanto ad altre. Essa è piuttosto una dimensione
trasversale che accompagna ogni istante della vita dell’io, poiché, in un certo qual
modo, sottesa ad ogni suo atto. Il tema della volontà coinvolge altri importanti
interrogativi tra loro connessi, come quello che riguarda il rapporto tra la sfera
volontaria e quella involontaria o la natura degli istinti e delle pulsioni. Esso introduce
inoltre un altro grande ambito d’indagine fenomenologica, vale a dire il tema della
“motivazione”, sfera che Husserl definisce «la legge della vita spirituale»829.
Trattare il tema della volontà implica non solo la presa in esame di quegli elementi
che hanno eminentemente a che fare con la dimensione volitiva – come la decisione, la
presa di posizione, la messa in azione – ma anche tutti quei livelli della vita dell’io che,
sebbene non possano essere considerati prettamente “volontari”, non possono nemmeno
essere immediatamente esclusi da questa sfera: conseguenza di una simile esclusione
sarebbe l’indebito impoverimento della ricchezza e della complessità soggettiva. Siamo
829
Husserl, Edmund: Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro
secondo, Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, tr. it. di V. Costa, Einaudi, Torino 2002, p. 223
(Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch,
Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Bd. IV, a cura di M. Biemel, Martinus Nijhoff,
Den Haag, 1952).
217
Zusammenfassung auf Italienisch
condotti come si vede, partendo dalla fenomenologia degli atti propriamente volontari,
al dominio delle tensioni volitive preconscie, dei desideri, degli istinti.
L’originalità della fenomenologia husserliana della volontà, colta in questo suo
interesse per le diverse modalizzazioni del volere, trova un importante interlocutore
nella figura di Alexander Pfänder. A tal proposito ho scelto di strutturare entrambe le
sezioni di questo capitolo come un confronto tra le posizioni dei due filosofi. Tale
trattazione comparativa ha delle rilevanti ragioni di natura tanto storiografica quanto
teoretica.
2. Alexander Pfänder
Pfänder, allievo di Theodor Lipps, è stato l’interlocutore privilegiato dell’Husserl del
primo decennio del ‘900 ed il suo indiscusso punto di riferimento per ciò che concerne
il tema del mio lavoro. Testimonianza di questa intensa collaborazione sono il fitto
scambio epistolare, le numerose note che Husserl ha posto a margine delle sue personali
copie delle opere di Pfänder e la cospicua mole del cosiddetto Pfänder-Konvolut, vale a
dire l’insieme dei manoscritti husserliani che da Husserl stesso sono stati segnalati come
relativi alle posizioni di Pfänder o semplicemente ai temi da lui trattati.
Dopo aver brevemente ricostruito la figura di Pfänder, il suo percorso filosofico e la
vicenda della sua collaborazione diretta con Husserl, mi sono soffermata a mostrare il
ruolo e il valore che Pfänder attribuisce alla fenomenologia. Egli, insieme a quegli exallievi di Lipps che si uniscono nell’Akademisch Psychologischer Verein, aderisce alla
proposta husserliana delle Ricerche logiche. La pubblicazione delle Logische
Untersuchungen fu decisiva per Pfänder e per gli altri appartenenti al circolo: essi infatti
videro nell’opera di Husserl il tentativo più compiuto di quella psicologia descrittiva
che puntava a superare le ristrette categorie della psicologia di stampo fisiologisticomaterialistico e che costituiva già lo scopo del lavoro di Lipps e del Verein. Ciò che,
tuttavia, Pfänder non condividerà mai dell’impostazione husserliana – che nel corso
degli anni viene maturando fino alla cosiddetta “svolta trascendentale” – è il ruolo e la
natura della riduzione trascendentale. In questo primo capitolo una tale premessa
218
Zusammenfassung auf Italienisch
metodologica ha lo scopo di dare rilievo a una differenza che non riguarda solo
l’impostazione preliminare ma anche e soprattutto gli esiti a cui giungeranno le analisi
dei due filosofi inerenti alla volontà e alla motivazione.
3. La fenomenologia della volontà: un confronto tra Husserl e Pfänder
Per quanto riguarda la fenomenologia del volere pfänderiana due testi in particolare
fungono da punto di riferimento imprescindibile: Phänomenologie des Wollens 830 e
Motive und Motivation831. Essi, infatti, oltre a essere testi su cui Husserl ha
intensamente lavorato, offrono spunti teoretici utili a far emergere i numerosi nodi
problematici di una fenomenologia della dimensione volontaria e pratica della vita
dell’io. Essendo Pfänder rappresentante di una concezione classica delle caratteristiche
peculiari degli atti volontari, entrare nel merito delle sue analisi offre il grande
vantaggio di aiutare a mettere in risalto la concezione husserliana, la quale mostra,
invece, tratti di grande originalità e di messa in questione dell’ovvio.
Pfänder, sulla scorta di Lipps, distingue tra un volere in senso largo e un volere in
senso stretto: il primo abbraccia tutta la sfera dello Streben, vale a dire della tensione
volitiva, delle pulsioni, dei desideri; solo il secondo può, tuttavia, essere chiamato
propriamente “volere”. Affinché si possa parlare di atto volontario in senso stretto
secondo Pfänder è necessario che siano presenti, certo, la coscienza progettuale
(Projektbewusstsein) e l’opinione volontaria (Willensmeinung), ma anche la coscienza
del dovere (Sollensbewusstsein), eventualmente manifestantesi come esplicito
riconoscimento ed espressa approvazione (Anerkennung e Billigung)832 . Condizione
imprescindibile affinché si realizzi un atto volontario è la coscienza della possibilità di
realizzazione di ciò che si possiede come obiettivo. Gli elementi fin qui elencati,
tuttavia, pur essendo necessariamente compresenti nell’atto volontario, mancano ancora
del vero e proprio presupposto pratico. Questo viene infatti a costituire il tratto peculiare
830
Pfänder, Alexander: Phänomenologie des Wollens. Eine psychologische Analyse, Barth, Leipzig 1900.
Pfänder, Alexander: Motivi e motivazione, in: La persona: tra apparenza e realtà. Testi fenomenologici
1911-1933, a cura di R. De Monticelli, Cortina, Milano 2000 (Motive und Motivation, in:
Phänomenologie des Wollens. Motive und Motivation, Barth, München 1963).
832 Cfr. Ivi, p. 15.
831
219
Zusammenfassung auf Italienisch
della volontà: il “colpo spirituale” (geistiger Schlag833 ) sferrato dall’io a partire dal
proprio centro e diretto con moto centrifugale verso l’oggetto. Attraverso tale immagine
Pfänder vuole sottolineare il carattere di assoluta libertà della volontà, la sua spontaneità
e il suo potere decisionale: la volontà, nell’orizzonte delle sue analisi, si staglia come
quella dimensione che obbliga ad un ripensamento degli schemi della psicologia
fisiologistica perché essa incarna una libertà che rompe ogni meccanismo. L’io tuttavia
non è solo il soggetto realizzatore dell’atto volontario, bensì ne rappresenta, al
contempo, l’oggetto. Il prendere posizione volontario possiede un carattere di
autodeterminazione che distingue il soggetto umano da ogni altro essere vivente, in
quanto solo l’uomo può decidere di plasmare se stesso, la propria vita e il proprio
mondo-ambiente.
Quando, invece, prendiamo in esame gli altri fenomeni appartenenti alla sfera del
volere in senso largo – ossia il bramare, il desiderare, il tendere – scopriamo come in
essi, secondo Pfänder, si agiti una dinamica del tutto differente: queste tendenze sono
infatti cieche e non hanno trovato la loro origine nella libera mossa dell’io. Al contrario,
esse tentano di usurparne la libertà lottando tra loro e dirigendosi centripetamente verso
il nucleo centrale dell’ego. Pfänder arriva quindi a distinguere tra due sfere della
soggettività, l’Ich-Zentrum e l’Ich-Leib: mentre da un lato abbiamo la sede della
volontà, dall’altro incontriamo, invece, la dimensione in cui si agitano le tendenze
cieche e pulsionali.
L’analisi pfänderiana apre alcuni quesiti che nella sua opera tuttavia non sembrano
trovare risposta. Domandiamoci, infatti, se osservando la nostra esperienza, possiamo
sempre distinguere in modo così netto tra ciò che è volontario e ciò che non lo è o lo è
solo parzialmente. Le nostre azioni quotidiane non sono forse costantemente
accompagnate da atti che noi definiremmo volontari, nonostante non sia presente una
netta coscienza dello scopo oppure non venga sferrato un “colpo spirituale”? Husserl
offre a questo proposito un contributo interessante.
Per entrare nel cuore della fenomenologia husserliana del volere ho inizialmente
preso in esame la problematica del rapporto tra gli atti obiettivanti e quelli non833
Cfr. Ivi, pp. 24-25.
220
Zusammenfassung auf Italienisch
obiettivanti così come emerge a partire dalle Ricerche logiche e poi nel primo volume
delle Idee e nei corsi sull’etica del 1908-1914, la cui comprensione risulta
imprescindibile per la trattazione del tema degli atti volontari. Nelle Ricerche Logiche
Husserl, sulla scia della classificazione brentaniana dei fenomeni psichici, sostiene che
ogni vissuto intenzionale si connota per la sua essenza di atto obiettivante o ha un un
atto obiettivante come proprio fondamento. Un atto si mostra come obiettivante quando
possiede carattere posizionale: obiettivanti sono dunque percezioni, giudizi,
rimemorazioni e, più in generale, tutti gli atti che hanno come correlato intenzionale un
oggetto o uno stato di cose. Non-obiettivanti sono invece gli atti assiologici, pratici
(volere, desiderare etc.): essi sono atti complessi che necessitano di un atto obiettivante
come fondamento, il quale fornisca loro un’oggettualità di riferimento. Nella cornice
delle Ricerche Logiche gli atti volitivi mantengono dunque il carattere di una strutturale
dipendenza dagli atti obiettivanti, sebbene già in questo testo Husserl non manchi di
rilevare il carattere problematico di tale rapporto di fondazione sollevando l’ipotesi del
riconoscimento di uno specifico carattere intenzionale anche agli atti non-obiettivanti.
Proprio l’approfondimento della specifica intenzionalità degli atti volitivi e pratici
condurrà Husserl – nel primo volume delle Idee e nei corsi sull’etica del 1908-1914 – a
un ripensamento del rapporto di fondazione tra atti obiettivanti e non-obiettivanti e a un
più deciso riconoscimento della specificità del carattere intenzionale degli atti pratici,
sebbene non venga mai meno l’attribuzione di un privilegio agli atti dossici, come
sottolinea lo stesso Husserl nei corsi sull’etica, quando afferma che senza la ragion
logica «la ragion valutativa e quella pratica sono, per così dire, mute e in un certo senso
cieche»834.
Dopo aver approfondito tale aspetto ho tentato di rispondere alle domande emerse a
partire dal confronto con i testi di Pfänder. Husserl, così come Pfänder, sottolinea a più
riprese come la peculiarità dell’atto volontario sia rappresentata dalla capacità
decisionale, dall’assoluta libertà, dalla possibilità di autodeterminazione dell’io.
834
Husserl, Edmund: Lineamenti di etica formale, Le Lettere, Firenze 2002, p. 85 (Vorlesungen über
Ethik und Wertlehre, 1908-1914, Bd. XXVIII, a cura di U. Melle, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht
– Boston 1988).
221
Zusammenfassung auf Italienisch
Sintetizzando tutte queste caratteristiche nell’espressione “fiat”, già utilizzata da
James 835, il filosofo tende a un parallelo sinonimico con il geistiger Schlag pfänderiano.
Non si può, però, parlare di una sinonimia totale; esiste, infatti, un punto in cui le
posizioni dei due filosofi si discostano. Esso trova luogo nel riconoscimento che
Husserl, a differenza di Pfänder, opera nei confronti delle numerose modalizzazioni del
fenomeno del volere. Scrive, infatti, Husserl nel secondo volume delle Idee: «Prima
della volontà implicante la tesi attiva del “fiat” viene l’agire come agire istintivo, per
esempio l’involontario “io mi muovo”, l’involontario “prendo” i miei sigari, desidero
fumarne uno e lo faccio “senz’altro”, tutte cose, certo, che non si possono facilmente
distinguere dal caso della volontà in senso stretto»836. Il manoscritto A VI 3/5-7, che
appartiene al suddetto Pfänder-Konvolut, è, in questo senso, un testo ricchissimo di
spunti, da momento che qui Husserl muove a Pfänder la critica esplicita di non aver
preso in esame le infinite modalità di intrecci intenzionali attraverso cui la volontà può
manifestarsi.
Al fine di esemplificare la complessità inaggirabile propria della dimensione volitiva,
ho scelto di coinvolgere un altro dei primi fenomenologi provenienti dalla scuola di
Lipps, Moritz Geiger. Questi nel testo Frammento sul concetto di inconscio e sulla
realtà psichica 837 si cimenta nella dimostrazione dell’esistenza di un “volere non
vissuto” (unerlebtes Wollen), espressione volutamente ossimorica che tuttavia cattura
tutta una serie di fenomeni quotidianamente esperiti da ciascuno. Geiger propone questo
esempio:
Poniamo il caso che si voglia scrivere una lettera: questo fatto ha inizio (come ogni volere)
con una posizione di volontà: ci si decide a scrivere la lettera. Ma non si continua a
decidersi. E tuttavia, una volta che la decisione è presa, non per questo si cessa di volere: il
volere dura molto di più [...]. Si continua a voler scrivere la lettera, mentre si va a prendere
la carta, mentre si cerca nell’agenda l’indirizzo del destinatario della lettera, mentre si
835
Cfr. James, William: Principles of Psychology, Henry Holt and Co., New York 1890, p. 522.
Husserl: Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo,
Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 259.
837 Geiger, Moritz: Frammento sul concetto di inconscio e sulla realtà psichica, in: La persona: tra
apparenza e realtà. Testi fenomenologici 1911-1933, a cura di R. De Monticelli, Cortina, Milano 2000
(Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, Max Niemeyer, Halle 1930).
836
222
Zusammenfassung auf Italienisch
sistema l’inchiostro, mentre si intinge il pennino e si scrive. Nel mentre in cui si compiono
questi atti di sostegno, subordinati al volere, si continua sempre a voler scrivere.838
Geiger, sulla base di una nuova posizione di fronte ai fenomeni psichici che egli
denomina realismo immanente839, combatte quella che viene da lui identificata come
“psicologia dei vissuti”, vale a dire quella scienza psicologica che tende a identificare la
psiche con una serie di vissuti che si manifestano in modo puntuale. La volontà
dimostra la non attendibilità di una simile concezione poiché questa dimensione della
vita dello spirito non può essere confinata solo e unicamente al momento espressamente
“vissuto”, al momento della scelta o della presa di posizione, in quanto queste ultime
sono come le punte di un iceberg abissalmente più profondo e ricco di sfumature e
strati. Il contributo di Geiger aiuta a mettere in luce la problematicità della dimensione
volontaria e la non banale scelta teoretica husserliana attenta, da un lato, a non livellare i
gradi della tensione volitiva, dall’altro a non venir meno nel sottolineare il carattere di
autodeterminazione e di libertà dell’atto volontario vero e proprio (aspetto che emerge
chiaramente nelle lezioni sull’etica raccolte nel XXVIII volume dell’Husserliana, ed in
particolare nella sezione dedicata alla fenomenologia della volontà).
4. La motivazione come legge fondamentale del mondo spirituale
La sezione dedicata alla volontà introduce il tema della motivazione, poiché
quest’ultima ne rappresenta la condizione essenziale. Anche in questo caso ho scelto di
avvicinarmi alla concezione husserliana attraverso il confronto con le analisi
pfänderiane, le quali hanno assunto, per Husserl, il ruolo di imprescindibile punto di
partenza e di costante riferimento, in particolare per quell’indagine che mette a tema il
rapporto tra causalità naturale e legalità motivazionale.
Prima di entrare nel merito delle analisi pfänderiane e husserliane ho premesso una
breve introduzione al concetto di motivazione. Il termine “motivazione” si trovava,
infatti, già da tempo al centro del dibattito filosofico grazie alle riflessioni di Dilthey,
838
839
Ivi, pp. 132-133.
Ivi, p. 104.
223
Zusammenfassung auf Italienisch
Simmel, Lipps, ossia di tutti coloro che, sebbene con metodi e intenti differenti,
avevano voluto individuare la specificità delle connessioni della sfera spirituale rispetto
alla causalità meccanica della natura descritta dalle scienze naturali.
Motive und Motivation di Pfänder è interamente dedicato, appunto, al tema della
motivazione. Egli riserva il termine “motivazione” ad una classe molto limitata di
fenomeni psichici. Secondo il filosofo si può parlare di nesso motivazionale solo
quando sono contemporaneamente presenti i seguenti elementi: 1) la causazione
fenomenica dell’ascolto interiore delle esigenze; 2) la ricezione dell’esigenza, il suo
riconoscimento e l’approvazione; 3) il compimento dell’atto del volere e il suo
appoggio sul fondamento. 840 La precisione con cui Pfänder descrive le condizioni del
nesso motivazionale rispecchiano effettivamente l’uso quotidiano del termine
“motivazione”: noi parliamo di motivo o di motivazione riferendoci al “perché” di una
nostra azione volontaria, di una nostra decisione, di una scelta pienamente nostra. La
descrizione pfänderiana, tuttavia, può sembrare da subito una griglia troppo stretta:
secondo Edith Stein per esempio «la motivazione in senso pregnante, che viene
analizzata da Pfänder, non deve limitarsi all’autentico atto del volere, ma deve
estendersi all’intera sfera degli atti volontari»841. Quella che la Stein definisce “l’intera
sfera degli atti volontari” corrisponde a quella che Pfänder aveva identificato con la
sfera del “volere in senso largo”, vale a dire l’insieme delle tendenze, delle pulsioni. In
quest’ultima dimensione, secondo Pfänder, non vige la legalità motivazionale poiché
questo dominio non ha a che vedere con quello della presa di posizione attiva: le
tendenze agiscono, per Pfänder, con il dinamismo di una «costrizione della natura»842
(«Naturzwang») e non, invece, secondo i liberi nessi della motivazione spirituale.
L’esito a cui perviene Motive und Motivation, che pure aveva come scopo
l’individuazione di quella legalità spirituale che svincolasse il soggetto dai meccanismi
della causalità naturale, si struttura paradossalmente come un esito dualistico: l’essere
umano ne emerge come un essere la cui vita si svolge parallelamente organizzata
840
Pfänder, Motivi e Motivazione, pp. 24-25.
Stein, Edith: Psicologia e scienze dello spirito. Contributi per una fondazione filosofica, tr. it. di A. M.
Pezzella, Città nuova, Roma 1996, p. 92 (Beiträge zur philosophischen. Begründung der Psychologie und
der Geisteswissenschaften, Max Niemeyer, Tübingen 1970).
842 Pfänder, Motivi e Motivazione, p. 28.
841
224
Zusammenfassung auf Italienisch
secondo due dimensioni differenti, una volontaria e libera – dove vige la legalità
motivazionale –, l’altra pulsionale – dove gli istinti tentano di dominare
meccanicamente l’io.
A questo punto, lo sviluppo husserliano del tema della motivazione può stagliarsi in
tutta la sua originalità. Vediamo, appunto, come – in una famosa nota al testo di Idee I –
Husserl possa affermare che
questo fondamentale concetto fenomenologico della motivazione, che mi risultò nelle
Ricerche logiche dalla delimitazione della sfera puramente fenomenologica (in
contrapposizione al concetto della causalità relativa alla sfera della realtà trascendente), è
una generalizzazione di quel concetto di motivazione secondo cui possiamo dire, per
esempio del volere uno scopo, che esso motiva il volerne i mezzi. Del resto il concetto di
motivazione subisce, per motivi essenziali, diversi mutamenti, ma gli equivoci che essi
suscitano diventano innocui e appaiono addirittura necessari nella misura in cui le
situazioni fenomenologiche siano chiarite. 843
Mentre il significato che Pfänder attribuiva alla parola “motivazione” poteva, tutto
sommato, trovare un facile consenso poiché corrispondente all’accezione con la quale di
solito usiamo tale termine, le riflessioni husserliane sembrano a questo proposito quasi
anti-intuitive. Nella fenomenologia di Husserl la motivazione assume un significato
centrale proprio perché essa non riguarda più soltanto uno specifico ambito di fenomeni
(vale a dire quelli volontari o più in generale pratici), bensì diventa la struttura
dell’esperienza stessa, colta in qualsiasi suo aspetto. L’esperienza è per Husserl un
sistema motivazionale in quanto concepita come un sistema di connessioni e rimandi di
senso. Se prendiamo, per esempio, un atto percettivo ci rendiamo presto conto del fatto
che i lati percepiti “motivano” la co-percezione dei lati non direttamente percepiti; o
ancora, nell’atto del giudizio è la premessa A a motivare la conclusione B, e così via.
A questo punto si impone un importante quesito: se l’intero regno dell’esperienza si
rivela come motivazionale, – vale a dire strutturato in una trama di rimandi significativi
che motivano ciò che accadrà in virtù dell’appena stato – non significa, forse, che ci
843
Husserl, Edmund: Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro primo,
Introduzione generale alla fenomenologia pura, tr. it. di V. Costa, Einaudi, Torino 2002, p. 117 (Ideen zu
einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, Allgemeine Einführung
in die reine Phänomenologie, Bd. III/1, a cura di K. Schuhmann, Martinus Nijhoff, Den Haag 1976).
225
Zusammenfassung auf Italienisch
stiamo avvicinando a una concezione in cui l’esperienza potrebbe perdere ogni carattere
evenemenziale? Husserl risponde chiaramente a questa obiezione nelle pagine del
secondo volume delle Idee: «Quando diciamo che ogni vissuto di un atto è motivato e
sta in un intreccio di motivazioni, ciò non implica che ogni prendere di mira sia tale “in
conseguenza di”; [...] così quando nel cielo notturno vedo improvvisamente brillare un
meteorite, o quando sento d’un tratto schioccare un colpo di frusta»844. Il contenuto
dell’esperienza quindi possiede e mantiene il carattere dell’accadere, dell’avvenimento;
ciononostante non potremmo parlare a pieno titolo di “esperienza” se tale accadere non
fosse anch’esso sin da subito inserito nella legalità apriorica della motivazione. I dati
dell’esperienza, per quanto imprevisti ed imprevedibili, non si rivelano mai, infatti,
come del tutto caotici. In riferimento agli esempi da lui stesso portati, Husserl aggiunge:
«Eppure, anche qui si può dimostrare una specie di motivazione, che è inclusa nella
forma della coscienza interna del tempo. Questa forma è qualcosa di assolutamente
stabile: è la forma soggettiva dell’adesso, del prima, ecc. A questo non posso cambiare
nulla» 845. L’insistenza con cui Husserl sottolinea il carattere motivazionale
dell’esperienza ha come scopo principale quello di far risaltare la strutturale
Verständlichkeit dell’esperienza e della vita dello spirito: tutto in quest’ultima è
motivato, in quanto tutto ha un senso, tutto ha una genesi. Non si tratta però di una
genesi meccanica, bensì di senso, di comprensibilità.
Dopo aver messo a fuoco l’ampiezza dell’ambito della motivazione, che per Husserl
abbraccia l’esperienza stessa, torno a concentrarmi sulla dimensione pratica e volitiva,
la quale chiarificherà la decisività di quanto abbiamo detto sinora. Husserl infatti
individua due generi di motivazione: quella attivo-razionale e quella passivoirrazionale. Il primo genere focalizza quella che normalmente viene indicata come
motivazione e che già Pfänder aveva con precisione messo in luce. Il secondo ambito,
invece, arriva a includere nel cerchio della motivazione persino la vita pulsionale e
passiva dell’io. Mentre per Pfänder la zona oscura dell’ego, il dominio delle pulsioni,
delle tendenze, opera alla stregua di una Naturzwang, per Husserl, invece, anche in
844
Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo,
Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 230.
845 Ibidem.
226
Zusammenfassung auf Italienisch
queste dimensioni vige la legalità motivazionale. Sebbene Husserl non manchi di
ribadire la profonda differenza tra il livello attivo e quello passivo della vita dell’io, è
utile notare come egli sottolinei contemporaneamente che tale differenza non è sancita
dalla presenza di due ordini causali diversi (quello motivazionale e quello meccaniconaturale), bensì da due modalità diverse di connessione motivazionale.
Come è possibile, tuttavia, parlare di motivazione dove l’io non prende alcuna
decisione? Una dimensione passiva, dove la motivazione agisse senza il coinvolgimento
dell’io, rappresenterebbe una sfera soggettiva in cui l’io non potrebbe possedere alcuna
capacità decisionale, in quanto sottomesso a forze che tentano di dominarlo. Per
illustrare la risposta husserliana a questi quesiti, non si può prescindere dalla presenza
all’interno della vita egologica passiva di due componenti: gli istinti e le associazioni.
Per quanto riguarda il primo di questi due aspetti, gli istinti, Husserl afferma che una
pulsione o un vissuto di questo genere viene «motivato da uno sfondo oscuro, ha
“motivi psichici”, che si possono interrogare: come mi è venuta in mente questa cosa –
che cosa mi ha portato a ciò? Che queste domande siano possibili è un fatto che
caratterizza qualsiasi motivazione in generale»846. La possibilità tipicamente spirituale
di prendere coscienza ed eventualmente di sospendere una pulsione, si mostrano agli
occhi di Husserl nel loro valore di indici di una possibile comprensibilità e di un
indiscusso senso che attraversa la tensione pulsionale stessa. É possibile giungere a
questa conclusione anche attraverso un procedimento inverso: quando infatti io,
secondo volontà e coscienza, prendo una decisione razionalmente motivata, non posso
negare che, sicuramente, i motivi che mi hanno portato a ciò sono in gran parte quelli di
cui sono cosciente. É altrettanto vero, però, che l’interesse che mi conduce nella tal
direzione e la passione con cui mi accingo all’azione, sono allo stesso tempo motivati da
desideri o tensioni che, pur essendo passivi e inconsci, si mostrano anch’essi come
carichi di senso, direzionati più o meno confusamente ad uno scopo.
Le associazioni involontarie costituiscono l’altro grande ambito della motivazione
passiva. Mentre la psicologia tradizionale ha visto spesso nell’associazione una mera
forma di causalità obbiettiva, per Husserl essa costituisce un modo dell’intenzionalità.
846
Ivi, p. 226.
227
Zusammenfassung auf Italienisch
L’esperienza per Husserl è un intrecciarsi di nessi associativi, una catena inesauribile,
una trama di nessi perennemente intrecciati. Le nostre giornate sono ricchissime di
esempi di associazioni che operano passivamente: «Durante una conversazione ci viene
in mente uno splendido paesaggio marino. Se riflettiamo sui motivi per cui ci è venuto
in mente allora troviamo, per esempio, che una piega della conversazione ce ne ricorda
immediatamente una simile formulata l’estate scorsa al mare, in una festa»847. Nella
prospettiva di Pfänder queste associazioni non hanno nulla a che vedere con la
motivazione, poiché, all’interno di questa dimensione sono del tutto assenti sia il
geistiger Schlag che l’ascolto interiore delle esigenze. Husserl stesso, d’altronde, è ben
consapevole di proporre un’accezione impropria del termine usandolo tanto per la sfera
attiva quanto per quella passiva. Ciò che, tuttavia, per Husserl rimane come obiettivo è
la possibilità di sottolineare degli strutturali intrecci di senso che operano a qualsiasi
livello della vita dell’io, anche in quello meramente associativo:
Il fatto che “a” mi ricorda “b”, che una cartolina del duomo di Berlino mi ricorda il castello
di Berlino, non è un saltare semplicemente meccanico da un elemento vissuto a quello
precedente, ma un elemento è carico di un’intenzionalità che rinvia all’altro elemento, e,
senza qualcosa di simile, non capiremmo alcun segno né alcuna parola del discorso e così
via. Dico “non capiremmo”. Di fatto, senza qualcosa di questo genere, non capiremmo
proprio nulla, perché solo grazie alla coscienza c’è qualcosa da capire. 848
Il misconoscimento pfänderiano della legalità di senso in opera nella dimensione
passiva nasconde in sé lo stesso errore del naturalismo psicologistico, perché le leggi
associative vengono ad assumere lo stesso statuto e dinamismo delle leggi meccaniche
della fisica.
La concezione husserliana, quindi, supera quel dualismo di fondo che avevamo
rilevato nelle posizioni di Pfänder: attività e passività non appartengono più a due
mondi separati e retti da ordinamenti causali differenti, bensì si riscoprono come due
livelli diversi dell’unica vita dell’io, interamente attraversata da connessioni di senso e
847
Husserl, Edmund: Lezioni sulla sintesi passiva, Guerini, Milano 1993, p. 173 (Analysen zur passiven
Synthsis, Bd. XI, a cura di M. Fleischer, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966).
848 Husserl, Edmund: Introduzione all’etica, Laterza, Bari 2009, p. 176 (Einleitung in die Ethik.
Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, Bd. XXXVII, a cura di H. Peucker, Martinus Nijhoff, Den
Haag 2004).
228
Zusammenfassung auf Italienisch
comprensibilità. Tra questi due strati non c’è alcuna cesura, ma un graduale emergere
esplicito della ragione; proprio per questo Husserl può affermare: «Die passive
Motivation ist der Mutterboden der Vernunft»849 («La motivazione passiva è il terreno
fertile della ragione»).
849
Husserl, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, cit., p. 332.
229
Zusammenfassung auf Italienisch
Secondo capitolo
Il ruolo delle sedimentazioni passive
e delle abitudini trascendentali nella costituzione dell’io
1. Introduzione: l’enigma dell’inconscio
L’indagine che viene condotta nel secondo capitolo trova il suo nucleo nella
dimensione inconscia della vita dell’io. Il tema dell’inconscio sembra da parte sua
sottrarsi a un’analisi descrittiva; ma nonostante questa apparenza, Husserl non si esime
dall’affrontarne lo studio, secondo quella che definisce una «fenomenologia di questo
cosiddetto inconscio»850. L’indagine husserliana circa questa sfera del vivere, tuttavia,
non mira alle strutture empiriche o psicologiche, bensì a quelle trascendentali della
soggettività, accessibili grazie alla via genetica che la riduzione fenomenologica apre.
L’analisi intenzionale infatti ricostruisce da un punto di vista genetico la costituzione
dell’io e i suoi strati che passivamente si costruiscono ed operano. Al fine di valorizzare
la peculiarità dell’approccio fenomenologico alla dimensione inconscia, un confronto
con la psicanalisi freudiana, che metta in luce i punti di contatto e allo stesso tempo le
profonde differenze tra i due metodi, si rivela illuminante e fecondo.
Non è inutile porre qui alcune domande, che tendono il filo rosso del presente
percorso: quale effetto gli istinti e le associazioni passive sortiscono sulle azioni
pratiche e sulle decisioni? In che senso è possibile parlare di inconscio da un punto di
vista fenomenologico? Come è possibile parlare di abitudini trascendentali, quando la
categoria di abitudine di per sé sembra riguardare solo la dimensione empirica
dell’esistere? Per rispondere a queste domande è innanzitutto necessario comprendere la
dinamica trascendentale della coscienza del tempo: il flusso temporale rappresenta da
una parte la condizione di possibilità di qualsiasi costituzione, dall’altra la legalità che
regola l’inabissarsi progressivo dei vissuti nel «regno delle cose dimenticate e
apparentemente ridotte ad un nulla» 851.
850
851
Husserl, Lezioni sulla sintesi passiva, cit., p. 211.
Ivi, pp. 120-121.
230
Zusammenfassung auf Italienisch
2. Il fenomeno di decorso e l’orizzonte infinito
della coscienza interna del tempo
Come è stato mostrato nel primo capitolo, l’esperienza si costituisce nell’intreccio
motivazionale attivo e passivo di connessioni di senso e di orizzonti di attesa. Per questa
ragione, senza la sintesi passiva dell’associazione non vi sarebbe esperienza. La sintesi
motivazionale più originaria è quella della coscienza interna del tempo, ossia «la sintesi
che di continuo si realizza nella coscienza originaria del tempo»852, la quale consiste in
«un ambito formale universale, in una forma costituita sinteticamente, cui devono
partecipare tutte le altre possibili sintesi»853 . Nelle Lezioni sulla coscienza interna del
tempo Husserl opera una puntualizzazione: un’analisi fenomenologica della temporalità
implica innanzitutto una «messa fuori causa del tempo obbiettivo»854 , detto anche
«tempo cosmico»855. L’epoché fenomenologica rende quindi possibile l’accesso alla vita
intenzionale trascendentale e il recupero dell’esperienza vivente ed originaria della
temporalità. La riduzione è la condizione di un superamento del pregiudizio
obbiettivistico secondo cui il flusso temporale sarebbe una somma o successione di
istanti puntuali, e perciò sarebbe sottoposto costantemente a una misurabilità obbiettiva.
Questo pregiudizio trova una rappresentazione simbolica nell’immagine della linea del
tempo; immagine che, se osservata da un punto di vista fenomenologico, si svela
artificiosa costruzione, poiché l’esperienza originaria della temporalità è piuttosto un
«flusso costante»856, una «continuità di mutamenti incessanti la quale forma un’unità
indivisibile, non divisibile in tratti che possano stare a sé»857. Argomenta Husserl in
Filosofia prima:
L’orizzonte di coscienza, con le sue implicazioni intenzionali [...] non abbraccia soltanto il
mondo circostante del presente [...]. Al presente vivente-fluente stesso appartiene
852
Ivi, p. 177.
Ivi, p. 178.
854 Husserl, Edmund: Per la fenomenologia della coscienza interna del tempo (1893-1917), tr. it. di
Alfredo Marini, Franco Angeli, Milano 1981, p. 44 (Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins
(1893-1917), Bd. X, a cura di R. Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966).
855 Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro primo,
Introduzione generale alla fenomenologia pura, cit., p. 202.
856 Husserl, Per la fenomenologia della coscienza interna del tempo (1893-1917), cit., p. 60.
857 Ivi, p. 63.
853
231
Zusammenfassung auf Italienisch
costantemente un ambito di passato immediatamente cosciente, cosciente nel riecheggiare
immediato della percezione che si è inabissata. Allo stesso modo, vi appartiene anche un
ambito di futuro immediato, cosciente come qualcosa che sta per accadere, a cui il percepire
fluente, per così dire, corre incontro. 858
Ho scelto di prendere in esame ciascuno dei tre momenti costitutivi del flusso
temporale. Il primo di essi è l’impressione originaria (Urimpression), ossia il presente
vivente, il «punto-limite perennemente sfuggente tra passato e futuro»859. Il presente è
quindi un momento in costante fluire, che incessantemente trascolora nell’appenapassato, e quindi nel secondo dei tre momenti del flusso: la ritenzione (Retention). È
detta anche ricordo primario, per distinguerla dalla rimemorazione (che invece
costituisce il ricordo secondario). La ritenzione viene da Husserl paragonata a una
«coda di cometa»860 che accompagna ogni presente vivente. La ritenzione assume,
all’interno di questa trattazione, un ruolo fondamentale, in quanto il fluire ritenzionale
di ogni presente è la dinamica che ne struttura l’inevitabile trapassare nella dimensione
del passato, e quindi nella dimensione della dimenticanza, dell’inconscio. Il terzo
momento della coscienza interna del tempo è invece la protensione (Protension), cioè il
secondo lato dell’orizzonte di ogni presente vivente. È il lato del futuro, dell’attesa: la
protensione rappresenta il carattere di costante predelineazione che appartiene a ogni
istante della vita dell’io, e allo stesso tempo, l’orizzonte di aperta possibilità che ogni
atto dell’io inaugura.
858
Husserl, Edmund: Filosofia prima. Teoria della riduzione fenomenologica, tr. it. di A. Staiti,
Rubbettino editore, Soveria Mannelli, 2007, pp. 149-150 (Erste Philosophie (1923-1924). Zweiter Teil:
Theorie der Phänomenologischen Reduktion, Bd. VIII, a cura di R. Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag,
1959).
859 Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil:
1905-1920, Bd. XIII, a cura di I. Kern, Martinus Nijhoff, Den Haag 1973, p. 162.
860 Husserl, Per la fenomenologia della coscienza interna del tempo (1893-1917), cit., p. 67.
232
Zusammenfassung auf Italienisch
3. L’inconscio come «regno delle cose dimenticate
e apparentemente ridotte ad un nulla»
3.1 Le sedimentazioni di atti non più attuali
È stato rilevato che il flusso temporale è la condizione trascendentale del progressivo
inabissarsi di ogni vissuto attuale, e che la «ritenzione ininterrottamente co-fungente»
incarna il «luogo originario di questa operazione»861. «Le ritenzioni che si fanno avanti
originariamente restano non intuitive e si inabissano nell’orizzonte generale della
dimenticanza, di ciò che è ormai privo di differenze e, per così dire, di vita, a meno che
non abbia luogo un ridestamento associativo»862. Per quanto i vissuti trascorsi si
inabissino sempre più in questo livello-zero dell’esperienza, ciò non comporta
necessariamente che essi non esercitino alcuna affezione: si tratta piuttosto di una
modificazione graduale della forza affettiva che finisce nell’inavvertibilità. Ciò che non
è pressoché più avvertibile, tuttavia, non è da considerarsi un nulla, poiché continua a
permanere nella catena ritenzionale. Niente infatti va perso nella dimenticanza assoluta,
niente va perso senza che lasci una traccia; scrive a questo proposito Husserl: «Ogni
precedente momento di veglia, che ora viene ricordato, viene ricordato come contenente
in sé il ricordo del momento immediatamente precedente [...] L’oggi ha in sé il ricordo
di ieri, lo ieri del giorno precedente e così via»863. Il passato che via via si inabissa
possiede quindi un ruolo fondamentale nella costituzione dell’adesso presente.
Date tali premesse, secondo Husserl, la fenomenologia dell’inconscio ha il compito
di «irradiare luce fenomenologica in questa notte», ossia di portare allo scoperto la
storia di sedimentazioni che, sulla scorta di quello che egli definisce il «destino della
coscienza»864, mano a mano si inabissano perdendo progressivamente forza affettiva
senza tuttavia perdere mai una potenziale forza motivazionale. Un’osservazione
fenomenologica della vita dell’io mostra che in ogni istante esso è sottoposto a una
pluralità di stimoli affettivi che lo motivano contemporaneamente. Solo alcuni di essi,
861
Husserl, Lezioni sulla sintesi passiva, cit., p. 39.
Ivi, p. 125.
863 Husserl, Edmund: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte
aus dem Nachlass (1916-1937), Bd. XXXIX, a cura di R. Sowa, Martinus Nijhoff, Den Haag 2008, p. 587.
864 Husserl, Lezioni sulla sintesi passiva, cit., p. 74.
862
233
Zusammenfassung auf Italienisch
però, si trovano in primo piano (Vordergrund), vale a dire sono vissuti coscientemente
dall’io: una larga parte di stimoli colpisce invece l’io a partire dallo sfondo
(Hintergrund) della vita di coscienza. Proprio questo sfondo è indicato da Husserl come
l’inconscio: un «grado zero della vivacità coscienziale», che tuttavia «non è affatto un
nulla. Esso è un nulla soltanto rispetto alla forza affettiva e quindi rispetto a quelle
operazioni che presuppongono un’affettività che abbia un valore positivo (sopra il punto
zero)»865. Ciò che progressivamente si inabissa nello sfondo della memoria rappresenta
ciò che per Husserl è la passività secondaria, ossia ciò che, nonostante sia sprofondato
nelle sfere inconsce dell’io, «porta sempre con sé il marchio della sua origine»866 e
continua a esercitare una forza motivazionale.
Ancora una volta, pertanto, risulta fallace una rappresentazione della vita dell’io
come una serie di vissuti puntuali. L’io è piuttosto come un iceberg: la punta di ciò che
momentaneamente si trova in primo piano racchiude tutta la profondità di quanto
apparentemente è andato perduto; le sedimentazioni, le pulsioni inconsce, rimangono
sotto la superficie. Non è un caso che alla domanda “Chi sei tu?” sia impossibile
rispondere senza riferirsi alla propria storia, a ciò che progressivamente s’è andato
costituendo e che ora continua a vivere in noi come acquisizione permanente, pur non
potendo certo questa risposta esaurire la ricchezza e l’unicità del proprio io.
3.2 L’operatività di ciò che è nascosto
Quanto era già emerso nel primo capitolo a proposito della natura motivazionale
della passività rivendica ora, nell’indagine sul concetto fenomenologico di inconscio, la
sua centralità. In un testo del 1934, Husserl scrive che si può definire «inconscia
l’attività che si è sedimentata e il suo costante co-fungere nei ridestamenti, nella
continua associazione e quindi nell’abitualità che intrinsecamente vi appartiene e che è
costante e costantemente si modifica»867. Sussiste quindi un co-fungere dell’inconscio,
865
Ivi, p. 225.
Husserl, Edmund: Lezioni sulla sintesi attiva, tr. it. di L. Pastore, Mimesis, Milano 2007, p. 92 (Aktive
Synthesen: aus der Vorlesung ‘Transzendentale Logik’ 1920/21, Bd. XXXI, a cura di R. Breeur, Kluwer
Academic Publishers, Dordrecht 2000).
867 Husserl, Edmund: Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926-1935), Bd.
XXXIV, a cura di S. Luft, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2000, p. 472.
866
234
Zusammenfassung auf Italienisch
una sua operatività, che si manifesta nella sintesi associativa e nella costante presenza
delle abitualità. Il manoscritto E III 10, risalente al 1930, è un documento che in questa
prospettiva riveste una notevole importanza. Husserl vi appunta: «Problema
dell’”affetto messo tra parentesi” come “malattia dell’anima”: un’abituale
insoddisfazione che non è un niente, anche quando non ci si pensa»868 ; e ancora si
domanda: «Come può venir cancellata una pulsione originaria, una pulsione sessuale –
Ascesi? Ogni validità nascosta co-funge associativamente (Freud)»869 . Quest’ultimo
passaggio (uno dei rari luoghi in cui Husserl fa esplicito riferimento a Freud) mostra
con chiarezza il punto che maggiormente qui ci interessa. Per l’autore ciò che non viene
(o non viene più) vissuto coscientemente dall’io, è impossibile che venga del tutto
eliminato: nell’inconscio esso continua a rimanere valido e quindi a esercitare
un’influenza. Aggiunge di seguito: «Ignorare o voler ignorare. Ma così l’affetto viene
semplicemente nascosto, sospinto in basso e dunque lì operativo come tutto ciò che
viene nascosto e sospinto in basso»870. Ciò che è nascosto continua a sussistere e ad
esercitare una pressione sull’io, in quanto – come sottolinea Husserl nei corsi sull’etica
– «niente può andare perso. [...] Ciò che è nascosto non è un nulla e ciò che è inibito
non è una potenzialità verbale ma reale, e una volta che torna in vigore si può
comprendere che essa non era mai morta, piuttosto era solo una vita dormiente» 871.
3.3 Husserl e Freud: due prospettive sull’inconscio
La fenomenologia husserliana e la psicanalisi freudiana percorrono due strade che,
pur nelle fondamentali diversità, trovano dei punti di contatto, e ciò rende interessante e
fecondo un paragone tra le loro posizioni; un paragone che permette l’emergere e la
chiarificazione di quale sia la peculiarità dell’approccio fenomenologico alla sfera
inconscia della vita dell’io. Innanzitutto va notato che, per quanto i percorsi formativi di
Freud e Husserl abbiano una radice comune (entrambi hanno infatti seguito a Vienna i
corsi di Franz Brentano), essi presentano profonde differenze sin dall’origine. Il metodo
868
E III 10, 1-2.
E III 10, VI.
870 E III 10, 2.
871 Husserl, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, cit., p. 327.
869
235
Zusammenfassung auf Italienisch
freudiano è infatti innanzitutto clinico, e solo in seconda battuta assume quella
configurazione teoretica che man mano va sviluppandosi fino alle riflessioni
metapsicologiche dell’ultimo periodo. Lo scopo che muove Freud nelle sue ricerche è
principalmente di carattere medico: come si evince chiaramente dai suoi studi
sull’isteria, l’obiettivo è comprendere ciò che si nasconde dietro ai disturbi e alle
patologie psichiche. In Husserl un simile retroterra manca completamente in quanto la
sua ricerca rimane di carattere trascendentale, e non psicologico. Va inoltre precisato
che Husserl e Freud, per quanto siano contemporanei, non hanno mai avuto né un
rapporto diretto né un’influenza reciproca: rarissimi sono i luoghi dell’opera husserliana
in cui viene fatto riferimento esplicito al metodo psicanalitico freudiano.
È tuttavia possibile individuare alcuni punti di contatto tra la fenomenologia
dell’inconscio e la psicoanalisi. La prima convergenza ha a che fare direttamente con
quanto è stato già affermato circa il carattere motivazionale della dimensione passiva
della vita dell’io. Nel manoscritto E III 10 infatti Husserl nota che «tutto ciò che è
nascosto, ogni validità nascosta co-funge associativamente e appercettivamente, cosa
che rende possibile e presuppone il metodo freudiano»872. La condizione di possibilità
stessa della psicoanalisi è la scoperta che tutte le manifestazioni della vita dell’io,
persino quelle apparentemente più insignificanti o irrazionali, nascondono dietro di sé
dei motivi, ossia sono motivate. Il metodo freudiano si fonda infatti su una precisa
convinzione: alla domanda che indaga la ragione per cui una paziente isterica manifesti
determinati sintomi, o per cui io stanotte abbia fatto un certo sogno, secondo Freud,
corrisponde sempre una risposta significativa, ossia una risposta di senso. Scrive Freud
nella Psicopatologia della vita quotidiana circa il consueto fenomeno della
dimenticanza dei nomi: «Ora, io presumo che questo spostamento (Verschiebung) non
dipenda da un arbitrio psichico, ma obbedisca a leggi ben determinate e calcolabili. In
altre parole, presumo che il nome o i nomi di sostituzione stiano col nome cercato in un
nesso tale che si possa scoprirlo e che, scoperto, faccia anche luce sul fenomeno stesso
della dimenticanza» 873. Un celebre passaggio del secondo volume delle Idee mostra una
872
E III 10, 3.
Freud, Sigmund: Psicopatologia della vita quotidiana, tr. it. di C. L. Musatti, Boringhieri, Torino
1965, pp. 3-4 (Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: GW 4, Frankfurt a. M. 1941).
873
236
Zusammenfassung auf Italienisch
chiara affinità con questo principio di fondo, ma allo stesso tempo marca una distanza
sostanziale con la posizione psicanalitica freudiana. Scrive Husserl:
In questo contesto il singolo vissuto è allora motivato da uno sfondo oscuro, ha “motivi
psichici”, che si possono interrogare: come mi è venuta in mente questa cosa – che cosa mi
ha portato a ciò? Che queste domande siano possibili è un fatto che caratterizza qualsiasi
motivazione in generale. I motivi sono spesso nascosti in profondità, ma possono venir
portati in luce attraverso la “psicoanalisi”. [...] Nella maggior parte dei casi però la
motivazione è realmente presente nella coscienza, ma non riesce ad assumere un rilievo,
non viene notato, è inavvertita (“inconscia”). 874
In questo passaggio emerge chiaramente come anche secondo Husserl ogni vissuto
psichico sia motivato e come ogni motivo, per quanto nascosto, possa essere ricostruito
e compreso nel suo senso e nei suoi rimandi di significato. Tuttavia queste parole
segnano allo stesso tempo la distanza incolmabile tra i due metodi: mentre per Husserl il
vero protagonista della vita psichica è la coscienza, per Freud è invece l’inconscio, che
rappresenta l’altro dalla coscienza. Husserl conclude il passaggio di Idee II accostando
come sinonimi i termini “inconscio” ed “inavvertito”: ciò che Husserl indica come
l’inconscio (Unbewusste) si avvicina maggiormente a ciò che Freud indica come il
termine preconscio (Vorbewusste), vale a dire ciò che per diverse ragioni (lontananza
nel tempo, rimozione, inibizione etc.) è momentaneamente nascosto nella dimensione
dell’inavvertito. L’inconscio freudiano nel senso proprio del termine è, invece, ciò che
non può mai, per nessuna ragione, divenire cosciente. Tale inaccessibilità dell’inconscio
è ciò che l’approccio fenomenologico esclude. Per Husserl si può infatti parlare di
inconscio solo a partire da ciò che la vita di coscienza ci mostra: l’inconscio ha
strutturalmente a che fare con la coscienza e si trova in una linea di continuità con essa.
Eugen Fink, nell’appendice al § 46 della Crisi, espone in modo chiaro questa
posizione fenomenologica rispetto al concetto di inconscio. Egli sottolinea: «i problemi
che si presentano sotto il titolo di “inconscio” devono essere innanzitutto compresi nel
loro peculiare carattere problematico, e devono essere esposti metodicamente, in modo
874
Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo,
Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 226.
237
Zusammenfassung auf Italienisch
esauriente, secondo la precedente analitica della “coscienzialità” (Bewusstheit)» 875.
Scopo di Fink è criticare «le mitiche “teorie”, abbozzate sullo sfondo di un’opaca
empiria, sull’essenza propria della vita», poiché esse si fondano su un’«ingenuità
filosofica di principio»: si tratta nientemeno che di «un’omissione. Si crede di sapere già
che cosa sia il “conscio”, la coscienza, e ci si sottrae al compito di tematizzare
progressivamente quel concetto, rispetto al quale qualsiasi scienza dell’inconscio deve
delimitare il proprio tema, il concetto appunto di coscienza»876.
Pur sintetico, il confronto tra le posizioni di Husserl e Freud è in grado di rilevare il
tratto peculiare della concezione fenomenologica dell’inconscio. Mediante
l’accostamento alla teoria del padre della psicoanalisi, si evince come l’approccio
fenomenologico prospetti la costante possibilità di riattivare e ricomprendere le validità
che progressivamente si sono inabissate.
3.4 La possibilità del ridestamento (Weckung)
«Per ogni coscienza vaga io posso ricercare come dovrebbe apparire il suo
oggetto»877: la possibilità di interrogare se stessa e ogni proprio vissuto appartiene
strutturalmente alla soggettività trascendentale e costituisce il presupposto del rifiuto di
concepire la dimensione passiva della vita di coscienza come un regno inaccessibile.
Husserl sottolinea a più riprese che il processo di sedimentazione è un processo
progressivo e che quindi in ciò che viene definito inconscio vi è una gradualità, una
sempre maggior lontananza dalla vivacità coscienziale. A questo proposito Husserl
compie la distinzione tra ricordi vicini (Naherinnerung) e ricordi lontani
(Fernerinnerung), ossia tra ricordi che sono ancora – per così dire – nella scia
ritenzionale, e ricordi che invece fanno riferimento a un passato ormai lontano nel
tempo: per questi ultimi il termine Wiedererinnerung non è appropriato, in quanto non
875
Fink, Eugen: Appendice di Fink sul problema dell’inconscio, in: Husserl, Edmund: La crisi delle
scienze europee e la fenomenologia trascendentale, tr. it. di E. Filippini, Il Saggiatore, Milano 2002, p.
498 (Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Bd. VI, a
cura di W. Biemel, Martinus Nijhoff, Den Haag 1959).
876 Ivi, pp. 499-500.
877 Husserl, Edmund: Meditazioni cartesiane e i discorsi parigini, tr. it. di F. Costa, Bompiani, Milano
2002, p. 19 (Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Bd. I, a cura di S. Strasser, Martinus
Nijhoff, Den Haag 1950).
238
Zusammenfassung auf Italienisch
raggiungibili tramite una semplice presentificazione memorativa, bensì solo attraverso il
recupero di nessi associativi ridestanti. Condizione di possibilità per il ridestamento è la
sintesi associativa. Quest’ultima è strutturata, come è stato già ampiamente mostrato nel
corso del presente lavoro, secondo una legalità motivazionale. È infatti sempre un nesso
associativo («la relazione di somiglianza tra il ridestante e il ridestato»878) a motivare il
ridestamento e a rendere quindi possibile il recupero di ciò che sembrava essere andato
perduto.
4. Le opinioni intenzionali permanenti e le abitualità trascendentali
Quanto sinora è stato oggetto dell’analisi, ha introdotto un punto che necessita ora di
un’attenzione maggiore: si tratta della storia (Geschichte) dell’io, presa in
considerazione da un punto di vista trascendentale. Nelle sue lezioni sulla sintesi
passiva, Husserl afferma:
la coscienza è un divenire incessante in quanto è una costituzione incessante di obiettività
nel progressus incessante della successione dei livelli. È una storia [Geschichte] mai
interrotta. E la storia è una costituzione stratificata di formazioni di senso sempre più alte
dominata da una teleologia immanente. 879
Ciò che ora bisogna indagare da un punto di vista genetico è il carattere
trascendentale di questo progressivo costituirsi della soggettività.
Un testo particolarmente rilevante a questo proposito è il § 29 del secondo volume
delle Idee, intitolato Costituzione di unità nell’ambito della sfera immanente. Le
opinioni intenzionali [Meinungen] permanenti come sedimentazioni nell’io puro. Le
pagine di questo paragrafo offrono infatti la possibilità di comprendere come, per
Husserl, la dinamica del progressivo sedimentarsi dei vissuti di coscienza non abbia un
carattere empirico o psicologico, bensì trascendentale. Più particolarmente, Husserl
segnala in queste pagine l’esistenza di una «legge eidetica propria dell’io puro», la
quale stabilisce che
878
879
Husserl, Lezioni sulla sintesi passiva, cit., p. 175.
Ivi, p. 286.
239
Zusammenfassung auf Italienisch
ogni “opinione intenzionale” è una instaurazione, che rimane proprietà del soggetto fin
tanto che non gli si presentino motivazioni che esigono un “cambiamento” della presa di
posizione, una rinuncia alla vecchia opinione, oppure l’abbandono parziale di alcune sue
componenti, una modificazione nell’insieme. Ogni opinione intenzionale di un unico e
medesimo io rimane necessariamente nella catena delle rimemorazioni fin tanto che non
viene cancellata in virtù di certi motivi. 880
Le opinioni intenzionali permanenti sono dunque formazioni di unità che si
costituiscono nel flusso monadico della coscienza e che «si possono chiamare
“abituali”», sebbene «l’habitus di cui si parla non inerisce all’io empirico ma all’io
puro»881. La dinamica che questa legge individua è quella per cui, «a priori, io sono lo
stesso io, nella misura in cui, nelle mie prese di posizioni, sono necessariamente
conseguente e in un senso determinato; ogni “nuova” presa di posizione fonda
un’”opinione intenzionale” permanente». Ogni presa di posizione fonda perciò nell’io
qualcosa di stabile, di permanente, o meglio: qualcosa che tende a permanere finché
nuovi motivi non insorgano provocando un mutamento della precedente presa di
posizione e quindi dell’io stesso. Nel mutare delle prese di posizione io «continuo a
essere lo stesso, ma sono lo stesso all’interno di un mutevole flusso di vissuti in cui,
spesso, si costituiscono nuovi motivi»882 . Tale «consequenzialità dell’io»883 è ciò che ne
determina il progressivo formarsi dell’identità. Come Husserl infatti esplicita, «un io
statico e permanente non potrebbe costituirsi se non si costituisse uno statico e
permanente flusso di vissuti, se quindi le unità originariamente costituite dei vissuti non
potessero venir riprese [...] e se non esistesse la possibilità di portare ciò che è oscuro
alla chiarezza» 884.
Se, come queste pagine di Ideen II indicano, tale legalità dinamica ha a che fare con
il formarsi di un habitus che non riguarda la mera vita empirica e fattuale dell’io bensì
quella trascendentale, sorge un interrogativo: in che senso è possibile parlare di
“abitualità trascendentali”? Il § 32 delle Meditazioni cartesiane – dal titolo L’io come
880
Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo,
Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 117.
881 Ivi, p. 116.
882 Ivi, p. 117.
883 Ibidem.
884 Ibidem.
240
Zusammenfassung auf Italienisch
sostrato di abitualità – offre un importante contributo a riguardo. Qui infatti Husserl
chiarisce che «questo io-centro non è un vuoto polo di identità (e tanto meno lo è
qualunque oggetto) ma esso, in virtù della conformità a regole della genesi
trascendentale, per ogni atto che emana da sé, ottiene un nuovo senso oggettivo, una
nuova proprietà stabile»885. Ogni presa di posizione dell’io reca quindi in sé una sorta
di retroazione, poiché non solo determina la relativa azione, ma determina anche un
cambiamento permanente nell’io: l’identità dell’io si costituisce progressivamente, e
tale costituzione può venir ricostruita geneticamente. Si comprende quindi in che senso
Husserl possa definire trascendentali le abitualità, le quali di per sé sembrerebbero
appartenere alla sfera della contingenza empirica: esistono abitualità trascendentali in
quanto la loro fondazione originaria inaugura ogni volta un nuovo orizzonte
trascendentale nell’esperienza dell’io. La categoria di “abitualità trascendentale” getta
una nuova luce sul concetto di io puro husserliano, in quanto esso si presenta ora come
la condizione di possibilità dello sviluppo e della storia dell’io personale. La storia
dell’io acquista così un valore trascendentale, poiché ogni nuova presa di posizione apre
un campo di possibilità esperienziale che può mutare solo all’insorgere di nuovi motivi
e di conseguenti nuove prese di posizione dell’io.
5. La costituzione del carattere permanente e della personalità
Dal momento che «l’io reale include l’io puro quale statuto nucleare
appercettivo»886 , la legalità della genesi trascendentale dell’io puro rappresenta la
condizione di possibilità della costituzione dello stile personale di ogni individuo e del
suo carattere. Ogni presa di posizione, ogni decisione volontaria, ogni motivazione
inconscia che influenzi l’io possiedono un carattere auto-determinante, ossia un
progressivo determinarsi dell’identità personale di ciascuno. Sostiene Husserl che «l’io,
mentre ora vuole in un certo modo, con ciò fonda un atteggiamento volontario, un
885
Husserl, Meditazioni cartesiane e i discorsi parigini, cit., p.92 (traduzione leggermente modificata).
Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo,
Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 115.
886
241
Zusammenfassung auf Italienisch
volere abituale e permanente, e perlomeno in generale, “rimane” nel suo volere. E così
esso viene compreso»887.
Di nuovo si assiste al riproporsi di quel principio fenomenologico che era stato
delineato a proposito del sedimentarsi ritenzionale dei vissuti, cioé il principio in base al
quale niente nella vita dell’io va perso: ogni presa di posizione e ogni atteggiamento
volitivo tendono a permanere e così formano l’io e la sua personalità.
La vita di coscienza è quindi per Husserl una vita che progressivamente viene
plasmata dalle proprie prese di posizione e dalla conseguente instaurazione di validità
permanenti.
887
Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil:
1921-1928, Bd. XIV, a cura di I. Kern, Martinus Nijhoff, Den Haag 1973, pp. 168-169.
242
Zusammenfassung auf Italienisch
Terzo capitolo
L’orizzonte etico della concezione husserliana dell’io:
il volontario divenire-Io
1. Introduzione: il problema etico come nucleo
della fenomenologia di Husserl
Quanto è stato messo in rilievo circa la tensione volitiva che accompagna ogni atto
dell’io e il carattere motivazionale che abbraccia sia il livello passivo che quello attivo
ci spinge ora a scoprire le conseguenze etiche implicate in una simile concezione.
É necessario sin da subito sottolineare che l’etica non si configura come una sezione
a sé stante nel quadro della filosofia di Husserl, bensì come una dimensione o una
tensione che accompagna costantemente le analisi teoretiche. Proprio per questa ragione
non è facile ricostruire un quadro esaustivo dell’etica husserliana. Essa non si limita alle
riflessioni raccolte nelle lezioni sull’etica del 1908-1914 e del 1920-24 (rispettivamente
raccolte nel XXVIII e nel XXXVII volume dell’Husserliana888 ) o agli articoli sul
rinnovamento scritti da Husserl per la rivista giapponese Kaizo889. Una costante
preoccupazione etica attraversa come un filo rosso l’intera opera husserliana. La
fenomenologia sorge infatti a partire da una vera e propria decisione personale motivata
da ragioni di carattere profondamente etico. Come Husserl sottolinea nelle Meditazioni
cartesiane, «chiunque vuole diventare seriamente filosofo deve una volta nella sua vita
ritrarsi in se stesso e cercare dentro di sé di distruggere tutte le scienze ritenute fino
allora valide e di ricostruirle. La filosofia, la sagesse, è una questione tutta personale del
filosofo» e viene inaugurata dalla «decisione che sola mi può portare al divenire
filosofico»890. Il soggetto viene spinto verso una tale decisione dalla perenne delusione
che egli sperimenta di fronte al venir meno o alla svalutazione di ogni bene o valore in
888
Entrambi questi testi sono stati parzialmente tradotti in italiano e pubblicati: Husserl, Lineamenti di
etica formale, cit.; Husserl, Introduzione all’etica, cit.
889 Husserl, Edmund: Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Bd. XXVII, a cura di T. Nenon e H. R. Sepp,
Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 1989 (tr. it. parziale di C. Sinigaglia, L’idea di Europa, Cortina,
Milano 1999).
890 Husserl, Meditazioni cartesiane e i discorsi parigini, cit., p. 38.
243
Zusammenfassung auf Italienisch
cui aveva riposto un’aspettativa. La decisione propria del fenomenologo di “tornare alle
cose stesse” e quindi al contempo di “tornare a sé” sorge, perciò, a partire da una
motivazione profondamente esistenziale:
Vivere come Io consapevole – scrive Husserl – desto nel suo particolare mondo circostante,
non significa soltanto vivere in un modo qualsiasi, bensì è voler vivere con il proposito di
riuscire. Per questo motivo l’essere umano nell’accumularsi di insuccessi dice: “Così non si
va avanti” e, viceversa, quello che riesce a realizzare i propri obiettivi, alla domanda:
“Come va?”, risponde semplicemente con le parole: “Si va avanti”. 891
L’insopportabilità di una simile situazione motiva il desiderio di un cambiamento
radicale:
La motivazione che proviene da tali svalutazioni penose e delusioni è quella che [...] motiva
il bisogno di tale critica e, pertanto, l’aspirazione specifica alla verità [...]. [S]ussistono qui
possibilità essenziali per una motivazione, possibilità che sfociano in un’aspirazione
universale a una vita perfetta in genere, nel senso cioè di una vita che sia pienamente
giustificata in tutte le sue attività e che garantisca una soddisfazione pura e persistente. 892
Condizione di possibilità dell’aspirazione etica dell’esistenza è la dimensione
dell’Ich kann, che abbraccia ogni atto volontario o pulsionale dell’io: solo in quanto il
nucleo di ogni atto è essenzialmente caratterizzato da una libera possibilità893 è
legittimo parlare di un possibile rinnovamento etico.
2. L’implicazione etica della legalità motivazionale
Il primo passo da compiere ora è quello di comprendere le implicazioni etiche
inscritte nei risultati teoretici che sono emersi nel cammino sinora percorso. Le analisi
891
Husserl, Edmund: La storia della filosofia e la sua finalità, tr. it. parziale di N. Ghigi, Città nuova,
Roma 2004, p. 87 (Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie.
Ergänzungsband. Texte aus dem Nachless 1934-1937, Bd. XXXIX, a cura di R. N. Smid, Kluwer
Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London 1993).
892 Husserl, L’idea di Europa, cit., pp. 36-37.
893 Scrive Husserl a riguardo: «Mentre [l’uomo] si immedesima nelle possibilità [...] egli si libera dalla
spinta e dalla violenza delle singole attualità, dagli stimoli pulsionali delle realtà esperite, delle possibilità
singole, reali, che attraverso un’ipotesi anticipante premono l’una contro l’altra e litigano per forza di
stimolazione. Negli ambiti di libere possibilità e nel gioco costruttivo delle infinità, egli tronca l’attualità
e diventa colui che liberamente sceglie; egli sceglie non solo tra singolarità date bensì egli si connette
all’universo delle possibilità che può praticamente venire in considerazione» (Husserl, Aufsätze und
Vorträge (1922-1937), Bd. XXVII, cit., p. 100).
244
Zusammenfassung auf Italienisch
del primo capitolo hanno messo in luce la dimensione della volontà e in particolare il
carattere di autodeterminazione che caratterizza ogni fiat, sia esso esplicito o
inavvertito. L’io è allo stesso tempo soggetto e oggetto di ogni volere, e viene perciò
plasmato da ogni presa di posizione. Nel secondo capitolo, invece, è stata posta al
centro dell’attenzione la dinamica di costante sedimentazione dei vissuti e il ruolo
trascendentale giocato dalle abitualità nella costituzione dell’io e della sua personalità.
Il presupposto teoretico di questi risultati è stato il riconoscimento della motivazione
come legalità essenziale dell’intera vita dell’io, sia nelle sue dimensioni attive che in
quelle passive o involontarie. Ogni presa di posizione volontaria viene motivata e, a sua
volta, motiva una nuova e permanente proprietà dell’io: ciò rappresenta una legge
trascendentale della costituzione dell’io e allo stesso tempo la condizione di possibilità
per la costituzione dello stile etico di ogni persona. Scrive infatti Husserl:
Ogni esplicazione di una volontà e allo stesso modo, in massimo grado, di un atto [...] è una
modificazione del mio Io, che non si deve in alcun modo intendere come una tabula rasa in
cui i vissuti attuali si iscrivono per poi risparire; [...] io rimango qui lo stesso Io che persiste
secondo la modalità specificatamente tipica delle trasformazioni egologiche. [...] Di volta in
volta, io ho le mie validità permanenti.894
L’identità dell’io e la sua personalità etica non sono il semplice risultato della somma
delle sue capacità, delle sue doti, bensì si costruiscono progressivamente sulla base di
convinzioni fino a quel momento valide, e sulla base del sorgere di nuovi motivi che di
volta in volta conducono l’io a ulteriori prese di posizione. Ogni nuova decisione
volontaria non è indipendente bensì strettamente legata alla catena delle precedenti
opinioni intenzionali permanenti: «Io dipendo da certi motivi, riprendendo una vecchia
decisione io dipendo dalle precedenti decisioni, io sono quello che sono ora in quanto
determinato dal mio essere precedente (dall’essere del mio decidermi)»895 . Tale
dipendenza dell’io dai suoi precedenti vissuti non implica in nessun modo una
concezione deterministica dello sviluppo della personalità; secondo Husserl, infatti, l’io
in ogni istante è libero di prendere posizioni totalmente imprevedibili rispetto alle
894
Husserl, La storia della filosofia e la sua finalità, cit., p. 71.
Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo,
Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 324.
895
245
Zusammenfassung auf Italienisch
esperienze antecedenti. É d’altra parte innegabile che ciascun io possieda nel decidere
un proprio stile abituale. Come Husserl a questo proposito sottolinea, «in quanto
soggetto di prese di posizione e di convinzioni abituali io ho il mio stile induttivamente
attivo che mi porterà a un’autoappercezione corrispondente, e così anche un altro
potrebbe enunciare induttivamente come potrebbero delinearsi le mie prese di
posizione»896. La propria storia e il proprio stile abituale influenzano costantemente
ogni nuovo passo. Nel corso della vita si costituisce la personalità etica sulla base
dell’educazione ricevuta, dell’istruzione, degli avvenimenti dolorosi o lieti, ma
soprattutto sulla base della libera e personale presa di posizione con cui l’io di volta in
volta risponde a tali accadimenti897.
Una responsabilità etica grava su ogni singola decisione:
Quali motivazioni agiscono in quest’occasione, che ruolo gioca soprattutto questo
meraviglioso fenomeno dell’autodeterminazione, nel quale l’Io, per così dire, non rilascia
da sé ingenuamente, come accade di solito, un atto, mediante il quale agisce poi
razionalmente, bensì pone volontariamente se stesso come Io, e precisamente come Io che
d’ora in poi vuole solo il Bene, ed eventualmente si “rinnova” appieno “nell’interiorità”, o
perlomeno si decide a voler diventare un nuovo Io? 898
Il meraviglioso fenomeno dell’autodeterminazione rappresenta il nucleo delle
riflessioni etiche di Husserl. Nel primo capitolo era emersa la distinzione tra
motivazioni attive/razionali e motivazioni passive/irrazionali: se entrambe concorrono
alla costituzione della personalità, è al contempo importante sottolineare che sono le
prime a giocare un ruolo decisivo in ambito etico, in quanto l’etica ha direttamente a
896
Ibidem.
«Questo: “io non posso prendere una certa decisione, non posso per esempio decidermi a commettere
un assassinio”, “non posso fare una cosa del genere”, definisce come io sono (eventualmente com’ero
prima, come presuntivamente sarò in futuro); tutti i motivi che possono essere determinanti di un
assassinio non sono per me motivi efficaci. La possibilità dell’assassinio è una possibilità pratica in
quanto io, posto che lo volessi, potrei realizzarlo. Qualsiasi azione volontaria si rifà a un àmbito pratico, e
perciò anche questa.» (Ibidem).
898 Husserl, Introduzione all’etica, cit., p. 162.
897
246
Zusammenfassung auf Italienisch
che fare con la libertà e la capacità decisionale dell’io. Il concetto di persona è così per
Husserl strettamente legato alla categoria di responsabilità899:
La psiche non è un piano, davanti al quale l’Io sta come un musicista che volesse provare a
se stesso la propria bravura, facendo scorrere in certo modo meccanicamente gli atti vitali
come meravigliosi suoni melodici [...] l’Io morale, al contrario, l’Io della costante e
ininterrotta autoeducazione, e l’Io che vuole migliorarsi, trasformarsi (se stesso come Io) a
tal punto che, in quanto Io etico, può essere eo ipso solo un Io che-vuole-il-bene.900
La sorgente di un’autentica vita etica consiste per Husserl in una costante decisione
volontaria che implica sì una presa di posizione ma, al contempo, come sua
conseguenza, conduce alla costituzione di un Habitus morale permanente.
3. La prima etica di Husserl: il parallelismo
tra logica formale ed etica formale
L’etica assume, nel corso dell’opera di Husserl, forme molto diverse. Sebbene
nell’ambito del presente lavoro non sia possibile trattare in modo esauriente la
problematica dello sviluppo dell’etica husserliana, una sua comprensione sintetica può
offrire un notevole contributo all’individuazione del filo rosso che attraversa l’intera
ricerca del filosofo. Ullrich Melle901 propone come valido spartiacque per distinguere le
899
La centralità della responsabilità nella definizione di persona viene sottolineata a più riprese anche da
Edith Stein e da Max Scheler. Edith Stein sottolinea infatti che «quando vediamo una pianta o un animale
“atrofizzati”, nei quali, cioè, le capacità specifiche non si sono sviluppate, diamo la responsabilità di ciò a
condizioni di vita sfavorevoli, semmai alla persona che li ha posti in simili condizioni inadeguate. Anche
nell’essere umano prendiamo in considerazione fattori simili, ma in più consideriamo lui stesso
responsabile di ciò che egli è diventato» (Edith Stein, La struttura della persona umana, tr. it. di M.
D’Ambra, Città Nuova Editrice, Roma 2000, p. 123; Der Aufbau der menschlichen Person, Herder,
Freiburg im Br./Basel/Wien 1994). Lo stesso vale per Scheler, il quale mette in evidenza come
l’imputabilità di un’azione possa venir meno in determinate circostanze come la malattia mentale, motivo
per cui «nelle analisi psichiatriche d’un carattere colpito da malattia si dovrebbe pertanto evitare nel
modo più rigoroso di usare espressioni di biasimo o di lode». Tuttavia «la malattia psichica, pur rendendo
nulla l’”imputabilità” delle azioni alla persona, non elimina affatto la “responsabilità” della persona: la
responsabilità è eideticamente inscindibile dall’essere della persona» (Scheler, Max: Il Formalismo
nell’etica e l’etica materiale dei valori. Nuovo tentativo di fondazione di un personalismo etico, tr. it. di
G. Carosello, Edizioni S. Paolo, Cinisello Balsamo 1996, p. 595; Der Formalismus in der Ethik und die
materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethisches Personalismus, in Gesammelte
Werke, Band II, Franke Verlag, Bern 1966).
900 Husserl, Introduzione all’etica, cit., p. 159.
901 Cfr. Melle, Ullrich: The Development of Husserl’s Ethics, in: Études phénoménologiques, 13/14,
Leuven 1991, pp. 115-135; Melle, Ullrich: From Reason to Love, in: Drummond, John; Embree, Lester (a
cura di): Phenomenological Approaches to Moral Philosophy. A Handbook, Dordrecht 2002, pp. 229-248.
247
Zusammenfassung auf Italienisch
due grandi fasi della riflessione etica del nostro filosofo la prima guerra mondiale. Pur
non volendo tracciare una netta linea di demarcazione tra un’etica prebellica e un’etica
postbellica902, egli intende segnalare un evidente mutamento nelle riflessioni etiche
husserliane.
Il punto di riferimento di Husserl nei suoi primi corsi sull’etica è senza dubbio
Brentano ed in particolare la sua opera Sull’origine della conoscenza morale903, che
Husserl definisce un «geniale scritto che ha dato l’avvio ai miei tentativi di redigere
un’assiologia formale»; «proprio in Brentano», infatti, si trovano «quei fruttuosi
germogli che chiedono di essere ulteriormente sviluppati»904. Ciò che Husserl
innanzitutto condivide è lo scopo che Brentano si era prefissato: una lotta contro lo
scetticismo e il relativismo etico attraverso l’istituzione di un’«etica scientificamente
fondata»905 vale a dire attraverso l’individuazione di leggi morali di carattere formale,
apriorico e quindi non empirico906. Husserl, tuttavia, compie un passo in più rispetto a
Brentano e arriva fino ad identificare l’origine di ogni relativismo etico nella
psicologizzazione dei principi morali, analogamente a quanto aveva già sostenuto nelle
Ricerche Logiche rispetto allo psicologismo in campo logico. Questo è l’intuizione che
guida Husserl a partire dal 1902 fino al 1914: la possibilità di fondare scientificamente
902
La cosiddetta etica pre-guerra raccoglie le lezioni sull’etica del 1897, 1902, 1908/09 e 1911,
pubblicate nel XXVIII volume dell’Husserliana, mentre quella successiva al conflitto mondiale
comprende le lezioni su Fichte del 1917/18 (Cfr. Husserl, Edmund: Fichte e l’ideale di umanità, tr. it. di
F. Rocci, Ets, Pisa 2006; Aufsätze und Vorträge 1911-1921, Bd. XXV, a cura di Th. Nenon e H. R. Sepp,
Martinus Nijhoff, Dordrecht 1987, pp. 267-293), quelle sull’etica dei semestri estivi 1920/24, raccolte nel
XXXVII volume dell’Husserliana, gli articoli sul rinnovamento che Husserl ha scritto nel 1923/24 per la
rivista giapponese Kaizo (Cfr. Husserl, L’idea di Europa, cit.), oltre a ulteriori passaggi sparsi in altri tesi,
come per esempio alcune riflessioni di Filosofia prima (Husserl, Filosofia prima, cit.) o dei volumi che
raccolgono i materiali sull’intersoggettività (Cfr. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität.
Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905-1920, Bd. XIII, cit.; Husserl, Zur Phänomenologie der
Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921-1928, Bd. XIV, cit.; Husserl, Zur
Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935, Bd. XV, a cura
di I. Kern, Martinus Nijhoff, Den Haag 1973).
903 Brentano, Franz: Sull’origine della conoscenza morale, tr. it. parziale di A. Bausola, La Scuola,
Brescia 1966 (Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1921; ed. orig.: Duncker & Humblot, Leipzig
1889).
904 Husserl, Lineamenti di etica formale, cit., p. 106.
905 Brentano, Sull’origine della conoscenza morale, cit., p. 100.
906 Le leggi che Brentano intende individuare ed esporre sono per lui «comandi nel senso in cui si parla,
per i nostri giudizi e le nostre deduzioni, di comandi della logica […]. I comandi della logica sono regole
del giudizio naturalmente valide, tali cioè che ci si deve attenere ad esse perché il giudizio fatto in
conformità di queste regole è sicuro, quello che da esse si allontana è soggetto ad errore; si tratta dunque
di una naturale superiorità del processo del pensiero conforme alla regola rispetto a quello irregolare.
Anche per la moralità si dovrà trattare dunque di una simile superiorità naturale e di una regola che ne
costituisca il fondamento, non del comando di una volontà estranea» (Ivi, p. 16).
248
Zusammenfassung auf Italienisch
un’etica solo sulla base di un’analogia con la logica e con gli atti del giudizio. Per
sconfiggere lo scetticismo è necessario costruire un’etica formale; ma, se la
confutazione dello scetticismo teoretico ha alle spalle secoli di storia del pensiero, non
così stanno le cose per quanto riguarda l’etica: «Aristotele – scrive Husserl – fu il padre
della logica, poiché è stato propriamente il creatore dell’analitica logica, di ciò che
chiamiamo logica formale […]. Con l’Etica Nicomachea, per quante cose belle
quest’opera possa offrirci, non è divenuto nel medesimo senso il padre dell’etica»907.
Il primo passo è quindi innanzitutto riconoscere l’analogia tra scetticismo logico ed
etico e, di conseguenza, ammettere che così come vi sono regole pure della logica, così
devono esistere parallelamente anche regole etiche puramente formali. Non è certo
possibile in questo luogo entrare nel merito dei comandi etici formali che Husserl
delinea ed espone nei primi corsi sull’etica. Al contempo è necessario mettere a fuoco
quale sia il nucleo delle diverse leggi etiche: la determinazione formale della corretta
volizione, che coincide con l’imperativo categorico di Brentano “Fai il meglio tra ciò
che è conseguibile!”. Il presupposto fondamentale che guida Husserl nell’enucleare le
leggi etiche formali è quello che lui chiama “l’apriori della motivazione”: «in ogni sfera
sussistono connessioni della motivazione: il valutare fondamentale motiva la
valutazione dei valori dedotti. […] Possiamo parlare in questo caso di leggi della
conseguenza: sono leggi della motivazione razionale e la parola motivo è sempre di
casa»908.
Come stiamo per mostrare nel prosieguo del lavoro, la discussione etica postbellica
non avrà più come oggetto i principi formali dell’etica. L’esigenza che ha spinto Husserl
a proseguire il tentativo brentaniano di costruzione di un’etica formale è, tuttavia, la
medesima che lo animerà negli anni successivi: superare il relativismo e lo scetticismo.
Per Husserl lo scetticismo comporta infatti «il crollo della fede nella “ragione”» e «se
l’uomo smarrisce questa fede ciò non significa altro che questo: egli perde la fede “in se
stesso”, nel vero essere che gli è proprio, un vero essere che egli non ha già da sempre,
907
908
Husserl, Lineamenti di etica formale, cit., p. 106.
Ivi, p. 88.
249
Zusammenfassung auf Italienisch
con l’“evidenza” dell’io sono, un vero essere che egli ha e può avere soltanto lottando
per la sua verità, lottando per rendere vero se stesso»909.
4. L’etica del dopoguerra: rinnovamento e responsabilità
La drammaticità del primo conflitto mondiale910 obbliga Husserl a porsi interrogativi
di carattere etico che rispondano all’estremo bisogno di rinnovamento che l’Europa
intera sta mostrando. Fino al 1917, come testimoniano in modo esemplare le lezioni su
Fichte tenute in quell’anno presso l’università di Friburgo, Husserl non solo non
condanna la guerra, ma intravvede in essa l’occasione per un rinnovamento culturale
europeo911. Sarà tuttavia l’esperienza della delusione e del dramma della guerra a farlo
ricredere: la rinascita della nazione tedesca e più in generale dell’umanità non possono
essere il risultato di un conflitto ma di una faticosa opera di rinnovamento personale che
nasca dalla decisione volontaria di ciascuno, investendo quindi l’intera collettività912 .
Con il crollo delle speranze belliche rinasce in Husserl la fede nella possibilità di
costruire un’etica universalmente valida, chiarificatrice del senso e dello scopo della
vita umana. L’istanza che lo anima è la medesima con cui fino al 1914 si era adoperato
per la costruzione dell’etica formale; tuttavia, dopo la guerra, l’orizzonte delle sue
domande si amplia fino a porre un interrogativo diretto circa il destino dell’intera
umanità europea.
909
Husserl, La crisi delle scienze europee e la fenomenologia della trascendentale, cit., p. 42.
La guerra ha segnato tragicamente la vita di Husserl: il figlio minore, Wolfgang, morì in battaglia e il
maggiore, Gerard, rimase gravemente ferito. Perse la vita, inoltre, Adolf Reinach, uno dei collaboratori
più stretti di Husserl (Cfr. Orth, Ernst Wolfgang: Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls
Ethos der Erneuerung in seinen japanischen Kaizo-Artikeln, in: Zeitschrift für philosophische Forschung
47 (1993), p. 341).
911 «E poi ora è venuta questa guerra, questo destino per la nostra nazione tedesca, alto e gravoso aldilà di
ogni comprensione. Che evento eccezionale! Viene fondata la prima organizzazione di popoli, estesa a
quasi tutta la terra, ma a quale scopo? Per nessun altro, se non per annientare la Germania, per privare il
popolo tedesco di una vita, un agire e un operare produttivi. In tutta la storia è mai stato inflitto a un
popolo destino più alto, e insieme una prova più ardua? È un’epoca di rinnovamento di tutte le fonti ideali
di energia, che un tempo furono attinte nel proprio popolo e dai principi profondi della sua anima, e che
già in passato avevano dato prova della loro forza salvatrice» (Husserl, Fichte e l’ideale di umanità, p.
49).
912 Negli articoli del 1923/24 Husserl esplicita il senso di fallimento provato dinnanzi agli effetti della
guerra: «Rinnovamento è l’appello generale nel nostro tormentato presente, e nell’intero ambito della
cultura europea. La guerra, che dal 1914 l’ha devastata e che dal 1918 non ha fatto che sostituire i mezzi
della coercizione militare con quelli più “raffinati” della tortura psicologica e dell’indigenza economica,
non meno depravanti dal punto di vista morale, ha rivelato l’intima non verità e insensatezza di tale
cultura» (Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 3).
910
250
Zusammenfassung auf Italienisch
Rinnovare se stessi coincide per Husserl con il prendere coscienza della propria
natura razionale, ossia del telos inscritto in ogni atto egologico. L’esperienza della
delusione di fronte alla caducità dei beni o quella di una costante insoddisfazione
motivano tale presa di coscienza. Come scrive Husserl nella Crisi,
nella contesa tra una vita inferiore e superiore di valore, l’io viene a trovarsi sempre di
nuovo nella situazione di dover prendere coscienza, e nella forma della più profonda
insoddisfazione, dal fatto di perseguire ciò che in definitiva gli ripugna, un modo di vivere
e di compiere degli sforzi che lo porta ad essere in lotta con se stesso (in termini di
sentimento: che lo fa sprofondare nell’infelicità). 913
Una tale lotta caratterizza quindi l’esistenza umana, la quale viene da Husserl
paragonata a un sentiero («Wanderweg»914) ove tuttavia la meta non è sin da subito
conosciuta chiaramente. Come mostra chiaramente l’esperienza del bambino, il telos del
vivere si disvela progressivamente: è necessario del tempo perché egli comprenda il
senso e il fine degli oggetti e delle situazioni in cui si trova immerso915. La soggettività
vive una costante tensione teleologica e, abbracciando ogni singolo scopo particolare,
tende a un telos ultimo di perfezione. Nelle lezioni su Fichte, Husserl sottolinea come
questa tensione alla perfezione sia il marchio dell’umanità, la peculiarità che distingue
l’uomo da ogni altro essere vivente916 : «Ogni vita è anelito, è impulso al
soddisfacimento. Questo impulso passa attraverso ogni nostro soddisfacimento ancora
incompleto; il fine ideale è dunque sempre il soddisfacimento puro e completo, in una
parola la beatitudine (Seligkeit)»917.
Il telos della propria umanità, allora, necessita di essere riconosciuto in modo
autocosciente per poter divenire scopo consapevole dell’azione e della vita stessa. Ciò
913
Husserl, La crisi delle scienze europee e la fenomenologia trascendentale, cit., p. 510.
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935,
Bd. XV, cit., p. 419.
915 Husserl stesso propone l’esempio del bambino per chiarire il progressivo svelarsi dell’orizzonte
teleologico dell’esperienza (Cfr. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem
Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935, Bd. XV, cit., p. 420).
916 «Anche l’animale ha scopi, scopi persino relativamente permanenti e, in modo corrispondente,
permanenti realizzazioni di scopi, ma solo l’uomo – l’essenza razionale – ha la cultura. Solo il tendere
(Streben) dell’uomo si pone sotto l’egida di idee coscientemente direttrici di scopi e ha di conseguenza
orizzonti infiniti, solo l’uomo tende, agisce, opera, realizza opere durature che soddisfano scopi duraturi
che superino i giorni e le ore» (Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Bd. XXVII, cit. p. 100).
917 Husserl, Fichte e l’ideale di umanità, cit., p. 76.
914
251
Zusammenfassung auf Italienisch
non vuol dire che sia l’atto volontario stesso a istituire lo scopo, in quanto tale telos è
inscritto nell’essenza stessa dell’umanità razionale ed è in cammino – come Husserl
indica con la già citata espressione di Triebintentionalität – sin dalle sfere passive e
pulsionali del vivere: «Questo processo teleologico, il processo d’essere
dell’intersoggettività trascendentale, porta in sé una “volontà di vita” universale,
inizialmente oscura nel singolo soggetto, o meglio una “volontà tesa verso il vero
essere” (forse potremmo dire che la rispettiva volontà nella sua forma patente ha un
“orizzonte di volontà” latente)»918 . La “volontà di vita” latente indica quel sottofondo
pulsionale che accompagna ogni istante della vita dell’io e che può passare dallo stato di
latenza a quello di patenza grazie a una presa di posizione volontaria e razionale dell’io.
Il momento inaugurale della decisione volontaria etica viene da Husserl spesso descritto
nei termini della scoperta di una vera e propria vocazione (Berufung), ossia della
propria personale chiamata a vivere tesi verso il telos della ragione, a seguire
liberamente la voce che risuona dalla sua ragion pratica: “Agisci secondo la tua
destinazione!”. Questa vita nella libertà etica non può mai avere fine, come la vera filosofia
insegna; si dispiega in un’infinità di compiti nella forma di un agire che li adempie
all’infinito. E in questo l’uomo autentico trova la sua beatitudine (Seligkeit), è la
beatitudine dell’autonomia morale nella liberazione da ogni schiavitù sensibile. 919
Percepire questa voce interiore è ciò che dà l’avvio al rinnovamento di sé.
L’imperativo categorico che Husserl, sulla scia di Brentano, aveva formulato nei suoi
primi corsi sull’etica diventa ora il contenuto della vocazione di ogni uomo:
Quel che qui conta, però, è che io dica a me stesso, che io riconosca, che io fondi una
volontà normativa universale, che innalzi una volta per tutte dinanzi a me questo
imperativo categorico: d’ora in avanti e senza oscillare compi il meglio, sempre il tuo
meglio, afferralo in una conoscenza conforme a norma, desidera il meglio in una volontà
consapevolmente normativa.920
L’urgente necessità di un rinnovamento etico conduce Husserl a individuare e a
descrivere quell’unica forma di vita che incarna l’ideale etico: la filosofia.
918
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935,
Bd. XV, cit., p. 378.
919 Husserl, Fichte e l’ideale di umanità, cit., p. 68.
920 Husserl, Introduzione all’etica, cit., p. 248.
252
Zusammenfassung auf Italienisch
5. La fenomenologia come decisione etica suprema
5.1 L’epoché etica universale
La riduzione fenomenologica non è agli occhi di Husserl semplicemente il metodo
teoretico che inaugura l’analisi fenomenologica, bensì un atto profondamente etico.
L’epoché è per Husserl la decisione volontaria suprema che incarna il culmine
dell’esercizio umano della libertà. Scrive infatti in Filosofia prima:
La riflessione si realizza, originariamente, nella volontà. Il soggetto, in quanto si determina
come soggetto filosofico, prende, infatti, una decisione di volontà che investe la sua intera
vita conoscitiva futura. [...] Egli [...] di proposito, determina sé stesso come un soggetto
che, ininterrottamente, vuole soltanto una conoscenza assolutamente giustificata,
sistematica e universale, cioè una filosofia.921
É un «amore per il sapere»922 a motivare una simile presa di posizione:
Originariamente il motivo della possibile presa di coscienza si trova nell’esperienza
precedente e, più spesso, spiacevole che abbiamo fatto con l’assunzione passiva di quella
mancanza di chiarificazione, avvenuta nel corso naturale del processo di formazione della
tradizione e, inoltre, con la trasformazione di significato che, in questi casi, porta con sé il
dominio passivo di una trasmissione associativa che si propaga in via analogica. 923
Secondo Husserl, esiste inoltre la possibilità di realizzare una vera e propria “epoché
etica universale”, vale a dire un’«epoché universale riguardo a tutte le validità [...] che
deve essere realizzata partendo dalle fonti della verità e della autenticità, ovvero
volendo dare forma ad una vita nuova e vera»: essa «trapassa in una determinazione
universale complessiva della volontà, ma che rappresenta già, per se stessa, una
determinazione universale della volontà»924. Questa epoché etica ha come scopo la
determinazione complessiva della volontà, ossia la decisione di volgere il proprio futuro
agire volontario all’autenticità. Essa stessa, però, è anche il primo e fondamentale atto
di volontà votato alla verità e non può essere uguagliata alla riduzione trascendentale; la
921
Husserl, Filosofia prima, cit., p. 9.
Ivi, p. 13.
923 Husserl, La storia della filosofia e la sua finalità, cit., p. 77.
924 Husserl, Filosofia prima, cit., pp. 199-200.
922
253
Zusammenfassung auf Italienisch
prima, infatti, non sospende la validità del mondo ambiente per giungere alla vita
fluente dell’io puro. Perché, allora, Husserl decide di chiamarla comunque epoché?
Prendendo in esame i numerosi passaggi dei suoi testi in cui egli si sofferma sulla
necessità di un rinnovamento della condotta pratica del soggetto, quello che possiamo
dedurre è che questa “critica universale e plasmazione di sé” abbia la stessa pretesa di
universalità dell’epoché trascendentale: così come la riduzione trascendentale sospende
tutte le validità mondane e psicologiche per giungere al darsi delle strutture universali
dell’io puro, allo stesso modo il soggetto etico «abbraccia con lo sguardo la propria
vita»925 per scoprire le strutture della vita autenticamente etica, prendendo le distanze
dal coinvolgimento emotivo con cui vive e ha vissuto tutte le circostanze della sua
esistenza. Inoltre l’epoché etica – come quella trascendentale – inoltre si fonda sulla
possibilità dell’autoriflessione. L’io può prendere le distanze dal mondo per tornare su
di sé e mettere a fuoco le strutture egologiche dei propri atti e il proprio personale
orizzonte di vita.
«Il detto delfico “gnōthi seauton” [conosci te stesso] ha ottenuto un significato
nuovo. La scienza positiva è scienza nell’abbandono del mondo. Si deve prima perdere
il mondo mediante l’epoché per riottenerlo poi con l’autoriflessione universale»926. Così
come il motto delfico esortava a realizzare un passo definitivo ed in un certo senso
irreversibile nella consapevolezza di sé, allo stesso modo l’epoché etica universale dà
l’avvio ad un cammino radicalmente nuovo e rappresenta così la condizione di
possibilità del sorgere della vera umanità.
5.2 La radicale decisione del fenomenologo: la vita come vocazione assoluta
Il concetto di teleologia personale come vocazione è uno dei cardini della concezione
etica husserliana. La vocazione è l’attuazione e il compimento dell’aspirazione
personale: «All’essenza della vita umana – scrive Husserl – appartiene […] lo svolgersi
costantemente nella forma dell’aspirazione»927, in quanto, a partire dalla tensione
teleologica che anima istante per istante la vita dell’io, il soggetto vive costantemente
925
Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 31.
Husserl, Meditazioni cartesiane e i discorsi parigini, cit., pp. 171-172.
927 Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 30.
926
254
Zusammenfassung auf Italienisch
«nella lotta per una vita “piena di valore”»928. A partire da questa constatazione Husserl
vuole delineare le diverse modalità in cui il soggetto personale può rispondere alla
vocazione etica, le «forme di vita specificamente umane o i tipi personali d’uomo a
priori diversi che ci sollevano alla forma più alta di valore dell’uomo etico e in essa
culminano»929. Questo itinerario attraverso i diversi “tipi personali” sottende come
presupposto fondamentale la possibilità dell’esercizio dell’epoché etica: ciascun
individuo, per la possibilità di autoriflessione e di libera autoformazione che gli
appartiene strutturalmente, «abbraccia con lo sguardo la propria vita e, in quanto libero,
aspira consapevolmente, e nelle diverse modalità possibili, a dare alla propria vita la
forma di una vita soddisfacente, “felice”»930. Le diverse forme di vita, i diversi mestieri,
presi in esame da Husserl corrispondono dunque ai diversi esiti a cui può giungere
l’umano esercizio della libera volontà, a seconda della classe di valori o beni che
ciascuno identifica come il bene supremo per sé. Può trattarsi della ricchezza, della
gloria personale, del possesso avido di beni materiali o così via931 . All’interno
dell’infinita varietà di forme possibili di vita, ciò che Husserl intende sottolineare è
proprio il caso particolare di una «vita di vocazione [Berufsleben] nella sua accezione
più alta e pregnante»932, come quella dell’artista, dello scienziato o dell’uomo di stato.
Ma nemmeno questa “vita di vocazione” è considerata da Husserl una vita etica
autentica: «Le forme di vita basate sull’autoregolazione universale […] abbracciano sì
l’intera vita, ma non in modo da regolare, determinandola, ogni azione, e da conferire a
ognuna di queste una forma normativa che possieda la propria fonte originaria nella
volontà generale che stabilisce la regola»933 . Perché si possa parlare di valore etico
assoluto è necessario un esercizio incessante e radicale dell’autocoscienza e
dell’autodeterminazione volontaria, e l’unica forma di vita in grado di incarnare tale
928
Ivi, p. 31.
Ivi, p. 32.
930 Ivi, p. 31.
931 In Filosofia prima Husserl osserva: «Ovunque il discorso verta sulla professione, in senso comune o
più elevato, troviamo sempre tratti generali che ricorrono allo stesso modo e che si collegano nell’unità di
una forma spirituale generale. Per esempio, chi si decide per la professione del commerciante, cercando di
farla rendere il più possibile, quanto a ricchezza, potere e considerazione, si decide anche, interiormente –
e in questo diversamente dal filosofo –, nella forma dell’“una volta per tutte”» (Husserl, Filosofia prima,
cit., p. 16).
932 Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 34.
933 Ivi, p. 35.
929
255
Zusammenfassung auf Italienisch
ideale è quella del filosofo. La peculiarità della vita filosofica rispetto a ogni altra si
mostra già nel suo inizio, in quanto nel caso dell’artista, per esempio, «l’amore e la
personale decisione di vita possono svilupparsi inosservati […]. In qualcuno può
destarsi già precocemente, già negli anni della giovinezza, un amore puro per l’arte […]
diventando così, inavvertitamente, professione, senza che abbia avuto luogo una
decisione, per così dire, solenne»934 . Mentre nel caso della professione di filosofo non
può accadere nulla di simile, in quanto «egli necessita di una decisione autentica che lo
istituisca, in primo luogo e originariamente, come filosofo. Ha bisogno di un’istituzione
originaria, che è un’autocreazione originaria. Nessuno può “andare a finire” a caso nella
filosofia»935. Il fiat volontario che inaugura la filosofia costituisce un passo totalmente
autocosciente e proprio per questa ragione la filosofia rappresenta l’unica forma di vita
che possiede un’autentica coscienza etica della responsabilità. Il filosofo è colui che
impegna se stesso e l’intera sua esistenza in un compito infinito:
filosofo è solo chi si vota alla filosofia, così come artista è solo chi vota interamente se
stesso all’arte. Interessarsi di filosofia, riflettere occasionalmente su questioni relative alla
verità e persino lavorarvi continuativamente, non significa ancora essere filosofo […]. Ciò
che in questi casi manca è il radicalismo di una volontà rivolta a ciò che è ultimo, il cui
sguardo si dirige verso l’infinità dell’idea pura e vero le infinità di un intero mondo di
idee. 936
Condizione di possibilità di una vera realizzazione di sé è un esercizio di
autoriflessione talmente radicale da arrivare a costituire una vita di «panmetodismo»,
vale a dire una «vita vissuta nella costante autoelevazione»937.
6. Considerazioni conclusive: il primato della volontà
«L’essere-Io è un costante divenire-Io. Sono soggetti, giacchè si sviluppano
continuamente»938. In quest’affermazione è racchiuso un nucleo essenziale dell’etica
934
Husserl, Filosofia prima, cit., pp. 23-24.
Ivi, p. 24.
936 Ivi, p. 21.
937 Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 46.
938 Husserl, Introduzione all’etica, cit., p. 102.
935
256
Zusammenfassung auf Italienisch
husserliana, in quanto per Husserl ogni persona sviluppa se stessa e scopre la propria
essenza nel corso di uno sviluppo costante che matura nel cammino dell’esistenza. La
persona «può avere capacità latenti che non si sono ancora manifestate. […] Un uomo
non si “conosce”, non “sa” che cos’è; impara a conoscersi»939. Qual è il motore di
questo dinamismo? Quale facoltà umana presiede il costante “divenire-io”? Senza
dubbio la volontà: essa è per Husserl la forza, l’energia vitale che muove ogni atto
dell’io e che, liberandolo attraverso la libera presa di posizione dalla prigonia
dell’istintualità, gli permette di scoprire e realizzare la propria vocazione alla
razionalità, ossia il telos dell’umanità. L’etica husserliana, in virtù della fiducia assoluta
nella forza autodeterminante della volontà, viene a configurarsi come un razionalismo
ottimistico. Husserl è consapevole dell’intrinseca imperfezione di ogni umano tentativo
di realizzazione del bene, in quanto «la mera volontà di diventare perfetti non crea di
colpo la perfezione, la cui realizzazione è legata alla forma necessaria di una “lotta
senza fine”, ma anche di un rafforzamento nella lotta. Vi è sempre la possibilità
essenziale che l’uomo cada in una vita mondana “peccaminosa”»940 . L’«uomo
paradisiaco», cioè l’uomo totalmente innocente, è per Husserl solo «un caso limite
ideale tratto da un’infinità di altre possibilità simili, e comunque tale da non poterlo
assolutamente considerare come l’ideale di perfezione, e meno che mai come l’ideale
pratico»941 . L’uomo vive una lotta constante contro gli istinti per poter riaffermare la
propria razionalità, ma vi è un’inesorabilità nell’affermarsi positivo dell’ideale
teleologico dell’umanità, in quanto – come la figura del filosofo mostra in modo
peculiare – l’io è sempre in possesso del possibile esercizio razionale
dell’autoconsapevolezza e dell’autodeterminazione.
939
Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo,
Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 253.
940 Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 45.
941 Ivi, p. 41.
257
Literaturverzeichnis
Husserl
Im Text wurden folgende Kürzungen verwendet: Hua = Husserliana – Gesammelte
Werke; Dok. = Husserliana – Dokumente; Mat. = Husserliana – Materialien.
Bandanzahl wird in römischen Ziffern angegeben.
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1950 ff.; ab 1987ff. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London; ab
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Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Karl Schuhmann
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IV: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.
Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchung zur Konstitution, Marly Biemel
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Phänomenologie. Eine Einführung in die phänomenologische Philosophie, Walter
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IX: Phänomenologische Psychologie, Walter Biemel (Hrsg.), 1962.
X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917), Rudolf Boehm
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XI: Analysen zur passiven Synthesis, Margot Fleischer (Hrsg.), 1966.
XIII: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Erster Teil:
1905-1920, Iso Kern (Hrsg.), 1973.
XIV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Zweiter Teil:
1921-1928, Iso Kern (Hrsg.), 1973.
XV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil:
1929-1935, Iso Kern (Hrsg.), 1973.
XVI: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Ulrich Claesges (Hrsg.), 1973.
XVIII: Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, Elmar
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XIX/1: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie
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und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil, Ursula Panzer (Hrsg.), 1984.
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XXVII: Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Thomas Nenon und Hans Reiner Sepp
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XXVIII: Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908-1914), Ullrich Melle (Hrsg.),
1988.
XXIX: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie. Ergänzungsband: Text aus dem Nachlaß 1934-1937, R. N. Smid
(Hrsg.), 1993.
XXX: Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie. Vorlesungen Wintersemester
1917/18. Mit ergänzenden Texten aus der ersten Fassung von 1910/11, Ursula Panzer
(Hrsg.), 1996.
XXXI: Aktive Synthesen: Aus der Vorlesung Transzendentale Logik 1920/21.
Ergänzungsband zu Analysen zur passiven Synthesis, Roland Breeur (Hrsg.), 2000.
XXXII: Natur und Geist. Vorlesungen 1927, Michael Weiler (Hrsg.), 2001.
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XXXVII: Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924,
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Thomas Vongehr und Regula Giuliani (Hrsg.), 2004.
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