UNIVERSITÀ DEGLI STUDI DI MACERATA ALBERT-LUDWIGS-UNIVERSITÄT FREIBURG IM BREISGAU DIPARTIMENTO DI FILOSOFIA DOTTORATO IN FILOSOFIA E TEORIA DELLE SCIENZE UMANE (CICLO XXIV) WILLE, UNBEWUSSTHEIT, MOTIVATION: DER ETHISCHE HORIZONT DES HUSSERLSCHEN ICH-BEGRIFFS TUTOR: Chiar.mo Prof. Roberto MANCINI Chiar.mo Prof. Hans-Helmuth GANDER COORDINATORE: Chiar.mo Prof. Luigi ALICI Dottoranda: Marta UBIALI ANNO 2012 Inhaltsverzeichnis Einleitung...........................................................................................................................5 ERSTES KAPITEL: WILLE UND MOTIVATION § 1. Einleitung: Der Wille aus phänomenologischer Perspektive ...................................10 § 2. Alexander Pfänder 2.1 Die Begegnung und die Arbeit mit Husserl ..........................................................12 2.2 Ein wesentlicher Unterschied: Die Rolle der phänomenologischen Reduktion ...17 § 3. Die Phänomenologie des Wollens: ein Vergleich zwischen Pfänders und Husserls Ansatz ..............................................................................................................................24 3.1 Pfänder: Der „geistige Schlag“ des Willensaktes .................................................24 3.2 Husserls Phänomenologie des Wollens ................................................................31 3.2.1 Der Fundierungszusammenhang zwischen objektivierenden und nichtobjektivierenden Akten ..........................................................................................31 a) Die Entstehung des Problems in den Logischen Untersuchungen ................31 b) Die Entwicklung der Ansichten Husserls in den Ideen I sowie in den Vorlesungen über Ethik und Wertlehre 1908-1914 ...........................................35 3.2.2 Die Komplexität des Phänomens des Wollens und seine Modalisierungen..39 3.2.3 Moritz Geiger: Das unerlebte Wollen ...........................................................43 3.2.4 Die eigentümlichen Charaktere des Willens bei Husserl ..............................48 § 4 Die Motivation als Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens .................................56 4.1 Die Analysen Pfänders zur Motivation .................................................................57 4.2 Die Motivation bei Husserl ...................................................................................64 4.2.1 Motivation als Sinneszusammenhang der Erfahrung....................................68 4.2.2 Die passive Motivation: Trieb und Assoziation ............................................75 ZWEITES KAPITEL: DIE ROLLE DER PASSIVEN SEDIMENTIERUNGEN UND DER TRANSZENDENTALEN HABITUALITÄTEN IN DER KONSTITUTION DES ICH § 1. Einleitung: Das Rätsel des Unbewussten .................................................................85 § 2. Das Ablaufphänomen und der unendliche Horizont des inneren Zeitbewusstseins .88 2.1 Das Jetzt der Urimpression ...................................................................................93 2.2 Der Kometenschweif der Retention und die Wiedererinnerung ...........................96 2.3 Die Protention .....................................................................................................100 § 3. Das Unbewusste als „Reich der scheinbar zu nichts gewordenen Vergessenheiten“ .......................................................................................105 3.1 Die Sedimentierungen der nicht mehr aktuellen Akten ......................................105 a) Die retentionalen Abwandlungen und das Versinken jeden Bewusstseinsinhalts .........................................................................................105 b) Phänomenologie des Unbewussten als Phänomenologie der versunkenen Sedimentierungen ............................................................................................109 3.2 Die Wirksamkeit des Verdeckten ........................................................................116 3.3 Husserl und Freud: Zwei Perspektiven auf das Unbewusste ..............................120 3.4 Die Möglichkeit der Weckung ............................................................................134 § 4. Die bleibenden Meinungen und die transzendentalen Habitualitäten ....................137 § 5. Die Konstitution des bleibenden Charakters und der Persönlichkeit .....................146 DRITTES KAPITEL: DER ETHISCHE HORIZONT DES HUSSERLSCHEN ICH-BEGRIFFS: DAS WILLENTLICHE ICH-WERDEN § 1. Einleitung: Die ethische Frage als Kern der Phänomenologie Husserls ................150 § 2. Die ethischen Folgen der Motivationsgesetzmäßigkeit .........................................155 § 3. Die erste Richtung der Ethik Husserls: Die formale Ethik und der Parallelismus zwischen Logik und Ethik .............................................................................................164 § 4. Husserls späte Ethik: Erneuerung und Verantwortung ...........................................175 § 5. Die Phänomenologie als die höchste ethische Willensentscheidung......................191 5.1 Die universale ethische Epoché ..........................................................................191 5.2 Die radikale Lebensentscheidung des Phänomenologen: Ein Leben absoluter Berufung....................................................................................................................198 § 6. Abschließende Betrachtungen: Der Vorrang des Willens .......................................205 Schluss ...........................................................................................................................210 Zusammenfassung auf Italienisch .................................................................................213 Literaturverzeichnis .......................................................................................................258 Einleitung Die Aufgabe dieser Arbeit besteht in dem Versuch, einige wichtige Fragen nach dem Wesen und der Dynamik des Ichlebens durch den grundlegenden Beitrag der Phänomenologie Husserls zu beantworten. Die im Folgenden behandelten Fragen entstehen durch aufmerksame Beobachtung der menschlichen Erfahrung, insbesondere im Hinblick auf das Phänomen des Willens, das aufgrund seiner zentralen Bedeutung beständig im Blickpunkt von Husserls Interesse steht – bereits in den Logischen Untersuchungen, und bis zu seinen Überlegungen der 30er Jahre. Eine Phänomenologie der Erfahrung kann übrigens nicht darüber hinwegsehen, dass der Mensch ununterbrochen mehrere Ziele erreichen will, sodass in jedem Augenblick unseres Lebens eine beständige willentliche Spannung herrscht. Doch genau hier liegt die Komplexität der Frage, denn die Schwierigkeit, worin der Wille eigentlich besteht, ist nicht ohne weiteres einsichtig. Für gewöhnlich verleiht man dem Ausdruck „Ich will“ den Sinn der Setzung praktischer Vorsätze, expliziter Stellungnahmen – kurz: den Sinn echter freier Aktivität. Und doch zeigt sich die Erfahrung vielfältig und nuancenreich. Obgleich Triebe, Wünsche, passive und unbewusste Formen des Strebens verschiedene Phänomene darstellen, gehört zur grundlegenden menschlichen Erfahrung überdies eine fortwährende Verflechtung dieser Dimensionen, aufgrund welcher sie häufig als kaum unterscheidbar erscheinen. Wie oft werden wir uns erst nachträglich bewusst, dass ein unbemerktes Wollen schon lange Zeit unsere Einstellung bedingt hat? Können wir immer klar begreifen und äußern, was wir in der Tat wollen? Auf welche Weise beeinflussen sowohl unsere Gewohnheiten als auch unsere persönliche Geschichte unsere neuen Entscheidungen? Und andererseits, was genau zeichnet die Eigentümlichkeit eines echten Willensaktes, das heißt einer eigentlich freien Stellungnahme, aus? Solche und weitere, mit diesen verknüpfte Fragen stecken die Entwicklung der vorliegenden Arbeit ab und finden in Husserl beziehungsweise in seiner Phänomenologie eine fruchtbare Auseinandersetzung: Je weiter diese Entwicklung fortschreitet, erwächst aus der Analyse der Beziehung zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Sphäre die Gelegenheit, die grundlegenden 5 Einleitung Dimensionen zu entdecken, welche Husserl dem Wesen und der ethischen Rolle des Ich zuschreibt. Die drei Termini im Titel – Wille, Unbewusstheit und Motivation – die Kernpunkte der Untersuchung, wie im Laufe der Arbeit klarer werden wird: Wille und Unbewusstheit bezeichnen die aktive respektive passive Lebensdimension; Motivation ist die Grundgesetzlichkeit des gesamten geistigen Lebens, die daher sowohl die aktive als auch die passive Stufe umfasst. Um die Eigentümlichkeit der Husserlschen Auffassung des persönlichen Ich und dessen Dimensionen zu erfassen, gilt besonderes Interesse der Möglichkeit einer theoretisch fruchtbaren Gegenüberstellung der Standpunkte Husserls mit denen anderer Phänomenologen, wie Alexander Pfänder und Moritz Geiger, bezüglich der Frage nach der Phänomenologie des Willens, oder auch denen Sigmund Freuds und dessen Perspektive auf das Unbewusste: Hier bietet sich die Gelegenheit, erneut die Aktualität und den Reichtum der Husserlschen Phänomenologie zu entdecken. Der aufmerksame Leser dieser Arbeit wird schnell bemerken, dass sich die folgende Analyse auf verschiedene Texte Husserls bezieht, ohne dass im Vorhinein ein bestimmter Zeitraum seines Werkes priviligiert würde. Gewiss könnte diese Entscheidung zur (misslichen) Folge haben, dass die beträchtlichen Veränderungen und Überarbeitungen nivelliert würden, welche die Husserlschen Begriffe im Laufe der Jahre erfahren haben. Gleichwohl folgt diese methodische Wahl der Absicht, einen synchronen Überblick zu bestärken, um ein all den verschiedenen Momenten der Phänomenologie Husserls stützendes Grundgefüge zu eruieren. Jetzt gilt es, kurz auf den Inhalt der drei Kapitel dieser Arbeit einzugehen. Im ersten Kapitel der vorliegenden Ausführungen stehen die Begriffe des Willens (§ 1; § 2; § 3) und der Motivation (§ 4) im Mittelpunkt der Analyse. Nach Husserl stellt der Wille eine grundlegende Dimension des menschlichen Lebens dar, da er jeden Akt des Ich in Form sowohl eines echten Willensaktes, das heißt einer willentlichen Stellungnahme, als auch in Form einer willentlichen Spannung begleitet. Die Behandlung der Thematik des Willens mündet daher in eine Auseinandersetzung mit jenen passiven Sphären, die dem Bereich des Freiwilligen scheinbar fremd sind: Der 6 Einleitung Sphäre der Triebe, des Strebens, der Wünsche. Im Vergleich mit der Phänomenologie Alexander Pfänders und seinen Texte Phänomenologie des Wollens und Motive und Motivation zeichnet sich die Eigentümlichkeit der Husserlschen Auffassung des Willensbereichs und der Beziehung zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Akten besonders deutlich ab. Außerdem leisten die Überlegungen eines weiteren Phänomenologen und Lipps-Schülers Moritz Geiger, diesbezüglich einen bedeutsamen Beitrag: Geigers „unerlebtes Wollen“ weist in die Richtung der Anerkennung der vielseitigen Modalisierungen des Willens, die besonders von Husserl umfassend untersucht werden. Gegenstand des zweiten Teils des ersten Kapitels bildet das Thema der Motivation. Es hebt, kraft der Leistung Alexander Pfänders, die zentrale Bedeutung hervor, die dieser Begriff bei Husserl innehat – der Husserlsche Grundbegriff der Motivation stellt sich nämlich als Erweiterung des Begriffes der Motivation, wie er im täglichen Sprachgebrauch verwendet wird, heraus. Der Reichtum der Motivation als Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens wird im Laufe des Kapitels aus zwei wesentlichen Perspektiven untersucht: Der Motivation als Sinnzusammenhang der Erfahrung, und der Motivation als Dimension, welche sowohl die aktive beziehungsweise rationale als auch die passive beziehungsweise irrationale Stufe der Erfahrung umfasst. Das zweite Kapitel widmet sich der Dimension des Unbewussten, das heißt der Dimension der dunklen und passiven Motivationszusammenhänge. Ziel ist es hier, den Sinn der Husserlschen Phänomenologie des Unbewussten herauszustellen. Im Mittelpunkt dieser Analyse steht die Frage nach der genetischen Konstitution der Geschichte des Ich; daher spielen hier die Begriffe der Sedimentierung, des Niederschlags, der Vergessenheit und des Erwerbs eine wesentliche Rolle. Um diese für Husserl stets grundlegende Dimension zu begreifen, muss man zunächst bei seiner Auffassung der Momente des konstitutiven Flusses der Zeitlichkeit ansetzen (§ 2), denn der erste Schritt des Weges zum Unbewussten besteht in der Betrachtung des Ablaufphänomens und des unendlichen Horizontes des inneren Zeitbewusstseins, welche die Bedingung für das Versinken der Erlebnisse in das Reich der Vergessenheiten darstellen. Der darauffolgende Abschnitt des Kapitels (§ 3) beschäftigt 7 Einleitung sich mit der Frage nach dem Unbewussten aus phänomenologischer Perspektive, unter anderem durch eine fruchtbare Gegenüberstellung mit dem psychoanalytischen Ansatz Freuds zum Problem des Unbewussten: Aufgrund der notwendigen retentionalen Wandlung versinkt jede lebendige Urimpression allmählich in einer unterschiedslosen Nullsphäre. Obwohl dies zu einer zunehmenden Modifikation der affektiven Kraft führt, geht nach Husserl nichts spurlos verloren. Vielmehr besitzt alles noch eine affektive Kraft und neigt dazu, zu verbleiben. Folglich schlägt sich eine sich entwickelnde ,Geschichte‘ des Ich nieder, deren transzendentale Bedingungen und theoretische Implikationen den Mittelpunkt des letzten Teils dieses Kapitels bilden. Die Wesensgesetzmäßigkeit der bleibenden Meinungen als Niederschläge im reinen Ich (§ 4) bildet das transzendentale Gesetz der Konstitution der Identität des Ich, seines bleibenden Stils und seines personalen Charakters (§ 5). Das Abschlusskapitel beschäftigt sich schließlich mit grundsätzlichen ethischen Fragen, welche durch die Phänomenologie des Willens und die Phänomenologie des Unbewussten aufgeworfen werden. Zunächst wird es darum gehen, die ethischen Implikationen der bisher erörterten Motivationsgesetzlichkeit herauszuarbeiten (§ 2): Eine Anerkennung der Motivation als Dimension, welche sowohl die aktive als auch die passive Stufe des Ichlebens umfasst, bewirkt, dass kein Akt als kausaler Mechanismus aufgefasst werden kann, weil Motivation in einem gewissen Sinn als Synonym für geistige Freiheit fungiert. Jeder Willensakt besitzt eine Selbstbestimmungskraft und prägt mithin die ethische Persönlichkeit. Diesem allgemeineren Überblick folgt sodann eine ausführlichere Analyse des Inhaltes der Husserlschen Ethik in ihren unterschiedlichen Phasen: Husserls erster Versuch, eine formale Ethik parallel zur formalen Logik zu begründen (§ 3), sowie die spätere Ethik, welche von dem Bedürfnis nach radikaler ethischer Erneuerung und persönlicher Verantwortung bestimmt ist (§ 4). Der Schlussteil des Kapitels wiederum hebt hervor, dass die Ethik keinen bloßen Zusatz zu den theoretischen Überlegungen Husserls darstellt, sondern der die Husserlsche Phänomenologie antreibende Kern (§ 5) selbst ist. Die phänomenologische Epoché ist Husserl zufolge keine bloß intellektuelle Vorstellung, sondern das Ergebnis eines motivierten und persönlichen Willensentschlusses, das heißt der Gipfel der 8 Einleitung menschlichen Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit, sodass der radikalen Lebensentscheidung des Phänomenologen das Leben absoluter Berufung entspricht. Diese Betrachtungen resultieren im Vorrang des Willens im Vertrauen auf die menschliche Rationalität, welche die Ethik Husserls antreiben (§ 6). 9 Erstes Kapitel Wille und Motivation § 1 Einleitung: Der Wille aus phänomenologischer Perspektive Der Wille ist ein zentrales Thema der Phänomenologie, denn er stellt nicht nur eine der menschlichen Fähigkeiten dar, welche neben der Vernunft und dem Selbstbewusstsein die geistige Subjektivität ausmachen, sondern eine übergreifende Dimension, die das gesamte Leben des Ich durchdringt. Die folgenden Überlegungen werden sich aus phänomenologischer Perspektive mit der Frage nach dem Wesen des Willens beschäftigen: Eine solche Untersuchung führt nicht nur zur genauen Beschreibung und Analyse der verschiedenen Momente des Willensaktes, sondern verbindet gleichzeitig andere wichtige und miteinander zusammenhängende Fragen, wie die nach der problematischen Beziehung zwischen der willkürlichen und der unwillkürlichen Sphäre des Ich-Lebens, die Frage nach dem Wesen der Triebe und der Instinkte sowie nach der Motivation, d.h. der „Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens“1, der die Analysen des vorliegenden Kapitels gewidmet sind. Die Dimension des Willens nimmt außerdem – wie im letzten Teil dieser Ausführungen gezeigt wird – eine direkte und zentrale Rolle im ethischen Bereich, besonders in der personalistischen Ethik ein, die Husserl mit der Zeit entwickelt hat: Der Wille stellt die menschliche Fähigkeit dar, Instinkte und Triebe zu hemmen und höhere Werte anzunehmen und ermöglicht, das eigene Leben, die Persönlichkeit und die Handlungen zu prägen. Husserl hat nie aufgehört, sich mit dem Thema des Willens zu befassen. Schon in den Logischen Untersuchungen setzt er sich mit der Frage nach dem Wesen der Willensakte auseinander, indem er sich mit dem Unterschied zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten, ihrer Klassifizierung und ihrem Fundierungsverhältnis beschäftigt. Es ist von Bedeutung, dass Husserl bereits in jenen anfänglichen Überlegungen über den Willen nach der Komplexität fragt, 1 Hua IV, 220. Wille und Motivation welche „in der Sphäre des Begehrens und Wollens“ 2 liegt. Er bemerkt, dass „wir doch oft von einem dunkeln Langen und Drängen bewegt und einem unvorgestellten Endziel zugetrieben werden“ 3: Die komplexe Verflechtung der eigentlichen Dimension des Willens mit der Passivität der Triebe ist bereits Gegenstand der Aufmerksamkeit Husserls. Dem Fundierungsverhältnis zwischen objektivierenden und nichtobjektivierenden Akten sind auch die Hinweise auf den Willen im ersten Band der Ideen gewidmet. Auf dieser theoretischen Voraussetzung fußend schließen sich die Vorlesungen über Ethik und Wertlehre von 1908 und 1914 an, welche eine reiche und ausführliche Analyse der Struktur und der verschiedenen Momente des Willensaktes bieten, was später noch eingehender gezeigt werden soll. In den folgenden Werken und Untersuchungen Husserls wird das Thema des Willens immer präsenter und von Husserl zunehmend in einer genetischen Richtung vertieft. Die Frage nach dem Willen deckt sich mit der Frage nach der Entstehung des Willensaktes aus dem Grund der Passivität, was unausweichlich zur Aufgabe eines gründlichen Begreifens der Rolle der Motivationen im Leben des Ich führt. Vor Husserl hatte sich allerdings schon ein anderer deskriptiv-phänomenologisch arbeitender Philosoph mit der Willens- und der Motivationsproblematik beschäftigt: der Münchener Philosoph Alexander Pfänder. Indem von den Untersuchungen ausgegangen wird, die Pfänder dem Problem des Willens und der Motivation gewidmet hat, wird nicht etwa die hier zu untersuchende Thematik verlassen. Es gilt vielmehr zuerst, die Philosophie Pfänders in den Blick zu nehmen, um den sachlichen Leitfaden für ein angemessenes Verständnis der Husserlschen Herangehensweise zu gewinnen, weil die Ausführlichkeit und die deskriptive Übersichtlichkeit der Pfänderschen Analysen deutlich die konstitutiven Momente des Willensaktes und der Motivation sowie ihre jeweiligen Eigentümlichkeiten hervorheben. Pfänder ist – wie es später noch eingehender gezeigt wird – ein bedeutender Vertreter der Ansprüche, die auch bei Husserl dazu führen, im Willen die 2 3 Hua XIX/1, 409. Hua XIX/1, 409. 11 Wille und Motivation bevorzugte Fähigkeit dafür zu erkennen, die Subjektivität aus den Engen der naturalistischen und physiologischen Psychologie befreien zu können. Darüber hinaus sind Pfänders Analysen dieser Themen tatsächlich ein wichtiger Anhaltspunkt für Husserl gewesen, mit dem er sich tief auseinandergesetzt hat.4 Ziel des nächsten Abschnittes ist daher, die Arbeit Pfänders und den Kern seiner Auffassung über den Willen herauszuarbeiten. § 2 Alexander Pfänder 2.1 Die Begegnung und die Arbeit mit Husserl Pfänder zählte zu den vielversprechenden Schülern von Theodor Lipps und gründete im Jahr 1901 zusammen mit anderen Lipps-Schülern, wie etwa Johannes Daubert, den „Akademisch-Psychologischen Verein“. Was diese jungen Wissenschaftler vereinte, war der Versuch, eine deskriptive und nicht-naturalistische Psychologie zu begründen, analog zu Lipps’ Anschauungen, der in seinem Leitfaden der Psychologie schreibt: Der Weg der Psychologie ist zunächst und ist letzten Endes überall der Weg der unmittelbaren Beobachtung der Tatsachen, um welche es sich für diese Wissenschaft handelt. Und diese wiederum ist zunächst Selbstbeobachtung, d.h. Beobachtung der eigenen Bewusstseinserlebnisse.5 Erst recht galt dies für Pfänder, der zunächst als Ingenieur ausgebildet worden war und dann durch Theodor Lipps in die Philosophie eingeführt wurde: Es ist 4 Hierzu betont Vargas Bejarano, dass Pfänders phänomenologische Analyse des Willens „Husserls Forschung weitgehend beeinflusst hat. Der Hauptvertreter der frühen Phänomenologie in München hat den Willen hinsichtlich seiner Motive beschreiben [...]. Diese Analysen haben Husserl so beeinflusst, dass er das Problem der Verfassung des Willens erneut aufgegriffen hat“ (Vargas Bejarano, Julio Cesar: Phänomenologie des Wollens. Seine Struktur, sein Ursprung und seine Funktion in Husserls Denken, Frankfurt a. M. 2006, 22). Für eine ausführliche Übersicht zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Beeinflussung zwischen Husserl und Pfänder siehe Schuhmann, Karl: Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, Den Haag 1973. 5 Lipps, Theodor: Leitfaden der Psychologie, Saarbrücken 2006, 42. 12 Wille und Motivation verständlich, dass sein Hauptinteresse der Psychologie galt, und zwar besonders einer deskriptiven Ausweitung der bestehenden Psychologie. Eine Gelegenheit zur Begegnung und Zusammenarbeit zwischen Husserl und dem Verein bot sich mit der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen, die das Interesse und die Aufmerksamkeit der Lipps-Schüler auf sich zogen.6 Diejenigen Fragen und Diskussionspunkte, welche die Münchener Schule beschäftigten, standen auch in Husserls Werk im Vordergrund, das schnell zum wissenschaftlichen Ausgangspunkt für den Verein avancierte. Insbesondere die Psychologismus-Kritik, die Husserl in den Prolegomena zur reinen Logik nicht zuletzt gegenüber Theodor Lipps formulierte7 , sowie sein eigener deskriptiver Ansatz in der Untersuchung psychischer Phänomene, erschien den Lipps-Schülern überzeugender als die Auffassungen ihres Lehrers.8 Der bekannte Husserlsche Ausdruck „Zu den Sachen 6 Unter den Schülern war Daubert der erste, der verstand, dass die Logischen Untersuchungen einen Wendepunkt in der philosophischen Situation der damaligen Zeit darstellten. Hierzu schreibt Spiegelberg: „Then, as tradition has it, one day in 1903 Husserl received the visit of an unknown student of philosophy from Munich, who was said to have come all the way on his bicycle. From 3 P.M. to 3 A.M. Husserl discussed the Logische Untersuchungen with him, in whom he recognized ,the first person who had really read the book‛. This conversation was easily the most important single event in the history of the Munich Phenomenological Circle“ (Spiegelberg, Herbert: The phenomenological movement. A historical introduction, Den Haag 1960, 171). 7 Husserl schreibt hierzu: „Nach Lipps scheint es sogar, als wäre die Logik der Psychologie als ein bloßer Bestandteil einzuordnen“ (Hua XVIII, 64). 8 Dazu bemerkt Spiegelberg: „Lipps tried to defend his position before the group. But the effect was practically the opposite of what Lipps intended“ (Spiegelberg, The phenomenological movement. A historical introduction, 157). Daubert schildert in einem Brief an Husserl sein Erstaunen über die Früchte der Begegnung zwischen ihm und den Lipps-Schülern: „Vor allem bin ich erstaunt darüber, wie weit der Kreis der älteren Lippsschüler hier ist: Geiger, Fischer, Dohrn, Gallinger. Es ist geradezu erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit und methodischer Schärfe man sich hier über schwere phänomenologische Fragen verständigen kann. Zu diesem ganzen Kreis steht nach wie vor im Gegensatz Lipps. Es ist merkwürdig, sein alter Gedanke der Münchener Psychologenschule hat sich verwirklicht, nur nicht so, wie er es sich dachte. Denn die ganze Entwicklung geschah hier viel im Gegensatz zu ihm, den er herausforderte“ (Dok. III/2, 47). Es ist wichtig zu bemerken, dass Lipps selbst trotz der Kritiken Husserls die große Bedeutung seines phänomenologischen Ansatzes erkannt hatte, wie er in einem Brief an Husserl schreibt: „Sehr gefreut haben mich die Kritiken, die Sie mir soeben zugeschickt haben, und für die ich bestens danke. Ich bin mit Ihnen durchaus einverstanden [...]. Überhaupt scheint es mir, wir gehen im Wesentlichen zusammen. Nur mit Ihrer Terminologie kann ich mich mitunter schwer befreunden. Es scheint mir, sie könnte einfacher sein. Gelegentlich ist sie mir auch noch zu psychologistisch“ (meine Hervorhebung) (Dok. III/2, 121). 13 Wille und Motivation selbst!“9 wurde zu ihrem eigenen Grundsatz, der einen neuen Weg für ein realistisches Begreifen der psychischen Phänomene eröffnete.10 Die erste Begegnung zwischen Pfänder und Husserl fand auf Vermittlung Dauberts statt, der als „Mittelsmann zwischen dem ‚Psychologischen Verein‛ und Husserl selber“ 11 fingierte und „ohne je eine Zeile geschrieben zu haben, mehr zum Bekanntwerden der Logischen Untersuchungen beigetragen hat als irgendein anderer.“12 Die Begegnung erfolgte Ende Mai 1904 in München, worauf Pfänder die Logischen Untersuchungen intensiv durchzuarbeiten begann. Diese Begegnung war sehr fruchtbar nicht nur für Pfänder, sondern auch für Husserl, wie man der Korrespondenz zwischen ihnen entnehmen kann. Obwohl ein Großteil der Korrespondenz Pfänders an Husserl nur in wenigen Briefen Husserls erhalten ist, ist es möglich, von den Briefen Pfänders ausgehend jene von Husserl zu rekonstruieren und daraus dessen Wertschätzung für Pfänder zu erkennen13, wenn Pfänder ihm – nachdem Husserl Pfänders Einführung in die Psychologie14 gelesen hatte – am 31. Juli 1905 schreibt: „Ich freue mich sehr über Ihre Anerkennung und über Ihre Anmunterung, mich nicht durch unfreundliche oder verständnißlose Kritik verärgern zu lassen.“ 15 Die besagte erste Begegnung zwischen den Philosophen fand statt, nachdem Husserl im „Psychologischen Verein“ der Münchener Lipps-Schüler einen 9 Vgl. Hua XIX/1, 10. Dazu behauptet Lavigne: „Cette expression est tôt devenue usuelle dans le cercle des premiers élèves de Göttingen, pour caractériser ce qui leur était apparu – y compris aux anciens élèves munichois de Th. Lipps, philosophiquement déjà plus avancés, en particulier Pfänder, Geiger, Daubert – comme l’originalité la plus précieuse de l’auteur de le Recherces Logiques: ce que Husserl appelle lui-même son ‚objectivisme gnoséologique‛ (‚erkenntniskritischen Objektivismus‛, lettre à Piktin du 12 février 1905), qui s’était exprime à la fois dans la défense de l’objectivité propre des idéalités logiques, et dans le retour critique aux intuitions donatrices originaires (,Zu den Sachen selbst’)“ (Lavigne, Jean-François: Husserl et la naissance de la phénoménologie (1900-1913), Paris 2005, 133). 11 Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I., 20. 12 Geiger, Moritz: Alexander Pfänders methodische Stellung, in: Heller, Ernst; Löw, Friedrich (Hrsg.): Neue Münchener philosophische Abhandlungen, Leipzig 1933, 4. 13 Spiegelberg unterstreicht, dass „Husserl von Pfänder stark beeindruckt [war], als er ihm [...] begegnete. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch Pfänders damals gerade erschienene unorthodoxe ‚Einführung in die Psychologie‛. Daraus erklärt sich auch, dass Husserl im Jahre 1905 die Anregung für einen gemeinsamen Ferienaufenthalt in Seefeld in Tirol gab, an dem auch andere Lipps-Schüler teilnahmen und der zu mancherlei beiderseits bedeutsamen Gesprächen und Entwicklungen führte“ (Spiegelberg, Herbert: Alexander Pfänders Phänomenologie, Den Haag 1963, 2-3). Die Wichtigkeit dieses gemeinsamen Urlaubs in Seefeld in den Sommerferien 1905 ist auch von Schuhmann ausführlich hervorgehoben worden, vgl. dazu Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I., 128 ff. 14 Pfänder, Alexander: Einführung in die Psychologie, Leipzig 1904. 15 Dok. III/2, 133. 10 14 Wille und Motivation Vortrag gehalten hatte. Es ist zu bemerken, dass Pfänder die Bedeutung dieser Begegnung sofort begriff. Tatsächlich schrieb er in einem Brief an Husserl am 13. Juli 1904: „An jenem interessanten Abend im hiesigen Verein für Psychologie fand ich in Ihren Darlegungen [...] überraschend große Übereinstimmung mit meinen eigenen Ansichten.“16 Von diesem Moment an – zumindest war es für ihn der entscheidende Schritt – arbeitete Pfänder in den darauffolgenden Monaten die Logischen Untersuchungen intensiv durch: Die ruhige Sicherheit, mit der Sie die Thatsachen ins Auge fassen, die delikate, behutsame Weise, in der Sie so feinsinnig und eindringend die Thatsachen und Bedeutungen analysiren, sind geradezu bewundernswert und vorbildlich. Dadurch kommt Ihrem Buch schon eine außerordentliche erzieherische Wirkung zu. [...] Für mich persönlich ist das Studium Ihres Werkes von dem allergrößten Werte gewesen. [...] Zwar tendierte ich schon nach den gleichen Grundrichtungen, aber doch noch vielfach ganz im Dunkeln tastend. Nun habe ich neuen Mut bekommen, nun sehe ich Licht und klare Perspectiven bis in weite Fernen. 17 Die Logischen Untersuchungen wurden von Pfänder als ein entscheidender Beitrag anerkannt: Er fand in Husserl eine Stütze, da er sich nach der Methode von Lipps bereits mit einer subjektiven und deskriptiven Untersuchungsmethode für die psychischen Phänomene beschäftigt hatte, wie er es auch in seiner Einführung in die Psychologie andeutet: [D]ie Psychologie ist also eine Wissenschaft von etwas Wirklichem. [...] Nur durch aufmerksame Beobachtung, durch vergleichende und unterscheidende Untersuchung der wirklichen Welt selbst, also durch Erfahrung in diesem Sinne, kann eine Wissenschaft vom Wirklichen ihr Ziel zu erreichen hoffen. Wirklichkeitswissenschaften können nur Erfahrungswissenschaften sein. 18 Pfänder bekämpfte die Versuche, eine physiologische Psychologie zu begründen, d.h. eine solche Psychologie, in der „beide Wissenschaften der Anatomie und der Physiologie [...] die wahre Grundlage der Psychologie bilden“ 19. Er bezeichnete die 16 Dok. III/2, 131. Dok. III/2, 132-133. 18 Pfänder, Einführung in die Psychologie, 8. 19 Pfänder, Einführung in die Psychologie, 95. 17 15 Wille und Motivation „Psychophysiologie“ 20 als einen derartigen Versuch, beabsichtigte jedoch nicht, die Ergebnisse anzuzweifeln, die eine solche Wissenschaft hervorbringt, ja er betonte, dass sie „nicht nur möglich, sondern eine an sich wichtige und für die Psychologie bedeutungsvolle Aufgabe [ist]. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auf Grund ihrer Ergebnisse die Psychologie manche Korrektur erfahren könnte.“ 21 Dennoch betonte Pfänder – wie ebenfalls auch Husserl, was später noch deutlicher gezeigt wird – gleichzeitig die Unmöglichkeit, durch eine solche Methode psychische Tatbestände zu erfassen, da „eine solche Psychophysiologie [...] nicht der eigentlichen Psychologie vorhergehen und den Anfang aller psychologischen Untersuchung bilden [kann].“ 22 Auf diese Weise wird ersichtlich, warum „[d]ie Entdeckung von Husserls parallelem Kampf [...] die Grundlage für das philosophische Bündnis“ 23 war, wie Spiegelberg formuliert. Die Zusammenarbeit zwischen Husserl und Pfänder wurde im Laufe der Zeit intensiver, wie es nicht nur die besagten zahlreichen Briefe, sondern auch die Notizen Husserls in seinen Exemplaren der Werke Pfänders sowie die in seinen Manuskripten und Werken enthaltenen Verweise auf dessen Gedanken belegen.24 Husserl hat außer der Einführung in die Psychologie auch andere Werke Pfänders gelesen und durchgearbeitet, sowohl der Begegnung mit Husserl vorangehende Texte wie die Phänomenologie des Wollens 25 als auch Pfänders während seiner Zusammenarbeit mit Husserl geschriebene Werke wie Motive und Motivation26. Damit sind zwei Texte genannt, deren Wichtigkeit für die Entwicklung der 20 Er bestimmt auf diese Weise die Psychophysiologie: „Unter dem Titel einer physiologischen Psychologie kann man nun freilich eine Wissenschaft verstehen, die nicht durch rein physiologische Untersuchungen oder Phantasien eine Psychologie schaffen will, sondern sich die Aufgabe setzt, den Zusammenhang, in dem die Gehirnvorgänge und das zugehörige psychische Leben stehen, im einzelnen genauer festzustellen“ (Pfänder, Einführung in die Psychologie, 100). 21 Pfänder, Einführung in die Psychologie, 100. 22 Pfänder, Einführung in die Psychologie, 100. 23 Spiegelberg, Alexanders Pfänders Phänomenologie, 6. 24 Für eine vollständige Übersicht der Randbemerkungen Husserls in den in seiner Bibliothek befindlichen Büchern Pfänders sowie über die zum sogenannten „Pfänder Konvolut“ gehörenden Manuskripte Husserls vgl. Schuhmann, K.: Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, 29ff. 25 Pfänder, Alexander: Phänomenologie des Wollens. Eine psychologische Analyse, Leipzig 1900. 26 Pfänder, Alexander: Motive und Motivation, in: Phänomenologie des Wollens. Motive und Motivation, München 1963. 16 Wille und Motivation Husserlschen Auffassung der Willensdimension später genauer herausgestellt werden soll. Diese gemeinsame Arbeit nahm die Form einer intensiven Kooperation an, indem Pfänder zwischen 1920 und 1927 direkt die Herausgabe des Jahrbuches für Philosophie und phänomenologische Forschung besorgte und 1921 seine Husserl gewidmete Logik im Jahrbuch erschien. Ein Brief von 1922 an Natorp beweist deutlich, dass Husserl Pfänder als Mitarbeiter sehr geschätzt hat: Es thut mir leid, daß Sie Pfänder nicht so schätzen können wie ich es muß [...]. Aber Ihnen gegenüber kann ich nicht anders als offen sein und muß also sagen, daß ich Pfänder nicht nur für einen grundsoliden Arbeiter, sondern für eine radicalphilosophische Persönlichkeit halte. Der Ausgang von Lipps hat ihm lange den Blick für die transzendentalen Probleme versperrt, aber er ist in seiner m.E. originellen, sich alles selbsterarbeitenden Art fort und fort geschritten und seine Vorlesungen üben nicht umsonst eine tiefgehende Wirkung; trotz ihrer nüchternen Art. 27 Diese ehrliche Wertschätzung bedeutete allerdings keine vollständige Übereinstimmung zwischen den Ansätzen Husserls und Pfänders. Ein Jahr vor dem zitierten Brief an Natorp hatte Husserl an Roman Ingarden geschrieben: „Selbst Pfänders Phänomenologie ist eigentlich etwas wesentlich anderes als die meine, und da ihm die constitutiven Probleme nie voll aufgegangen sind, gerät er, der übrigens Grundehrliche und Solide, in eine dogmatische Metaphysik.“ 28 Welches sind die Gründe und Hauptaspekte des genannten Unterschieds? Was meinen je Husserl und Pfänder mit dem Terminus „Phänomenologie“? 2.2 Ein wesentlicher Unterschied: Die Rolle der phänomenologischen Reduktion Bevor man direkt eine Gegenüberstellung von Husserls und Pfänders Analyse der Willensakte und der Motivation vornimmt, ist es nötig, auf die zuletzt genannte Frage zu antworten. 27 28 Dok. III/5, 149. Dok. III/3, 215. 17 Wille und Motivation Es ist zunächst bemerkenswert, dass Pfänder unabhängig von Husserl zum Begriff der „Phänomenologie“ gelangt ist.29 Seine Phänomenologie des Wollens 30 lag bereits 1899 vor31, ein Jahr vor der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen, auch wenn es allerdings ebenso erforderlich ist festzuhalten, dass in Pfänders Werk eine ausgearbeitete Darlegung der Bedeutung der phänomenologischen Methode gänzlich fehlt, weil „nicht Phänomenologie, sondern das Wollen [...] Pfänders Thema“32 ist. In dieser Schrift fehlt nicht nur eine Bestimmung der phänomenologischen Methode, sondern überhaupt der Terminus „Phänomenologie“. Pfänder selbst hatte den Begriff der Phänomenologie seinerseits von seinem Lehrer Lipps übernommen33: Schon Lipps hatte in der Tat „Phänomenologie“ 34 als Beschreibung der im Bewusstsein vorfindlichen Erscheinungen der psychischen Phänomene verstanden: „Jener phänomenologische Begriff des Psychischen – behauptet Lipps 1900 – hatte zum Inhalt die unmittelbar erlebte Beziehung zum unmittelbar erlebten Ich.“ 35 Das hindert dennoch daran, dasjenige, was Pfänder mit seiner „Phänomenologie“ untersuchen will, deutlich werden zu lassen: Nach Pfänder ist Phänomenologie vor 29 Jacques Maritain behauptet im Jahr 1932: „Le mouvement phénoménologique a été in Allemagne un mouvement trés complexe; et ce serait une erreur de penser qu’Edmund Husserl en a été le seul initiateur...Il y a une école phénoménologiques munichoise [...] dont on pourra apprécier toute l’importance tant que l’enseignement du Prof. Pfänder n’aura pas fait l’objekt de publications d’ensemble.“ (Maritain, Jacques: Distinguer pour unir ou les degrés du savoir, Paris 1932, 195). Geiger betont die Wichtigkeit der Rolle Pfänders im Rahmen der phänomenologischen Bewegung: „Seine Phänomenologie des Wollens (1900) ist das erste Werk, in dem der Grundgedanke der reinen Phänomenologie bewußt und methodisch durchgeführt ist. Als wenige später der zweite Band von Husserls Logischen Untersuchungen erschien, [...] fand er [Pfänder] hier eine verwandte Denkweise vor” (Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 4). 30 Pfänder, Alexander: Phänomenologie des Wollens. Eine psychologische Analyse, Leipzig 1900. 31 Smid präzisiert dazu, dass „Pfänders im Jahr veröffentlichte Phänomenologie des Wollens [...] laut Titelblatt schon ‚im Dezember 1899‛ der Philosophischen Fakultät München als Preisschrift vor[lag]“ (Smid, Reinhold Nikolaus: Münchener Phänomenologie - Zur Frühgeschichte des Begriffs, in: Spiegelberg, Herbert; Avé-Lallement, Eberhard (Hrsg.): Pfänder-Studien, Den Haag/Boston/London 1982, 115). 32 Schuhmann, Karl: Bewusstseinsforschung und Bewusstsein in „PfändersPhänomenologie des Wollens“, in: Spiegelberg, Herbert; Avé-Lallement, Eberhard (Hrsg.): Pfänder-Studien, Den Haag/Boston/London 1982, 157. 33 Für eine ausführliche Rekonstruktion der Geschichte des Begriffs der Phänomenologie im Kreis der Philosophen und Psychologen, die von Lipps angezogen wurden, siehe: Smid, Münchener Phänomenologie – Zur Frühgeschichte des Begriffs, 109-153. 34 Die Quelle Lippsschen Begriffs der Phänomenologie ist wahrscheinlich Rudolf Hermann Lotze. Smid unterstreicht „die Tatsache, dass sich in Lipps‛ Bibliothek u.a. Lotzes Grundzüge der Metaphysik. Dictate aus den Vorlesungen (Leipzig 1883), in denen sich Lotze zur Phänomenologie äußert, befand“ (Smid, Münchener Phänomenologie, Zur Frühgeschichte des Begriffs, 122). 35 Lipps, Theodor: Psychische Vorgänge und psychische Causalität, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane XXV, Leipzig 1901, 162. 18 Wille und Motivation allem der methodologische Ansatz einer Psychologie, deren Aufgabe kein Versuch einer kausalen Erklärung des Wollens sei, denn hierzu müssten „zunächst der psychische Tatbestand selbst, also in erster Linie das Bewusstsein des Wollens, untersucht und festgelegt sein.“ 36 Psychologische Theorien dürfen demnach nicht vor einer Beobachtung der Beschaffenheit der Bewusstseinsinhalte festgesetzt werden, sondern im Gegenteil „[muss] [d]ie Gewinnung von Gesetzen des psychischen Geschehens [...] von der Untersuchung der unmittelbaren Bewusstseinstatsachen ausgehen.“ 37 Trotz der Ähnlichkeiten zwischen Husserls und Pfänders Ansatz der psychischen Phänomenen ist es wichtig, sofort auf einige wesentliche Unterscheidungen aufmerksam zu machen, über die Pfänder 1935 feststellt: „Unter Phänomenologie versteht man heute noch Verschiedenes.“ 38 Eine solche Feststellung will gar nicht dem widersprechen, was beide Phänomenologien gemeinsam haben – wie bis jetzt gezeigt worden ist –, sondern sie ist eine notwendige Voraussetzung dafür, um unterschiedliche Folgerungen auf dem Gebiet des Willens und der Motivation zu verstehen. Das hier gesetzte Ziel ist es gerade, die Phänomenologie des Willens bei Husserl durch die Gegenüberstellung mit den pfänderschen Analysen zu vertiefen, und aus diesem Grund ist es nicht nötig, die Komplexität der Gründe für die später einsetzende Krisis – die 36 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 9. Die Bedeutung von Pfänders Phänomenologie des Wollens liegt auch nach Ricoeur in ihrem deskriptiven Charakter: „[...] la description du vouloir dans une appréhension directe de son phénomène“ (Ricoeur, Paul: Phénoménologie du vouloir et approche par le langage ordinaire, in: Pfänder-Studien, Den Haag/Boston/London 1982, 93). 37 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 9. Um den Pfänderschen Ansatz der Phänomenologie sichtbar zu machen, führt Schuhmann aus: „Keine Exteriorität kann daher eine Basis bieten für die Errichtung der Phänomenologie. Diese ist immerzu auf Bewusstsein, aber auch auf nichts anderes als Bewusstsein angewiesen. Kausale Rückschlüsse, Hypothesen oder Theorien über Un-Bewusstes sind als unzulässige Metabasis anzusehen. Sie negieren das phänomenologische Prinzip des ‚Bewusstseins, sofern es Bewusstsein ist‛; und so muß ihnen die phänomenologische Begründungsfunktion abgesprochen werden.“ (Schuhmann, Bewusstseinsforschung und Bewusstsein in Pfänders „Phänomenologie des Wollens“ 161) 38 Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 23. Der ausdrücklichste Text darüber ist auf jeden Fall der bekannte Brief, den Husserl 1931 an Pfänder schrieb, in dem er eine Bilanz ihrer Mitarbeit zieht. Husserl spricht der Zusammenarbeit mit Pfänder nicht ihre große Bedeutung ab und schreibt in diesem Brief an ihn: „In Beziehung auf Sie, lieber Herr College, hat sich nicht meine freundschaftliche Gesinnung, nicht meine Hochschätzung für Ihren wissenschaftlichen Ernst, für die vorbildliche Solidität Ihrer Arbeit geändert.“ (Dok. III/2, 183) Trotz dieser Anerkennung betont er wieder die unumgänglichen Gründe für seinen Disens mit ihm und den anderen Lipps-Schülern: „Den Glauben, den ich in früheren Jahren hatte, daß Sie die umwälzende Bedeutung der phänomenologischen Reduktion und der von ihr entspringenden transzendentalen constitutiven Phänomenologie anerkennen und mit Ihren Schülern an der ungeheuren Problematik dieses Sinnes sich beteiligen würden, habe ich verloren.“ (Dok. III/2, 347) 19 Wille und Motivation Spiegelberg „[d]as erste große Schisma“ 39 der Geschichte der Phänomenologie nennt – zwischen Husserl und der Münchener Schule eingehend zu behandeln. Der einzige Punkt, der hier zusammenfassend behandelt wird, ist der der phänomenologischen Reduktion. Denn diese Frage betrifft nicht nur Pfänder, sondern auch die anderen Münchener Phänomenologen, die von Husserl fortstrebend gerade zur Epoché und ihren theoretischen Folgen Abstand halten. Wie Spiegelberg klar zeigt, sind „Ontologismus, Realismus, Mangel des Verständnisses für die konstitutive Problematik“ die größten Beschuldigungen, die Husserl gegen die Schülern von Lipps richtet, „aber der zentrale Vorwurf ist gewiß ihr versteckter oder offener Widerstand gegen die phänomenologische oder transzendentale Reduktion als das Eingangstor in die transzendentale Phänomenologie.“ 40 Im ersten Band der Ideen – der den „Wendepunkt“ ihrer Beziehung darstellt, weil hier die sogenannte „transzendentale Wende“ vollzogen wird – äußert Husserl entschieden seine Kritik an einem solchen Ansatz der phänomenologischen Methode, wenn er schreibt, dass „ohne die Eigenheit transzendentaler Einstellung erfaßt und den rein phänomenologischen Boden sich wirklich zugeeignet zu haben, [...] man zwar das Wort Phänomenologie gebrauchen [mag], die Sache hat man nicht.“ 41 Es ist dennoch zu bemerken, dass man bei Pfänder keine absolute Leugnung der Rolle der Reduktion findet, im Gegenteil, er erkennt auch die Notwendigkeit eines Aktes an, der die phänomenologische Reflexion eröffnet. Was besagt die Epoché bei Pfänder? In der Phänomenologie des Wollens führt er aus: Mag nun das menschliche Wollen die Grundfunktion des menschlichen psychischen Lebens sein oder nicht; mögen alle psychischen Vorgänge nichts weiter sein als Äusserungsweisen des Willens, mag also alles psychische Geschehen im Grunde ein Wollen sein oder nicht; 39 Spiegelberg, Herbert: Epoché und Reduktion bei Pfänder und Husserl, in: Pfänder-Studien, Den Haag/ Boston/London 1982, 3. 40 Spiegelberg, Epoché und Reduktion bei Pfänder und Husserl, 6. 41 Hua III/1, 200. Noch ausdrücklicher spielt er auf die Münchener Phänomenologen an, wenn er in Ideen I behauptet: „Im letzten Jahrzehnt ist in der deutschen Philosophie und Psychologie sehr viel von Phänomenologie die Rede. In vermeintlicher Übereinstimmung mit den Logischen Untersuchungen faßt man die Phänomenologie als eine Unterstufe der empirischen Psychologie, als eine Sphäre ,immanenter‛ Deskriptionen psychischer Erlebnisse, die sich – so versteht man diese Immanenz – streng im Rahmen innerer Erfahrung halten. Meine Einsprache gegen diese Auffassung hat, wie es scheint, wenig genützt, und die beigegebenen Ausführungen, die mindestens einige Hauptpunkte des Unterschiedes scharf umschreiben, sind nicht verstanden oder achtlos beiseitegeschoben worden“ (Hua III/1, 3-4). 20 Wille und Motivation jedenfalls müssen alle derartigen allgemeinen Behauptungen zunächst suspendiert werden.42 Die Phänomenologie ist für Pfänder – wie er noch 1929 betont – „keine bloße Methode, die man gebrauchen und nicht gebrauchen könnte. Die Phänomenologie ist eine philosophische Wissenschaft, die eine besondere Methode hat.“ 43 Diese Methode zielt darauf, dass das Wesen des Bewusstseins – in diesem Fall das Wesen der Willensakte – durch die Bewusstseinserscheinungen zu begreifen ist, weshalb „[k]eine Exteriorität [...] daher eine Basis bieten [kann] für die Errichtung der Phänomenologie.“44 Unter dem Titel „Exteriorität“ stehen alle Theorien oder Vermutungen, die einer aufmerksamen Beobachtung der Bewusstseinstatsachen zuvorkommen, weshalb es für Pfänder auch gilt, dass der notwendige erste Schritt der Phänomenologie in einer Suspension des allgemeinen Wissens besteht. Schuhmann erklärt es deutlich, wenn er darlegt, dass bei Pfänder „der zunächst einschränkende Entwurf der Phänomenologie als eines Rückzugs auf das Erscheinende in seinem Erscheinen, auf das gewisse Wissen, zugleich den Rückgang in eine für alles sonstige Wissen grundlegende Dimension bedeutet.“ 45 Im Prager Vortrag wird von Pfänder eine solche Auffassung der phänomenologischen Methode deutlich bestätigt: Die vermeintlichen Grundlagen der Erkenntnis, sowohl Erfahrung als auch Denken der Gegenstände, bedürfen zunächst einer gründlicheren und unbefangeneren Untersuchung. Diese will die Phänomenologie vornehmen. Sie muß sich von vornherein gegen mögliche Verirrungen schützen, indem sie die richtige phänomenologische Einstellung zu gewinnen sucht. 46 42 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 4. Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 146. Pfänder bekräftigt mehrfach die Notwendigkeit einer phänomenologischen Grundlage: „Die Erkenntnislehre galt seit Descartes als letzte notwendige Grundlage der Philosophie. Seit circa 1900 tritt die Phänomenologie mit dem Anspruch auf, die letzte Grundlage der Erkenntnislehre, der Philosophie und aller Wissenschaften zu sein. Ihre Aufgabe wird am leichtesten sichtbar, wenn man von der Erkenntnislehre ausgeht und erkennt, dass sie notwendig der Phänomenologie als Grundlage bedarf“ (Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 146). 44 Schuhmann, Bewusstseinsforschung und Bewusstsein in Pfänders „Phänomenologie des Wollens“, 161. 45 Schuhmann, Bewusstseinsforschung und Bewusstsein in Pfänders „Phänomenologie des Wollens“, 162. 46 Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 147-148. 43 21 Wille und Motivation Phänomenologie „muß in diesem Sinne völlig voraussetzungslos sein, sich gleichsam vor den Anfang aller Erkenntnis versetzen.“ 47 Diese Forderung stellen Husserl und Pfänder gemeinsam, weil Phänomenologie für beide der Weg zum Erreichen des ursprünglich Gegebenen ist. Das hebt allerdings nicht die wesentlichen Unterschiede ihrer Methoden auf. Spiegelberg bemerkt zu Recht, „daß Pfänder in seiner eigenen Philosophie nie von Reduktion, sondern fast immer nur von Epoché, manchmal auch Urteilsenthaltung oder Glaubensenthaltung spricht.“ 48 Aber es handelt sich nicht nur um einen terminologischen Unterschied. Was Pfänder mit „Epoché“ bezeichnet, ist vor allem „ein Präventivmittel gegen [die] Gefahr“ 49 der naiven oder der ideologischen Annahme von theoretischen Voraussetzungen sowie gegen die Gefahr der Missverständnisse, welche die Alltagssprache in sich birgt. 50 Pfänder betont denn auch im Prager Vortrag, dass die phänomenologische Einstellung „zunächst die Meinungen über die Gegenstände“ klären soll, aber „dies ist selbst noch keine Phänomenologie, wohl aber eine notwendige Vorarbeit für sie (Phänomenologische Sinnklärung, Gegenstands- und Sachverhaltslehre).“ 51 Etwas Anderes ist die Bedeutung der phänomenologischen Reduktion bei Husserl: Sie besteht nicht nur in einer bloßen „Vorsichtsmaßnahme“, sondern ist der Weg, welcher zum Reich des absoluten Bewusstseins führt. Husserl gewinnt durch die Reduktion eine Einsicht in die allumfassende Einheit des geistigen Lebens, weshalb sie für ihn nicht nur einen ersten Schritt der Methode darstellt, sondern vielmehr eine 47 Pfänder, Philosophie aus phänomenologischer Grundlage, 148 (meine Hervorhebung). Spiegelberg, Epoché und Reduktion bei Pfänder und Husserl, 10-11. 49 Spiegelberg, Epoché und Reduktion bei Pfänder und Husserl, 13. 50 Zur Vertiefung von Pfänders Auffassung des wichtigen Beitrags der Popularpsychologie und des Sprachgebrauchs der alltäglichen Rede zur Phänomenologie vgl. Schuhmann, Bewusstseinsforschung und Bewusstsein in Pfänders „Phänomenologie des Wollens“, 164-167; Ricoeur, Paul, Phénoménologie du vouloir et approche par le langage ordinaire, 79-96. 51 Pfänder, Erkenntnislehre und Phänomenologie, 38-39. 48 22 Wille und Motivation permanente Einstellung bildet, welche die Auffassung des transzendentalen Wesens der Subjektivität eröffnet.52 Abschließend kann es aufschlussreich sein, die Überlegungen Moritz Geigers – eines weiteren Lipps-Schülers und Husserl-Mitarbeiters, dessen Rolle im Rahmen des Münchener Kreises und besonders der Phänomenologie des Willens später noch ausführlicher behandelt werden soll – bezüglich der fortschreitenden Entfernung zwischen Husserl und Pfänder in Erwägung zu ziehen. Seine Auffassungen über den Ursprung dieses „Schismas“ sind freilich parteiisch, aber interessant, weil er es vom Standpunkt der Münchener Phänomenologen aus betrachtet. Geiger schreibt: Schon in den Anfangstagen des Zusammenarbeitens der Phänomenologen konnten die Unterschiede der Auffassung der phänomenologischen Methode, sowie des philosophischen Realitätsproblems dem Tieferblickenden nicht verborgen bleiben. [...] Allein zu jener Zeit kam es vor allem darauf an, die Fruchtbarkeit der phänomenologischen Methode zu zeigen. [...] Die Gegensätze blieben im Rücken, sie waren nichts desto weniger vorhanden.53 Was die Lipps-Schüler nach Geiger angezogen hatte, war die von Husserl vollzogene „Wendung zum Objekt“, die Pfänder „voll aufgenommen und durchdacht“ hat.54 Diese Wendung stammte aus der „Wiederaufnahme und konsequenten Durchdenkung des Intentionsbegriffs, wie sie Husserl in den Logischen Untersuchungen vorgenommen hatte.“55 Trotzdem profiliert sich sofort ein wesentlicher Unterschied, weil Husserl schon in den Logischen Untersuchungen nicht so sehr die Analyse des Gegebenen, sondern die Art des Gegebenseins des Gegebenen ins Auge gefaßt hatte. [...] Das bedeutete von Anfang an eine „Wendung ins Subjektive“, die freilich weder die Wendung zum Objekt 52 Spiegelberg betont hierzu in einer anderen Studie: „What then is the upshot of Pfänder’s adoption of Husserl’s epochè? Even for Pfänder the reduction in its epochistic form was an essential and necessary part of a critical phenomenology. But this reduction did not include the subsequent phases of Husserl’s version, i.e., the transcendental reduction to subjectivity. Without going so far as to say that these phases were incompatible with the phenomenological approach, Pfänder saw in them a theory not yet supported by phenomenological evidence. In short, for Pfänder’s critical phenomenology, the epochistic reduction was indispensable; but the transcendental reduction was anything but necessary and in fact misleading“ (Spiegelberg, Herbert: The context of the phenomenological movement, Den Haag/Boston/ London 1981, 77). 53 Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 12. 54 Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 13. 55 Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 13. 23 Wille und Motivation wieder aufhob (vielmehr sie gerade voraussetzte), noch von vornherein idealistisch ausgedeutet werden mußte. 56 Geiger schließt mit einer entschlossenen Stellungnahme für die pfändersche Auslegung der phänomenologischen Methode ab: „In Pfänders psychologischen und logischen Arbeiten ist diese unmittelbare Einstellung strikt festgehalten. [...] Für Pfänder trifft es in keiner Weise zu, daß die Phänomenologie einen idealistischen Unterbau haben müsse oder gar notwendigerweise zur Immanenzphilosophie führe.“ 57 Ohne bei der Einseitigkeit der Betrachtungen Geigers zu verweilen, ist es erheblich, den Standpunkt des Münchener Kreises aufgewiesen zu haben, weil er die Vieldeutigkeit der Anwendung des Terminus „Phänomenologie“ aufzeigt. Dies soll hier nicht weiter vertieft werden, weil die Folgen eines solchen methodologischen Unterschiedes am Ende der Darstellung von Husserls und Pfänders Phänomenologie des Wollens und der Motivation deutlich hervorgehoben werden. Diese Vorbemerkung ist jedoch im Laufe der Analyse beständig im Auge zu behalten, da die Auffassung der phänomenologischen Methode die Bedingung für ganz unterschiedliche Motivationslehren ist. § 3 Die Phänomenologie des Wollens: Ein Vergleich zwischen Pfänders und Husserls Ansatz 3.1 Pfänder: Der „geistige Schlag“ des Willensaktes Die Frage nach dem Willen – in eins mit der nach der Motivation, die später behandelt wird – ist ohne Zweifel dasjenige Thema, auf das Pfänder seine Untersuchungen konzentriert. Die schon genannte Phänomenologie des Wollens ist 56 Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 15. Geiger erklärt Geiger dieses gewagte Abweichen folgendermaßen: „Ein gesehenes Haus z.B. gibt sich als real. Dann läßt sich auf Grund dieses Prinzips behaupten: Das Haus ist als real gegeben. Gegebensein jedoch ist in allen Fällen Gegebensein für ein Subjekt. Damit ist die idealistische Wendung vorbereitet. [...] Pfänder geht einen anderen Weg: Ein gesehenes Haus gibt sich als real, also muß es als real hingenommen werden. Hält man diesen Standpunkt streng fest, so kommt man zu einer realistischen Auffassung der Welt, wie sie Pfänder und der Münchner Kreis [...] eingenommen haben“ (Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 15). 57 Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 16. 24 Wille und Motivation nicht die einzige Betrachtung, die er der Analyse des Willens sowie der Rolle der Triebe, der Tendenzen und des Strebens innerhalb der Willensakte widmet: Dasselbe Thema steht auch im Mittelpunkt seiner Münchener Dissertation über Das Bewusstsein des Wollens 58 von 1897, ebenso in dem Aufsatz Motive und Motivation59, den Pfänder 1911 anlässlich des sechzigsten Geburtstags von Lipps verfasst hat. Diese letzte Schrift, in der er sich mit dem Willen beschäftigt, ist in einem gewissen Sinn die bedeutendste. Der Aufsatz ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Einerseits liefert er eine synthetische und ausführliche Betrachtung des Willens, welche für Pfänder „eine Fortführung und eine teilweise Korrektur“ 60 seiner Phänomenologie des Wollens darstellt. Andererseits hat sich Husserl mit dieser Arbeit „so intensiv wie mit keiner anderen Arbeit Pfänders beschäftigt“ 61, wie die Blätter 47-56 von Ms. A VI 3 bezeugen, in denen Husserl „Schritt für Schritt jeder Denkbewegung Pfänders“ folgt und diese beurteilt.62 Zu Beginn seiner Festschrift unterstreicht Pfänder, dass er noch einmal mit derselben methodologischen Absicht fortfahren wolle, die er schon in der Phänomenologie des Wollens und der Einführung in die Psychologie dargelegt hatte, und zwar mit einer „möglichst genaue[n] Erfassung der Tatsachen und ihres Wesens.“ 63 Das von Pfänder festgesetzte Thema Motive und Motivation betrifft insbesondere – wie der Titel schon deutlich ankündigt – das Erfassen des Wesens der Motivation und das Verständnis dessen, was man als „Motiv“ bezeichnen kann. Die Aufgabe einer Erläuterung ist für die Psychologie äußert dringend, da „[m]it dem Wort Motiv, das in der Psychologie und in der Ethik eine so wichtige Rolle spielt, [...] 58 Pfänder, Alexander: Das Bewusstsein des Wollens, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 17, 1898, 521-567. 59 Pfänder, Alexander: Motive und Motivation, in: Phänomenologie des Wollens. Motive und Motivation, München 1963, 123-156. 60 Pfänder, Motive und Motivation, 126. 61 Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, 94-95. 62 Vgl. Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, 94-98. Vgl. Mertens, Karl: Husserl’s phenomenology of will in his reflections in ethics, in: Depraz, Natalie; Zahavi, Dan (Hrsg.): Alterity and facticity. New perspectives on Husserl, Dordrecht 1998, 122, 131-132. Zudem erwähnt Vongehr, dass sich Husserl in seinen Manuskripten Studien zur Struktur des Bewusstseins von Pfänder beeinflussen ließ: Vgl. Vongehr, Thomas: Husserl über Gemüt und Gefühl in den Studien zur Struktur des Bewusstseins, in: Centi, Beatrice; Gigliotti, Gianna (Hrsg.): Fenomenologia della ragion pratica: L'etica di Edmund Husserl, Napoli 2004, 233. 63 Pfänder, Motive und Motivation, 125. 25 Wille und Motivation unbemerkt sehr verschiedene Bedeutungen verbunden [werden].“64 Die notwendige Voraussetzung für das Verstehen des Begriffs der Motivation – dem sich diese Untersuchung später noch vertiefend zuwenden wird – bildet allerdings die Erhellung der Frage, was der Wille eigentlich sei. Normalerweise, so stellt Pfänder fest, ist vom „Wollen“ in einem weiten Sinn die Rede.65 Der Begriff des Wollens wird „gebraucht, wenn man zum Wollen jedes Wünschen, Hoffen, Sehnen, Verlangen, Fürchten, Verabscheuen etc. rechnet“ 66, gerade so, als ob das Wollen mit dem Streben selbst zusammenfiele. Allerdings hat der Terminus „Wollen“ auch einen spezifischen Sinn, der seine Eigentümlichkeit angibt und das, worin das Wollen im engeren und vollständigen Sinne besteht, da „der Willensakt [...] gegenüber allen bloßen Strebungen und Widerstrebungen [...] etwas völlig Neues“ 67 sei. Um das Wesen dieses neuen Grundzuges kurz zu erläutern, stellt Pfänder zusammenfassend fest, dass die wesensmäßige Eigenheit des Willensaktes in seiner völligen Freitätigkeit bestehe. Zu seinem Vollzug gehören immer das „Projektbewusstsein“ und die „Willensmeinung“, d.h. die Setzung praktischer „Vorsätze“ 68, da der Wille sich nur auf etwas richten kann, das als erzielbar vorgestellt wird.69 Darüber hinaus will man etwas, wenn man anerkennt, dass das Ziel eines jeden Wollens einen Wert besitzt. Daher entspricht der Willensmeinung ein „Sollensbewusstsein“ sowie potenziell eine explizite „Anerkennung“ und „Billigung.“70 Der besagte praktische, projektive Charakter des Willensaktes wird von Pfänder in der Phänomenologie des Wollens hervorgehoben, wenn er mehrmals bemerkt, dass die Bedingung des Wollens und der Ausführung einer 64 Pfänder, Motive und Motivation, 125. Es fällt auf, dass diese Verfahrensweise als ein Echo auf seinen Lehrer verstanden werden kann, da Lipps im Leitfaden der Psychologie schreibt, dass „das Wort ‚Psychologie‛ [...] in einem weiteren und einem engeren Sinne genommen werden [kann]“ (Lipps, Leitfaden der Psychologie, 31). 66 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 10. 67 Pfänder, Motive und Motivation, 133. 68 Pfänder, Motive und Motivation, 135. 69 Schuhmann kommentiert den Begriff des Wollens bei Pfänder folgendermaßen: „Nur das Bewusstsein, dass ein Weg vom gegenwärtigen zum zukünftigen Inhalt hinführe, kann den zureichenden Grund für das Entstehen eines Glaubens an die Realisierbarkeit des Gewollten abgeben.“ (Schuhmann, Karl: Bewusstseinsinhalte. Die Frühphänomenologie Alexander Pfänders, in: Leijenhorst, Cees; Steenbakkers, Piet (Hrsg.): Karl Schuhmann. Selected papers on phenomenology, Dordrecht 2004, 233). 70 Pfänder, Motive und Motivation, 135. 65 26 Wille und Motivation Willensentscheidung „der Glaube an die Möglichkeit der Verwirklichung des Erstrebten durch eigenes Tun“ 71 ist. In diesem Werk betont Pfänder zugleich die Bedeutung einer Beschreibung der Gefühle, die den Willensakt begleiten: „Die Gefühls-Seite des Tatbestandes des Wollens besteht also in einem Gefühl des positiven Strebens, das zugleich den Charakter der Macht, der Freiheit und der Spontaneität hat.“ 72 Solche Gefühle sind die subjektive Seite – „noetische“ wird sie in der Sprache Husserls genannt –, die phänomenologisch eigentümliche Grundzüge des Willens aufweisen. Die Ausführung einer willentlichen Entscheidung erzeugt immer ein Gefühl von Erfüllung im sich selbst setzenden Subjekt: Das Subjekt setzt sich in einem gewissen Sinn selbst durch und bestätigt seine Fähigkeit, sich selbst zu prägen und sein Tun selbstständig zu gestalten. Auch wenn die bislang genannten Charakteristika immerhin vorhanden sind, kann man eigentlich noch nicht von einem Willensakt sprechen: „Es fehlt nämlich noch die eigentümliche praktische Vorsetzung. Diese Vorsetzung geht vom Ich-Zentrum aus, aber nicht als ein Geschehen, sondern als ein eigentümliches Tun, in dem das Ich-Zentrum aus sich selbst hinaus zentrifugal einen geistigen Schlag ausführt.“ 73 Diese letzte Äußerung Pfänders enthält einige wichtige Elemente: 1. Der Willensakt hat ein praktisches Wesen. 2. Er besteht in einer Stellungnahme, die Pfänder metaphorisch als einen zentrifugal gerichteten geistigen Schlag beschreibt, den das IchZentrum selbst vollbringt. Dieser übertragene Ausdruck zielt auf die Unterstreichung des eigentümlichen Charakters des Willens, der ihn von allen anderen menschlichen Fähigkeiten unterscheidet: Die Ausführung eines Willensaktes besitzt ein treibendes Wesen (zentrifugal) und tritt in einem bestimmten Moment mit einer Entscheidung (geistiger Schlag) auf. 71 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 132. Sawicki betont hierzu: „Pfänder thus has argued in favor of human freedom within a carefully restricted scope. The i is free to decline to will any of the inclinings that it experiences. Nevertheless it is impossible for the i to will something without at the same time meaning it to be something real. Willing must will a realization; and therefore it must intend a real world“ (Sawicki, Marianne: Body, Text and Science. The literacy of investigative practices and the phenomenology of Edith Stein, Dordrecht/Boston/ London 1997, 26). 72 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 131. 73 Pfänder, Motive und Motivation, 135. 27 Wille und Motivation Aber das ist noch nicht alles. Es gilt noch ein anderes wichtiges Element zu berücksichtigen. Das Ich ist – wie Pfänder kurz darauf bestätigt – nicht nur „der originäre Vollzieher“ 74, sondern ist „sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Aktes“ 75: Der Willensakt geht vom Ich-Zentrum aus und kehrt zugleich zum Ich zurück, insofern er das Ich „zu einem bestimmten zukünftigen Verhalten bestimmt.“76 Diese Möglichkeit der Selbstbestimmung spielt eine entscheidende Rolle: Der zentrifugale Schlag des Willensaktes ist nicht nur auf die Verwirklichung einer Aktion oder eines Zieles gerichtet, sondern auch auf das Ich selbst. Auch wenn eine Veränderung des Ich kein expliziter Zweck der Willensintention ist, wird sie auf jeden Fall impliziert, weil jede willentliche Stellungnahme eine Modifizierung der Persönlichkeit mit sich bringt. Der Wille zeigt sich als die Fähigkeit, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet – die Tiere haben tatsächlich nicht die Möglichkeit zu wollen, besser zu werden – und die das Reich des ethischen Lebens eröffnet. Wie Pfänder in seinem letzten Werk Die Seele des Menschen betont, bildet die willentliche Selbstbestimmung fortlaufend die ethische Persönlichkeit des Menschen: Erst wenn es sich fortschreitend mit den vernommenen verbindlichen Forderungen auseinandergesetzt hat und bestimmte dieser Forderungen zu Leitfäden seines freitätigen Verhaltens gemacht hat, ist die Willkürherrschaft zu einer ethischen Herrschaft geworden, in der das Ich seine Willkürfreiheit selbst freitätig einschränkt. 77 Nach der Darstellung der Grundzüge des Willens im engeren Sinne ist es wesentlich zu beachten, dass diese Eigentümlichkeit aus der Verschiedenheit mit dem genannten 74 Pfänder, Motive und Motivation, 133. Pfänder, Motive und Motivation, 135. 76 Pfänder, Motive und Motivation, 135. 77 Pfänder, Die Seele des Menschen. Versuch einer verstehenden Psychologie, Halle 1933, 78. Specht behauptet im Auswahlband der Abhandlungen anlässlich des sechzigsten Geburtstages Pfänders: „Denn der Charakter als die eigenpersönliche Wesensart des Menschen ist nicht bloß, wie Pfänder das so tief schon in einer früheren kleinen Abhandlung (Motive und Motivation) und dann später in seiner umfassenderen Arbeit (Grundprobleme der Charakterologie) dargelegt hat, eine Beschaffenheit, mit der die Person ausgestattet ist, ein im Keim angelegtes, das sich von selbst, naturhaft ohne Zutun des Ich entwickelt. Der Mensch ist ja nicht nur – es war die Rede davon – ein seelisches Lebewesen überhaupt, sondern ein personales, der Selbstbestimmung und Selbstgestaltung fähiges Wesen; und so ist denn auch der Charakter des Menschen so, wie wir ihn vorfinden, nicht bloß von selbst geworden, sondern auf dieses sein Werden und Gewordensein hat das freitätige Ich selber einen mitbestimmenden Einfluß“ (Specht, Wilhelm: Die Grenzen der biologischen Erfassung der Persönlichkeit, in: Heller, Ernst; Löw, Friedrich (Hrsg.): Neue Münchener philosophische Abhandlungen, Leipzig 1933, 243-244). 75 28 Wille und Motivation Wollen „in weiterem Sinn“78 hervorgeht, d.h. aus der Gegenüberstellung mit der umfassenden Sphäre des Strebens, des Begehrens, Wünschens, Verlangens usw. Um diese Unterscheidung einzuordnen, ist auf den Begriff des Ich-Zentrums zurückzukommen, der soeben angesprochen wurde. Dieser Begriff ist tatsächlich der Schlüssel zu Pfänders Auffassung des Ich: „Dieses Ich besitzt nämlich eine eigenartige Struktur: Das eigentliche Ich-Zentrum oder der Ich-Kern ist umgeben von dem IchLeib.“ 79 Während dem Ich-Zentrum der „geistige Schlag“ des Willensaktes entspringt, entstehen die verschiedenen Strebungen immer in dem Ich-Leib, d.h. außerhalb des Kerns, und werden „also in diesem Sinne als exzentrische Strebungen erlebt.“ 80 Pfänder schildert den psychischen Tatbestand des Strebens als einen „Konflikt“ 81, ja sogar als einen „Kampf“ 82: Die Strebungen, die „an sich blind“ 83 sind, „haben die Tendenz, aus ihrer exzentrischen Lage in die zentrale überzugehen oder das Ich-Zentrum zu ergreifen und in sich hineinzuziehen.“ 84 Nur in sehr seltenen Fällen wird das Ich von einem einzigen und alleinigen Streben bewegt, weil mehrere gleichzeitige Strebungen im IchLeib bevorzugt vorhanden sind, die miteinander um die Vorherrschaft im Ich-Zentrum kämpfen: Im Kampf „ist das Ich-Zentrum einfach der Zankapfel, der [...] so doch willenlos die Beute des Stärkeren wird.“ 85 Ein solches Bild zeigt deutlich, dass man es in dieser Sphäre mit keinem eigentlichen Willensakt zu tun hat, sondern mit inneren Kräften, die das Ich bewegen und sein Wollen beeinflussen, die jedoch nie die Freiheit und Selbstbestimmung des Willensaktes besitzen, auch wenn das stärkste Streben über alle gleichzeitigen Widerstrebungen siegt 86. 78 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 10. Pfänder, Motive und Motivation, 130. 80 Pfänder, Motive und Motivation, 130. 81 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 107. 82 Pfänder, Motive und Motivation, 132. 83 Pfänder, Motive und Motivation, 129. 84 Pfänder, Motive und Motivation, 130-131. 85 Pfänder, Motive und Motivation, 132. 86 Husserl beschreibt die Triebdimension in einem Manuskript mit ähnlichen Ausdrücken: „Auf seiten des hungrigen Ich – die Spaltung der Triebintentionen im Fall der Triebe in eine Allgemeinheitssphäre hineingeht (ich möchte essen – das oder jenes), stärkere oder schwächere Reize, Affektionen auf das Ich, bzw. des hin Tendierens auf das und jedes aus diesem Horizont. Gradualität, Konkorrenz, das Nachgeben des Ich, der Sieg der stärkeren Tendenz, das Erproben der Stärke bei vorläufigem Sich-zurückhalten – die Wahl des ‚Besten’ “ (E III 10, 7). 79 29 Wille und Motivation Strebungen und Widerstrebungen werden von den Gegenständen und den Umständen erweckt, so etwa das Streben danach, etwas zu wissen, zu entdecken oder zu besitzen. Die Gegenstände rufen daher eine „zentrifugale Richtung“ 87 hervor, die vom Ich als ein „zentripetales“ 88 Gerichtetsein erlebt wird, wie es beispielsweise geschieht, wenn „ein gehörtes Geräusch das Streben [erregt], an eine bestimmte Stelle des umgebenden Raumes hinzublicken“ 89. Diese Dynamik wird auch von Husserl beschrieben, wenn er sagt, „dass der rezipierenden Aktion [...] eine Affektion [vorangeht]. Eine Hintergrundvorstellung, eine gerichtete, affiziert das Ich – darin liegt, es geht eine Tendenz auf das Ich – dieses reagiert mit der Zuwendung, [...] in der der Ichblick auf das Gegenständliche gerichtet ist.“ 90 Mit den zentrifugalen und zentripetalen Richtungen erkennt Pfänder nun als Grundzug der Strebungen und Widerstrebungen das an, was Husserl als „Affektion“ und „Zuwendung“ bezeichnet. Pfänders Beschreibung der Beziehung und der Unterschiede zwischen Willensakten und Strebungen kann nicht in jedem Fall als eine befriedigende Erklärung angesehen werden, weil wichtige Probleme dabei ungelöst bleiben. Eine der bedeutsamsten Fragen hat freilich mit der Grenzlinie zwischen eigentlichen Willensakten und Strebungen zu tun. Pfänder selbst ist sich dessen bewusst, „daß in manchen Fällen das wollende Individuum nicht anzugeben weiß, durch welche Motive es sich in seinem Wollen hat bestimmen lassen, und daß man von ‚unbewussten’ Motiven des Wollens spricht.“ 91 Dieses Phänomen gibt Anlass zur Diskussion, weil es zeigt, dass es bei der Beobachtung der eigenen Erfahrung nicht so einfach ist, zwischen dem zu unterscheiden was eigentlich Wollen und was lediglich Streben ist. Pfänder verweilt jedoch nicht ausführlicher bei dieser Frage. Seine hauptsächliche Absicht besteht darin, das Wesen und die Eigenart der Willensakte im Gesamtfeld der Strebensphänomene zu ermitteln, um den freitätigen Charakter des Ich-Zentrums gegen jede mögliche mechanische Auslegung des menschlichen Lebens herauszustellen. Aber ist sein Weg der einzige, der den geistigen und freien Charakter des Ichlebens bezeugen 87 Pfänder, Motive und Motivation, 129. Pfänder, Motive und Motivation, 129. 89 Pfänder, Motive und Motivation, 130. 90 Hua XI, 84. 91 Pfänder, Motive und Motivation, 152. 88 30 Wille und Motivation kann? Gibt es nicht eine Möglichkeit, die Phänomene, die nicht so eindeutig klassifizierbar sind, zu berücksichtigen, ohne dabei den freitätigen Charakter gänzlich zu verunmöglichen? Edmund Husserls Überlegungen zur Phänomenologie des Willens können einen entscheidenden Beitrag zu dieser problematischen Frage leisten. 3.2 Husserls Phänomenologie des Wollens Bevor die besagten Fragen angegangen werden, ist es nötig, in knapper Form eine allgemeinere Fragestellung in den Blick zu nehmen, die den Husserlschen Ansatz zur Phänomenologie des Willens von der Zeit der Logischen Untersuchungen an bestimmt. Es handelt sich um die Debatte über die Möglichkeit, den intentionalen Charakter von Willens-, Wertungs- und Gemütsakten freizulegen und näher zu bestimmen, d.h. die Diskussion über die Beziehung zwischen den von Husserl so genannten objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten. Diese Frage entwickelte sich im Laufe der Überlegungen Husserls und wurde von ihm fortlaufend revidiert: Die Erörterung verfolgt dabei nicht nur den technischen Zweck, eine genaue Klassifikation der verschiedenen Akte vorzunehmen, sondern intendiert darüber hinaus einen näheren Aufschluss über das Wesen der Vernunft und ihrer verschiedenen Grundmodi. 3.2.1 Der Fundierungszusammenhang zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten a) Die Entstehung des Problems in den Logischen Untersuchungen Das Thema des Verhältnisses zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten92 wird von Husserl zuerst in den Logischen Untersuchungen in Angriff genommen. Die Problematik des intentionalen Charakters der Bewusstseinserlebnisse war Husserl durch die Lehre Franz Brentanos vermittelt worden. Nach Brentano sind die psychischen Akte klassifizierbar in drei Klassen: 1. Vorstellungen, d.h. Akte, die 92 Für eine synthetische Behandlung dieses Themas vgl. Melle, Ullrich: Objektivierende und nichtobjektivierende Akte, in: Ijsseling, Samuel (Hrsg.): Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung, Dordrecht 1990, 35-49. 31 Wille und Motivation eine gegenständliche Richtung besitzen und sowohl sinnliche als auch ideale Gegenstände betreffen; 2. Urteile, die eine Stellungnahme bezüglich des Seins des vorgestellten Gegenstandes vollziehen; 3. die Klasse der Gemüts- und Willensphänomene – eine weite Sphäre von psychischen Phänomenen, die Gefühle, Willensakte, Wünsche sowie die Phänomene der Liebe und des Hasses umfasst. Brentano ist der Auffassung, dass sowohl Urteile als auch Gefühlsphänomene komplexe Akte sind, die auf der ersten Klasse der Vorstellungen beruhen und sich darauf aufbauen. Daher geht es ihm darum, „die psychischen Phänomene als Vorstellungen und solche Phänomene, die auf Vorstellungen als ihrer Grundlage beruhen“ 93, zu bestimmen. Die Vorstellungen haben einen Vorzug bezüglich der anderen zwei Klassen von Phänomenen, d.h. hinsichtlich des Urteilens, des Wünschens, des Begehrens, des Liebens und des Wollens. Husserl geht in den Logischen Untersuchungen von der Lehre Brentanos aus, aber nimmt gleichzeitig eine Modifizierung an ihr vor. Er verändert den zitierten Ausdruck seines Lehrers folgendermaßen: „Jedes intentionale Erlebnis ist entweder ein objektivierender Akt oder hat einen solchen Akt zur Grundlage.“94 Es fällt sofort auf, dass in Husserls Satz nicht mehr das Wort „Vorstellung“ erscheint, sondern dass dieser Terminus durch den Ausdruck „objektivierende Akte“ ersetzt wird. Objektivierende Akte sind Husserl zufolge alle intentionalen Akte, die sich auf das Sein des Gegenstandes beziehen bzw. den Setzungscharakter bezüglich des Seins des Gegenstandes vollziehen. Der Begriff „objektivierender Akt“ ist kein bloßes Synonym der brentanoschen Kategorie der Vorstellung: Er umfasst Erinnerungen, Urteile, Erwartungen, d.h. alle Akte, die eine Seinssetzung verwirklichen. Nach Husserl hat Brentano übersehen, dass „der intentionale Bezug erst durch die Vereinigung von Materie und Aktqualität ermöglicht wird.“95 Die Unterscheidung zwischen Qualität und Materie ist im Rahmen der Logischen Untersuchungen grundlegend, um den intentionalen Charakter eines Aktes zu verstehen: Sie stellen zwei abstrakte Momente eines konkreten Aktes dar, die zusammen das intentionale Wesen 93 Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Hamburg 1955, 136. Hua XIX/1, 514. 95 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 55. 94 32 Wille und Motivation des Aktes ausmachen. Husserl stellt in den Logischen Untersuchungen fest: „Die Beziehung auf eine Gegenständlichkeit konstituiert sich überhaupt in der Materie. Jede Materie ist aber, so sagt unser Gesetz, Materie eines objektivierenden Aktes und kann nur mittels eines solchen zur Materie einer neuen, in ihm fundierten Aktqualität werden.“96 Im Unterschied zu Brentano – wie Melle klar betont – denkt Husserl, dass „die Gegenstandsgebung nicht mehr als Leistung eines selbständigen Aktes, sondern als die einer unselbständigen Aktkomponente“ 97 gilt. Die Materie ist nicht selbständig und braucht immer die Ergänzung durch eine Aktqualität. „Diese Aktmaterie ergänzende Aktqualität muss nun eine objektivierende Aktqualität sein.“ 98 Somit” wird nicht der von Brentano festgestellte Vorrang der doxischen Akte zurückzuwiesen. Der Bereich der nicht-objektivierenden Akte umfasst alle wertenden und praktischen Akte, und zwar Wollen, Begehren, Wünschen, Fühlen, und auch die Modalisierungen der doxischen Akte, d.h. Zweifeln, Sich-Entscheiden, Erinnern und Erwarten. Solche Akte bedürfen der objektivierenden Akte, weil sie keine unmittelbare Beziehung mit ihren Gegenständlichkeiten aufbauen können. Die nichtobjektivierenden Akte sind komplexe Akte, die von zwei unselbständigen Elementen gebildet werden: der gegebenen Gegenständlichkeit (d.h. der Materie und der objektivierenden Qualität) und der darauf errichteten Aktqualität. Diese zwei Schichten bauen keine „bloße Summe von Akten, sondern einen Akt”99 auf. Im Rahmen der Logischen Untersuchungen besitzen also die Willensakte und die anderen praktischen Akte immer den Charakter des Fundiertseins, weil sie ohne das gleichzeitige Vorhandensein objektivierender Akte nicht bestehen können. Es ist jedoch auffällig, zu merken, dass schon die Logischen Untersuchungen – wie es bereits angezeigt worden ist – den problematischen Charakter eines solchen Fundierungszusammenhanges deutlich werden lassen. Im § 15 der fünften Logischen Untersuchung fragt sich Husserl, ob die Erlebnisse der Sphäre des Gefühls und des 96 Hua XIX/1, 515. Melle, Objektivierende und nicht-objektivierende Akte, 39. 98 Melle, Objektivierende und nicht-objektivierende Akte, 39. 99 Hua XIX/1, 421. Husserl erklärt beispielsweise: „Ebenso ist ein ausdrücklicher Wunsch nicht ein bloßes Beieinander von Ausdruck und Wunsch [...], sondern ein Ganzes, ein Akt; und wir nennen ihn geradezu einen Wunsch“. 97 33 Wille und Motivation Willens einen eigenen intentionalen Bezug besitzen. Husserl schlägt hier erneut Brentanos Theorie vor, nach welcher „Gefühle wie alle Akte, die nicht bloße Vorstellungen sind, Vorstellungen zur Grundlage haben. Nur auf solche Gegenstände können wir uns gefühlsmäßig beziehen, die uns durch mitverwobene Vorstellungen vorstellig geworden sind.“ 100 Er teilt diese theoretische Voraussetzung noch, weil eine „aufmerksame Vergegenwärtigung der Sachlage in der phänomenologischen Erschauung [...] Brentanos Auffassung entschieden zu bevorzugen [scheint].“ Husserl stellt jedoch klar heraus, dass wir [...] nicht bloß die Vorstellung und dazu das Gefühl [haben], als etwas zur Sache an und für sich Beziehungsloses und dann wohl bloß assoziativ Angeknüpftes, sondern Gefallen oder Mißfallen richten sich auf den vorgestellten Gegenstand, und ohne solche Richtung können sie überhaupt nicht sein. 101 Daher bemerkt Husserl, dass „das spezifische Wesen des Gefallens die Beziehung auf ein Gefallendes fordert.“ Das betrifft freilich nicht nur das Gefallen, sondern die gesamte praktische Dimension des Ichlebens: „Wieder ebenso kein Begehren (dem spezifischen Charakter nach) ohne Begehrtes, kein Zustimmen oder Billigen ohne etwas, dem die Zustimmung, Billigung gilt usw. All das sind Intentionen, echte Akte in unserem Sinn.“ 102 Husserls Gedankengänge verlaufen noch innerhalb des theoretischen Rahmens der Lehre Brentanos, die den Fundierungszusammenhang zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten voraussetzt, aber die Vermutung einer eigenen und bestimmten Intentionalität dieser Akten wird vertieft: „Sie alle ,verdanken‛ ihre intentionale Beziehung gewissen ihnen unterliegenden Vorstellungen. Aber im Sinn der Rede vom Verdanken liegt ja ganz richtig, daß sie selbst nun auch das haben, was sie den anderen verdanken.“ 103 Gerade die Vertiefung dieser Frage nach dem intentionalen Charakter der willentlichen, begehrenden und fühlenden Erlebnisse führt zur Revidierung des bisher genannten brentanoschen Fundierungszusammenhanges, weil ein solcher Ansatz die 100 Hua XIX/1, 402-403. Hua XIX/1, 403. 102 Hua XIX/1, 404. 103 Hua XIX/1, 404. 101 34 Wille und Motivation Eigentümlichkeit des praktischen Gerichtetseins des Bewusstseins nicht angemessen erkennt. b) Die Entwicklung der Ansichten Husserls in den Ideen I sowie in den Vorlesungen über Ethik und Wertlehre 1908-1914 Bereits in den Logischen Untersuchungen wird die Schwierigkeit des Problems des Wesens der willentlichen und praktischen Akte gesehen. Die nachfolgenden Überlegungen Husserls vertiefen die noch ungelösten Punkte immer mehr bis zu einer neuen Formulierung der Auffassung. Um die Bedeutung dieses Schrittes zu begreifen, ist es sehr nützlich, die Tragweite der Bestimmung des Charakters der praktischen Akte zu umreißen. Wenn die willentlichen Akte nur fundierte Akte sind, die durch qualitative Kennzeichnung der intentionalen Materie eines objektivierenden Aktes neue Akte bilden, besitzen sie keinen eigentlichen Bezug, keine eigene Intentionalität. Deshalb sind sie – kurz gesagt – Akte, die sich auf keine Gegenständlichkeit beziehen. Das betrifft natürlich die gesamte Sphäre der praktischen und axiologischen Akte, und zwar auch die Wertakte, die fest mit der Willensdimension verbunden sind.104 Das hat entscheidende Folgen für die Auffassungen Husserls über des Wesen der Vernunft: Wenn die doxische Seinssetzung der objektivierenden Akte die Bedingung des Bezugs auf Gegenständlichkeit ist, wäre es der einzige Bereich, der mit der Vernunft, d.h. mit der Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit zu tun hätte105 , was später noch eingehender gezeigt wird. Gerade dieser Punkt wird von Husserl im ersten Band der Ideen neu überdacht. Der in den Logischen Untersuchungen aufgestellte Vorrang der objektivierenden vor den 104 Lotz schreibt hierzu: „Husserl realizes that his assumption that practical acts and objectifying acts are directed to the same object of reference is impossible; rather, they must be conceived as being different (which does not mean that they are conceived as two different things, i.e. values and beings). For otherwise the distinction between purpose and being, as well as the distinction between value and being, could no longer be made. This consideration forces Husserl to rethink their relation without giving up the thesis that objectifying acts must be conceived as prior to the constitution of values and purposes of consciousness“ (Lotz, Christian: Action: Phenomenology of Wishing and Willing in Husserl and Heidegger, in: Husserl Studies 22/1 (2006), 127). 105 Hierzu merkt Melle an: „The number of the forms of reason depends upon the classification of the forms of acts. However many basic forms of acts there are, so will there be as many basic form of reason; for, according to Husserl, a specific form oj justification and rational validity belongs to every basic actform“ (Melle, Ullrich: Husserl’s phenomenology of Willing, in: Hart, James; Embree, Lester (Hrsg.): Phenomenology of Values and Valuing, Dordrecht/Boston/London 1997, 170). 35 Wille und Motivation nicht-objektivierenden Akten bleibt in einem gewissen Sinn bestehen, weil Husserl bestätigt, dass z.B. das Werten „ eine unselbständige Schicht“ 106 des Gesamtgegenstandes ist, der sich in den fundierten Akten konstituiert. Doch nimmt die schon in den Logischen Untersuchungen anwesende Unterscheidung zwischen thetischen (einstrahligen) und synthetischen (mehrstrahligen) Akten 107 eine neue Bedeutung an: Auch wenn die höheren Schichten der Akte (Willensakte, Wertakte usw.) notwendig synthethisch von doxischen Schichten abhängig sind, konstituieren sie ihre entsprechenden Gegenständlichkeiten, wie Husserl in den Ideen I betont: Der neue Sinn bringt eine total neue Dimension herein, mit ihm konstituieren sich keine neuen Bestimmungsstücke der bloßen „Sachen“, sondern Werte der Sachen, Wertheiten bzw. konkrete Wertobjektivitäten: Schönheit und Hässlichkeit, Güte und Schlechtigkeit; das Gebrauchsobjekt, das Kunstwerk, die Maschine, das Buch, die Handlung, die Tat usw.108 Was Husserls Ansatz in den Ideen I von jenem der Logischen Untersuchungen unterscheidet, ist die deutlichere Anerkennung des intentionalen Wesens jedes Bewusstseinsaktes: Die Intentionalität „ist insofern eine Wesenseigentümlichkeit der Erlebnissphäre überhaupt, als alle Erlebnisse in irgendeiner Weise an der Intentionalität Anteil haben.“ 109 Wenn vorher die Intentionalität der praktischen Akte als Möglichkeitsbedingung einen Fundierungszusammenhang mit den objektivierenden Akten aufwies, beruht sie jetzt auf der Konstitution ihrer eigenen Gegenständlichkeiten. Bewusstseinsintentionalität hat daher verschiedene Grundmodi.110 Wir können „einem Dinge freilich [...] nicht anders als in der erfassenden Weise zugewendet sein, 106 Hua III/1, 275. Die Behauptung lautet: „Jede eigenartige sich abgrenzende Noese, mag sie auch eine unselbständige Schicht sein, trägt das ihre zur Konstitution des Gesamtgegenstandes bei, wie z.B. das Moment des Wertens, das unselbständig ist, da es in einem Sachbewußtsein notwendig fundiert ist, die gegenständliche Wertschicht, die der ‚Wertheit‛ konstituiert“ (Hua III/1, 275). 107 Vgl. Hua XIX/1, 502. 108 Hua III/1, 267. 109 Hua III/1, 187. 110 In seinem ausführlichen Gesamtüberblick über die Instinktivität bei Husserl, in dem er sich besonders mit der Rolle der Instinkte in der Transzendentalphänomenologie der 30er Jahre beschäftigt, behauptet Nam-In Lee: „Husserl hat aber in der Spätphilosophie mit der Vertiefung der genetischen Analyse die These von der Fundierung des nicht-objektivierenden Aktes durch den objektivierenden fallen lassen. Dies hat schließlich zur Folge, daß einem Erlebnis, welches nicht auf dem objektivierenden Akt fundiert ist, insofern die Intentionalität zugesprochen werden kann, als es möglich ist, bei ihm irgendeinen Zug des ‚Gerichtetseins‛ festzustellen“ (Lee, Nam-In: Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, Dordrecht/Boston/London 1994, 36). 36 Wille und Motivation und so allen ,schlicht vorstellbaren‛ Gegenständlichkeiten“. Aber solches Erfassen ist kein „Modus des cogito überhaupt“, sondern es handelt sich, „genauer besehen, [um] einen besonderen Aktmodus“. Tatsächlich sind wir „[i]m Akte des Wertens [...] dem Werte, im Akte der Freude dem Erfreulichen, im Akte der Liebe dem Geliebten, im Handeln der Handlung zugewendet, ohne all das zu erfassen.“ 111 Diese neue Perspektive ist das Ergebnis einer Vertiefung der noetisch-noematischen Struktur, die allen intentionalen Akten und daher auch den fundierten Akten eignet. Die Annahme dieser Struktur bringt es mit sich, dass jedem Akt eine bestimmte Gegebenheitsweise entspricht und dass jede Gattung von Bewusstseinsakten eine bestimmte Region von Gegenständen erschließt. Das zeitigt wichtige Folgen bezüglich der Dimension des Willens. Wenn in der zitierten fünften Logischen Untersuchung das Problem der Zuerkennung eines intentionalen Wesens der Willensakte offenbleibt, schlägt Husserl eine deutlichere Auffassung in den Ideen I vor, wenn er formuliert: Schalten wir als Phänomenologen alle unsere Setzungen aus, so bleibt wieder dem Willensphänomen, als phänomenologisch reinem intentionalen Erlebnis, sein „Gewolltes als solches“, als ein dem Wollen eigenes Noema : die „Willensmeinung“, und genau so, wie sie in diesem Willen (in dem vollen Wesen) „Meinung“ ist, und mit alledem, was und „worauf da hinaus“ gewollt ist. 112 Das Problem, den praktischen Akten Intentionalität zuzusprechen oder nicht, ist, wie bereits angedeutet wurde, nicht nur für die Willensakte grundlegend, sondern auch für die axiologische Dimension und daher für den ethischen Bereich des Ichlebens, wie es aus den Vorlesungen zur Thematik der Ethik und der Wertlehre aus den Jahren 1908-1914 hervorgeht. Die ethischen Überlegungen Husserls sind in dieser Zeit zum Versuch eines Parallelismus zwischen logischen und ethischen Gesetzen ausgereift, um den Kampf gegen Psychologismus und Relativismus auch im ethischen Bereich zu gewinnen. Dieser Parallelismus setzt eine Bedingung voraus: Die Werte sollen objektive Gegenstände und nicht nur subjektive Gefühle oder Empfindungen sein, weshalb sie als Korrelat der wertenden Akte analog zu den logischen Gegenständlichkeiten der 111 112 Hua III/1, 76. Hua III/1, 221-222. 37 Wille und Motivation doxischen Sphäre erscheinen sollen. Ohne diese Voraussetzung festzuhalten, wäre die praktische Dimension des Lebens der Subjektivität im Reich des Unvernünftigen angesiedelt. Wie in den Ideen I erkennt Husserl auch in diesen Vorlesungen den doxischen Akten nicht ihren Vorrang ab: Die logische Vernunft hat nun aber den einzigartigen Vorzug, daß sie nicht nur in ihren eigenen Feld, sondern im Feld jeder anderen Gattung des Vermeinens, also in jeder anderen Vernunftsphäre Recht formuliert, Rechtmäßgkeit bestimmt, Rechtsgesetze als Gesetze prädiziert und ausspricht. Wertende und praktische Vernunft sind sozusagen stumm und in gewisser Weise blind. 113 Die doxischen Akte der logischen Vernunft geben daher dem Willen „das Auge des Intellekts“ 114, aber im Gegensatz zu den Logischen Untersuchungen stellt hier Husserl fest, dass [d]as Herausstellen, Feststellen, Bestimmen, das Objektivieren im spezifischen Sinn [...] Sache der logischen Vernunft [ist]. Die axiologische Vernunft mit ihren Beständen ist sozusagen sich selbst verborgen. [...] Erkenntnis erfindet aber nicht, sie holt nur heraus, was in gewisser Weise schon da ist. Wäre nicht das Gemüt eine Domäne von Vermeinungen, würde es nicht in sich schon, aber eben in der Weise des Gemüts, Entscheidungen treffen, ihr Votum abgeben, so fände die Erkenntnis nichts von Werten und Wertinhalten vor, sie fände dann nur blinde Erlebnisse vor, wie etwa Erlebnisse des Rot- und Blauempfindens. 115 Diese letzte Feststellung fasst deutlich den Schritt zusammen, den Husserl im Vergleich zu den Logischen Untersuchungen vollzieht: Die praktische Domäne ist ein Boden von Vermeinungen, wo die Intentionalität und die Konstitution von Gegenständlichkeiten schon am Werk ist. Husserl erkennt in diesen ethischen Vorlesungen „die Grundschwierigkeit, die hier besteht, die Verflechtung zwischen der 113 Hua XXVIII, 68 (Meine Hervorhebung). Hua XXVIII, 64. 115 Hua XXVIII, 63. 114 38 Wille und Motivation logischen Vernunft mit der prätendierten praktischen und axiologischen. Und das Grundproblem ist, in dieser Verflechtung die Komponenten zu scheiden.“ 116 Ein anderer Bestandteil der zitierten Äußerung Husserls verdient jetzt eine besondere Aufmerksamkeit. Sie betrifft ausdrücklich die Domäne des Gemüts, d.h. die Sphäre, welche nach Pfänder streng von der Willenssphäre zu unterscheiden ist: Während Pfänder dem Gemüt und allen Strebungen keine Intentionalität zuschreibt, stellt Husserl heraus, dass diese Domäne nicht blind ist. Wieder drängt sich die Frage auf, die am Ende des vorangehenden Abschnitts über die pfändersche Auffassung des Willens gestellt worden ist, d.h. die Frage nach der spezifischen Eigentümlichkeit des Willens und der Grenzlinie zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Akten. In die Behandlung des Fundierungsverhältnisses der Logischen Untersuchungen fragt sich Husserl nicht danach, „worin die Willensqualität besteht. Es bleibt also offen, ob an dem Willenvorsatz Streben, Triebe, Instinkte, Gefühle u. dgl. beteiligt sind.“117 Das Betreten dieses Problembereichs ist gerade das Ziel der nächsten Schritte, die nicht mehr nur mit einer statischen, sondern besonders mit einem genetischen Ansatz zur Willensphänomenologie zu tun haben, d.h. mit dem Ansatz, der nach dem Ursprung der Entscheidungen, der Stellungnahmen und der Willensakte sowie nach ihrer Entstehung in der Sphäre der Passivität fragt. 3.2.2 Die Komplexität des Phänomens des Wollens und seine Modalisierungen Die durch Pfänders Betrachtungen sich erhebende Frage kann nun erneut gestellt werden: Welches ist die bestimmte Eigenheit der Willensakte und was ist die Beziehung zwischen Wille und Triebsphäre? Hat der Wille nur eine eindeutige Modalität oder bekundet er sich in verschiedenen Abschattungen? Ist es immer so einfach und unmittelbar möglich, einen eigentlich willentlichen Akt von anderen komplexeren 116 Hua XXVIII, 64. Dazu auch: „Diese Unterscheidungen nehmen wir vorläufig hin. Ihre wirklich tiefgehende Klärung, die Frage, inwiefern, in welchem Sinn mit wirklichem Recht wesentliche Demarkationen hier zu machen sind oder in welchem Sinn hier wirklich von Vernunft und objektiver Gültigkeit gesprochen werden darf, das führt schon in die Phänomenologie und Theorie der Vernunft selbst hinein, und das ist ein wahrer Urwald von Schwierigkeiten“ (Hua XXVIII, 205). 117 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 58. 39 Wille und Motivation Akten zu unterscheiden? Husserl sieht die Komplexität des Phänomens des Wollens und ebnet seine Nuancen nicht ein. Vor dem Willen mit der aktiven Thesis des „fiat“ liegt das Tun als triebmäßiges Tun, z.B. das unwillkürliche „ich bewege mich“, das unwillkürliche „ich greife“ nach meiner Zigarre, ich begehre danach und tue es „ohne weiteres“, was freilich nicht leicht vom Falle der Willkür im engeren Sinne zu scheiden ist. 118 Husserl zufolge ist es dabei nicht „leicht“, die verschiedenen Modi zu erkennen, in denen der Wille sich bekundet und in denen daher die Freiheit des Ich eine Rolle spielt, weil wir nie aufhören, von einer Willensspannung, die dem aktiv willentlichen fiat vorangeht, belebt zu werden: „Immerzu bin ich Willens-Ich und als waches in willensmäßigen Zielungen und im Wechsel von Willensmodalitäten. Immerzu habe ich etwas vor und habe ich schon vorher begründete Zielhorizonte, Vorhaben und Vorhabenshorizonte.“119 Oder: „Alles Leben ist unaufhörliches Streben, alle Befriedigung ist Durchgangsbefriedigung. [...] Leben ist Streben in mannigfaltigen Formen und Gehalten der Intention und Erfüllung.“120 Wie Schuhmann feststellt, ist „der Hauptpunkt, in dem Husserl dabei von Pfänder abweicht, [...] die Frage nach der von Pfänder nicht beachteten Modalisierung des einfachen Wollens; die Frage der ,Willensmodalitäten’ “ 121. Die zum Pfänder-Konvolut gehörenden Manuskriptblätter A VI 3/5-7 zeigen deutlich die grundlegende Bedeutung, die Husserl der Aufgabe einer Analyse der verschiedenen Willensmodalitäten zuschreibt 122: Diese Aufgabe betrifft auch „schwierige Untersuchungen der allgemeinen Bewusstseinsstrukturen überhaupt, 118 Hua IV, 258. Hua XXXIX, 597. 120 A VI 26, 42a-b, in: Mensch, James R.: Instincts – A Husserlian Account, in: Husserl Studies 14/3 (1997), 231. Melle betont hierzu: „According to Husserl, there are still other forms of inattention that lie between the so-called complete volitional passivity of drives and the active will. When I am occupied with a theoretical task, I can, in the background of my consciousness address my fiat or non-fiat to an impulse, as for example, the impulse to smoke a cigarette. In contradistinction to the drive, the will is here already present, albeit latently, in the background. The transition from a latent act of the will into a patient act of the will is therefore also of a completely different sort than the introduction of volitional impulses into an instinctually occurring event“ (Melle, Husserl’s phenomenology of Willing, 190). 121 Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, 104. 122 Husserl schreibt tatsàchlich, dass „[e]ine außerordentlich schwierige und höchst umfangreiche Aufgabe wäre es, neben der Systematik der Willensmodalitäten auch eine Untersuchung der Aktabwandlungen bzw. fließenden Umgestaltungen der Willenssphäre zu unternehmen“ (A VI 3/5, in: Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I. Husserl über Pfänder, 102-103). 119 40 Wille und Motivation da die rechte Abgrenzung der Bewusstseinsgestaltungen, die das Wort Wille bezeichnen soll, keineswegs von vornherein eine selbstverständliche Sache ist.“ 123 Die prinzipielle Schwierigkeit des Phänomens des Willens besteht darin, dass es von einer doppelten Verflechtung gekennzeichnet ist: Einerseits setzen Willensakte „schon doxische Akte voraus“, andererseits auch „Gemütsakte.“ 124 Aus diesem Grund schreibt Husserl, dass Pfänders Motive und Motivation „rühmenswert“ sei, aber „doch nicht vollkommen die außerordentlichen Schwierigkeiten der Materie“ überwinde und daher „nicht das Ende, sondern den Anfang einer fundamentalen Erforschung der Willenssphäre“ 125 bilde. Eine ähnliche Kritik an Pfänder und „an der Nicht-Beachtung der Verschiedenartigkeit der intentionalen Verflechtungen“ findet man auch in der Dissertation über Freiheit, Wollen und Aktivität, des Husserl-Schülers Hans Reiner, obwohl dieser anerkennt, dass „sich in denselben zum Teil eine auffallende Übereinstimmung hinsichtlich des sich ergebenden Umfangs seines Strebensbegriffs mit unserem Begriff der Strebung zeigt.“ 126 Der Wille ist die Fähigkeit, welche die schlechthin menschliche Aktivität verkörpert, aber Husserl bemerkt, dass „in jeder Aktart verschiedene Mischungen von Spontaneität und Rezeptivität möglich sind und überall Spontaneität in Rezeptivität übergehen kann und umgekehrt.“ Er fährt fort: „Die Rezeptivität ihrerseits führt uns aber weiter zurück in Hintergründe, bei denen wir eigentlich weder von Spontaneität noch von Rezeptivität sprechen können.“ 127 In den schon erwähnten Vorlesungen über Ethik von 1914 widmet Husserl einen bezeichnenden Abschnitt dem Thema der Phänomenologie des Willens, indem er den Willen mit einem Lipps-Pfänderschen Ausdruck „im engeren und weiteren Sinn“ 128 untersucht. Das Hauptziel Husserls besteht hier darin, im Rahmen des Parallelismus zwischen logischer und praktischer Vernunft die „ganz eigenartige[n] Gesetze“ der Willens- und Begehrenssphäre darzulegen, aber er bekundet auch sogleich die erhebliche Schwierigkeit einer solchen Aufgabe. Der Grund dieser Schwierigkeit 123 A VI 3/5. 3/5. 125 A VI 3/5. 126 Reiner, Hans: Freiheit, Wollen und Aktivität, Halle 1927, 104-105. 127 A VI 3/5. 128 Hua XXVIII, 102. 124 A VI 41 Wille und Motivation besteht im Reichtum der Phänomene, die zum Umfang des Willens gehören. Wie im Gebiet der logischen Akte nicht nur „das Gewiß-Glauben“, sondern auch alle seinen Modalisierungen in Betracht gezogen werden, so auch in der Willenssphäre: Ähnlich verstehen wir unter einem Willensakt im weitesten Sinn nicht nur das Wollen im engsten Sinn, sondern vielerlei Modalitäten, und darunter dem Willen eigentümliche. [...] Wollen im gewöhnlichen engeren Sinn ist positiv und in Willensgewißheit Wollen. Ich bin schlechthin entschlossen, oder ich tue gar, ich handle. [...] Zunächst ist es klar, daß wir auch ein negatives Wollen haben und desgleichen Modi der Willensungewißheit. In letzterer Hinsicht wird oft die Scheidung zwischen Wollen und Wünschen, Streben, Begehren unklar. 129 Die Feststellung dieser Unklarheit stellt die größte Unterscheidung zwischen Husserls und Pfänders Auffassung des Begriffs des Willens dar. Aber auch wenn das beständige modalisierte Sich-Vorstellen des Willens es nicht immer einfach macht, die Grenzlinie zwischen Wollen und Begehren zu bestimmen, bedeutet das nicht, dass es unmöglich ist, festzustellen, was eigentlich den Willen kennzeichnet, wie noch später gezeigt wird. Was hier jedenfalls vom phänomenologischen Standpunkt aus in den Blick genommen werden soll, ist die Weite der Skala der Willensphänomene. Zum Willen gehört jeder Willensakt, der in schlichter Weise einem Reiz folgt, ohne Schwanken und Zweifeln, ohne Überlegung und Parteinahme. Zum Beispiel, ich blicke auf: Da steht mein Frühstück. Unmittelbar sage ich: Ich will jetzt frühstücken. Hier erwächst freilich die Frage 129 Hua XXVIII, 103. „Aber vor dem Willen und seinen Willenszielen liegen Vorformen des Ichstrebens, des affiziert Hingezogenwerdens, des Sich-entscheidens, die wir instinktiv nennen“ (Hua XV, 511). Perreau schlägt eine interessante Anmerkung über Husserls Wortschatz vor: „La questione de la pulsion, chez Husserl, est souvent envisagée en proximité et différence d’une multitude de notions voisines, qu’il s’agisse de la tension (Spannung), de l’aspiration/effort (Streben), tendance (Tendenz), ou encore de la force affective (affektive Kraft), voire de la phénoménalité originaire (Urphänomenales). Cette profusion terminologique, en elle-même problématique, signale une certaine difficulté à dire l’experience de la pulsion dans ses divers aspects. À comparer les textes, il apparâit clairement que Husserl ne se montre pas toujours soucieux d’établir les critères de distinction qui permettraient de faire la différence entre ces différentes notions, et l’emploi qu’il fait de chacun de ces termes ne semble pas toujours, à première vue, rigoreusement régi“ (Perreau, Laurent: Phénoménologie husserlienne et métapsychologie freudienne: la pulsion et l’incoscient, in: Alter – Revue de phénoménologie 14 (2006), 19-20). Nam-In Lee stellt eine mögliche Unterscheidung zwischen die Bedeutungen der Wörter „Tendenz” und „Trieb” bei Husserl hin: „Trotz der feststellbaren Gattungsgemeinschaft zwischen beiden war er ungefähr bis gegen 1920 der Auffassung, daß die tendenzielle Intentionalität von der Triebintentionalität strikt unterschieden werden müsse. Er begründete dabei seine Auffassung damit, daß die Auswirkung der tendenziellen Intention in allen Bereichen des Bewußtseins, d.h. sowohl in der Sphäre der Begehrungsintention und der wertenden Intention als auch [...] in der Vorgestellungsintention zu beobachten sei, die Auswirkung der Triebintentionalität aber nur in einem bestimmten Bereich des Akten, nämlich im Bereich des Begehrens“ (Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 88). 42 Wille und Motivation nach dem Verhältnis dieser Wollungen, die ohne weiteres einem „Reiz” folgen, zu den triebartigen Betätigungen, die wir als unwillkürliche bezeichnen. 130 Husserl bildet dazu eigens den widersprüchlichen Ausdruck „Willenspassivität“, wenn er schreibt, dass „im Trieb und dem von ihm folgenden Tun eine niedere Form des Wollens vorliegt, eine Willenspassivität gegenüber der Aktivität des ‚ich will‛ als des Ichvollzuges des Wollens.“ 131 In einem anderen Manuskript beschreibt er auf diese Weise den Begriff von Willenspassivität: Das Bedürfnis spazierenzugehen, das ihm „passiv“ Folgen im „ich will ausgehen“. Das dabei etwa in Gedanken Sein, mit irgend welchen Überlegungen sonst beschäftigt sein und passiv den „gewohnten Weg“ einschlagen, ohne Wahl, ohne auf ihn besonders gerichtete Willensentscheidung. Und doch nicht gegen meinen Willen, sondern im Sinn des einleitenden. Ich gehe aber je nach der Sommertemperatur bald mit Vorliebe den, bald jenen Weg, ursprünglich mit Überlegung, ich pflege, wenn es heiß ist, den einen zu gehen etc. Jetzt aber (es ist heiß) gehe ich ohne Überlegung den schattige versprechenden Weg. Also unwillentlich, ohne Willensstruktur ist das nicht. Aber es ist Willenspassivität.132 Diesbezüglich kann die Überlegung eines anderen Phänomenologen und LippsSchülers, Moritz Geiger, einen bedeutungsvollen Beitrag leisten, weil er auch mit dem Ausdruck „unerlebtes Wollen“ ein solches Grenzniveau des aktiven Ichlebens bearbeiten will. 3.2.3 Moritz Geiger: Das unerlebte Wollen Moritz Geiger gehörte – neben Pfänder, Daubert und anderen – zu den bedeutenden Vertretern der Münchener Lipps-Schüler, die sich nach der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen der Phänomenologie Husserls näherten. Ab 1906 besuchte er Husserls Vorlesungen in Göttingen und begann, gemeinsam mit den anderen 130 Hua XXVIII, 112. M III 3 III I II, 103, in: Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 184. 132 E III 10, 8-9 (Meine Hervorhebung). 131 43 Wille und Motivation Wissenschaftlern im Umkreis Husserls, das Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 1913-30 herauszugeben.133 Bezüglich des Zieles dieser Untersuchung bietet ohne Zweifel Geigers Analyse zur Thematik des unerlebten Wollens, die sich im Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität134 von 1921 findet, ohne Zweifel einen bemerkenswerten Begriff, da sich die Analyse auf die Ganzheit des Phänomens des Willens und nicht nur auf seine bewussten Erscheinungen, sondern auch auf seine unbewusste Dimension konzentriert. In der Einleitung dieses Werkes übt Geiger Kritik an der so genannten „Erlebnispsychologie“ 135, ein Ausdruck, der die gesamte psychologische Tradition von Locke zu Herbart bezeichnet. Geiger zufolge ist diese Psychologie „einer Naturwissenschaft vergleichbar, die nicht das reale Geschehen in der objektiven Natur beschreibt, sondern nur die Aufeinanderfolge der zufälligen Wahrnehmungsfelder, die sich einem Menschen darbieten“ 136. Im Gegensatz zu diesem Ansatz schlägt Geiger eine neue psychologische Methode vor, den „immanente[n] Realismus“ 137, der die Aufgabe hat, „an Stelle eines Systems von Einzelvorgängen die Psychologie des ganzen Menschen mit seinen Funktionen, Trieben, Kräften zu setzen.“ 138 Geiger führt dies mit einem wirkungsvollen Bild aus: 133 Im Rahmen dieser Forschung Arbeit ist es unmöglich und sogar an dieser Stelle auch nebensächlich, die Rolle Geigers unten den Mitglieden des phänomenologischen Kreises zu analysieren. Wie Spiegelberg betont, „Husserl’s estimate of Geiger varied, largely in accordance with his own development“ (Spiegelberg, The phenomenological movement, 207). Geiger legt deutlich seinen persönlichen Ansatz zur phänomenologischen Methode im schon zitierten zur Pfänders Phänomenologie gewidmeten Aufsatz dar, Alexander Pfänders methodische Stellung: „Als Vollendung des Empirismus hatte zu Beginn des Jahrhunderts die phänomenologische Methode ihren Einzug in die Philosophie gehalten. Daß sie sich die vorurteilslose Erfahrung der Tatsächlichkeit des Selbstgegebenen, des Selbsterfahrenen zum Ziele setzte, war das Entscheidende, durch das sie eine junge Generation anzog. Rücksichtlos die Sache und nur die Sache sprechen lassen – ohne vorgängige Konstruktion, ohne irgendwelche aus den Einzelwissenschaften, der Philosophie, der Sprache, der vulgären Meinung stammenden Vorurteile zwischen das auffassende Ich und die Sache zu schieben. Die größte Lebensnähe wollte sie erreichen durch die erkennende Hingabe an die Sache selbst“ (Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 2). 134 Geiger, Moritz: Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, Halle 1930. 135 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 2. 136 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 5. 137 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 1. 138 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 9. 44 Wille und Motivation Nach der Anschauung des immanenten Realismus fällt nur ein Teil von dem, was sich in jedem Augenblick realiter seelisch ereignet, in das Auge des erlebenden Ich. Wir sind in unserem Erleben wie der Astronom vor seinem Fernrohr, der in jedem Augenblick nur einen Teil der Himmelsvorgänge herausgreifen und beobachten kann. Wir ziehen in unserem Erleben ein Stück der realen psychischen Welt ans Licht, die sich zeitlich und im Raum des geistigen Nebeneinander nach allen Richtungen ins Dunkel verliert. 139 Gerade aus dieser methodologischen Perspektive nähert sich Geiger der Frage nach dem vielschichtigen Wesen des Willensphänomens. Die Erlebnispsychologie sammelt Wo l l e n , H a s s e n , B e g e h r e n u s w. „ u n t e r d e m S a m m e l n a m e n d e r Bewusstseinserlebnisse.“140 Geiger stellt allerdings eine Frage, die eine tiefere Untersuchung eröffnet: „Aber was will das besagen: Wollen sei ein ‚Bewusstseinserlebnis’?“ 141 Es ist nötig, nach Geiger zu bemerken, dass „Erleben des Wollens und Wollen [...] zwei zwar eng verbundene, aber doch verschiedene Tatbestände [sind].“142 Wenn eine solche Unterscheidung nicht anerkannt wird, verfehlt die Psychologie ein echtes Verständnis der psychischen Phänomene in ihrer Gesamtheit: „Das Urmaterial der Psychologie sind reale Vorkommnisse des Ichs, nicht ,Erlebnisse‛ – das ist die richtige Angabe des Gegenstandes des Psychologie. Es ist sekundär, dass diese Vorkommnisse sind, d.h. erlebt werden.“ 143 Diese Feststellung hat eine spezielle Bedeutung bezüglich der Frage nach dem Willen, weil gerade diese Dimension üblicherweise mit dem Erlebt-Werden verbunden wird: Ein Tun ist tatsächlich willentlich – sagt man gewöhnlich –, wenn es bewusst und zweckhaft verwirklicht wird. Geiger führt das Paradoxon der Hypothese eines unerlebten Wollens an und fragt sich: „Gibt es wirklich etwas dergleichen: Einen Brief 139 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 4-5. Spiegelberg betont, dass Geigers Ansatz „implied the espousal of a broader empiricism, not restricted to sense data, and the rejection of the reductionism of positivistic ‚nothing-butters’ and nominalists who denied general essences“ (Spiegelberg, Herbert: Phenomenology in psychology and psychiatry, Evanston 1972, 16). Geiger drückt sich explizit gegen solches Vorgehen von „Nichts-anderes-als“ aus: „[S]eine wahllose Übertragung auf das Psychische und Geistige gehört zu den verhängnisvollsten Idolen des Naturalismus [...]. Überall, wo das naturwissenschaftliche Vorbild die Gestaltung der Psychologie bestimmt hat, glaubte man auf Grund dieses Prinzips mit eigenen Elementarbegriffen das ganze Gebiet des Psychischen umspannen zu können“ (Geiger, Alexander Pfänders methodische Stellung, 6-7). 140 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 36. 141 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 36. 142 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 37. 143 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 41. 45 Wille und Motivation schreiben wollen, ohne daß dies Wollen erlebt ist?“144 Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach, weil „[e]s [...] doch zum Wesenskern alles Wollens zu gehören [scheint], daß das Ich in ihm sein Ziel bewußt erfaßt, bewußt den Willensakt vollzieht. Ein Wollen, dem man das Bewusstsein entzieht, scheint zum bloßen ,Drängen‛, zur bloßen ,Tendenz‛ zu werden“ 145. Die letzte Äußerung führt wieder ins Zentrum der Beobachtung des schon mit Pfänder als problematisch enthüllten Punktes, d.h. der Grenzlinie zwischen dem eigentlichem Wollen und dem bloßem Begehren oder Streben. Wieder bekundet sich dies als der Kernpunkt im Rahmen einer Phänomenologie des Wollens. Geiger zufolge sollen zwei Momente im Phänomen des Wollens auseinandergehalten werden: Einerseits die Willenssetzung, d.h. „das erste Stadium des Wollens“, das „noch nicht eigentlich das Wollen [ist], sondern es ist das Sich-Selbst-Bestimmen zu einem bestimmten Wollen, ist eine Setzung des Wollens.“ 146 Andererseits das wollende Verhalten, bestehend „in dem späteren Stadium eines länger andauernden Wollens.“ 147 Die Willenssetzung kann nie unerlebt sein und um das zu zeigen, bietet Geiger ein Beispiel an: Ein Beamter findet heraus, dass eine freigewordene Stelle wieder besetzt worden ist: Nach der Besetzung wird ihm jedoch auf einmal klar, dass er diese Stelle vor langer Zeit gewollt hat. Er versteht plötzlich, dass viele seiner Handlungen und Schritte vormals auf die Erlangung einer solchen Stelle ausgerichtet waren. Jedenfalls stellt Geiger fest, „dass das, was hier als ,unbewusstes Wollen‛ angesehen wurde, 144 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 94. Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 95. Luisa Feroldi schreibt hierzu: „Geiger tiene a sottolineare l’aspetto paradossale implicito nell’ipotesi di un volere non-vissuto, ben consapevole di scontrarsi con tutta una tradizione che fa della volontà il centro dell’attività propria dello spirito o della soggettività autocosciente“ (Feroldi, Luisa: La realtà psichica e l’inconscio in Moritz Geiger, in: Besoli, Stefano; Guidetti, Luca (Hrsg.): Il realismo fenomenologico. Sulla filosofia dei circoli di Monaco e Gottinga, Macerata 2000, 493). 146 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 97. 147 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 97-98. Karl Löwenstein formuliert bezüglich dieser Betrachtung Geigers einen interessanten Beitrag in der schon zitierten Pfänder-Festschrift an: „Ferner gibt sich ein phänomenologischer Unterschied ähnlich wie ihn M. Geiger (Fragment über den Begriff des Unbewußten, Jahrb. f. Phil. IV) beim Wollen aufgezeigt hat, auch beim Wünschen zu erkennen. Es läßt sich nämlich die aktuelle Wunschsetzung, der Wunschakt von dem wünschenden Verhalten trennen. Der Wunschakt: das Jetzt-wünsche-ich-wirklich, das letzte entscheidende Ja-sagen des psychischen Subjektes zu einem Wunschentwurf ist zugleich das Entlassen dieses Wunsches und damit normalerweise auch der Beginn des funktionalen Wünschens (der Einsaugetätigkeit), des wünschenden Verhaltens“ (Löwenstein, Karl: Wunsch und Wünschen, in: Heller, Ernst; Löw, Friedrich (Hrsg.): Neue Münchener philosophische Abhandlungen, Leipzig 1933, 179). 145 46 Wille und Motivation entweder nicht unbewusst war oder kein Wollen.“ 148 Wenn es tatsächlich ein Wollen war, dann war es nicht unbewusst, sondern einfach unbemerkt: „[E]s ist nur hinausgewiesen aus dem voll erhellten Raum des psychischen Geschehens in eine Sphäre niederer Deutlichkeit“149. Dagegen ist von Unbewusstheit zu sprechen, wenn es sich um kein Wollen, sondern um Akte „des Begehrens, Strebens, Drängens“ 150 handelt. Geiger schreibt hierzu: Wenn der Begriff des Wollens nicht untergehen soll in einer Reihe verwandter Begriffe, wie Begehren, Drängen, Streben, von Trieben, Erfaßtsein usw., so muß dieser Begriff des Wollens für scharf abgegrenzte Tatbestände vorbehalten bleiben. Nur dort kann vom Wollen geschprochen werden, wo einmal eine Erfassung eines Ziels durch ein zustimmendes jasagendes Ich vorliegt – und zum andern, jene Selbstbestimmung des Ichs durch das Ich [...]. Das Ich muß sich sein Ziel selbstsetzen; es muß sich selbst zum Wollen bestimmen, es darf kein bloßes Hindrängen nach dem Ziel sein, kein bloßes Angezogenwerden von dem Ziel, kein bloßes Richtungsbestimmtsein durch das Ziel. 151 Diese Kennzeichnungen des eigentlichen Willensaktes erinnern unmittelbar an die, welche schon Pfänder festgelegt hatte. Aber das ist nicht alles. Freilich können Willensakte im Sinne von Willenssetzungen nie unbewusst sein, aber „Willenssetzungen sind nur die eine Hälfte des Wollens. Wenn man die notwendige Bewußtheit des Wollens überhaupt identifiziert, so hat man pars pro toto gesetzt.“ 152 Wie bereits angezeigt wurde, gibt es noch ein zweites Moment im Phänomen des Willens, nämlich das wollende Verhalten. Der Einschluss dieser Dimension antwortet einem bestimmten Anspruch: Geiger erkennt tatsächlich wie Husserl an, dass wir „[i]n jedem Augenblick unseres Lebens [...] unendlich vielerlei [wollen]: Von den primitiven Dingen des Alltagslebens bis zu den höchsten Zielen. Aber nur Wenigem erteilen wir in jedem Moment die Unterschrift, die das Handeln sanktioniert.“153 Das wollende Verhalten wird von Geiger an einem Beispiel erklärt. Wenn jemand sich entscheidet, zum Bahnhof zu gehen, verwirklicht er 148 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 105. Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 106. 150 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 106. 151 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 107. 152 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 109. 153 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 115. 149 47 Wille und Motivation „ein länger andauerndes Wollen, das eine Reihe von Unterwollungen und Handlungen nach sich zieht“ 154: Er will die ganze Zeit über zum Bahnhof gehen, aber „nicht die ganze Zeit über – nicht während des ganzen Weges vom Hause zum Bahnhof – ist dies Wollen, dies wollende Verhalten (dies zum Bahnhof gehen Wollen) erlebt.“ 155 Ein länger andauerndes Wollen kann nicht beständig bewusst bleiben und das führt wieder die Möglichkeit der Existenz eines unerlebten Wollens ein. Das Problem der „Zwischenzeiten“ zwischen den einzelnen klar bewußten Phasen eines langandauernden Wollens wird hier aktuell. Der Beamte will sicherlich zuweilen völlig bewußt den Posten erstreben, und man erlebt jeden Morgen, wenn man sich zur Arbeit setzt, das Wollen der Abfassung der Abhandlung in voller Bewußtheit. Was aber geschieht mit dem Wollen in den Zwischenzeiten zwischen solchen Höhepunkten? Ist es unerlebt vorhanden oder wie sonst?156 Solche Zwischenzeiten machen es erforderlich, das Feld des Willens zu erweitern. Die Willenssetzung ist bewusst und impliziert freilich Zielerfassung und Selbstbestimmung, aber diese sind nur der momentane Höhepunkt der weiten und vielschichtigen Willensphänomene: „Das Wollen existiert, auch wenn es nicht aktiviert ist: Es ist gefüllt mit Tat, sonst wäre es kein Wollen [...]. Wir sind auf dies Tun eingestellt. [...] Wir schnellen den Pfeil der Tätigkeit erst los, wenn der Augenblick gekommen ist.“ 157 3.2.4 Die eigentümlichen Charaktere des Willens bei Husserl Wie bereits gezeigt worden ist, glättet Husserl nicht die komplexen Nuancen des Willensphänomens, das bedeutet aber nicht, dass er seine Besonderheit nicht anerkennt, oder dass er die willentlichen und die triebhaften oder unbewussten Phänomene durcheinanderbringt. Er betont tatsächlich wie Pfänder die Freiheit als Merkmal des eigentlichen Willens und man kann zweifelsohne behaupten, dass Husserl mit Pfänder 154 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 109. Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 109. 156 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 111. 157 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 115. 155 48 Wille und Motivation darin übereinstimmt, dass der Wille zum spezifischen Wesensgehalt menschlichen Lebens gehört 158. Das geht besonders aus seinen ethischen Betrachtungen in den Aufsätzen über Erneuerung in den Jahren 1923 und 1924 hervor, die er – neben seinen EthikVorlesungen in den Jahren 1908-1914 und in den Sommersemestern 1920 und 1924 – für die japanische Zeitschrift The Kaizo geschrieben hat. Darin ist zu lesen: Der Mensch hat auch die Wesenseigenheit, anstatt passiv-unfrei seinen Trieben (Neigungen, Affekten) preisgegeben zu sein und so in einem weitesten Sinne affektiv bewegt zu werden, vielmehr von sich, von seinem Ich-Zentrum aus, freitätig zu „handeln“, in echt „personaler“ oder „freier“ Aktivität zu erfahren (z.B. beobachtend), zu denken, zu werten und in die erfahrene Umwelt hineinzuwirken.159 Wie auch Pfänder sieht Husserl das eigentliche Wesen des Menschen darin, dass dieser die Möglichkeit hat, sich von der Wirkung der Triebe zu befreien und sich durch sein Ich-Zentrum selbst zu bestimmen. Das paradigmatische Moment der Freitätigkeit ist auch bei Husserl die Willensentscheidung, die mit dem schon zitierten Ausdruck des „fiat“160 gekennzeichnet wird: „Der Wille ist auch ein Langen, aber er bringt ein Neues herein, das eben Langen voraussetzt, aber nicht Langen ist (Begehren, Wünschen): das fiat, das praktische ,Es soll sein!’ “ 161 Im Moment des fiat „ist das Subjekt im 158 Es ist bemerkenswert, dass viele Phänomenologen (neben dem schon zitierten Geiger) den freien und selbstbestimmenden Charakter des Willens unterstreichen. Edith Stein schreibt z.B. „Aus sich heraus, in freiem Impuls kann es die eine oder andere Möglichkeit ergreifen [...] das Wollen [...] erfordert [...] einen freien Impuls, der als etwas Neues rein aus dem Ich hinzutritt und aus den Motiven nicht herzuleiten ist“ (Stein, Edith: Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften, Freiburg/Basel/Wien 2010, 64). Auch Ingarden betont mit klar pfänderschen Ausdrücken, dass kann „[e]ine Willensentscheidung und eine Handlung [...] nur dann für eine ,eigene‛ Tat der betreffenden Person gelten, wenn sie direkt vom Ichzentrum dieser Person hervorquillt, in ihm ihren echten Ursprung hat, und wenn dieses Ichzentrum den Vollzug der sich daraus ergebenden Handlung beherrscht und leitet, also an ihr nicht bloß persönlich ,beteiligt‛ ist, sondern in dem gesamten Geschehen der sich abspielenden Handlung das entscheidende Gewicht in ,seiner Hand‛ behält“ (Ingarden, Roman: Über die Verantwortung, Stuttgart 1970, 19). 159 Hua XXVII, 24 (meine Hervorhebung). 160 Vgl. als beispielhafte Aufzählung: Hua IV, 98, 257ff., 283, 286, 328; Hua XIV, 447; Hua XXVIII, 107ff., 157; Hua XXXIX, 146, 324, 353. Husserl erbt diesen Ausdruck von William James, der in seinen Principles of Psychology schreibt: „The bare idea is sufficient, but sometimes an additional conscious element, in the shape of a fiat, mandate, or express consent, has to intervene and precede the movement“ (James, William: Principles of Psychology, New York 1890, 522). Hierzu vgl.: Ferrarello, Susi: On the Rationality of Will in James and Husserl, in: European journal of pragmatism and american philosophy 2/1 (2010); Linschoten, Johannes: Auf dem Wege zu einer phänomenologischen Psychologie. Die Psychologie von William James, Berlin 1961, 200-224. 161 Hua XXVIII, 157. 49 Wille und Motivation prägnanten Sinne Willenssubjekt [...] ,handelndes’ Subjekt, personaler Täter seiner Tat.“ 162 So wie Pfänder den Gipfel des Willensaktes mit dem „geistigen Schlag“ des Ich-Zentrums identifiziert, hebt Husserl die selbstbestimmende Macht der Willensentscheidung hervor, der er einen schöpferischen Charakter zuschreibt. Wie Heller betont, sind die Selbstbestimmungsakte „Akte, durch welche das Subjekt die durch einen Antrieb bzw. eine Neigung gefährdete Herrschaft über sich selbst aufrechterhält und sich wirksam zur Unterlassung desjenigen Tuns bestimmt, zu welchem es angetrieben bzw. geneigt ist.“ 163 In seinen Vorlesungen von 1914 beobachtet Husserl, dass im Falle der Entscheidung, nach Paris zu reisen, uns das Bewusstsein nicht diktiert: „ ‚Es wird sein, und demgemäß will ich es’; sondern ‚Weil ich es will, wird es sein.’ Mit anderen Worten, der Wille spricht sein schöpferisches ‚Es werde!’“ 164 Diese Beobachtung des schöpferischen fiat intendiert, die paradigmatischen Merkmale des Willens zu erkennen, aber sie will sich natürlich nicht auf einen bestimmten Moment fixieren, sondern den dynamischen Charakter berücksichtigen, der nicht nur den anfänglichen Zeitpunkt, sondern auch jeden Moment der Ausführung des willentlichen Tuns kennzeichnet. Wie Pfänder betont Husserl die Wichtigkeit, den Unterschied zwischen Willen und Begehren oder Wünschen festzustellen, wie er in dem Abschnitt der Ethik-Vorlesungen aus dem Jahr 1914 zeigt, der dem Thema der Phänomenologie des Willens gewidmet ist. Die wesentliche Eigenheit des Willensaktes, die ihn vom bloßen Streben abgrenzt, ist auch bei Husserl dasjenige, was Pfänder „die Möglichkeit der Verwirklichung des Erstrebten durch eigenes Tun“ 165 nennt: „[N]ur eine praktische Möglichkeit kann [...] Thema meines Willens sein. Ich kann nichts wollen, was ich nicht bewusstseinsmäßig vor Augen habe, was nicht in meiner Macht, in meiner Fähigkeit liegt“ 166, während es sich um ein Wünschen handelt, „wo das Gewünschte nicht im mindesten als praktisch Realisierbares bewußt ist“ 167. Natürlich wünsche ich, dass fortan Kriege und Armut in 162 Hua XXVII, 24. Heller, Ernst: Über die Willenshandlung, in: Heller, Ernst; Löw, Friedrich (Hrsg.): Neue Münchener philosophische Abhandlungen, Leipzig 1933, 255. 164 Hua XXVIII, 107. 165 Pfänder, Phänomenologie des Wollens, 83. 166 Hua IV, 258. 167 Hua XXVIII, 104. 163 50 Wille und Motivation der Welt beendet werden, aber wollen kann ich es nicht, weil es nicht in meinen Händen liegt.168 Das betrifft auch viele Tatsachen oder Umstände meines eigenen Lebens, weil ich eigentlich und vernünftigerweise nur etwas tatsächlich Erzielbares wollen kann: Wenn jemand, der keinerlei politische Erfahrung hat, plötzlich behaupten würde, dass er Staatspräsident werden will, würde er unvermeidlich ausgelacht oder für verrückt gehalten werden. Oder, um ein Beispiel Husserls aufzugreifen, wenn ein Kaufmann nach Reichtümern strebt, so bleibt dieses Streben ein bloßer Wunsch, es sei denn, es ist ihm bewusst, dass er einen praktischen Weg einschlagen muss, um dieses Ziel zu erreichen. 169 Zu diesem Punkt hebt Lotz hervor: „Husserl [...] claims that the difference between wishing and willing is not dependent on their modalizations, that is to say, wishing can not be conceived as a modification of a willing act. [...] he mantains that both wishing and willing have to do with how an object’s possibility is conceived.“ 170 Die Erfahrung zeigt allerdings, dass Wünschen und Wollen oft zusammenfallen, denn, wie R. Bernet beobachtet, „auch wenn der Wunsch sich nicht selbst befriedigen kann, so vermag er doch zumindest ein ichliches Wollen und Handeln zu motivieren, das seinerseits dem Eintreten des gewünschten Zustands oder Vorgangs förderlich sein kann.“171 Man könnte im Phänomen des Wollens zwei Momente unterscheiden, die in der Erfahrung dennoch beständig verflochten sind: Das fiat als Eröffnungsmoment des Wollens und den Handlungswillen, der die Gesamtheit des Willensprozesses und der Verwirklichung des Gewollten begleitet. Wie bereits betont, stellt das fiat das 168 Löwenstein stellt ein ähnliches Beispiel hin: „Es ist eine tägliche Erfahrung, daß man nur in bezug auf Gegenstände, die außerhalb des Umkreises leiblich-seelischer und sachlicher Aktionsfähigkeit liegen, jenes Umkreises, auf den man die Aristotelische Kategorie des ‚Habens‛ anwenden kann, wirklich und echt zu wünschen vermag. Ich kann wünschen, daß ein Krieg zwischen zwei Völkern, mit deren Heeresleitung und Regierung ich nicht das geringste zu tun habe, und mit denen ich keinerlei persönliche Beziehung besitze, die weit außerhalb des Umkreises ‚Mein‛ liegen, bald seine Beendigung findet“ (Löwenstein, Wunsch und Wünschen, 168). 169 Vgl. Hua XXVIII, 104. 170 Lotz, Action: Phenomenology of Wishing and Willing in Husserl and Heidegger, 128. 171 Bernet, Rudolf: Zur Phänomenologie von Trieb und Lust bei Husserl, in: Lohmar, Dieter; Fonfara, Dirk (Hrsg.): Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie. Neue Felder der Kooperation: Cognitive Science, Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Religionswissenschaft, Dortrecht 2006, 44. 51 Wille und Motivation schöpferische Moment schlechthin dar, aber eine solche Eigenheit begleitet alle Momente der Aktion172: Zum Zeitpunkt des Entschlusses ist in eins bewußt ein Zukunfthorizont des noch zu Realisierenden [...]. Die Willensthese geht nicht nur auf das Jetzt mit seinem schöpferischen Anfang, sondern auf die weitere Zeitstrecke und ihren Gehalt. Mit der schöpferischen Gegenwart eins ist eine schöpferische Zukunft, die hier in der Handlung in eigentümlicher Originarität als solche konstituiert ist.173 Geiger verweilt bei diesem Punkt des Begriffs des wollenden Verhaltens, und gibt ein klares Beispiel: Wenn ich entscheide, einen Brief zu schreiben, dann beginnt „[d]ieser Tatbestand [...] (wie jedes Wollen) mit einer Willenssetzung“, und zwar „entschließt [man] sich, den Brief zu schreiben. Aber man entschließt sich nicht andauernd. Dennoch hört man keineswegs auf zu wollen, wenn der Entschluß gefasst ist: Das Wollen dauert vielmehr an, bis [...] der Brief geschrieben ist.“ 174 Die Willensentscheidung als Akt der Spontaneität verweist also auf einen zweifachen Horizont, d.h. einerseits auf den Horizont der zielgerichteten Willenshandlung und andererseits auf den Horizont einer freien und bleibenden Selbstbestimmung des Ich, die wie schon bei Pfänder die Möglichkeit eines ethischen Verhaltens begründet. Der Willensbereich verkörpert schlechthin die ethische Sphäre, weil man von einem „moralischen Ich“ nur sprechen kann, wenn es als „causa sui seiner Moralität“ 175 verstanden wird. In den Kaizo-Artikeln betont Husserl mit einer schon von Pfänder vertrauten Formulierung, dass der ethisch strebende Mensch „Subjekt und zugleich Objekt seines Strebens [ist], das ins Unendliche werdende Werk, dessen Werkmeister er selbst ist.“ 176 Auch in den Ethik-Vorlesungen aus dem Jahr 1924 stellt er die Frage: Welche Motivationen spielen hierbei, und welche Rolle spielt insbesondere dieses wunderbare Phänomen der Selbstbestimmung, in dem das Ich nicht etwa wie sonst einen 172 Mertens bemerkt hierzu: „After the ,fiat’ has creatively initiated the process of acting, the action-will continuously fulfills itself as volitional action. Husserl explains that actual willing is at every moment going over to a perpetually new actual willing. In this process he analyzes the continuous transition of volitional intentions to fulfillments“ (Mertens, Husserl’s phenomenology of will in his reflections in ethics, 130). 173 Hua XXVIII, 110. 174 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 98. 175 Hua XXXVII, 163. 176 Hua XXVII, 37 (meine Hervorhebung). 52 Wille und Motivation Akt naiv aus sich entlässt und durch ihn dies oder jenes vernünftig tut, sondern in dem das Ich sich selbst als Ich, und zwar als von nun ab rein das Gute wollendes Ich, willentlich setzt und sich eventuell „innerlich“ völlig „erneuert“, oder mindest sich dazu bestimmt, ein neues werden zu wollen?177 Mein Wollen bestimmt mich und prägt meine Persönlichkeit. Man kann daher sagen, dass der Ausdruck „ ,ich will’ das oder jenes, nicht bloß [bedeutet]: Ich habe momentan ein Akterlebnis des Wollens [...], vielmehr liegt im ,Ich will’: Ich setze mir oder setze mir früher das Ziel und bin nun von daher fortdauernd – bis auf weiteres – der so Gewillte, der diesen ,Willen’ hat.“ 178 Bereits bei Geiger ist eine ähnliche Betonung zu finden, wenn er unterstreicht, dass in der Willenssetzung zwei verschiedene Momente gleichzeitig verflochten sind. Einerseits die Zielsetzung: Wenn mehrere Möglichkeiten dabei sind, „greife ich das eine heraus [...], versehe es mit dem Stempel des Ziels und sage zu ihm: Du sollst mein Ziel sein.“ 179 Andererseits „tue ich bei allem Wählen etwas mit mir: Ich veranlasse mich selbst gerade dies zu wollen und das andere nicht. [...] Ich veranlasse mich, das eine zu wollen – ich entscheide mich, ich entschließe mich, wie der bezeichnende Ausdruck lautet.“ 180 Willenssetzung und Selbstbestimmung kommen demnach gleichzeitig vor. Die Möglichkeit einer solchen beständigen Selbstbestimmung stellt auch bei Husserl das Grundwesen des menschlichen Lebens dar und zeigt sich in der Fähigkeit, „sein passives Tun (bewußt getrieben werden) und die es passiv motivierenden Voraussetzungen (Neigungen, Meinungen) in ihrer Auswirkung zu ‚hemmen‘, sie in Frage zu stellen, entsprechende Erwägungen zu vollziehen.“181 Alice Pugliese unterstreicht: „Die Energie des Triebs bestimmt nicht den Willen. Eine Entscheidung gegen den Trieb ist durchaus möglich“, aber die Entscheidung „erweist sich [...] nicht als isolierter Akt, sondern als komplexer Prozess, der die Wiederaufnahme und Überarbeitung innerer Motivationen durch die Vernunft und die Stellungnahme gegenüber einem vorkonstituierten Boden impliziert.“ 182 177 Hua XXXVII, 162. Hua XXIX, 364-365. 179 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 96-97. 180 Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 97. 181 Hua XXVII, 24. 182 Pugliese, Alice: Triebsphäre und Urkindheit des Ich, in: Husserl Studies 25/2 (2009), 151. 178 53 Wille und Motivation In diesem Sinn kann nur ein Mensch etwas wollen, etwas beabsichtigen, Ziele erreichen, sich für Handlungsmodalitäten entscheiden. Dies unterscheidet den Menschen vom Tier: „Die Biene handelt nicht, die Biene hat keine Zwecke, das Bienenvolk ist keine Zweckgemeinschaft, es steht nicht in der Einheit eines Lebens, das menschliches Zweckleben ist.“183 Das Leben des Tieres wird von der Periodizität der Befriedigung der Instinkte geregelt, „es ist hungernd unzufrieden und gesättigt zufrieden, sich sättigend auch sich voll befriedigend; könnte es sein Leben überschauen, das so verlaufende, so könnte es sich nichts Besseres wünschen.“ 184 Wie wir schon herausgestellt haben, ist das menschliche Leben auch von der instinkthaften Stufe geprägt, die den Menschen beständig dazu bewegt, seine Befriedigung zu erreichen, wie im Beispiel des Hungers, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit in unserem Leben wiederkehrt. Dennoch kann man keinesfalls den instinktiven Bestandteil des menschlichen Lebens mit dem tierischen Tun vergleichen, da der Mensch grundsätzlich die Möglichkeit hat, sich selbst frei zu bestimmen und zu prägen. Wie es dann bezüglich des Themas der Motivation gezeigt wird, ist es die Fähigkeit, einem Trieb willentlich zu folgen oder ihn zu hemmen. Der Wille umfasst nach Husserl das gesamte Leben des Ich, sodass er in einem gewissen Sinn die Triebe beherrschen kann, „z.B. beim Atmen können wir den Rhythmus beschleunigen, verlangsamen oder kurz aufhalten.“ 185 Wie James R. Mensch betont: „When through self-reflection on our own processes of positing, humanity becomes self-consciously rational, its instinctual striving also takes on a new form. It appears as rational choice.“ 186 „Der Mensch kann sein gesamtes Leben, wenn auch in sehr verschiedener Bestimmtheit und Klarheit, einheitlich überblicken und es nach Wirklichkeiten und Möglichkeiten universal bewerten.“ 187 183 Hua XV, 181. Hua XV, 405. Wieder bestimmt Husserl auf diese Weise die einzigartige Stellung des Menschen gegenüber dem Tier: „Das Tier ist an die Wirklichkeit gebunden, das ist, es folgt blind, passiv der Motivationskraft der auf es einstürmenden Affektionen, der Sinnesaffektion, der Neigungen, der Begierden, der passiv sich auswirkenden realisierenden Tendenzen. Der Mensch ist frei, für ihn geht die Möglichkeit den Wirklichkeiten vorher. Er beherrscht die Wirklichkeit durch Beherrschung der Möglichkeiten“ (Hua XXVII, 98). 185 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 235. 186 Mensch: Instincts – A Husserlian Account, 231. Mensch fügt hinzu: „In less complex organisms, the sexual drive results in a fixed pattern of behavior – a courtship ritual – leading to mating. In humans, by contrast, its object can assume the most diverse forms as witnessed by what Freud calls the ‚perversion‛ “ (Mensch: Instincts – A Husserlian Account, 220). 187 Hua XXVII, 26. 184 54 Wille und Motivation Während das Tier unaufhörlich nach der begrenzten Befriedigung eines bestimmten Mangels strebt, lebt „der Mensch [...] in der ,Unendlichkeit‘, die sein beständiger Lebenshorizont ist, er übersteigert die Instinkte, er schafft Werte höherer Stufe und übersteigert diese Werte.“ 188 Die menschliche Befriedigung ist keine Zufriedenheit, die regelmäßig zwischen Mangel und Sättigung schwankt, sondern sie gründet in der Gewißheit größtmöglicher standhaltender Befriedigung im Gesamtleben überhaupt. Eine vernünftig begründete Zufriedenheit wäre also gelegen in der einsichtigen Gewißheit, sein ganzes Leben in größtmöglichem Maße in gelingenden Handlungen vollführen zu können, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Ziele vor Entwertungen gesichert wären. 189 Der Mensch lebt also einen neuen Modus der Zeitlichkeit, der die Voraussetzung für die Möglichkeit einer eigentlichen Selbstbestimmung bildet: Nur weil der Mensch in einer fortschreitenden und unendlichen Entwicklung lebt, kann er einen Lebensweg durchlaufen und diesen zudem willentlich und frei prägen.190 „Das Ich-Sein ist beständiges Ich-Werden. Subjekte sind, indem sie sich immerfort entwickeln“ 191, da die Willensentschlüsse dazu neigen, bleibende Überzeugungen und Dispositionen zu begründen: Husserl bewertet die „bleibende[n] Gesinnungen in der Persönlichkeit als habituelle Willensrichtungen.“ 192 Während das Tier im begrenzten Horizont der Periodizität seiner Instinkte lebt, ist das Menschenleben beständig auf den unendlichen Horizont als ideales Telos ausgerichtet: „Sein Wesen ist es, aus einem universalen und absolut festen Willen zu absoluter Vernünftigkeit sich als absolut vernünftiges selbst zu schaffen, und zwar [...] in einem absoluten ‚Vernunftwerden‛.“ 193 188 Hua XV, 405. Hua XXVII, 32. 190 Noor beachtet hierzu: „Comportement comme action rationelle humaine, cela veut dire délibérer sur les possibilités futures d’être et de former des buts constants. Par la transformation de son monde-ambiant en fonction de ses buts, il constitue un monde-ambiant culturel, à savoir un monde sous l’aspect de l’esprit. Ce monde est ‚eine Welt der erweiterten Selbsterhaltung‛, érigé contre toutes les formes du ‚destin‛. Le monde ainsi constitué par la prévision rationelle et par la volonté se défend contre des formes de dissolution. L’animal ne peut pas se comporter, agir au sens propre parce que la volonté et le plan leui manquent“ (Noor, Ashraf: Individualité et volonté, in: Études phénoménologiques 13-14 (1991), 152). 191 Hua XXXVII, 104. 192 Hua XXXVII, 8. 193 Hua XXVII, 36. 189 55 Wille und Motivation Nachdem nunmehr deutlich wurde, dass sowohl Pfänder als auch Husserl den Willen für die wesentliche Fähigkeit des Menschen halten, welcher die Freiheit von der bloß triebhaften Stufe und die Möglichkeit der Selbstbestimmung umfasst, soll im Folgenden die zweite Frage behandelt werden, die mit der willentlichen Sphäre notwendig verbunden ist: Wann kann man eigentlich von Motivation sprechen? Während bislang eine tiefe Übereinstimmung zwischen Pfänders und Husserls Positionen festzustellen war, tritt hierbei ein wesentlicher Unterschied zutage, der darauf drängt, die Beziehung zwischen ihren jeweiligen Bestimmungen des personalen Subjektes zu überdenken. § 4 Die Motivation als Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens Die Frage nach dem Willen verweist sogleich auf die Frage nach der Motivation und führt zum Verständnis der Zusammenhänge, die im „Reich des Geistes“ 194 wirksam sind. Husserl stellt fest, dass sich „auf diese Wunsch- oder Willenssetzungen [...] die Rede von Motivation bzw. die Frage [bezieht]: ,Was bewegt, was bestimmt dich in deinem Wünschen, in deinem Wollen, Tun?‘“195 Die Antwort auf eine derartige Frage kann nicht auf einer naturwissenschaftlichen Erklärung basieren, denn „in der naturalen Einstellung haben wir gewissermaßen Scheuklappen, die uns alles Geistige abblenden.“196 Erst im Ausgang von einer phänomenologischen Einstellung zeigt sich der Motivationszusammenhang, da sie die Sinnhaftigkeit unserer Akte und Handlungen thematisiert: So beobachtet Pfänder bezüglich der Willensakte Folgendes: „Die Frage nach den Ursachen des Wollens kann zunächst phänomenologisch gemeint sein, d.h. sie kann erfragen, was im Vollzug eines Willensaktes als Ursache dieses Vollzuges erlebt wird.“ 197 Aber was heißt genau Motivation? Welche Aktsphären umfasst sie? Die Antworten auf diese Fragen spielen eine entscheidende Rolle im Rahmen der Phänomenologie Husserls. 194 Hua XXXVII, 107. Hua XXXVII, 81. 196 Hua XXXVII, 106. 197 Pfänder, Motive und Motivation, 148. 195 56 Wille und Motivation 4.1 Die Analysen Pfänders zur Motivation Die Problematik der Motivation ist ohne Zweifel eines der Hauptthemen, welche die Debatte über die Möglichkeit einer von naturalistischen Kategorien freien Psychologie und über den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaft gekennzeichnet haben. Vor Husserl und Pfänder hatten sich schon andere Philosophen wie Georg Simmel und Wilhelm Dilthey mit diesem Problem beschäftigt. Ohne auf den Kern der Überlegungen und jeweiligen Auffassungen dieser Philosophen näher einzugehen, ist es entscheidend festzuhalten, dass die Betrachtungen Husserls und Pfänders über die Beziehung zwischen Motivation und Kausalität sich im Zusammenhang mit dieser Debatte stellen. Simmel versucht beispielsweise in Die Probleme der Geschichtsphilosophie, „die Spaltung zwischen psychologischem und geschichtlichem Subjekt zu überwinden.“ 198 Simmel erfasst die Schwierigkeit, das Wesen und die Verhaltensdynamik der geistigen Subjektivität zu verstehen. Er stellt fest, dass es „nicht nur ein utopisches, sondern direkt fehlgehendes Bemühen [ist], ein geschichtliches Individuum als den bloßen Treffpunkt allgemeiner psychologischer Gesetze verstehen zu wollen“, und zwar solcher Gesetze, „die, nur in anderer Kombination, auch irgendein anderes Individuum ergeben, wie es doch das Verhältnis differenter physikalischer Erscheinungen sein kann.“ 199 Die Überlegungen Diltheys sind darüber hinaus insbesondere für Husserl ein wichtiger Anhaltspunkt gewesen: Im zweiten Band der Ideen führt Husserl aus, dass Dilthey sich im Rahmen der Aufgabe der Klärung der „Gegensätze zwischen Natur und Geisteswelt, zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften [...] unvergängliche Verdienste“200 erworben hat. Trotz der von 198 Staiti, Andrea Sebastiano: Geistigkeit, Leben und geschichtliche Welt in der Transzendentalphänomenologie Husserls, Würzburg 2010, 43. 199 Simmel, Georg: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, in: Gesamtausgabe – Band IX., Frankfurt a. M. 1997, 234. 200 Hua IV, 172. 57 Wille und Motivation Husserl herausgestellten Unstimmigkeiten in der Methode Diltheys 201, erkennt er an, dass dessen Verdienst darin besteht, dass er sich auch zuerst zu lebendigem Bewußtsein brachte, daß die moderne Psychologie, eine Naturwissenschaft vom Seelischen, unfähig sei, den konkreten Geisteswissenschaften die von ihnen gemäß ihrem eigentümlichen Wesen geforderte wissenschaftliche Grundlegung zu geben. 202 Dilthey arbeitet an einer verstehenden Psychologie203 , die sich von der nach naturwissenschaftlichem Muster verfahrenden erklärenden Psychologie unterscheidet. So formuliert er: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“204. Das geistige Leben kann nicht durch die naturwissenschaftlichen Kategorien erklärt werden. Im Rahmen der Naturwissenschaften ermöglicht „[d]ie Zählbarkeit und Meßbarkeit dessen, was sich räumlich erstreckt oder im Raume bewegt, [...] hier die Auffindung exakter allgemeiner Gesetze“, während [d]ie Lebenseinheit [...] ein Wirkungszusammenhang [ist], der vor dem der Natur voraus hat, daß er erlebt wird. [...] Im Erleben bin ich mir selbst als Zusammenhang da. Jede veränderte Lage bringt eine neue Stellung des ganzen Lebens. [...] Daher herrscht in den 201 Denn Husserl bemerkt: „Dilthey, ein Mann genialer Intuition, aber nicht streng wissenschaftlicher Theoretisierung, erschaute zwar die zielgebenden Probleme, die Richtungen der zu leistenden Arbeit: aber zu den entscheidenden Problemformulierungen und methodisch sicheren Lösungen drang er noch nicht durch, so große Fortschritte er gerade in den Jahren der Altersweisheit darin machte“ (Hua IV, 173). In seinen Vorlesungen 1925 über die phänomenologische Psychologie vertieft Husserl seine Anmerkungen über das Werk Diltheys: Wieder erkennt er dessen wichtigen Verdienste, aber gleichzeitig bemerkt er, dass „[d]ie Zeit [...] zunächst für die Aufnahme solcher Gedanken nicht reif. [...] Zwar wirkte Dilthey [...] die methodisch unüberbrückbare Eigenart der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften nachzuweisen und prinzipiell zu charakterisieren. [...] Freilich muß zugestanden werden, daß die Diltheysche Kritik einer hinreichend prinzipiellen Schärfe ermangelt” (Hua IX, 11). Zusammenfassend bestätigt Husserl, dass „es bei Dilthey an einer irgend befriedigend Auskunft [fehlt]. Wie soll auf dem Grund bloßer Innenerfahrung bzw. bloßer Veranschaulichung fremden geistigen Lebens und eines Gemeinschaftslebens eine Deskription mehr leisten können als individuelles Verstehen? Wie soll sie zu allgemein psychologischen Gesetzen führen können, wie je hinauskommen über vage empirische Verallgemeinerungen?“. Ein „radikale[r] Mangel der Diltheyschen Idee einer beschreibenden Psychologie“ wird von Husserl im Wesentlichen nachgewiesen (Hua IX, 13). 202 Hua IV, 173. 203 So erläutert Dilthey seinen Ansatz zur Psychologie: „Aus allen dargelegten Schwierigkeiten kann uns allein die Ausbildung einer Wissenschaft befreien, welche ich, gegenüber der erklärenden oder konstruktiven Psychologie, als beschreibende und zergliedernde bezeichnen will. Ich verstehe unter beschreibender Psychologie die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist. Diese Psychologie ist also Beschreibung und Analysis eines Zusammenhangs, welcher ursprünglich und immer als das Leben selbst gegeben ist“ (Dilthey, Wilhelm: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Gesammelte Schriften, Band V, Stuttgart 1957, 152). 204 Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, 144. 58 Wille und Motivation Naturwissenschaften das Gesetz der Veränderungen, in der geistigen Welt die Auffassung der Individualität. 205 Der direkte Anhaltspunkt für ein tieferes Verstehen des Husserlschen Begriffs der Motivation liegt jedenfalls noch einmal bei Pfänder und dessen Beitrag zur LippsFestschrift Motive und Motivation. Wie auch Schuhmann hervorhebt, „scheint die Vermutung gerechtfertigt, daß Husserl mit jenem Motivationsbegriff, der vielleicht ein phänomenologischer, jedenfalls aber nicht der Grundbegriff von Motivation ist, den von Pfänder in seinem Artikel dargestellten Motivationsbegriff im Auge hat“ 206. Pfänder wurde jedoch in das Thema der Motivation zuallererst durch seinen Lehrer Lipps eingeführt, der „in seinen Veröffentlichungen um die Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts Kausation und Motivation als zwei völlig verschiedene Abhängigkeitsbeziehungen“ 207 identifizierte. Er schreibt in seinem Leitfaden der Psychologie: „Die kausalen Beziehungen stellen den Zusammenhang der erkannten dinglich realen Welt her; die Motivationsbeziehungen bezeichnen den unmittelbar erlebten Zusammenhang des Bewußtseinslebens.“ 208 Das bedeutet, er betont er noch einmal die Notwendigkeit, die Eigentümlichkeit des Bewusstseinslebens nicht mit der Kausalordnung der Naturdinge zu verwechseln. Pfänder stellt seine Analysen und Überlegungen zum Begriff der Motivation und deren Beziehung zur Naturkausalität vollständig im schon zitierten Aufsatz Motive und Motivation dar. Der Kern seiner Anschauung besteht darin, dass er den Begriff der Motivation ausschließlich für eine beschränkte Aktklasse verwendet, d.h. nur für die Willensakte. Er gibt hierfür ein Beispiel und analysiert es ausführlich, um zu beschreiben, was eigentlich ein Motiv ist: „Ein Mensch betritt einen Raum, nimmt die darin herrschende Kälte wahr und beschließt auf Grund dieser wahrgenommenen Kälte, den Raum zu verlassen.“209 Das ist ein eigentlicher Willensakt – aber welche Beziehung liegt ihm zugrunde? Gerade in dem Grund eines Willensaktes besteht das, was man 205 Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, VII Band, Stuttgart 1958, 159. 206 Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie I., 65. 207 Holenstein, Elmar: Phänomenologie der Assoziation, Den Haag 1972, 174. 208 Lipps, Leitfaden der Psychologie, 29. 209 Pfänder, Motive und Motivation, 141. 59 Wille und Motivation „Motiv“ nennen kann, weshalb die Frage aufgeworfen werden muss, welches die Grundzüge eines Motivs sind. Pfänder erkennt hier drei Elemente. Da ist zunächst „die phänomenale Verursachung des geistigen Hinhörens auf Forderungen.“ 210 Wie wir schon in Bezug auf das Entstehen von Strebungen betont haben, wirkt ein Gegenstand (in diesem Fall die wahrgenommene Kälte) so zentripetal auf das Ich, dass „das Ich-Zentrum sich nicht nur aufmerkend und apperzipierend, sondern auch innerlich oder geistig hinhörend ihr zuwendet“ 211. Das Ich befindet sich in einer „Fragehaltung“ 212, die aber nicht zwingend explizit werden muss. Das zweite Element wird von Pfänder als „das Vernehmen der Forderung; ihre Anerkennung und Billigung“ 213 bezeichnet: Hier zeigt sich „eine erkennende Anerkennung, nämlich die Erfassung eines ideellen Hinweises auf das, was ich tun soll.“214 Die wahrgenommene Kälte ist nun der Grund einer Erkenntnis, die keine „Seins-Erkenntnis“ oder „Wert-Erkenntnis“, sondern eine „Sollens-Erkenntnis“ 215 ist. Bislang blieb der Vollzug einer Willensentscheidung noch unberücksichtigt. An dieser Stelle kommt nun das dritte Element ins Spiel und zwar mit dem „Vollzug des Willensaktes und seine[r] Stützung auf den Grund“ 216: Hier tritt außer der erkennenden auch die praktische Anerkennung ein, welche im Vollzug des Willensaktes besteht. Pfänder fasst zusammen: Erst dann wird die wahrgenommene Kälte wirklich der Grund für den Willensakt, wenn das Ich sich beim Vollzug dieses Willensaktes auf die fordernde Kälte stützt, wenn es den Willensakt auf die Forderung gründet und ihn daraus deduziert. Damit erst ist die Begründungsbeziehung komplett.217 210 Pfänder, Motive und Motivation, 142. Dieser Ausdruck erinnert an die Beobachtung von Lipps, dass der Motivationszusammenhang „ein Forderungszusammenhang [ist]. [...] Wie aber das Streben und die Tätigkeit ein Widerhall oder Reflex der Forderungen im individuellen Bewußtsein ist, so ist jener Motivationszusammenhang der Strebungen und Tätigkeiten ein Reflex des Forderungszusammenhanges“ (Lipps, Leitfaden der Psychologie, 29). 211 Pfänder, Motive und Motivation, 142. 212 Pfänder, Motive und Motivation, 142. 213 Pfänder, Motive und Motivation, 142. 214 Pfänder, Motive und Motivation, 142-143. 215 Pfänder, Motive und Motivation, 143. 216 Pfänder, Motive und Motivation, 143. 217 Pfänder, Motive und Motivation, 143. 60 Wille und Motivation Dieses ausführliche Beispiel umfasst alle Faktoren, welche notwendig vorhanden sein müssen, um angemessen von Motivation sprechen zu dürfen. Pfänder betont jedoch, dass das Sich-Hinstellen von praktischen Forderungen nicht mit der Erregung der Strebungen zu verwechseln ist: Natürlich erregt die Kälte das Ich und sie kann zudem ein Streben erregen, aber die Stellung von Forderungen, welche mit dem Vollzug eines Willensaktes und seiner Motivation zu tun haben, ist etwas ganz anderes. Eine solch strenge Unterscheidung ruft wieder in Erinnerung, was in Bezug auf Pfänders Trennung zwischen Wollen im engeren und im weiteren Sinne – d.h. Strebungen, Tendenzen usw. – bereits dargelegt wurde. Pfänder bekräftigt, dass man es mit zwei „verschiedenen Sphären“ 218 des Ich, mit zwei „verschiedenen Partien der Seele“ 219 zu tun hat, bzw. mit dem „Seelengeist“ und dem „Seelenleib“.220 Das „geistige Gehör“ 221 begreift den Hinweis des Motivs, ist aber zu unterscheiden vom Bewegtwerden durch Triebe. „Während z.B. ein Mensch in einem fesselnden Gespräch begriffen gerade seinem Partner antwortet, erweckt der Anblick einer kleinen Süßigkeit auf seinem Teller in ihm den Trieb, sie zu essen, er ergreift das Stückchen und verzehrt es.“ 222 Die wahrgenommene Süßigkeit stellt nach Pfänder in diesem Fall keine Forderung dar, sondern erregt nur einen Trieb, der kein Motiv der Handlung ist. Ein Motiv hat ein „ideelles Hinweisen“ 223, welches das Ich „vernimmt“224, weshalb es auf das Ich keinen bindenden Zwang ausübt. Noch einmal unterstreicht Pfänder nun die Freitätigkeit der Willenssphäre und drängt auf eine radikale Unterscheidung zwischen Motivation und „phänomenale[r] Verursachung“ 225: Während die Verursachung in dem Bewirken von realen Tatsachen besteht, bestätigt die Motivationsbeziehung die Freiheit des Willensaktes, da „die Quelle, aus der phänomenal der Vollzug des Willensaktes hervorgeht, [...] immer das Ich-Zentrum selbst“ 226 ist. Das Motiv regt das Ich an, aber es verursacht keine Handlung 218 Pfänder, Motive und Motivation, 147. Pfänder, Motive und Motivation, 146. 220 Pfänder, Motive und Motivation, 146. 221 Pfänder, Motive und Motivation, 146. 222 Pfänder, Motive und Motivation, 147. 223 Pfänder, Motive und Motivation, 146. 224 Pfänder, Motive und Motivation, 146. 225 Pfänder, Motive und Motivation, 149. 226 Pfänder, Motive und Motivation, 148. 219 61 Wille und Motivation oder Entscheidung, weil der „geistige Schlag“ ausschließlich vom Ich-Zentrum ausgeführt werden kann: „Ohne jene vom Ich-Zentrum selbst ausgehende Stützung des Willensaktes auf das Motiv ist das mögliche Motiv im gegebenen Falle gar nicht wirkliches Motiv für diesen Willensakt.“ 227 Obwohl z.B. die wahrgenommene Kälte zentripetal auf das Ich wirkt, könnte man sich auch dafür entscheiden, den Raum nicht zu verlassen, weil man zu konzentriert auf die Arbeit ist. Oder aber man entscheidet sich dafür, das Zimmer aufgrund einer „rein vernünftigen Einsicht“ 228 zu verlassen, einfach weil man sich bewusst wird, dass dies vernünftig ist und nicht aufgrund von Strebungen geschieht. Die Willensakte und ihre Motive sind wesentlich frei und gehören dem geistigen Reich an. Sawicki betont demgemäß in Bezug auf die Analyse Pfänders: „Motivation is not something that happens to a subject; motivation is rather the subject ´s initiative transforming the in-felt inclination and mobilizing itself for creative engagement with a world meant as real.“ 229 Willensakte, Strebungen, Tendenzen sind aber, wie bereits festgestellt wurde, beständig miteinander verflochten und gleichzeitig im Leben des Ich präsent. Es ergibt sich hier wieder die Frage nach der Komplexität des Phänomens des Wollens und seiner Modalisierungen und seinen Nuancen. Die Anschauung Pfänders erweist sich noch einmal als problematisch. Nachdem sie die drei Pfänderschen Bedingungen der Motivation zurückverfolgt hat, bemerkt dazu Edith Stein kritisch, dass [seine] Schilderung [...] nicht nur für den Willensakt im eigentlichen Sinne zutrifft, sondern auch für alle anderen willentlichen Akte. [...] Dann ist aber auch die Motivation in dem prägnanten Sinne, den Pfänder im Auge hat, nicht auf den eigentlichen Willensakt einzuschränken, sondern auf die ganze Sphäre der willentlichen Akte auszudehnen.230 Wie es schon in den Überlegungen Husserls und Geigers zum Ausdruck kam, kann man von willentlichen Akten sprechen, auch wenn „eine erkennende Anerkennung und 227 Pfänder, Motive und Motivation, 149. Pfänder, Motive und Motivation, 146. 229 Sawicki, Body, Text and Science. The literacy of investigative practices and the phenomenology of Edith Stein, 23. 230 Stein, Edith: Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaft, 53. Sie schlägt das Beispiel des Aktes der Verzeihung vor, der eigentlich ein geistiger Willensakt ist, auch wenn der Wille zu verzeihen nicht aus der Forderung hervorgeht 228 62 Wille und Motivation Billigung des ideellen Hinweises auf das, was ich tun soll“231, fehlt. Die gleiche Enge, die bei Pfänder im Begriff des Willens liegt, findet sich auch in seinem Begriff der Motivation, sodass sich neue Fragen stellen: Welches Kausalverhältnis ist in jenem Bereich der Seele wirksam, den Pfänder „Seelenleib“ nennt? Wie beeinflussen Triebe und Tendenzen die Handlungen des Ich und sein geistiges Leben? Pfänder schreibt hierzu: „Das Erregen widerfährt dem Ich, sie berührt oder ergreift das Ich. Und die erregten Strebungen erleidet das Ich wie einen Naturzwang.“232 Er erkennt an, dass unsere Willensentscheidungen oft von Strebungen beeinflusst sind, wenn ich beispielsweise zugeben muss: „Die Blumen waren gar nicht so schön, ich habe mich nur durch ein heftiges Verlangen nach ihnen verführen lassen, sie zu kaufen.“ 233 Die Schönheit der Blumen erregt ein Streben, welches mich zwar verführen oder verleiten, nicht aber meine Willensentscheidung motivieren kann, weil das Wollen immer voraussetzt, dass das Ich selbst „der Täter [ist], der den Willensakt vollzieht.“ 234 Zusammenfassend kann man feststellen, dass das Beeinflusstsein durch die Blumen für Pfänder nicht in einem Motivationszusammenhang besteht, da er die Motivationsbeziehung einem engeren Bereich von Akten als „besondere[m] Spezialfall des Kausalverhältnisses“ zuordnet, d.h. denjenigen Willensakten, welche die grundsätzliche Freiheit und Möglichkeit der Selbstbestimmung besitzen. Die passive und dunkle Seite des Begehrens, der Tendenzen und der Triebe wäre dagegen ein Reich von bloßen Strebungen, die das Ich-Zentrum wie Naturzwänge versuchen zu bewegen oder zu beeinflussen. Hat jedoch eine solche Position, welche die Freitätigkeit des Ich im Vergleich zur mechanischen Kausalität der naturellen Welt hervorheben will, nicht eine dualistische Auffassung des Ich zur Kehrseite? Die strenge Unterscheidung von zwei verschiedenen 231 Vgl. Pfänder, Motive und Motivation, 142-143. Pfänder, Motive und Motivation, 146. Geiger beschreibt durch ähnliche Ausdrücke die wesentliche Unterscheidung zwischen Willenssetzung und Begehren oder Trieben: „Das Ich muss sich sein Ziel selbst setzen; es muss sich selbst zum Wollen bestimmen, es darf kein bloßes Hindrängen nach dem Ziel sein, kein bloßes Angezogenwerden von dem Ziel, kein bloßes Richtungsbestimmtsein durch das Ziel.“ (Geiger, Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, 107). 233 Pfänder, Motive und Motivation, 140. 234 Pfänder, Motive und Motivation, 140. 232 63 Wille und Motivation „Partien der Seele“235 bestätigt in der Tat die gleichzeitige Anwesenheit von zwei kausalen Ordnungen im Subjekt: Einerseits die freien Motivationsbeziehungen, andererseits den Zwang der Strebungen, die gleichsam als bloßes Naturgeschehen aufgefasst werden. Auf diesem Weg gelangen wir zu Husserls Auffassung des Begriffs der Motivation, der, wie nun dargelegt werden soll, grundverschieden von demjenigen Pfänders ist. 4.2 Die Motivation bei Husserl Das Ziel, welches Husserls Darstellung der Motivation leitet, ist dasselbe wie bei Pfänder, nämlich die eigentümlichen in der geistigen Welt geltenden Zusammenhänge zu erkennen und somit die Subjektivität von den Kategorien der Naturkausalität zu befreien. Der Geist erweist sich als jene Schicht der Subjektivität, die von der Naturkausalität losgelöst ist: Er ist ein eigenes, in sich geschlossenes Reich und deshalb ein Faktor, der nicht auf die Natur oder auf die psychophysische Seite zu reduzieren ist. Wie schon ausführlich gezeigt worden ist, hatte Pfänder sich bereits bemüht, den radikalen Unterschied zwischen Naturkausalität und Motivationskausalität herauszustellen. Bei ihm stellen die Willensakte lediglich die psychischen Tatbestände dar, die nicht verursacht, sondern motiviert werden, während alle anderen psychischen Phänomene – Strebungen, Triebe, Empfindungen usw. – nach Naturzwängen ablaufen. Im Grunde entspricht Pfänders Gebrauch des Terminus’ „Motivation“ seiner alltäglichen Bedeutung: Wenn man hier von einem „Motiv“ im Allgemeinen spricht, bezieht man sich auf den mehr oder weniger bewussten Grund, der eine willentliche Handlung stützt, wie es auch Husserl selbst anerkennt, wenn er feststellt, dass die „Motivation in der Sphäre der Stellungnahmen, [...] sprachüblich freilich allein Motivation heißt“236. Husserl führt dagegen eine ungewöhnliche und außerordentliche Bedeutung des Terminus „Motivation“ ein. Reiner bemerkt diesbezüglich in seiner schon zitierten Dissertation, „daß unsere (von Husserl eingeführte) Redeweise von Motivation gegenüber der sonst üblichen eine erweiterte ist. Im Sinne des sonstigen, engeren 235 236 Pfänder, Motive und Motivation, 146. Hua IV, 224. 64 Wille und Motivation Sprachgebrauchs [...] motivierend [...] wäre der dem Ausführenden vorschwebende Zweck der Tätigkeit“ 237. Gerade die Bedeutung und die Auswirkungen dieser von Husserl vorgenommen Erweiterung werden nun stufenweise berücksichtigt. Die Motivation ist nach Husserl das „Grundgesetz der geistigen Welt“ 238, des nicht einschränkbaren „Zusammenhang[es] des ,Warum und Weil‘ “239, der zur Geistigkeit gehört: „Für geistige Kausalität sagten wir Motivation, das war also der allgemeine Ausdruck für die Art, wie geistige Tatsachen auftreten ,auf Grund’ anderer Tatsachen oder ,weil‘ diese aufgetreten sind.“ 240 Die Verleugnung der spezifischen Zusammenhänge, die innerhalb des geistigen Lebens wirken, führt zu einem Missverständnis des Wesens der Subjektivität, wie Husserl betont: „Das naturalistische Vorurteil, das das Seelenleben in ein Getriebe psychischer Atome unter einer sinnlosen Naturkausalität interpretiert, beseitigt das Ich, das der identische Brennpunkt aller Aktionen und Affektionen ist, das Ich des ,Ich kann‘.“ 241 Das Verhalten und das Leben des Ich lassen sich nicht auf die Dynamik der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung zurückführen, die zwischen realen Ereignissen besteht und die in den Naturwissenschaften in Form von Naturgesetzen ausgedrückt wird, weil „das ,Weil-So‘ der Motivation [...] einen ganz anderen Sinn [hat] als Kausation im Sinne der Natur.“ 242 Der Alltag ist erfüllt von Gelegenheiten, die „das Weil der Motivation“ 243 zeigen und die deutlich die Widersprüchlichkeit der Aberkennung der Unterscheidung mit einer mechanischen Kausalität beweisen, wie etwa wenn ich vermute, es sei A, weil ich weiß, daß B,C ... ist. Ich höre, es sei ein Löwe ausgebrochen, und weiß, daß ein Löwe ein blutgieriges Tier ist, daher fürchte ich mich, auf die Straße zu gehen. Der Diener begegnet dem Herrn, und weil er ihn als seinen Herrn erkennt, grüßt er ihn mit Ehrerbietung. Wir notieren uns auf dem Merkblatt, was wir für morgen vorhaben: das Bewußtsein des Vorhabens in Verbindung mit dem Wissen von unserer Vergeßlichkeit motiviert das Notieren. 244 237 Reiner, Freiheit, Wollen und Aktivität, 25. Hua IV, 211. 239 Hua XXXVII, 109. 240 Hua XXXVII, 109. 241 Hua XXXVII, 185. 242 Hua IV, 229. 243 Hua IV, 230. 244 Hua IV, 230. 238 65 Wille und Motivation Es wäre offensichtlich falsch, solche Tatsachen durch die regelmäßige Naturgesetzmäßigkeit, die durch Induktion vom Naturwissenschaftler herausgearbeitet wird, zu erklären, weil das geistige Leben offenkundig eine neue Art des Zusammenhangs besitzt. Jedenfalls gilt es, die Frage zu stellen: Sind Natur und Geist zwei verschiedene Sphären, die durch eine bestimmte Grenze getrennt und zwei verschiedenen Kausalordnungen unterworfen sind? Oder – mit den Worten Rangs – „[h]andelt es sich um zwei Begriffe von bregrenzter Reichweite, so daß der Geltungsbereich der Kausalität dort endet, wo der der Motivation beginnt?“ 245 Um diese Frage zu beantworten, muss man hervorheben, dass Husserl nicht etwa die Gültigkeit und die Berechtigung einer naturwissenschaftlichen Psychologie absolut leugnen will, wie er deutlich betont: In gewisser Begrenzung hat also eine naturalistische Psychologie recht: eine Psychologie, welche das Seelische in dem Sinn als eine zweite erweiterte Natur, dass sie es in die durchgängige Einheit kausaler Zusammenhänge einbezieht, die nicht nur die physische Natur in sich einigen, sondern mit ihr Psychisches kausal vereinigen.246 Das Psychische kann tatsächlich als Natur hinterfragt und untersucht, seine Verbindugenen können als Kausalverbindungen angesehen werden, wie z.B. die Untersuchungen der Hirntätigkeit oder des Nervensystems zeigen. Es ist vollkommen rechtmäßig, im Fall irgendeiner Gelegenheit, etwa bei forensischen Fragestellungen, nach den Verhältnissen zwischen der jeweiligen Absicht und dem entsprechenden Hirnzustand zu fragen. Dennoch irreführend und phänomenologisch unbegründet ist der Anspruch, dass die kausale Erklärung des Hirnzustandes das Wesen des Geistes begreifen oder auf die Quelle der geistigen Phänomene zurückgehen könnte. Der Hirnzustand kann nie das „Weil” der geistigen Motivation ersetzen, weil die Motivation einem unreduzierbaren und nicht auf die Prinzipien der Naturkausalität rückführbaren Reich angehört. Wie Holenstein feststellt, sind „[d]ie Umstände [...] bei der Motivation nicht mehr ‚physische Umstände‛, sondern ‚noematische Umstände‛. Beziehungspole 245 246 Rang, Bernhard: Kausalität und Motivation, Den Haag 1973, 115. Hua XXXVII, 305. 66 Wille und Motivation sind nicht Seele und reales Ding, sondern Subjekt und Dingnoema, nicht Psychisches und Physisches, sondern Ich und Umwelt.“ 247 Diesbezüglich erklärt Husserl durch ein Beispiel im zweiten Band der Ideen, dass [f]reilich [...] das Geschehen der mechanischen Bewegung meiner Hand und ihre mechanische Wirkung auf die „gestoßene“ Kugel ein physisch-realer Vorgang. Ebenso ist das Objekt „dieser Mensch”, „dieses Tier“ nach seiner „Seele“ an diesem Geschehen beteiligt und sein „ich bewege die Hand, den Fuß“ ist ein psychophysisch verflochtener Vorgang, der im Zusammenhang der psychophysischen Realität real- kausal zu erklären ist. Aber hier liegt nicht dieser reale psychophysiche Vorgang vor, sondern das intentionale Verhältnis: Ich, das Subjekt, bewege die Hand, und was das in der subjektiven Betrachtungsweise ist, das schließt allen Rekurs auf die Gehirnprozesse, Nervenprozesse etc. aus [...]. Das bewußtseinsmäßig so und so erscheinende Leibesglied Hand ist als solches Substrat des „ich bewege“, ist Objekt für das Subjekt und sozusagen Thema seiner Freiheit, seines freien Tuns.248 Das bedeutet jedoch keineswegs, dass nur die Naturkausalität, aber nicht die Motivation mit der Kategorie der Kausalität zu tun hat. Diesbezüglich hebt Staiti scharfsinnig hervor, dass „vielmehr von Naturkausalität und Motivationskausalität die Rede sein [muss], also muss der scheinbare Gegensatz ‚Kausalität und Motivation‛ durch das begrifflich-terminologisch korrektere Paar ‚Naturkausalität und Motivationskausalität’ ersetzt werden.“249 Dieser Hinweis ist nicht bloß an terminologischen Sachverhalten interessiert, sondern klärt darüber auf, dass die Motivation einer Ordnung von Bedingungen und Zusammenhängen zugehört, die von innerer Konsistenz und Strenge geprägt ist, auch wenn sie nicht mathematisch oder mechanisch verfasst ist wie die der Naturkausalität. Wie es bereits deutlich geworden ist, schlägt Husserl einen Begriff der Motivation vor, der weitaus umfassender als der herkömmliche ist. Um die tiefe Bedeutung der von Husserl herausgearbeiteten Erweiterung des Begriffs der Motivation zu verstehen, kann man zwei Richtungen unterscheiden und verfolgen. 247 Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 185. Hua IV, 217-218. 249 Staiti, Geistigkeit, Leben und geschichtliche Welt in der Transzendentalphänomenologie Husserls, 122-123. 248 67 Wille und Motivation 4.2.1 Motivation als Sinneszusammenhang der Erfahrung Diese erste Richtung der Erweiterung ist ohne Zweifel die gründlichere und weitere: Sie umfasst nicht nur die bestimmte Gattung der praktischen Akte, sondern das Wesen des Bewusstseins und der Erfahrung selbst und begründet die Voraussetzung für die Einbeziehung der von Pfänder vom Umfang der Motivation ausgeschlossenen Dimensionen des praktischen Lebens, worauf später noch ausführlicher eingegangen wird. Husserl selbst erklärt ausdrücklich in einer Fußnote der Ideen I, „dass dieser phänomenologische Grundbegriff der Motivation [...] eine Verallgemeinerung desjenigen Begriffes der Motivation ist, demgemäß wir z.B. vom Wollen des Zweckes sagen können, dass es das Wollen der Mittel motiviere“. Er fügt hinzu, dass „der Begriff der Motivation aus wesentlichen Gründen verschiedene Wendungen [erfährt], die zugehörigen Äquivokationen werden ungefährlich und erscheinen sogar als notwendig, sowie die phänomenologischen Sachlagen geklärt sind.“ 250 Bei Husserl geht daher die Motivation über die praktische Sphäre, d.h. über die Strebenssphäre, hinaus und umfasst sowohl das Wollen, das Begehren, das Wünschen als auch das Tun und die Handlungsfähigkeit und geht so weit, dass sie alle verschiedenen Klassen von seelischen Akten beinhaltet. Diesbezüglich klärt Husserl auf: Übrigens müssen es nicht immer Akte derselben Art sein; wie hier z.B. auch gesagt werden kann: „Ich will dahin reisen, weil ich eingesehen habe, dass ich jetzt ausspannen muss“. Das Einsehen ist ja kein Wollen, sondern ein Erkennen. Das zwischen setzenden Ichakten obwaltende Verhältnis des Bestimmtseins, Motiviertseins, ausgesprochen in der an das Aktsubjekt adressierten Redeform Warum und Weil, ist etwas zu allen Arten von Akten allgemein Gehöriges. 251 250 Hua III/1, 101. Holenstein erläutert hierzu: „Die Ausweitung des Motivationsbegriffs über die Sphäre der Gemüts- und Willensphänomene auf den gesamten Bereich des Bewusstseins scheint auf den ersten Blick zu einer bedenklichen, wesentliche Differenzen verwischenden Gleichschaltung der verschiedenen Bewusstseinsgegebenheiten zu führen. Eine nähere Betrachtung erweist die Verallgemeinerung jedoch als wohlbegründet und nicht sonderlich gefahrvoll. Durch ihre durchgehend intentionale Gegebenheit und Struktur heben sich alle Bewusstseinszusammenhänge von den psychischen Kausalbeziehungen ab“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 187). 251 Hua XXXVII, 81. 68 Wille und Motivation Wird z.B. ein Wahrnehmungsakt vollzogen, so handelt es sich dabei auch um Motivationszusammenhänge, weil dies ein intentionaler Akt ist, der eine Erfahrbarkeit voraussetzt, und eine solche „Erfahrbarkeit besagt nie eine leere logische Möglichkeit, sondern eine im Erfahrungszusammenhange motivierte. Dieser selbst ist durch und durch ein Zusammenhang der ,Motivation‘, immer neue Motivationen aufnehmend und schon gebildete umbildend“ 252. Wahrnehmungen sind Motivationsverläufe, und zwar „‚Konditionalitäten‛, ein ‚Weil‛ und ‚So‛ nach verschiedenen Richtungen zu explizieren: wenn ich die Augen so wende, [...] so muß ich das und das sehen etc. Das steht als Einheit eines Dinges mit den und den Teilen da, die Gegebenheitsweise eines Teils stützt die des anderen.“ 253 Daher kann man von Motivation in Bezug auf das Wahrnehmungssystem sprechen, weil es ein in Sinnesverbindungen bestehendes System von Erwartungen, Verläufen und Erfüllungen ist.254 Dasselbe gilt für die Urteilsakte: „Ich erteile dem Schlußsatz meine Thesis, weil ich so und so in den Prämissen geurteilt, ihnen meine Thesis gegeben habe.“ 255 Ohne solche Sinnesverbindungen gäbe es keine logische Folgerichtigkeit und es könnten keine Rückschlüsse gezogen werden. Man könnte dasselbe hinsichtlich aller Akte des Ich feststellen. Kurz gesagt, die Motivation ergibt sich als die Struktur des „Reich[es] der Erfahrung“, und zwar als „das unendliche Feld von Motivationen“ 256. Husserl macht diesen Punkt folgendermaßen deutlich: D i e A u ff a s s u n g e n v o n D i n g e n u n d d i n g l i c h e n Z u s a m m e n h ä n g e n s i n d „Motivationsgeflechte“: sie bauen sich durchaus auf aus intentionalen Strahlen, die mit 252 Hua III/1, 101. Hua IV, 226. 254 „Wenn ich jetzt eine Erfahrung habe, diesen Tisch da selbst wahrnehme, so liegt im Modus dieser Selbsthabe als seiend beschlossen eine Unendlichkeit von Möglichkeiten des ‚Ich kann erfahrend fortgehen, oder nicht fortgehen, umschauen, betasten etc.‛, und denke ich mir in Klarheit diese subjektiven Möglichkeiten verwirklicht, so gewinne ich korrelativ als Voraussichten mögliche Erfahrungen, mögliche Erscheinungen desselben Dinges. [...] Es ist eine Selbsterfassung, nicht des Künftigen schlechthin, wie sie in der verwirklichenden Gegenwart statthat, sondern des Künftigen als des ‚Kommenden‛ ; es ist ein Modales, eine Abwandlung der Selbsthabe eines Gegenwärtigen, ein Werden im Modus des ‚kommend‛ gegeben, und so, daß es immer auch ‚denkbar‛ ist, daß trotzdem anderes kommt, gegen die Evidenz der Voraussicht. Die möglichen Erscheinungen, die in der Intentionalität der jetzigen Erfahrung impliziert sind, schließen apodiktisch andere Mög1ichkeiten aus – aber Möglichkeiten dieses Typus der Voraussicht“ (Hua VIII, 405). 255 Hua IV, 221. 256 Hua IV, 224. 253 69 Wille und Motivation ihrem Sinnes- und Füllegehalte hinweisen und zurückweisen, und sie lassen sich explizieren, indem das vollziehende Subjekt in diese Zusammenhänge eintritt.257 Tatsächlich kann man von Erfahrung sprechen, wenn beständige Sinnesverbindungen zwischen Bestandteilen oder Daten sowohl der noetischen als auch der noematischen Seite258 bestehen. „So beruhe alle dingliche Apperzeption [...] auf assoziativen Motivationen. [...A]ber wie weit das denkbar wäre, wie weit auch nur die Einheit eines Bewußtseinsstroms ohne jede Motivation eben Einheit sein könnte – das ist die Frage.“259 Nur das motivationale Wesen der Erfahrung kann über die beständig verflochtenen Erwartungsreihen und Erwartunghorizonte Rechenschaft geben. Hier drängt sich nun eine prinzipielle Frage auf: Wenn die Erfahrung ein Motivationssystem ist, in dem eine beständige Zusammengehörigkeit des „Infolge“ besteht, existiert vielleicht eine totale Vorhersehbarkeit oder „Voraussicht“ der künftigen Vorkommnisse und des Erfahrungsverlaufs, vergleichbar mit der Abfolge von Naturereignissen? Im zweiten Band der Ideen deutet Husserl kurz solche weitreichenden Fragen an, wenn er konkreter formuliert: „Wenn wir sagen, daß jedes Akterlebnis motiviert ist, in Motivationsverflechtungen stehe, so soll darin nicht liegen, daß jedes Vermeinen ein Vermeinen ‚infolge‛ ist.“260 Er stellt einige Beispiele vor: „Wenn ich am Nachthimmel eine Sternschnuppe aufleuchten sehe oder ganz unvermittelt einen Peitschenknall höre [...]“ 261, dann geschehen diese Ereignisse 257 Hua IV, 224-225. „Wir können nun die noetischen Erlebnisse betrachten nach ihren Verhältnissen der Motivation, des Zusammengehörigkeitszusammenhang, wonach Fortgang von Setzung zu Setzung, d.h. Setzung ‚infolge‛ auftritt in diesem eigentümlichen Charakter. Oder wir betrachten die thetischen Korrelate, die Themata, in ihrer noematischen Zusammengehörigkeit, wobei wieder auf dieser Seite das korrelative ‚Infolge‛ auftritt“ (Hua IV, 227). 259 Hua IV, 226. Auf diese Weise beobachtet Husserl die Möglichkeitsverbindungen der Erfahrung: „Die Erfahrungsmöglichkeit besagt nicht eine bloße Phantasievorstellbarkeit; sondern besagt, ich kann hingehen, ich kann dabei, vom leiblichen Hier aus und dem aktuell Erfahrenen meiner Nahumgebung aus, wahrnehmend, mit den Augen sehend, mit den Fingern tastend etc. fortschreiten, und dann werde ich voraussichtlich, aber im ganzen in Gewißheit, zu den betreffenden Erfahrungen kommen — von einiger Unbestimmtheit aller Voraussicht abgesehen, die aber, wie wieder gewiß und in Konsequenz zweifellos ist, sich dabei näher ausmalen wird. Erfahrung ist also das, worauf sich die Intention, die da objektive Meinung heißt, bezieht. In der wirklichen Erfahrung liegt letzte ‚Bestätigung‛, Begründung, und alle Mittelbarkeit liegt hinsichtlich der Erfahrungsmöglichkeiten — als glaubensmäßigen Antizipationen herzustellender Erfahrungen — gegründet in der Unmittelbarkeit wirklicher Erfahrung, deren Inhalt die nächste Umgebung ist“ (Hua VIII, 403). 260 Hua IV, 227. 261 Hua IV, 227. 258 70 Wille und Motivation plötzlich und unerwartet, weshalb sie keine bloßen aus bestimmten Prämissen abgeleiteten Folgen sind. Der Erfahrungsinhalt besitzt den Grundzug der Unvorhersehbarkeit und des reinen Geschehens, die jede beliebige Voraussicht übersteigen.262 Das steht dennoch in keinem Widerspruch zu der Behauptung von der Motivationsstruktur der Erfahrung: Motivation bedeutet eben nicht Vorhersehbarkeit oder innere Folgerichtigkeit, als ob die Erfahrung ein abgeschlossener Kreis wäre, sondern das, was Husserl „das Wunderbare“ nennt, d.h. „[d]ie apriorische Gesetzmäßigkeit der Genesis, der Rückweisung jeder gegenwärtigen Erfahrungsmotivation auf vergangenes Bewusstsein, auf das es als Seinsursprung bezogen ist, hängt zusammen mit Vernunft.“ 263 Das impliziert, dass „sich das Bewusstseinsleben nicht chaotisch entfaltet, sondern dass es auf die Konstitution der Gegenständlichkeit abzielt, je nach teleologischen oder vernünftigen Gesetzen.“ 264 Husserl beachtet nämlich, dass auch in den obengenannten Beispielen von Sternschnuppe und Peitschenknall „eine Art der Motivation aufzuweisen [ist], die in der Form des inneren Zeitbewußtseins beschlossen ist“, und zwar „die subjektive Form des Jetzt, Früher etc. Ich kann daran nichts ändern.“ 265 Was er damit hervorhebt, ist die Motivation „als der Grund des zeitlichen ‚Übergangs‛ von einem zeitlich Früheren zu einem zeitlich Späteren.“266 Nur aus dieser Perspektive, d.h. wenn die Motivationsgesetzlichkeit keine strenge Folgerichtigkeit, sondern „eine Form 262 Husserl fügt dazu an: „[K]ann ich mich nicht in Motivationslagen hineindenken, in denen ich noch nie war, wie ich sie gleich und ähnlich noch nie erfahren hatte? Und kann ich nicht sehen, im Quasi-Sehen herausfinden, wie ich mich verhalten würde, obwohl ich mich anders verhalten könnte, nämlich obschon es denkbar wäre, daß ich anders entschiede, klar vorstellbar, während ich doch als dieses persönliche Ich es nicht könnte? Das ist der entscheidende Punkt. [...I]ch bin nicht ein Ding, das unter gleichen Umständen gleich reagiert; wobei mir selbstverständlich ist, daß Dinge prinzipiell unter gleichen kausalen Umständen als dieselben wirken können. Früher wurde ich so motiviert, jetzt anders, und zwar eben darum, weil ich inzwischen ein anderer geworden bin“ (Hua IV, 266). De Almeida stellt dazu fest: „Die Faktizität des Sinnes, d.h. zunächst einmal die Unmöglichkeit, seinen Ursprung für gerade diesen Inhalt verständlich zu machen, bedeutet, daß wir den Sinn (genau wie den bloß impressionalen Inhalt) nur als ein faktisches Vorkommnis im Bewußtsein feststellen können. [...] Es ist aber interessant zu bemerken, daß Husserl die Idee einer Ableitung der Auffassungssinne aus dem apperzepierenden Ich ablehnt, weil er darin eine Psychologisierung der Bewußtseinsstrukturen sieht“ (De Almeida, Guido Antonio: Sinn und Inhalt in der genetischen Phänomenologie E. Husserls, Den Haag 1972, 20-21). 263 Hua XIII, 357. 264 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 159. 265 Hua IV, 227. 266 Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 53-54. 71 Wille und Motivation allverknüpfender und in jeder Einzelheit insonderheit waltender Motivation“ 267 ist, kann Husserl formulieren, dass „auch die durchgehende Einheit des Bewußtseinsstromes eine Einheit der Motivation sei.“ 268 Die Husserlsche Anwendung des Terminus „Motivation“ erscheint in der Tat äußerst ungewöhnlich. Es bleibt daher die Frage bestehen: Was setzt die Erweiterung des Begriffs der Motivation auf alle Arten von Akten voraus? Welches ist die Bedingung einer solchen Erweiterung, die der intuitiven Bedeutung des Terminus „Motivation“ zu widersprechen scheint? Eine zentrale Antwort auf diese Fragen, die gleichzeitig die bisher erreichten Ergebnisse bestätigt, findet sich in der folgenden Passage aus den Ethik-Vorlesungen: Ein Geistiges in dieser Art auf seinen „Ursprung“ zurückführen, es im Zusammenhang der Motivation durch Auseinanderlegung der wirklich maßgebenden Motivationen erklären, das heißt, das geistige Werden „verständlich“ machen, und ebenso schließlich das Gewordene selbst mit dem es konstituierenden geistigen Gehalt. Verständlich! Das hat hier die eigentliche und spezifische Bedeutung. Hier ist jeder Schritt von Einsicht begleitet. [...] Hier rekurrieren wir nicht auf eine ichfremde, in ihrem An-sich-Sein mechanisch abrollende Natur und ihre „Naturgesetze“. 269 Die Motivation ist nun die Gesetzlichkeit des ganzen Reiches des Geistes als des ganzen Reiches der Erfahrung, weil die Ich-Erfahrung der Bereich der Verständlichkeit ist: Jeder Akt kann in Bezug auf seinen Sinn befragt und die Sinneszusammenhänge als motivational bezeichnet werden, weil sie eine Weil-Ordnung darstellen, in der von induktiven Naturgesetzen keine Rede ist. Wie Rang hervorhebt, „spricht Husserl von ‚Motivation‛ auch noch dort, wo es sich nicht mehr um das Problem des Willens handelt“, weil „[i]m Vordergrund von Husserls Interesse [...] vielmehr die Frage nach einem phänomenologischen Begriff für die Verweisungsstrukturen der 267 Hua I, 109. Husserl beachtet ausführlicher in den Cartesianischen Meditationen: „Also schon diese allgemeinste Form aller Sonderformen von konkreten Erlebnissen und den in ihrem Strömen selbst strömend konstituierten Gebilden ist eine Form allverknüpfender und in jeder Einzelheit insonderheit waltender Motivation, die wir auch mit ansprechen können als eine formale Gesetzmäßigkeit einer universalen Genesis, der gemäß sich immer wieder in einer gewissen noetisch-noematischen Formstruktur strömender Gegebenheitsweisen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins konstituieren“ (Hua I, 109). 268 Hua IV, 228. 269 Hua XXXVII, 107. 72 Wille und Motivation horizontintentional geregelten Erfahrung [steht]. Motivation meint bei Husserl [...] den Zusammenhang der Dinge selbst, sofern die ihrem Seinssinn nach auf ein erfahrendes Subjekt bezogen sind.“ 270 Eine andere wichtige Implikation dieser Erweiterung des Begriffs der Motivation ist eine neue Konzeption der Natur des Ich. Wenn das ganze ichliche Leben eine motivationale Verweisungsstruktur ist, dann werden das Ich und seine Erfahrung beständig von praktischen Möglichkeiten und Vermögen begleitet, weil die Motivationsverbindungen keinen Zwang, sondern offene Sinnzusammenhänge darstellen. Die Ich-Erfahrung – mit den Worten Husserls – bringt mit sich „die ‚Möglichkeit‛ weiterer Erfahrung. [...] All mein Erfahren hat einen Horizont freien möglichen Tuns und – korrelativ – praktisch möglicher und im Falle der ungehemmten Freiheit kommender Erscheinungen.“271 Husserl formuliert das deutlich mit dem Ausdruck „Ich kann“. Er betont mehrfach, dass „[d]as Ich als Einheit [...] ein System der ‚Ich kann‛ “ 272 oder „ein Organismus von Vermögen“ 273 ist, weil „[d]as Subjekt [...] vielerlei [‚kann‛] und [...] gemäß seinem Können durch Reize, durch aktuelle Motive zum Tun bestimmt [wird]; es ist immer wieder tätig gemäß seinen Vermögen und wandelt, bereichert, stärkt oder schwächt sie immer wieder durch sein Tun.“274 Diese Dimension der Möglichkeit umfasst alle Sphären des subjektiven Lebens, es handelt sich nicht nur um die praktische Möglichkeit, sondern auch um die logische Möglichkeit und die Möglichkeit einer Neutralitätsmodifikation, die jede Gattung von Akten kennzeichnet. Wie Husserl z.B. bezüglich der Leistungen der Phantasie bemerkt, 270 Rang, Kausalität und Motivation, 99. Hua VIII, 401. 272 Hua IV, 253. 273 Hua IV, 254. 274 Hua IV, 254-255. Husserl schreibt außerdem: „Ist das Durchlaufen öfters erfolgt, so erwächst das Bewusstsein der Stellung und des Ich-kann, Idee eines verfügbaren Systems. Ich kann mir ein beliebiges Mb vorstellen und von Ma, das gerade aktuell ist, zu Mb hingehen und umgekehrt. Ich habe die Auffassung des Ma im geordneten System. Ich kenne das Bewegungssystem, ich kann darin Linien ziehen etc., ein verfügbares System: ein System bestehender Möglichkeiten. Zum Ich-bin gehört nach dieser Erfahrung das Ich-kann. Eine freie Bewegung ist vorstellbar als gewollte Bewegung und ist auch oft wirklich willentlich bewegbar. Die aktuelle Begehrung ergibt notwendig die Bewegung (Tätigkeit) oder eine andere oder keine. Im ersten Fall läuft die Bewegung im Sinn der Begehrung als willkürliche ab (Neutralitätsmodifikation davon: ich kann: die Handlung ist eine mögliche Handlung). Das wirkliche Tun motiviert aber für die Zukunft das Bewusstsein des Ich-kann-wirklich: Ich habe dergleichen schon getan, und keine Gegenerfahrung spricht dagegen.“ (Hua XIII, 355). 271 73 Wille und Motivation ist die Phantasie „ein Reich der Freiheit, und das sagt, der Willkür. Wir können das Spiel so oder so weiter spielen. Das Bewusstsein ist immerfort ein Bewusstsein des ‚als ob‛ und hat als solches durchaus den Charakter dieser Modifikation.“ 275 Diese beständige Möglichkeit einer freien Fiktion, dieses Vorstellungsvermögen gehört zum Wesen des Ich, das daher in der Dimension des Könnens seinen Grundzug findet. „Das Vorstellbare,“ – wie Husserl sich ausdrückt – „oder zunächst das Vorgestellte ist möglich, der ‚Gegenstand‛ als solcher ist als anschaulich vorschwebender Substrat des Möglichkeitsprädikats, d.h. der gemeinte Gegenstand ist ein möglicher, sofern er angeschaut werden kann. Da kommt also wieder ein ‚kann‛.“ 276 Von diesem Gesichtspunkt aus kann man behaupten, dass die Ordnung der Naturkausalität ihre Quelle und Berechtigung im Motivationsboden hat. Ohne Zweifel über die Gültigkeit der Naturgesetze aufzuwerfen, stellt es sich zugleich als klar heraus, dass die Möglichkeitsbedingung der naturwissenschaftlich aufgefassten Natur und ihrer induktiven Verbindungen und Gesetze die motivationale und geistige Tätigkeit des Subjekts ist. Wie Husserl erklärt, ist die Welt meine Umwelt – d.h. nicht die physikalische Welt, sondern die thematische Welt meines und unseres intentionalen Lebens. [...] Diese Umwelt ist ev. oder birgt in sich meine theoretische Umwelt, deutlicher: diese Umwelt kann für mich [...] allüberall theoretische Themata darbieten, und ich kann, theoretisch die Realitätszusammenhänge erforschend, dazu kommen, Naturwissenschaft zu treiben. Auf das Reale ausgehend oder reale Wirklichkeit herausarbeitend gewinne ich die „wahre Natur“. 277 Die Motivationsordnung der subjektiven Umwelt besitzt daher einen Begründungsvorrang im Vergleich zur naturkausalen Ordnung der positiven 275 Hua XXXI, 13. Hua IV, 261. Dazu stellt De Almeida fest, „daß das Wesen sich beim faktischen Meinen und Geben im Bewußtsein des Anderssein-könnens konstituiert. Diese Einsicht kann auch in folgender Formel ausdrückt werden: Die sinnliche Fülle ist nicht da Korrelat eines ‚faktischen Wirklichkeitsbewußtseins‛, sondern eines ‚idealen Möglichkeitsbewußtseins‛“ (De Almeida, Sinn und Inhalt in der genetischen Phänomenologie E. Husserls, 93). 277 Hua IV, 218-219. „Die wahre Natur des Physikers ist eine methodisch notwendige Substruktion des Denkens und ist nur als solche zu konstituieren, nur als „mathematische” hat sie ihre Wahrheit. Dagegen hat es keinen Sinn, der Motivation, die originär-anschaulich zu erfassen ist, durch Substruktion des Denkens irgend etwas Unanschauliches zu unterlegen als einen mathematischen Index für eine unendliche Mannigfaltigkeit von anschaulischen Erscheinungen“ (Hua IV, 230-231). 276 74 Wille und Motivation Wissenschaften: Nur vermöge dieses Begründungsvorrangs kann „[d]ie Umwelt [...] sodann für mich Thema der naturwissenschaftlichen Technik sein, überhaupt Thema praktischer Gestaltungen mit Beziehung auf Wertungen und Zwecksetzungen.“ 278 4.2.2 Die passive Motivation: Trieb und Assoziation Was bislang diskutiert wurde, stellt eine unentbehrliche Voraussetzung für die bereits angekündigte zweite wichtige Erweiterung des Husserlschen Begriffes der Motivation dar, eine Erweiterung, die die praktische Sphäre des Ich-Lebens betrifft und ebenfalls den Überlegungen Pfänders aus Motive und Motivation entgegensteht. Denn Pfänder bezeichnet mit Motivation lediglich das eigentümliche Verhältnis zwischen einem fordernden Willensgrund und dem darauf gestützten Willensakt, d.h. nur die eigentlich aktive Stufe des Ich-Lebens. Husserl spricht dagegen, – ohne dabei wie es schon bezüglich der Phänomenologie des Willens gezeigt worden ist, den wesentlichen Unterschied zwischen der aktiven/willkürlichen und der passiven/unwillkürlichen Dimension der Subjektivität zu nivellieren – von zwei Grundmodi, die beide zum Motivationsbereich gehören: „Überall in der geistigen Sphäre verflechten sich zweierlei Motivationen, die rationale und die irrationale, die Motivation der höheren, der aktiven Geistigkeit und die Motivation der niederen, der passiven oder affektiven Geistigkeit.“ 279 Der erste Motivationsmodus entspricht dem, was man im eigentlichen Sinn mit diesem Terminus bezeichnet, was Husserl auch als Vernunftmotivation oder aktive Motivation bezeichnet. Zu diesem Bereich gehören alle Motivationen der höheren Geistigkeit, des personalen Lebens, d.h. die Motivationen, die mit einer aktiven Beteiligung des Ich zu tun haben. „Das Warum, die causa, kann eine ratio im prägnanten Sinne sein. Wir könnten zunächst also ,rationale Motivation‘ jede solche nennen, die eben eine solche ratio hat.“280 Die aktiven Motivationen fußen auf Willensentschlüssen, Urteilen, „kurzum: die Motivation von Stellungnahmen durch 278 Hua IV, 219. Hua XXXVII, 107-108. 280 Hua XXXVII, 82. 279 75 Wille und Motivation Stellungnahmen.“ 281 Die Vernunftmotivationen betreffen die eigentlich geistige Dimension des Ich, und zwar jene Stufe seines Lebens, die mit Freiheit, Vernunft, Selbstbewusstsein und Verantwortung zu tun hat. Insofern ist eine Motivation dann rational, „wenn auf die Frage ,Warum tust du das?’ geantwortet wird mit der Angabe eines leitenden Zweckes, und schließlich selbst beim Endzweck auf die Frage nach dem Warum geantwortet wird: Weil ich es für in sich wertvoll halte.“ 282 Offensichtlich ist der Bereich der aktiven Motivation so weit, dass man von ihm in verschiedenen Bedeutungen reden kann: Existieren etwa „absolute Motivationen“, wenn man z.B. sagt: „ ,etwas gefällt mir an sich, um seiner selbst willen’ u. dgl., gleichgültig, ob innerhalb der Motivationen Vernunft waltet oder nicht“ 283, oder Beispiele von „relativer Vernunft“ 284 in dem Fall, dass ich die Intentionen erfülle, die mir durch meine Voraussetzungen vorgezeichnet sind. Aber ich kann übersehen haben, dass eine meiner Voraussetzungen nicht stimmte. Vielleicht folge ich da einer blinden Tendenz. Ich glaubte mich zu erinnern, dass der Satz bewiesen sei; die Tendenz ist keine völlig blinde, sofern die Erinnerung ihre Vernunft hat.285 Was eine Motivation rational oder aktiv macht, besteht nicht in der absoluten Folgerichtigkeit der Kette der Motive, sondern in der aktiven und freien Ichbeteiligung, in der Aktivität der Stellungnahme, oder, wie Pfänder es formuliert, im „geistigen Schlag“, den das Ich-Zentrum ausführt. Wie jedoch bereits erwähnt, ist nach Husserl die Motivationssphäre umfassender, weil sie nicht nur die aktive Stufe der Geistigkeit, sondern auch „das ichlose Reich der Passivität“ 286 einbezieht. Während der Unterschied zwischen Aktivität und Passivität im Leben des Ich normalerweise durch die Zuerkennung zweier verschiedener Kausalordnungen bestätigt wird, hat – wie Staiti betont – ein solcher Unterschied im Rahmen der Husserlschen Überlegungen „durchaus sein Recht, muss aber nicht im Hinblick auf die Beziehung zur induktiven Naturkausalität bestimmt werden, sondern in 281 Hua IV, 220. Hua XXXVII, 108. 283 Hua IV, 220. 284 Vgl. Hua IV, 221. 285 Hua IV, 222. 286 Hua XXXVII, 111. 282 76 Wille und Motivation Bezug auf die zwei Grundmodi, welche die Einteilung des Motivationsreichs in sich bestimmen.“ 287 Daher stellt Husserl fest: Wir haben passive Motivation und aktive Motivation, die eine findet statt unwillkürlich, ohne jede Aktivität der Stellungnahme, die andere ist aktiv. Die eine ist seelisch, unterpersonal, sie schafft den Untergrund des personalen Ich, sie wirkt in dem Aufbau aller Apperzeptionen, und damit ist das Konstitution der Umwelt als Gestaltungskraft, die ohne aktive Ichbeteiligung Gegenstände erscheinen lässt und Gegenstände, die schon aktive Bedeutung erhalten haben ohne Beteiligung des Ich (des intellectus agens), verschmilzt und zusammenbaut. 288 Diese zwei Grundmodi der Motivation entsprechen den zwei unabtrennbaren Stufen der Geistigkeit, „die niedere Stufe, die des bloß Seelischen, und die höhere, die der Geistigkeit in einem ausgezeichneten Sinn. Die niedere Stufe ist die der reinen Passivität.“ 289 Was meint Husserl eigentlich mit dieser niederen Stufe? Was ist der Sinn eines solchen „ohne aktive Ichbeteiligung vorlaufenden Untergrundes“ 290? Zusammenfassend kann man zwei Bereiche von Bewusstseinsphänomenen benennen, die sich in diesem Untergrund befinden: Das Feld der Triebe und der Gefühle sowie das der Assoziation. Der erste bildende Aspekt des seelischen Untergrundes betrifft bei näherer Betrachtung dasjenige, was Pfänder Streben nennt – im Gegensatz zum Willen im engeren Sinne. Wie bereits in der Untersuchung des Themas des Willens angemerkt wurde, unterscheidet Husserl deutlich zwischen der Willens- und der Triebesphäre. Die Unterscheidung erfolgt wieder zwischen den zwei Stufen der Geistigkeit: Der höheren und eigentlich geistigen Stufe und dem Untergrund. Diese zuletzt genannte Stufe erscheint passiv und periodisch im Leben des Ich und übt eine beständige Kraft aus, wie Husserl im Folgenden beschreibt: „Es regt sich ein sinnlicher Trieb, der Trieb etwa zu rauchen, ich greife zur Zigarre und zünde sie an, während meine Aufmerksamkeit, meine Ichtätigkeiten, ja mein bewußtes Affiziertsein ganz wo anders ist.“291 Eine solche 287 Staiti, Geistigkeit, Leben und geschichtliche Welt in der Transzendentalphänomenologie Husserls, 124. Hua XXXVII, 331. 289 Hua XXXVII, 110. 290 Hua XXXVII, 110. 291 Hua IV, 338. 288 77 Wille und Motivation triebhafte Sphäre der Passivität ist jedenfalls von der Motivation der Geisteseinheit umfasst: Ich bin nicht nur das Ich der Freitätigkeit, sondern: Ich bin auch das Subjekt, das an den und den Sachen Gefallen zu haben pflegt, das und das habituell begehrt, wenn die Zeit kommt, zum Essen geht usw.: Subjekt gewisser Gefühle und Gefühlsgewohnheiten, Begehrungsgewohnheiten, Willensgewohnheiten, bald passiv, sagte ich, bald aktiv.292 Kraft dieser Einheit versteht man, warum auch Triebe und Gefühle von der Verständlichkeit des Geistes durchdrungen werden, wie es übrigens unsere beständige Möglichkeit, Triebe und Gefühle zu verstehen, zuzulassen oder zu hemmen, zeigt: Ein Trieb oder ein Gefühl „ist im dunklen Untergrunde motiviert, hat seine ,seelischen Gründe‘, nach denen man fragen kann: wie komme ich darauf, was hat mich dazu gebracht? Dass man so fragen kann, charakterisiert alle Motivation überhaupt.“ 293 Die motivationalen Sinnzusammenhänge durchdringen damit auch jene Stufe, die Pfänder „Seelenleib“ nennt und die er vom Motivationsbereich ausschließt.294 Aufgrund der Anerkennung des Motivationswertes der Triebsphäre formuliert Husserl in seinen Analysen zur passiven Synthesis, dass „[d]ie Motive [...] in der lebendigen Gegenwart liegen [müssen], wobei aber vielleicht die wirksamsten Motive solche sind, auf die wir nicht Rücksicht nehmen konnten“, und zwar „ ‚Interessen‛ im weiten, gewöhnlichen Sinn, ursprüngliche oder schon erworbene Wertungen des Gemüts, instinktive oder schon höhere Triebe usw.“ 295 Diese letzte Äußerung schließt etwas Bedeutungsvolles ein: Wenn wir unsere Erfahrung aufmerksam beobachten, bemerken wir, dass jede unserer Stellungnahmen oder Entscheidungen nicht nur von den bewussten und selbstgesetzten Zielen abhängt, sondern gleichzeitig von einem tieferen und verborgenen Streben bewegt ist. Ich entscheide mich z.B., die Arbeitsstelle zu wechseln, 292 Hua IV, 256. Hua IV, 222. Husserl bezeichnet geradezu diese triebhafte und dunkle Stufe des Ichlebens (wieder durch das beispiel der Zigarre)als eine Form von „volo”, von Willen: „Das unwillkürliche ago in dem Sinne des volo, aber des unbewussten ‚ich lebe nicht darin‛. ‚Unwillkürlich zünde ich mir eine Zigarre an‛ “ (M III 3 III 1 II, 39, in: Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 222). 294 In diesem Sinne stellt Mensch fest: „This does not just mean that reason is ,a transformation of the original instincts’. It signifies as well that developing from a basis of ,unconscious’ instinctual drives, reason ultimately becomes such as to comprehend these“ (Mensch, Instincts – A Husserlian Account, 226). 295 Hua XI, 178. 293 78 Wille und Motivation weil ich einer lohnenderen Beschäftigung nachgehen will. Das ist eine willentliche Entscheidung, die von einer rationalen und völlig verstehbaren Motivation gestützt ist. Die Gründe für eine solche Entscheidung können allerdings nicht ausschließlich auf dieses Motiv reduziert werden, weil sich dahinter andere, ursprünglichere und triebhafte Motivationen verbergen wie z.B. das Streben nach Selbsterhaltung – eine allgemeine Bezeichnung für eine Reihe nicht nur physischer, sondern auch ideeller Bestrebungen, wie es später in Bezug auf die Husserlsche Ethik noch näher eingegangen wird. Mensch betont diesbezüglich: „The motivating force thus seems to be our instinctive drive to self-preservation. As Husserl notes, this drive is present on all levels of the self’s constitution. [...] On the level of rational autonomy, it is present as the self’s desire to preserve itself as a rational agent.“ 296 Wie bereits angezeigt begegnet man sodann auf der zweiten, sogenannten niederen Stufe der reinen Passivität dem Phänomen der Assoziation. Mit Assoziation bezeichnet Husserl „eine zum Bewusstsein überhaupt beständig gehörende Form und Gesetzmäßigkeit der immanenten Genesis, nicht aber, wie bei den Psychologen, eine Form objektiver, psychophysischer Kausalität.“ 297 Es handelt sich um einen „Verbindungscharakter“ 298, der die Bedingung der zeitlichen Kontinuität unserer Erfahrung bildet. Wie die Behandlung der Motivation als Möglichkeitsbedingung der Erfahrung schon hervorgehoben hat, könnte ohne Assoziation von Erfahrung nicht die Rede sein299, weil die Assoziation ein Titel der Intentionalität, als das in seinen Urgestalten deskriptiv aufweisbar, und in seinen intentionalen Leistungen unter Wesensgesetzen stehend, aus denen alle und jede passive Konstitution, sowohl diejenige der Erlebnisse als immanenter Zeitgegenstände als 296 Mensch, James R.: Freedom and Selfhood, in: Husserl Studies 14/1 (1997), 53. Hua XI, 117. 298 Hua XI, 118. 299 Hierzu betont Held: „Wäre das Empfinden nun ein gänzlich passives Empfangen von Eindrücken, so läge es nahe, mit der sensualistischen Tradition anzunehmen, die empfangenen Eindrücke seien einzelne, in sich einfache Daten, sozusagen unteilbare Empfindungsflöckchen, die in das Bewusstsein hineinschneien. Das Empfinden gäbe so ursprünglich ein pointillistisches Bild von der Welt: lauter Tupfen, flächenlose Einheiten, die erst durch die Apperzeption gegenständlich als Fläche aufgefasst würden. Da aber der passive Vollzug des Empfindens von vornherein mit Aktivität durchtränkt ist, muß auch der im Empfindungsvollzug aufscheinende Gehalt dem entsprechen“ (Held, Klaus: Einleitung des Herausgebers, in: Held, Klaus (Hrsg.): Husserl, Edmund: Phänomenologie der Lebenswelt, Ausgewählte Texte II., Stuttgart 1986, 22). 297 79 Wille und Motivation diejenige aller realen Naturgegenstände der objektiven raumzeitlichen Welt verständlich zu machen ist. 300 Die Erfahrung besteht also assoziativer Wesensgesetze zufolge aus Sinnzusammenhängen und Zeitzusammenhängen. Erinnerungen, Reproduktionen, Erwartungen und Apperzeptionen sind Phänomene der Assoziation, d.h. der „notwendige[n] Gesetzmäßigkeit, ohne die eine Subjektivität nicht sein könnte“301. Unser Alltag ist beständig von Assoziationen begleitet, die zum passiven Untergrund gehören, weil sie unbemerkt und ohne Ich-Beteiligungen ablaufen: Während eines Gesprächs fällt uns etwa eine herrliche Seelandschaft ein. Reflektieren wir darüber, wie es dazu gekommen ist, so finden wir etwa, dass unmittelbar eine Gesprächswendung uns an eine ähnliche erinnert, die letzten Sommer an dem See in einer Gesellschaft geäußert worden war. 302 Von Pfänders Standpunkt aus haben solche assoziativen Verbindungen nichts mit Motivation zu tun, weil hier auf dieser passiv ichlosen Stufe von „geistigem Schlag“ oder von einem „geistigen Hinhören auf Forderung“ gar keine Rede sein kann: Eine assoziative Verbindung wie die der Seelandschaft – um es mit einem Pfänderschen Ausdruck zu bezeichnen – „widerfährt dem Ich, sie berührt oder ergreift das Ich [...] wie einen Naturzwang.“ 303 Dagegen nennt Husserl die Assoziation „eine andere Form der Motivation“ 304: Warum? Um den Grund dieser Position Husserls mit seinen Implikationen wirklich zu verstehen, ist es wichtig zu beachten, dass Husserl selbst die scheinbare Widersprüchlichkeit bemerkt, die darin liegt, den Assoziationen 300 Hua I, 113. Hua XI, 118. Vargas Bejarano beachtet: „Passive Motivation ist der Titel für die Erörterung der Genesis oder der Entstehung der sinnlichen Gegebenheiten im Bewusstseinsleben bzw. der Konstitution. Wenn eine Gegebenheit im Bewusstseinsfeld auftritt, so dass sie die Aufmerksamkeit des Ich hervorrufen kann, besteht die Möglichkeit, dass jemand beispeilsweise in reflexiver Einstellung die Frage stellt: ‚Wie bin ich ausgerechnet dazu gekommen, dass ich mich an diese bekannte Person erinnert habe?‛ Oder in anderem Zusammenhang kann er sich fragen: [...] Warum hatte ich die Erwartung – und die damit verbundene Enttäuschung – eine Person zu sehen?‛ Aus phänomenologischer Perspektive müssen wir diese Fragen ernst nehmen: Was war der Anlass für diese intentionalen Akte, in unserem Beispiel die Erinnerung und die Erwartung, die mit einer Enttäuschung verbunden waren? Das Subjekt hat zwar diese Akte vollzogen, aber es war dabei nicht tätig, sondern es war einfach motiviert. Hierbei ist die passive Motivation am Werk, die bei der Genesis der intentionalen Akte eine entscheidende Rolle spielt“ (Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 201). 302 Hua XI, 122. 303 Pfänder, Motive und Motivation, 146. 304 Hua XXXVII, 180. 301 80 Wille und Motivation Motivationsgesetzmäßigkeit zuzusprechen, denn er fragt sich: „Wie weit kann man da Entwicklung, Bildung von Erinnerungen, von Erwartungen, von spielenden Phantasieverläufen und dann von transzendierenden Apperzeptionen ihren Motiven nach ‚erklären‘, aus ‚Motiven‘ und nach ‚Motivation‘ gesetzen verstehen?.“ 305 Er bekennt tatsächlich, dass im Rahmen der Assoziationssphäre „der Begriff des Motivs [...] ein ganz uneigentlicher natürlich [ist], da der eigentliche sich auf Ichakte bezieht“ 306. Diese schon erfasste Schwierigkeit hat ohne Zweifel mit der Unschärfe der Sprache zu tun: Gemäß solcher Grenze „sprechen wir da unwillkürlich in denselben Worten wie in der Sphäre der Spontaneität“ 307. Dennoch hört Husserl nicht auf, sich zu fragen: „Sollen wir eben sagen: unterpersonale Kausalität? Aber das ist mißdeutlich, weil man bei diesem Ausdruck auch an psychophysische Kausalität denken könnte, während es sich um eine rein in der psychischen ‚Innerlichkeit‘ verlaufende handeln soll“308. Husserl stellt wieder fest, dass „[l]ebendige Ichakte eben aus dem Ich, nach einer personalen Regelung, und nicht assoziativ [entspringen]“, aber kurz darauf fragt er sich: „[I]st nicht das Ich, die Person selbst eine apperzeptiv konstituierte Einheit? Und weist diese Apperzeption nicht wie jede auf ‚Assoziation‛ zurück?“ 309 Obwohl diese unterpersonale und assoziative Stufe nicht an den eigentlichen Motivationen der Ichaktivität teilhat, ist sie keine „substantiale (oder naturale) Kausalität“ 310, sondern eine Form von Motivation, weil bei Husserl die Motivation das Reich der Verständlichkeit und des Sinnes ist, die das gesamte Bewusstseinsleben von verständlichen Verbindungen umfasst. Dass a mich an b erinnert, die Ansichtskarte vom Berliner Dom an das Berliner Schloss, das ist nicht ein bloß mechanisches Aufspringen eines neuen erlebten Elements zum früheren, sondern das eine Element ist mit einer Intentionalität behaftet, die auf das andere hinweist, und ohne dergleichen verständen wir kein Zeichen, kein Wort der Sprache usw. Ich sage, „verständen wir gar nichts“. Denn nur durch Bewusstsein gibt es etwas zu verstehen.311 305 Hua XI, 385-386. Hua XI, 386 307 Hua XI, 358. 308 Hua XI, 386. 309 Hua XI, 386. 310 Hua XI, 386. 311 Hua XXXVII, 180. 306 81 Wille und Motivation Von Husserls Standpunkt aus könnte man nun der Pfänderschen Position den „Grundfehler“ des psychologistischen Naturalismus unterstellen, d.h., dass er die Passivität der Assoziation und des ganzen, ohne Ichaktivität verlaufenden Seelenlebens mit der Passivität des physischen Naturverlaufs auf dieselbe Stufe setzte und Assoziationsgesetze also auf gleiche Stufe mit dem Gravitationsgesetz und sonstigen physischen Naturgesetzen. Denn Assoziation ist ein Titel für eine Art der Motivation, nämlich der passiven. Aber passive Motivation ist, wie alle geistige Kausalität [...] eine Sphäre der Verstandlichkeit.312 In den Cartesianischen Meditationen hebt Husserl die volle neue Bedeutung des Terminus Assoziation hervor, welche durch die Phänomenologie erhoben wurde: „Phänomenologisch evident, aber für den Traditionsbefangenen befremdlich ist, daß Assoziation nicht ein bloßer Titel für eine empirische Gesetzlichkeit der Komplexion von Daten einer ‚Seele‛ ist.“ 313 Zu diesen Traditionsbefangenen kann man nun also auch Pfänder zählen, und zwar zu denjenigen, welche mit Assoziation „nach dem alten Bild so etwas wie eine innerseelische Gravitation“ meinen, während sie vom phänomenologischen Standpunkt „ein, und zudem höchst umfassender, Titel für eine intentionale Wesensgesetzlichkeit der konkreten Konstitution des reinen Ego [ist], ein Reich des ‚eingeborenen‛ Apriori, ohne das also ein Ego als solches undenkbar [...]“ 314. Wie Husserl besonders in den Ideen II zeigt, bietet in der Tat unsere Erfahrung „das unendliche Feld von Motivationen“315, welches „Motivationsgeflechte“ 316 bildet: Die A s s o z i a t i o n e n „ v e r l a u f e n [ . . . ] u n b e m e r k t “ 317 , a b e r s i e s t e l l e n Motivationszusammenhänge dar, d.h. Sinnzusammenhänge, die beständig mit den aktiven Motivationen verflochten sind: Allerdings verflicht sich die eine und andere Motivationsart, die „Kausalität“ in den Untergründen der Assoziation und Apperzeption und die „Kausalität“ der Vernunft, die 312 Hua XXXVII, 333. Hua I, 114. 314 Hua I, 114. 315 Hua IV, 224. 316 Hua IV, 224. 317 Hua XI, 122. 313 82 Wille und Motivation passive und aktive oder freie. Die freie ist rein und völlig frei, wo die Passivität nur ihre Rolle spielt für die Herbeischaffung des Urmaterials.318 Abschließend können aus diesen Überlegungen zum Begriff der Motivation bei Husserl in der Gegenüberstellung mit Pfänder einige Schlüsse gezogen werden. Am Anfang wurde die Frage aufgeworfen: Muss die erforderliche Unterscheidung zwischen der passiven und der aktiven Stufe des Ich-Lebens unbedingt auf der Anerkennung zweier verschiedener Kausalordnungen beruhen, d.h. einerseits auf der Motivationskausalität, andererseits auf einer Naturgesetzlichkeit? Pfänder kommt zu diesem Ergebnis, indem er die übliche Bedeutung des Terminus’ „Motivation“ beibehält, ihn ausschließlich für die eigentlichen Willensentscheidungen verwendet und die Auswirkungen der Strebungen den Naturzwängen gleichsetzt. Dieses dualistische Resultat wird durch die Unterscheidung der zwei „Partien der Seele“ 319 verdeutlicht, und zwar durch den „Seelengeist“ und den „Seelenleib“. Den Werken Edmund Husserls wurde hingegen eine neue Auffassung entnommen: Ohne die wesentlichen Abweichungen zwischen der Willenssphäre und der passiven Sphäre, den Strebungen, Trieben, Gefühlen und Wünschen, die diese umfasst, schmälern zu wollen, sieht er diese nicht wie zwei Welten an, die verschiedenen Kausalitäten unterworfen sind, sondern erkennt in ihnen dieselbe Motivationsgesetzlichkeit, d.h. die „Grundgesetzlichkeit des geistigen Lebens“. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Stufen ist der Modus der Motivation, die einerseits irrational, passiv und ichlos, andererseits dagegen aktiv, rational und frei ist. Was sie aber vereint, ist die wesentliche Verständlichkeit, welche die geistige Sphäre kennzeichnet: „Natur ist das Reich der Unverständlichkeit. Das Reich des Geistes aber ist das der Motivation. Motivation aber steht unter Motivationsgesetzen, und all solche Gesetze sind durch und durch verständlich.“ 320 Die geistige Subjektivität ist bei Husserl 318 Hua IV, 224. Hierzu stellt Holenstein fest: „Die Assoziationen sind gleichsam sachlich sich herstellende Verbindungen, versehen mit dem Eindruck ,das macht sich von selbst’. Das Ich ist bei ihnen nur in einer sekundären Weise frei. Es hat jederzeit die Möglichkeit, sie aktiv nachzuvollziehen, nicht jedoch die Freiheit, sie ursprünglich in Gang zu setzen. [...] Sind die Motive der Assoziation einmal aufgedeckt, so zeigt sich auch ihre Forderung als eine Vernunftmotivation“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 189-190). 319 Vgl. Pfänder, Motive und Motivation, 146. 320 Hua XXXVII, 107. 83 Wille und Motivation von einer wesentlichen Einheit gekennzeichnet, die nicht die höhere rationale Stufe zur niederen herabsetzt, sondern die dagegen die Eigentümlichkeit des Geistes emporhebt, weil die motivationalen Sinnesverbindungen alle Dimensionen der Seele umfassen, wie Husserl im Folgenden betont: Dieses spezifisch geistige Ich, das Subjekt der Geistesakte, die Persönlichkeit, findet sich abhängig von einem dunklen Untergrunde von Charakteranlagen, ursprünglichen und verborgenen Dispositionen, andererseits abhängig von der Natur. [...] Die letztere hat auch ihre Regeln, und zwar ihre Verstandesregeln der Einstimmigkeit und Unstimmigkeit, es ist eine Schicht verborgener Vernunft, zunächst jedenfalls soweit Konstitution von Natur reicht: da doch alle komplizierten Verhältnisse des Wenn-So, alle Kausalitäten zu Leitfäden von theoretischen, also geistigen Explikationen werden können. 321 Dieser Kontinuität zufolge kann man mit Husserl geradezu formulieren: „Die passive Motivation ist der Mutterboden der Vernunft.“ 322 Gerade diese letzte Äußerung bietet den Anlass für das im nächsten Kapitel zu behandelte Thema, und zwar die Natur sowie die Rolle des Niederschlags und der Sedimentierung in der Konstitution der Persönlichkeit als wirksame Geschichte, die durch ihre Motivationskraft das Jetzt beeinflusst. Das Jetzt des Ich-Lebens kann nicht von der Verflechtung der Niederschläge seiner Geschichte absehen. Was bisher festgestellt worden ist, ergibt sich als notwendige theoretische Voraussetzung der nachfolgenden Überlegungen, eine Voraussetzung, die mit dem folgenden Husserlschen Ausdruck zusammengefasst werden kann: „Verständlich im Geiste ist alles, was eine geistige Genesis hat, alles im Geiste, was motiviert auftritt, also auf ein Motivierendes verweist”323. Nichts ist im Ichleben sinnlos, alles ist dagegen motiviert. 321 Hua IV, 276. Hua XXXVII, 332. 323 Hua XXXVII, 109. 322 84 Zweites Kapitel Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich § 1. Einleitung: Das Rätsel des Unbewussten Die Betrachtungen des letzten Kapitels haben zur Dimension der Passivität und der in dieser dunklen Sphäre bestehenden Motivationszusammenhänge geführt. Es handelt sich dabei um Themen, welche der Phänomenologie dem Anschein nach fremd bleiben müssten, weil sie einer beschreibenden Analyse zu entgehen scheinen. Obwohl sich diese Stufe nicht unmittelbar der Beobachtung darbietet, entzieht sich Husserl dennoch nicht der Aufgabe, eine phänomenologische Untersuchung der Randprobleme des Unbewussten, der Triebe, der Beziehung zwischen Wachen und Schlafen, der versunkenen Vergessenheiten usw. vorzunehmen. Um den phänomenologischen Zugang zur Passivität zu verstehen, darf man nicht vergessen, dass der Husserlsche Ansatz keinen psychologischen oder psychoanalytischen Weg eröffnet. Der phänomenologische Blick enthüllt stattdessen durch die transzendentale Reduktion und die darin erfolgende Neutralisierung der Generalthesis der natürlichen Einstellung das Feld des intentionalen Lebens. Deutlich bestimmt dies Husserl in seinen Analysen zur passiven Synthesis: „Wir bewegen uns ja im Rahmen der phänomenologischen Reduktion, in dem alle objektive Wirklichkeit und objektive Kausalität ,eingeklammert‛ ist.“324 Das Ich ist demnach von diesem Standpunkt aus die zentrale Polarität jedes konstitutiven Prozesses, das Abstrahlungszentrum aller Strahlen des intentionalen Lebens: „In diesem Rahmen des reinen Bewußtseins finden wir die strömende Bewußtseinsgegenwart, wir finden konstituiert eine jeweils wahrnehmungsmäßige, als leibhaft konstituierte Wirklichkeit.“ 325 Die phänomenologische Analyse verirrt sich nicht in empirischen Kontingenzen des Ich, sondern erfasst das Wesen, d.h. die Erfahrungskonstanten der 324 325 Hua XI, 117. Hua XI, 117. 85 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich intentionalen Korrelate. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass nach Husserl das Ich keine statische oder leere Polarität ist, weil es im Gegensatz dazu eine Geschichte hat oder, besser gesagt, das Ich selbst eine Geschichte konstitutiver Leistungen ist. Deshalb ist außer einer statischen Betrachtung des Ich eine genetische nötig, weil nur eine genetische Phänomenologie die lebendigen und konstitutiven Sinnessedimentierungen enthüllen kann. Das Ziel der nächsten Untersuchungen ist also gerade die Vertiefung des Verständnisses der Rolle der Passivität in der Struktur und in der Konstitution des Ich. Wenn man tatsächlich von Motiven auch im Rahmen des irrationalen Niveaus des Ichlebens sprechen kann, erhebt sich die Frage nach dem Gewicht, der Rolle und der Natur solcher Motivationen. Wie wirken Triebe und passive Assoziationen auf praktische Handlungen und Entscheidungen, d.h. auf das Wachleben? Welche Folgen und tatsächlichen Auswirkungen auf die gesamte Beschaffenheit der Subjektivität hat die Berücksichtigung der motivationalen und nicht kausalen Grundgesetzlichkeit der Passivität? Im letzten Kapitel ist bereits festgestellt worden, dass sich nach Husserl triebhafte Strebungen und passive Assoziationen nicht – wie Pfänder meinte – als „Naturzwänge“ verhalten. Diese Behauptung benötigt jetzt allerdings eine tiefere Erforschung, weil sich infolge dieser ungewöhnlichen Auffassung der Stufe der Passivität eine neue Anschauung des Lebens und des Wesens des Ich profiliert, die später zum ethischen Horizont der Phänomenologie Husserls führen wird. Einige Begriffe heben sich im Rahmen der Frage nach der Rolle der Passivität ab, und zwar die Husserlschen Kategorien der Sedimentierung, der Habitualität, des Niederschlags und der Weckung des Versunkenen, die im Lauf des Kapitels Schritt für Schritt Thema einer phänomenologischen Verdeutlichung sein werden. Eine allgemeinere Frage fungiert dabei als roter Faden für diese Überlegungen, nämlich die Frage nach der Natur des Unbewussten: Ist es von einem phänomenologischen Standpunkt aus möglich, vom Unbewussten zu reden? Husserl bejaht diese Frage und verweist auf die Verwirklichung eines Vorhabens, das er mit einer absichtlich paradoxen Formulierung als „Phänomenologie des Unbewussten“ bezeichnet. Dies ist der Plan, „in 86 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich dieser Nacht phänomenologische Lichter aufstrahlen zu lassen.“326 Nicht jede Anschauung des Unbewussten scheint vereinbar mit der von Husserl genannten Aufgabe: Wenn irgendeine Phänomenologie des Unbewussten möglich ist, kann das Unbewusste nicht etwas ganz anderes als das Bewusstsein sein, sondern im Gegenteil etwas, das mit dem Bewusstsein und seinen Sinnzusammenhängen strukturell zu tun hat.327 Eine solche phänomenologische Voraussetzung bekundet sich als die Möglichkeitsbedingung jeden Zugangs zum Unbewussten, der nicht mythologisch oder irgendwie geheimnisvoll verfasst sein soll: Wenn das in einem solchen dunklen Hintergrund liegende Bewusstseinsleben keinerlei verständliche Zusammenhänge hätte, d.h. wenn es nur ein verwickeltes Chaos ohne Ordnung wäre, dann wäre infolgedessen auch die psychoanalytische Methode der freien Assoziation unmöglich, weil es keinen Sinn hätte, bestehende Verhältnisse und Verbindungen zu suchen. Der Inhalt und die Implikationen dieses Husserlschen Ansatzes zum Problem des Unbewussten werden im Folgenden auch durch den Vergleich mit dem psychoanalytischen Ansatz von Freud herausgearbeitet, um die umfassende Beschaffenheit des Ich aus der phänomenologischen Perspektive näher zu verstehen. Die Betrachtung der Subjektivität vom Standpunkt ihres passiven Lebens verlangt eine genetische Berücksichtigung, die das Element der noch lebendigen Vergangenheit des Ich erfasst. Das passive Niveau umfasst tatsächlich alles, was das Ich gelebt hat und dann versunken ist ins „Reich der scheinbar zu nichts gewordenen Vergessenheiten.“ 328 Es handelt sich um das Reich der Sedimentierungen, der Niederschläge, kurz: der persönlichen Geschichte des Ich. Um diese für Husserl immer grundlegendere Dimension zu begreifen, muss man bei seiner Auffassung der Zeitlichkeit ansetzen. Die Momente des konstitutiven Flusses der Zeitlichkeit, d.h. Retention, Urimpression und Protention, stellen die Urstufe des transzendentalen Bewusstseinslebens dar, und ihr 326 Hua XI, 154. Vincenzo Costa schreibt hierzu: „[S]econdo Husserl ha senso parlare di inconscio solo in quanto questo ha strutturalmente a che fare con la coscienza. Esso, se non deve essere inteso come un concetto meramente speculativo o addirittura mitologico, deve avere un rapporto con l’esperienza cosciente, con ciò che sappiamo di noi stessi. [...] Husserl era ben cosciente del problema e che, a suo modo, aveva abbozzato una linea di ricomprensione del fenomeno ‚inconscio’ all’interno dell’elaborazione fenomenologica“ (Costa, Vincenzo, in: Costa, Vincenzo; Franzini, Elio; Spinicci, Paolo: La fenomenologia, Torino 2002, 234-235). 328 Hua XI, 78. 327 87 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Verständnis ergibt sich als die Bedingung, um das Versinken und das Weiterbestehen der Erlebnisse zu erfassen. Aus diesem Grund ist der erste Schritt des folgenden Weges zum Unbewussten die Betrachtung des inneren Zeitbewusstseins. § 2. Das Ablaufphänomen und der unendliche Horizont des inneren Zeitbewusstseins Husserls Betrachtung des Problems der Zeit ist ohne Zweifel einer der grundlegenden Themenbereiche der gesamten Phänomenologie. Es ist im Rahmen dieser Untersuchung allerdings nicht möglich, eine vollständige Behandlung dieses Problems und seiner fortschreitenden Veränderungen von den Logischen Untersuchungen an im Lauf der Entwicklung der Phänomenologie Husserls vorzunehmen. Dennoch darf eine synthetische Darstellung der Husserlschen Auffassung der Zeitlichkeit im Rahmen dieser Untersuchung nicht fehlen, weil diese Erläuterung die Basis für das Verständnis jeder Konstitution bildet. Damit Apperzeptionen von Gegenständen und Dingwahrnehmungen erfolgen können, müssen sie aus Synthesen entstehen und sich entwickeln, die sich aus einem passiven Grund heraus verwirklichen. Das betrifft nicht nur die Auffassung jedes einzelnen Gegenstandes, sondern das gesamte All der Erfahrung: Ohne die motivationale und passive Regelmäßigkeit der assoziativen Synthesen könnte von Erfahrung keine Rede sein, weil diese in einer beständigen Verflechtung von Sinnzusammenhängen und Erwartungshorizonten besteht. Wie Husserl in Erfahrung und Urteil behauptet, „ist der Bereich der passiven Doxa, des passiven Seinsglaubens, dieses Glaubensbodens [...] Fundament also auch all dessen, was man im konkreten Sinn ‚Erfahrung‛ und ‚Erfahren‛ nennt“329: Solche passiv assoziativen Synthesen, die im Folgenden hier genauer betrachtet werden, sind also der apriorische Untergrund und die Möglichkeitsbedingung, die unser Bewusstsein der Erfahrung und unseren Glauben an die Wirklichkeit motivieren. Wie schon hinsichtlich der Motivation als Struktur und Sinnzusammenhang der Erfahrung hervorgehoben wurde, zeigt sich die Erfahrung 329 Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Prag 1938, 53. 88 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich unbedingt in einem assoziativen Horizont, der leer, aber gleichzeitig vorzeichnend ist. Die tiefste Art von Motivation ist in der Form des inneren Zeitbewusstseins aufzufinden, und zwar „die im ursprünglichen Zeitbewußtsein sich kontinuierlich leistende Synthese [...]. Es besteht [...] in einem universalen formalen Rahmen, in einer synthetisch konstituierten Form, an der alle anderen möglichen Synthesen Anteil haben müssen.“ 330 „Erfahrung ist Zeitigung“331, so drückt Husserl sich aus, da die Erfahrung eine universal motivationale Zeitsynthese des Flusses der Erlebnisse ist.332 In den Pariser Vorträgen bekräftigt er diese Ansicht der Erfahrung als Strömen, wenn er behauptet, dass „das ganze universale Leben in seinem Fluktuieren, seinem Heraklitischen Fluß, eine universale synthetische Einheit ist.“ 333 Husserl stellt in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins fest, dass es sich um „eine phänomenologische Analyse des Zeitbewußtseins” handelt, und dass in dieser „wie bei jeder solchen Analyse, der völlige Ausschluß jedweder Annahmen, Festsetzungen, Überzeugungen in betreff der objektiven Zeit (aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierendem) [liegt].“334 Es handelt sich genauer, wie der Titel von § 1 der Vorlesungen lautet, um eine „Ausschaltung der objektiven Zeit“ 335, die im ersten Band der Ideen außerdem „kosmische Zeit“336 genannt wird. Der phänomenologische Blick zielt auf die Erlebnisse und die Zeitauffassung, nicht dagegen auf die Zeit als „die Weltzeit, die reale Zeit, die Zeit der Natur im Sinne der Naturwissenschaft und auch der Psychologie als Naturwissenschaft des Seelischen.“ 337 Husserl liegt es nicht an einer Untersuchung der 330 Hua XI, 125. Hua XXXIV, 213. 332 Husserl betont in seinen Cartesianischen Meditationen den grundlegenden Charakter der Bewusstseinssynthese: „Die Grundform dieser universalen Synthesis, die alle sonstigen Bewußtseinssynthesen möglich macht, ist das allumspannende innere Zeitbewußtsein. Sein Korrelat ist die immanente Zeitlichkeit selbst, dergemäß alle je reflektiv vorzufindenden Erlebnisse des ego als zeitlich geordnet, als zeitlich anfangende und endende, als gleichzeitig und nacheinander sich darbieten müssen – innerhalb des ständigen unendlichen Horizontes der immanenten Zeit“ (Hua I, 81). 333 Hua I, 18. Husserl bestimmt die Zeitlichkeit einer Wahrnehmung als „[e]ine Form”, die „dem Geformten Einheit und zwar geordnete Einheit [gibt]. Die zeitliche Wahrnehmungsform gibt dem Empfindungsinhalt aller Phasen und ebenso den Auffassungsphasen eine Einheit, und zwar eine kontinuierliche Reiheneinheit“ (Hua XVI, 64). 334 Hua X, 4. 335 Hua X, 4. 336 Hua III/1, 181. 337 Hua X, 4. 331 89 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich psychologischen Apperzeption der Zeit, ihm „ist die Frage nach der empirischen Genesis gleichgültig, [ihn] interessieren die Erlebnisse nach ihrem gegenständlichen Sinn und ihrem deskriptiven Gehalt.“ 338 Der den Zutritt zum Zeitbewusstsein ermöglichende Schlüssel ist die phänomenologische Epoché, die als „Ausschaltung“ verstanden wird, da sie den Rückgang auf das transzendentale und intentionale Leben ermöglicht.339 Die Reduktion eröffnet die Möglichkeit, die ursprünglich lebendige Erfahrung der Zeit durch die Überschreitung des objektivistischen Vorurteils über die Natur der Zeit zu ergreifen340, weil sie uns zunächst von diesen Vormeinungen befreit. Aufgrund solcher Vorurteile wird die Zeitlichkeit als Summe oder als Reihenfolge von Stücken oder Punkten erachtet, die eine objektive Messbarkeit voraussetzen. Es handelt sich um eine „objektive Zeit, in welcher alle Dinge und Ereignisse, Körper und ihre physischen Beschaffenheiten, Seelen und ihre seelischen Zustände ihre bestimmten Zeitstellen haben, die durch Chronometer bestimmbar sind.“ 341 Die objektive Zeit wird schlechthin durch das Bild einer ununterbrochenen Linie vorgestellt, die durch aufeinander folgende Punkte zusammengesetzt ist. Durch die transzendentale Reduktion 338 Hua X, 9. Römer unterstreicht die enge Verbindung zwischen dem Begriff der „Ausschaltung“ und den späteren Formulierungen dieses Begriffs. Sie schreibt, dass „Husserl wenige Zeit nach den Vorlesungen über das Zeitbewusstsein von 1905 die Entwicklung der Epoché und phänomenologischen Reduktion begonnen [hat], welche zu einer Vorurteilslosigkeit führen und schließlich eine Philosophie als strenge Wissenschaft ermöglichen sollten. Sein erster Schritt in die Phänomenologie der Zeit besteht in einer Vorform der Epoché, und zwar in einer ,Ausschaltung der objektiven Zeit‛ “ (Römer, Inga: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricoeur, Dordrecht 2010, 28). 340 Hierzu betont Dieter Lohmar: „Die Konzeption der Vorlesungen sieht vor, dass der objektiven Zeit eine subjektive-immanente Zeit zugrunde liegt, die sich wiederum auf der tiefsten Schicht der Zeitkonstitution ausbildet. Die Ereignisse der objektiven Zeit stellen sich sozusagen in der subjektiven erlebten Zeit perspektivisch dar. [...] Husserl versucht in den Vorlesungen, von dem Produkt, das in einer synthetischen Leistung des Bewusstseins konstituiert wurde, d.h. der objektiven Zeit, auf die zugrunde liegende Schicht der Erfahrung zurückzugehen, d.h. die subjektive Zeit“ (Lohmar, Dieter: Konstitution der Welt-Zeit. Die Konstitution der objektiven Zeit auf der Grundlage der subjektiven Zeit, in: Ferrarin, Alfredo (Hrsg.): Passive Synthesis and Life-world – Sintesi passiva e mondo della vita, Pisa 2006, 57). 341 Hua X, 7. Staiti erläutert deutlich den Unterschied zwischen objektiver und phänomenologischer Zeit durch ein Beispiel: „Mögen mein Zimmer, wo ich heute morgen aufgestanden bin, das Bergdorf, wo ich auch dieses Jahr meine Sommerferien verbringen werde und die Bibliothek, wo ich in diesem Moment sitze, vom objektiven Standpunkt zeitgleich sein (ich weiß, dass sie alle an sich jetzt gleichzeitig existieren), so sind sie es strictu sensu nicht, sobald ich ihr Erscheinen für mich phänomenologisch in Betracht ziehe. Dabei stellt sich heraus, dass jeder Gegenstand oder Sachverhalt (mag er Zimmer, Dorf, Bibliothek oder sonst etwas sein) ursprünglich in einer Kontinuität von bewusstseinsmäßigen Erscheinungen sich konstituiert hat und nur dadurch von mir her eine eindeutige Zeitstelle in der unveränderlich strömenden Ablaufsform meines Bewusstseins erteilt bekommen hat. Hierdurch wurden sein Wirklichkeitscharakter und daher die Form seiner von nun an immer möglichen Reproduzierbarkeit in der Erinnerung festgelegt sowie alle vorgreifenden, erwartungsmäßigen Intentionen, die die Möglichkeit seiner näheren Bestimmung a u f r e c h t e r h a l t e n “ ( S t a i t i , G e i s t i g k e i t , L e b e n u n d g e s c h i c h t l i c h e We l t i n d e r Transzendentalphänomenologie Husserls, 175). 339 90 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich werden die objektiven Vorurteile vom Phänomenologen nicht für falsch erklärt, sondern vielmehr in Klammern gesetzt, um das ursprüngliche ichliche Leben wiederzuerlangen.342 Durch die phänomenologische Reduktion stellt das Bewusstsein „seine Einordnung in die kosmische Zeit“ ein und die Wirkung besteht darin, dass „[d]iejenige Zeit, die wesensmäßig zum Erlebnis als solchem gehört, mit ihren Gegebenheitsmodis des Jetzt, Vorher, Nachher, des durch sie modal bestimmten Zugleich, Nacheinander usw., [...] durch keinen Sonnenstand, durch keine Uhr, durch keine physischen Mittel zu messen und überhaupt nicht zu messen “ 343 ist. Husserl wählt in den schon zitierten Vorlesungen von 1905 über das innere Zeitbewusstsein oft das Beispiel des Hörens des Tones einer Melodie und hebt deutlich hervor, dass den durch Reduktion ermöglichten phänomenologischen Blick – mit den Worten Helds – „nicht die dingliche Einheit ,der Ton’ [interessiert], die irgendwann in einer wirklich oder phantasiemäßig als quasi-wirklich erfahrenen Welt auftritt, sondern allein die zeitliche Struktur des gegenwärtigenden oder [...] originären Wahrnehmungsbewußtseins-vom-Ton.“ 344 Dieser neue phänomenologische Ansatz zum Zeitfeld hat eine Übereinstimmung mit dem Raumbewusstsein. Wenn wir nämlich die Augen öffnen, dann finden wir „visuelle Empfindungsinhalte, die eine Raumerscheinung fundieren, eine Erscheinung von bestimmten, räumlich so und so gelagerten Dingen“345, und zwar einen objektiven Raum. Die phänomenologische Ausschaltung dieses objektiven Raumes schließt das Abstrahieren von jeder Transzendenz ein und das Zurückkehren zu den gegebenen 342 Mit diesen Worten drückt Husserl in Ding und Raum diese Suspendierung der objektiv durch Chronometer bestimmbaren Zeit aus: „Die Hauswahrnehmung dauert etwa eine Minute, und diese Dauer ist zerstückbar, etwa in zwei halbe Minuten. Und jedem Stück der Dauer entspricht ein Stück der Wahrnehmung; ein Stück, d.h. eine voll konkrete Wahrnehmung, wofern die Abstückung wirklich vollzogen ist. Ist die Möglichkeit derselben evident gewährleistet, so liegt darin, daß die Wahrnehmung evidenterweise ein Ganzes ist, ein Konkretum, das teilbar ist, und zwar wieder in volle und ganze Wahrnehmungen. Vollziehen wir die phänomenologische Reduktion, so fällt die objektive Zeit, die Bestimmung als Minute und halbe Minute dahin“ (Hua XVI, 61-62). Noch stärker nimmt Husserl Bezug auf den Ton in einem Text von 1908/09: „Liegt eine Absurdität darin, daß der Zeitfluß wie eine objektive Bewegung angesehen wird? Ja! Andererseits ist doch Erinnerung etwas, das selbst sein Jetzt hat, und dasselbe Jetzt etwa wie ein Ton. Nein. Da steckt der Grundfehler. Der Fluß der Bewußtseinsmodi ist kein Vorgang, das Jetzt-Bewußtsein ist nicht selbst jetzt. Das mit dem JetztBewußtsein ‚zusammen‛ Seiende der Retention ist nicht ‚jetzt‛, ist nicht gleichzeitig mit dem Jetzt, was vielmehr keinen Sinn gibt“ (Hua X, 333). 343 Hua III/1, 181. 344 Held, Klaus: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Den Haag 1966, 18. 345 Hua X, 5. 91 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Wahrnehmungserscheinungen, wo keine objektiv-räumlichen Zusammenhänge eintreten, da „[e]s gar keinen Sinn [hat], etwa zu sagen, ein Punkt des Gesichtsfeldes sei 1 Meter entfernt von der Ecke dieses Tisches hier oder sei neben, über ihm usw.“ 346 Wenn man sich ebenso phänomenologisch an das originäre Zeitbewusstsein wendet, geht daraus hervor, dass die punktförmige Vorstellung einer Linie der Jetztfolge eine Konstruktion ist, weil man phänomenologisch vor einem „beständigen Flusse“ 347 steht, d.h. vor einem Ablauf, der „eine Kontinuität steter Wandlungen ist, die eine untrennbare Einheit bildet, untrennbar in Strecken, die für sich sein könnten, und unteilbar in Phasen, die für sich sein könnten, in Punkte der Kontinuität.“ 348 Dieser Fluss weist die zeitliche Struktur von Urimpression, Retention und Protention auf, aus der nach Husserl das „originäre Zeitfeld“ 349 besteht. In einem ersten Schritt in Richtung einer Erläuterung des Zeitfeldes und seiner Momente kann man von einer Passage des zweiten Bandes von Erste Philosophie ausgehen. Hier bestätigt Husserl, dass zu jedem Jetzt der lebendig strömenden Gegenwart „immerfort ein Gebiet unmittelbar bewußter Vergangenheit, bewußt im unmittelbaren Nachklang der soeben versunkenen Wahrnehmung[, gehört]; ebenso ein Gebiet der unmittelbaren Zukunft, der als soeben kommend bewußten, der das strömende Wahrnehmen sozusagen zueilt.“ 350 Diese strömende Dynamik birgt in sich, dass ein unendlicher Horizont jeden Moment des Bewusstseinslebens begleitet, da [d]er Bewußtseinshorizont mit seinen intentionalen Implikationen, seinen Bestimmtheiten und Unbestimmtheiten, seinen Bekanntheiten und offenen Spielräumen, seinen Nähen und Fernen nicht bloß eine Umwelt der Gegenwart, eine jetzt seiende [umspannt]; sondern, [...] auch offene Unendlichkeiten der Vergangenheit und Zukunft. 351 Das sich immerfort entwickelnde Entstehen des Nachklangs der soeben versunkenen Wahrnehmung und des Gebietes der unmittelbaren Zukunft ist die Bedingung der Unendlichkeit des Bewusstseinsfeldes, da „[h]inter dieser unmittelbar retentionalen 346 Hua X, 5. Hua X, 24. 348 Hua X, 27. 349 Hua X, 31. 350 Hua VIII, 149-150. 351 Hua VIII, 149. 347 92 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Vergangenheit [...] das Reich der sozusagen niedergeschlagenen, erledigten Vergangenheiten“ liegt und „[a]uf der anderen Seite haben wir ebenso einen Horizont der offen endlosen fernen Zukunft.“ 352 Die phänomenologische Zeitanalyse macht den absoluten Urstrom des Bewusstseins mit seiner Struktur „Jetzt-Soeben-Nachher sichtbar: Diese lebendig strömende Gegenwart ist die Seinsweise der transzendentalen Subjektivität, der beständige Ursprung des Lebens und die Bedingung der Konstitution der immanenten Zeit und überhaupt jeder Konstitution.“ 353 Wie Husserl betont, „besteht [sie], wie wir sagen können, in einem universalen formalen Rahmen, in einer synthetisch konstituierten Form, an der alle anderen möglichen Synthesen Anteil haben müssen.“ 354 Als erste Aufgabe stellt sich nun das Herausarbeiten der verschiedenen Momente des „JetztSoeben-Nachher“, die dieser lebendig strömende Fluss des Zeitbewusstseins und seine Horizonte von unendlicher Vergangenheit und Zukunft bilden. 2.1 Das Jetzt der Urimpression Wenn der Ausschluss der objektiven Ansicht der Zeit die punktförmige Vorstellung der Jetztfolge entfernt, stellt sich nun die Frage nach dem Wesen des Jetzt aus phänomenologischer Betrachtung. Das Jetzt, das Husserl auch „Urimpression“ oder „Urpräsentation“ 355 nennt, zeigt sich als der „ewig fliehende Grenzpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft“ 356, weil „kein dauerndes Erlebnis möglich ist, es sei denn, daß es sich in einem kontinuierlichen Fluß von Gegebenheitsmodis als Einheitliches des Vorganges, bzw. der Dauer konstituiert.“ 357 Im Rahmen dieses beständigen Stroms zeichnet sich als Urimpression die eigentliche Phase der anwesenden Gegenwart, d.h. 352 Hua VIII, 150. Hierzu betont Roberto Mancini: „Resta il fatto che la natura enigmatica del tempo, anche se riguardato come tempo vissuto, porta a chiedersi quale sia la sua origine. Esso sembra cooriginario alla coscienza e proprio per questo si può pensare come più originale ed effettiva la temporalità costituita che non il tempo oggettivo e misurabile“ (Mancini, Roberto: Visione e verità. Un viaggio nella fenomenologia attraverso le Ideen I di Edmund Husserl, Assisi 2011, 60). 354 Hua XI, 125. 355 Für eine deutliche Zusammenfassung der Entwicklung des Husserlschen Begriffes der Urimpression im Laufe der Entwicklung seiner Phänomenologie siehe Rodemeyer, Lanei M.: Intersubjektive Temporality. It´s About Time, Dordrecht 2006, 19-46. 356 Hua XIII, 162. 357 Hua III/1, 183. 353 93 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich das „fließende Zwischen eigentlicher Präsenz“ 358 ab. Die Erfassung dieses Zwischen stellt sich allerdings als äußerst problematisch dar, wie Husserl selbst feststellt: „Ist das hier eine so einfache Sache, daß hier weitere Fragen nicht mehr übrig bleiben? [...] Was macht den wunderlichen Unterschied zwischen ,jetzt‛ und ,eben vergangen‛ verständlich und das ewige Schauspiel des immer neu sich erzeugenden Jetzt und immer neu ins Vergangene zurücksinkenden Jetzt?“ 359 Dieser gegenwärtige Moment der Urimpression ist nur in abstrakter Weise feststellbar, da jedes Jetzt die mitanwesenden unendlichen Horizonte der unmittelbaren Vergangenheit und der unmittelbaren Zukunft mit sich bringt.360 Obwohl sich nie ein rein punktuelles Jetzt bietet, liegt beständig die Möglichkeit vor, „daß das Ich den Blick auf die temporale Gegebenheitsweise richtet“ 361, wie Husserl in Ideen I klar feststellt: Ich kann aber auch auf ihre Gegebenheitsweise achten: auf den jeweiligen Modus des „Jetzt“ und darauf, daß an dieses Jetzt, und prinzipiell an jedes, in notwendiger Kontinuität sich ein neues und stetig neues anschließt, daß in eins damit jedes aktuelle Jetzt sich wandelt in ein Soeben, das Soeben abermals und kontinuierlich in immer neue Soeben von Soeben usw. So für jedes neu angeschlossene Jetzt. 362 Die Urimpression ist daher ein strömender Moment, der nur durch das reflexive Sichrichten des phänomenologischen Blickes auf den zeitlichen Fluss feststellbar ist. Wie Held beobachtet, soll „[der] Reflexionsgegenstand [...] in ungetrübter Helligkeit 358 Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 22. 359 Hua XVI, 65. Bernet stellt zu der sich so ergebenden Schwierigkeit fest: „Die Urimpression zeichnet sich also gegenüber anderen Empfindungen als Empfindung des Jetzt aus, und das Jetzt zeichnet sich gegenüber anderen Zeitstellenpunkten als urimpressional bewusster Zeitpunkt aus. Diese zirkelhafte Definition des Zusammenhangs von Urimpression und Jetzt sowie Husserls Zugeständnis, dass es sich dabei um eine eigentliche Definition nicht handeln könne, sind Ausdruck einer philosophischen Verlegenheit. Diese Verlegenheit ergibt sich daraus, dass in eigentlicher Weise über die punktuell-jetzige Gegenwart wohl überhaupt nicht gesprochen werden kann und jedenfalls nicht ohne Bezug auf ein Nicht-Jetzt“ (Bernet, Rudolf: Die ungegenwärtige Gegenwart. Anwesenheit und Abwesenheit in Husserls Analyse des Zeitbewusstseins, in: Phänomenologische Forschungen 14 (1983): Zeit und Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger, Freiburg, 45). 360 „Wir haben also in der konkreten Gegenwart einen abstrahierbaren Kern eigentlicher Gegenwart als eine ausgezeichnete Phase im Strömen, die die Gegenwart bezeichnet, die kein Soeben und Kommend mehr in sich schliesst, sondern reine Gegenwart.” In der auf diese Zeilen bezogenen Fußnote bezeichnet Husserl diesen abstrahierbaren Kern als Urimpression: „,Reine‛ Gegenwart. Zentrale Momente reiner ‚Weltgegenwart‛, in gewisser Weise Urimpression von der Welt. Zeitigung im Strömen“ (Mat. VIII, 27). 361 Hua III/1, 183. 362 Hua III/1, 183. 94 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich und nächster Nähe vom reflektierenden Ich ins Auge ,gefaßt‛, vor Augen gestellt und fixiert werden.“ 363 Was die phänomenologische Reflexion auf das Jetzt zunächst erfasst, ist „sein unaufhaltsames Verschwinden und Verströmen.“ 364 Husserl beobachtet denn auch in den Vorlesungen von 1905, dass der „ ,Quellpunkt’ [...] eine Urimpression [ist]. Dies Bewußtsein ist in beständiger Wandlung begriffen: stetig wandelt sich das leibhafte Ton-Jetzt [...] in ein Gewesen, stetig löst ein immer neues Ton-Jetzt das in die Modifikation übergegangene ab.“ 365 Es handelt sich um eine „ewige Bewegung“, in der „wie jedes Jetzt so jedes Vergangene ergriffen“366 ist: Jedes Jetzt sinkt immer weiter zurück, aus dem Vergangenen wird ein ferner Vergangenes usw. Erscheint so die Zeit als ein ewiger Fluß, der alles Zeitliche in den Abgrund der Vergangenheit hinabstürzt, so gilt andererseits doch die Zeit als eine ewige starre Form, denn jedes Seiende behält seine Zeitstelle. Die Zeitstellen der Ereignisse in der Vergangenheit kann selbst ein Gott nicht ändern. 367 Diese „beständige Wandlung“ der Urimpression, die eine unaufhörliche Umgestaltung des Jetzt in ein Soeben mit sich bringt, führt daher zum zweiten der oben genannten Momente des Zeitfeldes, und zwar zur Retention. Urimpression und Retention sind strukturell in dieser ewigen Bewegung aneinander gebunden, weil „[j]edes aktuelle Jetzt des Bewußtseins [...] aber dem Gesetz der Modifikation [unterliegt]. Es wandelt sich in Retention von Retention, und das stetig.“ 368 Auf Grund dieses zum Zeitbewusstsein gehörigen Gesetzes der Modifikation wandelt sich „[d]as Ton-Jetzt [...] in Ton-Gewesen, das impressionale Bewußtsein geht ständig fließend über in immer neues retentionales Bewußtsein.“ 369 363 Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 23. 364 Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 23. 365 Hua X, 29. 366 Hua XVI, 65. 367 Hua XVI, 65. 368 Hua X, 29. 369 Hua X, 29. 95 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich 2.2 Der Kometenschweif der Retention und die Wiedererinnerung Der ewig strömende Fluss von Jetzt, Eben-Gewesen und immer mehr Vergangen spielt eine zentrale Rolle im Rahmen der Frage nach dem beständigen Versinken und der Sedimentierungen der Erlebnisse in der Passivität. Der Versuch einer Erfassung und eines Verständnisses des Phänomens der Retention ist nämlich der Weg, der nach „dem gesamten Reich der Vergessenheiten“ 370, d.h. „dem fernen Horizont, in den schließlich alle Retentionen versinken“ 371, führt. Bevor die dieses Thema unmittelbar betreffenden Implikationen vorgestellt und vertieft werden, ist es wichtig zu klären, was Husserl mit dem Terminus „Retention“ meint. Eine Passage aus den Analysen zur passiven Synthesis kann hierzu einen nützlichen Ausgangspunkt bilden: Jeder Anschauung entspricht natürlich eine Leervorstellung, insofern eine jede nach ihrem Ablauf nicht spurlos verschwunden ist. Was sie angeschaut hatte, das ist nun in unanschaulischer Weise „noch“ bewußt, es verschwimmt freilich zuletzt in eine allgemeine, unterschiedslose Leere. Jede solche Leervorstellung ist eine Retention, und ihr notwendiges Sich-anschließen an vorgängige Anschauungen bezeichnet ein Grundgesetz der passiven Genesis. 372 Was diesen Worten zunächst entnommen werden kann, ist die Behauptung Husserls, dass die Retention nicht anschaulich gegeben ist. Sie hebt sich dagegen als eine Leervorstellung ab, die dennoch jede Anschauung voraussetzt. Keine Anschauung besteht tatsächlich in einem punktuellen Moment, sondern vielmehr in einem Ablauf, der unvermeidlich Spuren von sich selbst hinterlässt.373 Gerade in der mit jeder Urimpression verbundenen Spur besteht das Phänomen der Retention, die Husserl in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins durch eine deutliche Metapher kennzeichnet: Die „Jetztauffassung ist gleichsam der Kern zu einem Kometenschweif von Retentionen, auf die früheren Jetztpunkte der Bewegung 370 Hua XI, 123. Hua XI, 78. 372 Hua XI, 72. 373 „Wenn ein Zeitobjekt abgelaufen, wenn die aktuelle Dauer vorüber ist, so erstirbt damit keineswegs das Bewußtsein von dem nun vergangenen Objekt, obschon es jetzt nicht mehr als Wahrnehmungsbewußtsein oder besser vielleicht impressionales Bewußtsein fungiert“ (Hua X, 30). 371 96 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich bezogen.“ 374 Wenn man die Aufmerksamkeit auf dieses Grundgesetz der passiven Genesis richtet, dann stößt man – wie Husserl in den Cartesianischen Meditationen betont – „auf eine paradoxe Grundeigenheit des Bewußtseinslebens, das so auch mit einem unendlichen Regreß behaftet zu sein scheint. Die verstehende Aufklärung dieser Tatsache bereitet außerordentliche Schwierigkeiten.“375 Gerade dieser retentional unendliche Regress soll hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. In seinen Analysen zur passiven Synthesis unterstreicht Husserl wiederholt, dass „Retentionen, wie sie in ihrer Ursprünglichkeit auftreten, [...] keinen intentionalen Charakter“376 haben. Dies ist ein wichtiges Element für das Verständnis des Wesens der Retention zu verstehen, weil es ihren Unterschied zu den anderen Dimensionen der Zeitlichkeit wie Wiedererinnerungen, Protentionen und Erwartungen festlegt. Während die letzten zwei Elemente mit dem Horizont der Zukunft zu tun haben, dem wir uns später zuwenden werden, ist es nützlich, den Unterschied zwischen Retention und Wiedererinnerung – die Husserl begrifflich auch mithilfe der Ausdrücke primäre Erinnerung für die Retention und sekundäre oder reproduktive Erinnerung für die Wiedererinnerung fasst – sofort unter die Lupe zu nehmen, weil sie leicht wegen ihrer gemeinsamen Zugehörigkeit zum Horizont des Schon-Gewesenen verwechselt werden können. Husserl beachtet, dass „[j]edes Jetzt der Retention [...] Retention von einem NichtJetzt, von einem Eben-Gewesenen [ist], und dieses Gewesene sei, sagten wir, gegeben.“ 377 Auch die Wiedererinnerungen gehören zur Dimension des Nicht-Jetzt: „Beiderseits, bei primärer und reproduktiver Erinnerung, gemeinsam ist, daß das Vorgestellte ,nicht jetzt selbst da‛ ist.“378 Dennoch beziehen sich Wiedererinnerung und 374 Hua X, 30. Hua I, 81. 376 Hua XI, 77. Vincenzo Costa betont das Missverständis jener Interpretation des Husserlschen Begriffs der Retention heraus, die ihr einen intentionalen Charakter zuschreibt: „Riguardo alle ritenzioni, non solo non vi è un’intenzione intesa come atto dell’io, come atto dossico, ma neanche nel senso di un’intenzione passiva, di una direzione-verso, di un tendere verso il riempimento tipico delle protenzioni o del ricordo. [...] non hanno alcuna tendenza al riempimento, anzi non hanno alcuna tendenza in generale“ (Costa, Vincenzo: L’estetica trascendentale fenomenologica. Sensibilità e razionalità nella filosofia di Edmund Husserl, Mailand 1999, 107-108). 377 Hua XIII, 162. 378 Hua X, 166. 375 97 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Retention auf zwei verschiedene Bewusstseinsphänomene. Die sekundären Erinnerungen erzeugen nämlich wieder Erlebnisse, die in der Vergangenheit versunken sind, aber, wie Husserl betont, „[d]er Grundcharakter der Wiedererinnerung, Reproduktion’“ 379 ist ein solcher, der allen Vergegenwärtigungsakten gehört, wie z.B. d e r P h a n t a s i e .380 Die Wiedererinnerung besteht in der „Vergegenwärtigungsmodifikation des Wahrnehmungsprozesses mit allen Phasen und Stufen bis hinein in die Retentionen: aber alles hat den Index der reproduktiven Modifikation.“381 Eben die Eigentümlichkeit der Vergegenwärtigungsmöglichkeit unterscheidet sekundäre von primären Erinnerungen, da während der Wiedererinnerung „sich selbst in einem Kontinuum von Urdaten und Retentionen auf[baut] und konstituiert (oder vielmehr: re-konstituiert) in eins damit eine immanente oder transzendente Dauergegenständlichkeit [...]. Die Retention dagegen erzeugt keine Dauergegenständlichkeiten (weder originär noch reproduktiv).“ 382 Das ist der Grund der Verweigerung des intentionalen Charakters der Retentionen: Sie richten sich eigentlich an keinen intentionalen Gegenstand, sondern bilden den Kometenschweif oder den „Zeithof“ 383, der zu jedem Zeitpunkt gehört. Retention und Wiedererinnerung unterhalten dennoch eine strenge Beziehung, da die beständige Bewegung des retentionalen Versinkens die Möglichkeitsbedingung der Bildung der Sedimentierungen darstellt.384 Auf Grund dieses Wesens der Möglichkeitsbedingung der Retention jeder 379 Hua XI, 371. So schreibt Husserl in der Beilage VIII zu seinen Analysen zur passiven Synthesis: „[J]ede Phantasie, zufällig auftauchend oder frei erzeugt, ist eine Vergegenwärtigung, aber darum auch noch keine Wiedererinnerung. Zur anschaulischen Vergegenwärtigung gehört, daß sie sich als eine Modifikation der Wahrnehmung gibt. Phantasiemäßig etwas vorstellen, aber auch in einer Wiedererinnerung vorstellen, das ist ,gleichsam wahrnehmen‛, aber eben nur ,gleichsam‛ “ (Hua XI, 371). 381 Hua X, 37. 382 Hua X, 36. 383 So drückt Husserl sich vollständig an dieser Stelle aus: „Der Jetztpunkt hat für das Bewußtsein wieder einen Zeithof, der sich in einer Kontinuität von Erinnerungsauffassungen vollzieht, und die gesamte Erinnerung der Melodie besteht in einem Kontinuum von solchen Zeithofkontinuen, bzw. von Auffassungskontinuen der beschriebenen Art.“ (Hua X, 35-36). 384 Noch einmal erklärt Held: „Der Vergangenheitshorizont weckbarer identischer und individueller Gegenstände entsteht durch die Sedimentation. Diese ist die ,unbewußte‛ Fortsetzung der Retention. Die retentionale Implikation erwächst aus der urpassiven Übergangssynthesis des entgleitenlassenden Behaltens. Damit hat sich diese Synthesis in ihrer urkonstitutiven Funktion zugleich als Urstiftung des universalen Vergangeheitshorizontes der Wahrnehmungswelt erwiesen“ (Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 81). 380 98 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Vergegenwärtigung385 geht Husserl so weit, der Retention „eine Intentionalität eigener Art” zuzuerkennen. Er fährt nämlich fort: „Indem ein Urdatum, eine neue Phase auftaucht, geht die vorangehende nicht verloren, sondern wird ‚im Griff behalten’ (d.i. eben ,retiniert’), und dank dieser Retention ist ein Zurückblicken auf das Abgelaufene möglich.“386 Diese Behauptung widerspricht keineswegs dem, was bisher festgestellt worden ist, weil Husserl ferner bestimmt: „Die Retention selbst ist kein Zurückblicken, das die abgelaufene Phase zum Objekt macht: indem ich die abgelaufene Phase im Griff habe, durchlebe ich die gegenwärtige, nehme sie – dank der Retention – ‚hinzu’.“ 387 Kurz gesagt ist es also der Retention zu verdanken „daß das Bewußtsein zum Objekt gemacht werden kann.“ 388 Auf diese Weise drückt Held deutlich den mit der Möglichkeit des Aktes der Vergegenwärtigung verbundenen Unterschied zwischen Wiedererinnerung und Retention aus: Der Akt der Vergegenwärtigung selbst ist zwar eine sich gegenwärtig abspielende Erfahrung; doch das darin „Erfahrene”, das Vergegenwärtigte, ist nicht mehr in der Helligkeit und Nähe urimpressional-retentionaler Aktualität gegeben; es wird vielmehr aus dem Dunkel und aus der Verdecktheit des endgültig Vergangenen wieder ins Licht gerückt, ohne daß es damit seinen „Platz“ im Bereich des ein für allemal Verströmten jemals aufgäbe. Es heißt darum „wieder-erinnert“, – im Gegensatz zum retentional Behaltenen, das wegen seiner unmittelbaren, wenn auch schon-schwindenden Mitbewußtheit im Präsenzfeld „primär erinnert“ heißen kann. 389 Auf die jeweiligen Rollen der primären und der sekundären Erinnerung sowie auf ihre Bedeutungen im Rahmen der Konstitution der Persönlichkeit werden wir innerhalb dieser Untersuchung alsbald zurückkommen. 385 Hierzu betont Dan Zahavi deutlich: „When reflection sets in, it initially grasps something that has just elapsed, namely, the motivating phase of the act reflected upon. The reason why this phase can still be thematized by the subsequent reflection is that it does not disappear, but is retained in the retention, wherefore Husserl can claim that retention is a condition of possibility for reflection. It is due to the retention that consciousness can be made into an object“ (Zahavi, Dan: Inner Time-Consciousness and Pre-Reflective Self-Awareness, in: Welton, Donn (Hrsg.): The New Husserl: A Critical Reader. Bloomington 2003, 163-164). 386 Hua X, 118. 387 Hua X, 118 (Meine Hervorhebung). 388 Hua X, 119. 389 Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 34. 99 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich 2.3 Die Protention Das letzte der von Husserl angegebenen Momente des Bewusstseinsflusses ist die Protention, welche „die zweite Seite der genetischen Urgesetzlichkeit“ 390 bezeichnet und – wie sich bereits ergeben hat – das Gebiet der „Zukunft als Vorerwartungshorizont“391 darstellt. Die Protentionen sind also die zweite Seite des Horizontes, den jedes Jetzt mit sich führt. „Wie die Vergangenheit als solche, und zwar als Soeben-Gewesenheit, sich erst durch anschauliche Wiedererinnerungen in Klarheit herausstellt, so die konstitutive Leistung der Protention als das soeben Kommende, als die ursprünglich bewußt werdende Zukunft.“ 392 Auch Held bemerkt, dass es keine beliebige Wahl ist, die Protention nach einer Auffassung der Retention zu untersuchen, weil „[d]ie Entdeckung der Protention folgerichtig zunächst als Aufweis ihrer Strukturähnlichkeit mit der Retention [sich vollzieht]: Sie ist wie diese ein unthematisches Mit-Bewußt haben der Randphasen des Präsenten, die schon bzw. noch in einer wesenhaften Verdecktheit, in einem unaufhebbaren Halbdunkel liegen.“ 393 Protention ist beständige Vorzeichnung, die jede Wahrnehmung oder jedes Erlebnis kennzeichnet, da „alles eigentlich Erscheinende [...] nur dadurch Dingerscheinendes [ist], daß es umflochten und durchsetzt ist von einem intentionalen Leerhorizont. Es ist eine Leere, die nicht ein Nichts ist, sondern eine auszufüllende Leere, es ist eine bestimmbare Unbestimmtheit.“ 394 Erneut bezeichnet Husserl diesen Leerhorizont als „Bewußtseinshof“, der „in Form einer Vorzeichnung [...] dem Übergang in neue aktualisierende Erscheinungen eine Regel vorschreibt.“ 395 Es ist außerdem wichtig, den wesentlichen Unterschied zwischen Retentionen und Protentionen zu erfassen. Während die Retentionen nach Husserl keinen eigentlich intentionalen Charakter besitzen, ist diesbezüglich etwas anderes bei den Protentionen festzustellen. Retentionen und Protentionen bilden gemeinsam den Zeithof jeder 390 Hua XI, 73. Hua XXXIX, 215. 392 Hua XI, 73. 393 Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 40. 394 Hua XI, 6. 395 Hua XI, 6. 391 100 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Urimpression396 , und „[w]ie den retentionalen Horizont, so kann man den protentionalen enthüllen. [...] Aber neu ist es, wenn wir in den Brennpunkt die Frage rücken, ob die beiderseitigen Leervorstellungen als Leervorstellungen im wesentlichen gleichartig sind.“397 Unsere Erfahrung zeigt denn auch deutlich, dass Retentionen und Protentionen eine unterschiedliche Dynamik aufweisen. Diesbezüglich sprechen schon die Ausdrücke, die wir durch intuitive Versenkung in die beiderseitigen Sachlagen unterscheidend wählen mußten. Wir sprachen bei der Protention, trotz der reinen Passivität, von Erwartung und im Gleichnis davon, daß die Gegenwart der Zukunft offene Arme entgegenbreitet. [...] Solche Ausdrücke gebrauchten wir nicht und konnten wir nicht gebrauchen bezüglich der Retention. 398 Dieser in den jeweiligen Ausdrücken deutlich werdende Unterschied betrifft eben den intentionalen Charakter. Eine phänomenologische Betrachtung des Zeitbewusstseins zeigt, dass unser Gerichtetsein auf die Zukunft immer eine intentionale Richtung aufweist: „Schlicht gewahrend sind wir auf das Gegenwärtige, auf das immer neue Jetzt gerichtet, das als Erwartung erfüllendes eintritt, und durch es hindurch weiter auf das Kommende. Das Gewahren folgt der protentionalen Kontinuität.“ 399 Obwohl Retention und Protention leere Bewusstseinshöfe sind und beide durch Wiedererinnerung und Erwartung eine anschauliche Enthüllung erfahren, liegt in der Protention „das schon in der passiven Wahrnehmung selbst liegende Vorgerichtet-sein patent“ 400 vor, während die Retention kein Gerichtetsein ist. Es gibt einen weiteren Aspekt, der eine besondere Hervorhebung im Rahmen dieser Untersuchung verdient und einen wesentlichen Zusammenhang mit dem gerade eben 396 Wie Retention und Wiedererinnerung sind auch Protention und Erwartung durch die Anerkennung ihrer jeweiligen leeren und anschaulichen Charaktere zu unterscheiden. Hierzu schreibt Husserl: „Diese ,bestimmten’ Retentionen und Protentionen haben einen dunklen Horizont, sie gehen fließend über in unbestimmte, auf den vergangenen und künftigen Ablauf des Stromes bezügliche, durch die sich der aktuelle Inhalt der Einheit des Stromes einfügt. Wir haben sodann von den Retentionen und Protentionen zu scheiden die Wiedererinnerungen und Erwartungen, die nicht auf die konstituierenden Phasen des immanenten Inhalts gehen, sondern vergangene bzw. künftige immanente Inhalte vergegenwärtigen“ (Hua X, 84). Auf diesem Grund werden Protention und Erwartung – ähnlich wie Retention und Wiedererinnerung – von Husserl auch als primäre und sekundäre Erwartung gekennzeichnet (Vgl. Hua X, 39). 397 Hua XI, 73. 398 Hua XI, 74. 399 Hua XI, 74. 400 Hua XI, 74. 101 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich besprochenen Gerichtetsein der Protention aufweist: Die Protention bildet die Voraussetzung sowohl für die implizite als auch für die explizite Willensspannung, die – wie im letzten Kapitel bereits hervorgehoben – jeden Akt des gesamten Ichlebens kennzeichnet. Jede Urimpression bringt mit sich einen zukünftigen Horizont, der ein offener Horizont von Erwartung, Spannung und Begehren ist. So schreibt Husserl, dass jede Wahrnehmung „ein beständiges Substrat von [beispielsweise] wirklich erscheinenden Tisch-Momenten, aber auch von Hinweisen auf noch erscheinende“ 401 ist. Er fährt dann fort: „Diese Hinweise sind zugleich Tendenzen, Hinweistendenzen, die zu den nicht gegebenen Erscheinungen forttreiben.“ 402 Das Ich ist ein System des „Ich kann“ und die Vorzeichnungstendenzen der Protention bilden dafür die transzendentale Bedingung, wie Husserl im § 59 des zweiten Bandes der Ideen („Das Ich als Subjekt der Vermögen“) betont: Der Erfahrung als immer wieder offener Horizont von neuen Erscheinungen entsprechen immer gewisse Bekanntheit für das jeweilige Verhalten des Ich, gewisse Erwartungstendenzen oder mögliche Erwartungstendenzen, die sich auf das Auftreten des jeweiligen Verhaltens im Bewußtseinsstrom beziehen. Nun ist dieses Verhalten im Hintergrundsbewußtsein kein eigentliches Erwarten, sondern eine auf das künftige Eintreten gerichtete Protention, die bei Hinwendung des Ichblickes zur Erwartung werden kann. 403 Wie Husserl in diesen Passagen deutlich erklärt, spielen nicht nur das System des retentionalen Versinkens, sondern auch die protentionalen Erwartungstendenzen eine grundsätzliche Rolle bei der Konstitution des Ich und seiner Persönlichkeit, da durch die Erwartungstendenzen „eine Gegenständlichkeit, eben das Subjekt der Verhaltungsweisen [sich konstituiert]; das System solcher Protentionen und 401 Hua XI, 5. Hua XI, 5. Held zitiert eine Passage aus einem Manuskript, in der Husserl diese Beziehung zwischen Protentionen und Begehren betont: „Urbefriedigung des instinktiven Begehrens <nach Urpräsentation> ist als Urakt der impressionalen Wahrnehmunganzusetzen“ (C 13 III ,13). Held erläutert dies näher: „Obwohl also das Gewärtigte Zukünftiges und damit doch einmal unbekannt war, bietet es sich dem phänomenologischen Blick doch zunächst als solches dar, das in irgendeiner Weise in anschauliche Nähe gekommen und damit bekannt geworden ist. Der Urmodus der Intentionalität, in der sie auf die ihr gemäßeste Weise verwirklicht wird, ist die Urnähe des Bewußten, die Erfüllung der Intention durch Selbstgebung, Präsentation, d.h. die ,Befriedigung’ der gleichsam instinktiven Erfüllungstendenz jeder Wahrnehmung.“ (Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 41). 403 Hua IV, 256. 402 102 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Verflechtungen [...] schafft eine neue intentionale Einheit, bzw. korrelativ eine neue Apperzeption.“404 Das Thema der Protention verbindet sich mit einer wichtigen phänomenologischen Frage, die sich schon aus den Überlegungen zur Motivation im ersten Kapitel dieser Arbeit ergeben hat, und zwar mit der Frage nach den Erfahrungszusammenhängen, die eine beständige motivationale Verweisungsstruktur bilden, ohne den Charakter der Unvorhersehbarkeit und immer wieder erneuerten Neuigkeit zu verlieren. Diese problematische Beziehung hat natürlich mit der Protention und seiner Erwartungsstruktur zu tun. In seinen Analysen zur passiven Synthesis geht Husserl näher auf diese Problematik ein, wenn er behauptet, dass „zur Konstitution einer raumdinglichen Umwelt [...] eine überreiche Vorzeichnung für den Gang der weiteren möglichen Erfahrungen“ 405 gehört. Dies berührt einen „Grundzug der Intentionalität“, u n d z w a r d a s s „ [ j ] e d e s E r l e b n i s [ . . . ] e i n e n i m Wa n d e l s e i n e s Bewußtseinszusammenhanges und im Wandel seiner eigenen Stromphasen wechselnden Horizont — einen intentionalen Horizont der Verweisung auf ihm selbst zugehörige Potentialitäten des Bewußtseins [hat].“ 406 Wie nämlich die Beobachtung jedes Wahrnehmungsaktes zeigt, gehört zu jeder äußeren Wahrnehmung [...] die Verweisung von den eigentlich wahrgenommenen Seiten des Wahrnehmungsgegenstandes auf die mitgemeinten, noch nicht wahrgenommenen, sondern nur erwartungsmäßig und zunächst in unanschaulicher Leere antizipierten Seiten — als die nunmehr wahrnehmungsmäßig kommenden, eine stetige Protention, die mit jeder Wahrnehmungsphase neuen Sinn hat.407 Es handelt sich – so fährt Husserl fort – um einen „motivierte[n] Erfahrungsglaube[n], überreich bekräftigt und bestätigt durch unzählige Zusammenstimmungen.“ 408 Wenn man anerkennt, dass „das bisherige Leben mir auch in beständigen Protentionen und mittelbaren Vorerwartungen Linien künftigen Lebens, 404 Hua IV, 256. Hua XI, 106. 406 Hua I, 82. 407 Hua I, 82. 408 Hua XI, 106. 405 103 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich und vernünftig (mit ,Grund’), vorzeichnet“ 409, dann stellen sich erneut die Fragen: „[K]ann nicht die weitere Erfahrung mit ihren immer neuen Selbstgebungen schließlich doch fortlaufen, wie sie will? Gegen alle und jede Erwartung, gegen alle noch so kräftigen Vorüberzeugungen, Wahrscheinlichkeiten?“ 410 Oder nochmals: „Muß es denn so bleiben, wie es bisher, nach Aussagen unserer Erinnerung, war? Muß sich in dieser Weise kontinuierlich äußere Erfahrung an äußere Erfahrung anreihen?“ 411. Zu jeder Urimpression gehört ein protentionaler Horizont als soeben kommend bewußte Zukunft, aber dieser motivationale Bewusstseinszusammenhang desavouiert nicht den Charakter der Neuigkeit des Erfahrungsgeschehens: „Was die immanenten Gegebenheiten anlangt, und speziell die Empfindungsdaten, so bringt jedes Jetzt neue.”412 Auch wenn „ein prophetisches Bewußtsein” denkbar ist, d.h. ein Bewusstsein, „dem jeder Charakter der Erwartung des Seinwerdenden [...] vor Augen steht“ – wie Husserl in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins als paradoxe Hypothese annimmt –, „wird auch da manches Belanglose in der anschaulichen Antizipation der Zukunft sein, das als Lückenbüßer das konkrete Bild ausfüllt, das aber vielfach anders sein kann, als das Bild es bietet: es ist von vornherein charakterisiert als Offenheit.“ 413 Die Protentionen implizieren nämlich keine Vorhersehbarkeit, sondern die Verständlichkeit des Erfahrungsverlaufs und ihren motivationalen Charakter: „Die Vorzeichung selbst ist zwar allzeit unvollkommen, aber in ihrer Unbestimmtheit doch von einer Struktur der Bestimmtheit.“414 Die bisher behandelten Analysen über die verschiedenen Momente des Zeitbewusstseins und ihr beständiges Strömen fungieren als unabdingbare Voraussetzung für den Zugang zur Sphäre der Passivität und daher zum Reich des 409 Hua XIV, 279. Hua XI, 106. 411 Hua XI, 107. 412 Hua XI, 106. 413 Hua X, 56. 414 Hua I, 83. Hierzu ist auf eine Passage Husserls in seinen Vorlesungen zur transzendentalen Logik von 1920/21 hinzuweisen, wo er diese Eigentümlichkeit der Protention und des Erwartungssystems hervorhebt: „Im Fortgang des Bestimmens wird nach den protentionalen Gesetzen selbstverständlich über die Folge der aktuell konstituierten Bestimmungen hinaus ein offener Horizont für zu erwartende neue Eigenheiten entstanden sein. Jede gegliederte geistige Fortbewegung, in gleichmäßigem Stil fortschreitende, führt einen solchen offenen Horizont mit sich; einen offenen, denn nicht ein nächstes Glied ist als einziges vorgezeichnet, sondern Fortgang des Prozesses, ein Glied und noch eins usw.“ (Hua XXXI, 34-35). 410 104 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Unbewussten. Wie Husserl betont, ist „[j]ede aktuelle Gegenwart in ihrem Strömen [...] konkret in der Form strömender urimpressionaler Gegenwart und retentionaler (sowie protentionaler) Abwandlungen, trägt also schon strömend eine Vergangenheit in sich.“415 Gerade diese Dynamik soll hier nachfolgend vertieft und verstanden werden. Der Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung wird von Husserl mit diesen Worten beschrieben: Ich bin auch das Subjekt, das an den und den Sachen Gefallen zu haben pflegt, das und das habituell begehrt, wenn die Zeit kommt, zum Essen geht usw.: Subjekt gewisser Gefühle und Gefühlsgewohnheiten, Begehrungsgewohnheiten, Willensgewohnheiten, bald passiv, sagte ich, bald aktiv. Es ist klar, daß sich da in der Subjektivität gewisse Schichten konstituieren, sofern gewisse Gruppen von Ichaffektionen oder passiven Ichakten sich relativ für sich organisieren und zur empirischen Einheit konstitutiv zusammenschließen. Eine nähere Untersuchung müßte diese Schichten herausstellen.416 Es handelt sich, kurz gesagt, um eine Untersuchung, die das Ziel verfolgt, die Phänomenologie der unbewussten Schichten des Ichlebens zu beleuchten. § 3. Das Unbewusste als „Reich der scheinbar zu nichts gewordenen Vergessenheiten” 3.1 Die Sedimentierungen der nicht mehr aktuellen Akten a) Die retentionalen Abwandlungen und das Versinken jeden Bewusstseinsinhalts Die phänomenologische Betrachtung des inneren Zeitbewusstseins hat etwas für das Verständnis des Wesens und der Rolle der Passivität Grundlegendes offengelegt, weil gerade die Dynamik des Zeitflusses die transzendentale und tiefere Voraussetzung für jede Konstitution bildet. „[B]ei der originären Gegebenheit eines Zeitobjektes fanden wir, daß er zuerst lebendig, klar erscheint, dann mit abnehmender Klarheit ins Leere übergeht. Diese Modifikationen gehören zum Fluß.“ 417 Der Fluss der Zeitlichkeit stellt 415 Hua XXXIX, 608. Hua IV, 256-257. 417 Hua X, 48. 416 105 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich den Urstrom dar, in dem die Gegenstände und das Ich selbst sich konstituieren. Deshalb soll eben dieser originäre Fluss näher als grundlegende Voraussetzung befragt werden, um das Wesen der Sedimentierungen zu erfassen. Husserl schreibt hierzu: An die Urimpression schließt sich Retention an. Der retentionale Prozeß ist, wie wir gelernt haben, ein Prozeß eigentümlicher stetiger Modifikation der Urimpression. Das im Modus originaler Anschaulichkeit, der leibhaften Selbsthabe, Gegebene erfährt die modale Abwandlung des „immer mehr vergangen“. Der konstitutive Prozeß dieses sich bewußtseinsmäßig Modifizierens ist eine kontinuierliche Synthesis der Identifikation. Bewußt ist stetig dasselbe, aber immer weiter in die Vergangenheit zurückrückend. 418 Dass durch die notwendige retentionale Wandlung jede lebendige Urimpression immer weiter in die Vergangenheit versinkt, „führt dabei notwendig in das affektive Nullgebiet, dem es sich einverleibt und in dem es nichts ist. So müssen wir überhaupt zur lebendigen Gegenwart einen mit ihr selbst sich beständig wandelnden affektiven Nullhorizont rechnen.“ 419 Die „immerfort mitfungierende Retention“ zeigt sich daher als „die Urstätte dieser Leistung“420, die ein beständiges Versinken jeder Gegenwart mit sich bringt: „Die ursprünglich auftretenden [Retentionen] bleiben ja unanschaulich und versinken in den unterschiedslosen, gleichsam leblos gewordenen allgemeinen Horizont der Vergessenheit – wenn nicht assoziative Weckung statthat.“ 421 Verschiedene Ausdrücke – Nullhorizont, unterschiedsloser oder lebloser Horizont, Nullgebiet usw. – werden daher von Husserl verwendet, um die Sphäre zu bezeichnen, in welche die lebendige Gegenwart schrittweise versinkt. Husserl gibt eine mögliche Analogie zu dem Phänomen der räumlichen Perspektive, um die zeitliche Modifikation des „immer mehr vergangen“ zu erfassen: Eine reflektive Versenkung in die Einheit eines gegliederten Vorgangs läßt uns beobachten, daß ein artikuliertes Stück des Vorgangs beim Zurücksinken in die Vergangenheit sich „zusammenzieht“ – eine Art zeitlicher Perspektive (innerhalb der originären zeitlichen Erscheinung) als Analogon zur räumlichen Perspektive. Indem das zeitliche Objekt in die Vergangenheit rückt, zieht es sich zusammen und wird dabei zugleich dunkel.422 418 Hua XI, 168. Hua XI, 167. 420 Hua XI, 8. 421 Hua XI, 80. 422 Hua X, 26. 419 106 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Aufgrund der eigentümlichen phänomenologischen Modifikation des retentionalen Zurücksinkens versinkt also allmählich die lebendige Urimpression. Zugleich „nimmt die Anschaulichkeit gegen die Vergangenheit hin immer mehr an Sattheit ab bis zur Null der Anschaulichkeit“, aber – und das ist einer der wichtigsten Punkte – „[m]it dem Nullwerden der Anschaulichkeit ist also die affektive Kraft nicht Null.“ 423 Auch wenn die vergangenen Erlebnisse in einer unterschiedslosen Nullsphäre versunken sind, bedeutet das nicht, dass sie keine Affektion besitzen. Husserl betont nämlich: Damit soll natürlich nicht gesagt werden, daß das fortschreitende Verschwimmen der Retentionen bloße Schwächung der Affektion sei, vielmehr liegt es im Wesen der retentionalen Abwandlung, daß sie die inhaltlichen Affinitäten und Kontraste zwar nicht abändert in der Weise, wie in der Klarheit sachliche Abwandlung statthat, aber daß die eine neue Dimension der Verwischung der Unterschiede beibringt, eine wachsende Vernebelung, Verunklarung, die wesensmäßig die affektive Kraft abschwächt.424 Das Zurücksinken in die Vergangenheit führt daher zu einer kontinuierlichen und zunehmenden Modifikation der affektiven Kraft, „eine[r] Schwächung Hand in Hand, die schließlich in Unmerklichkeit endet“.425 Diese Unmerklichkeit entspricht jedoch einem einfachen Nichts 426, wie später bezüglich der motivationalen Kraft der versunkenen Sedimentierungen noch deutlicher gezeigt werden soll. Der strömende Fluss des Zeitbewusstseins zieht gewiss ein Verschwinden nach sich, aber dieses Verschwinden besteht nicht in einem Sich-in-Nichts-Auflösen. Demgemäß stellt Husserl in Bezug auf den Wahrnehmungsprozess fest: „[S]owie eine neue Seite sichtig wird, wird eine eben sichtig gewordene allmählich unsichtig, um schließlich ganz unsichtig zu werden. Aber was unsichtig geworden ist, ist für unsere Kenntnis nicht verloren.“ 427 Das bedeutet, dass „ein bestimmtes Sinnesmoment [...] zwar im Fortgang zu neuen Wahrnehmungen aus dem eigentlichen Wahrnehmungsfeld entschwindet, aber 423 Hua XI, 169. Hua XI, 156. 425 Hua X, 30-31. 426 Hierzu betont Yamaguchi: „Der Sinngehalt der Retention wird durch den retentionalen Prozeß immer mehr vernebelt und schließlich völlig unterschiedslos, aber er wird nicht zum Nichts, sondern zur ,Leervorstellung’ im Hintergrundbewußtsein, in dem sie als ,Unbewußtes’ impliziert wird“ (Yamaguchi, Ichiro: Die Frage nach dem Paradox der Zeit, in: Recherches Husserlienne, 17 (2002), 9). 427 Hua XI, 9. 424 107 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich retentional erhalten bleibt.“ 428 Mit den folgenden Worten erläutert Vargas Bejarano diesen wichtigen Punkt: „[D]ie Urimpression wird in eine andere Gegebenheitsweise modifiziert; obgleich ihre affektive Kraft stetig erlahmt, bewirkt diese Modifikation keine Umwandlung des Sinnesdatums.“ 429 Husserl selbst beschreibt dieses Bewusstseinsphänomen noch weitläufiger: Wenn ein Zeitobjekt abgelaufen, wenn die aktuelle Dauer vorüber ist, so erstirbt damit keineswegs das Bewußtsein von dem nun vergangenen Objekt, obschon es jetzt nicht mehr als Wahrnehmungsbewußtsein oder besser vielleicht impressionales Bewußtsein fungiert. (Wir behalten dabei wie bisher immanente Objekte im Auge, die sich nicht eigentlich in einer „Wahrnehmung“ konstituieren). An die „Impression“ schließt sich kontinuierlich die primäre Erinnerung oder, wie wir sagten, die Retention an.430 Wenn dieser „unterschiedslos und leblos gewordene [...] Horizont der Vergessenheit“431 kein Nichts ist, dann ergibt sich die retentionale strömende Abwandlung der Erlebnisse nicht als ein bloßes Vergehen, sondern als „ein Prozeß der Aufnahme in die bleibende, habituell werdende Kenntnis.“ 432 Nichts geht spurlos verloren, sondern alles neigt dazu, zu verbleiben. Hierzu schreibt Husserl: 428 Hua XI, 9. Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 192-193. Auch Alice Mara Serra verweilt länger bei diesem Aspekt: „Dies betrifft ebenso bereits abgelaufene Vergegenwärtigungen (Phantasie und Erinnerungen) und andere bewusste Akte, die nach dem zeitlichen Modell der Vergegenwärtigung in Schwächung der Anschaulichkeit ebenfalls retentional in den unbewussten Hintergrund zurücksinken und von diesem her protentional wiederum sich in ihrer Intensität steigern können. Die aktuell unbewusste Konstitution bzw. ,die sekundäre Sinnlichkeit’ ist den ichlichen Betätigungen jedoch nicht unzugänglich, sofern Reize aus dem Unbewussten durch aktuelle Wahrnehmungen oder andere bewusste Akte assoziativ ebenfalls ins Bewusstsein übergehen können und auf das Ich als affizierende Kräfte wirken“ (Serra, Alice Mara: Archäologie des (Un)bewussten. Freuds frühe Untersuchung der Erinnerungsschichtung und Husserls Phänomenologie des Unbewussten, Würzburg 2010, 24). 430 Hua X, 30. Noch in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins bemerkt Husserl hierzu: „Es ist eine allgemeine und grundwesentliche Tatsache, daß jedes Jetzt, indem es in die Vergangenheit zurücksinkt, seine strenge Identität festhält. Phänomenologisch gesprochen: Das Jetztbewußtsein, das sich aufgrund der Materie A konstituiert, wandelt sich stetig in ein Vergangenheitsbewußtsein um, während gleichzeitig immer neues Jetztbewußtsein sich aufbaut. Bei dieser Umwandlung erhält sich (und das gehört zum Wesen des Zeitbewußtseins) das sich modifizierende Bewußtsein seine gegenständliche Intention“ (Hua X, 62). 431 Vgl. Hua XI, 80. 432 Hua XI, 8. 429 108 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Jede vorgängige Wachperiode, die jetzt wiedererinnert ist, ist wiedererinnert als ihre Wiedererinnerung an die nächstfrühere Wachperiode in sich tragend, die Erinnerung an diese abermals usw. Das Heute hat die Erinnerung an das Gestern in sich, das Gestern an das Vorgestern etc., mittelbar aber (an) alle (früheren Wachperioden).433 Diese letzte Behauptung zeigt deutlich eine grundlegende Folge des Verständnisses des retentionalen Versinkens jeder Gegenwart, eine Folge, die eben direkt mit der Gegenwart zu tun hat. Da nämlich das Heute in sich das Gestern, das Vorgestern usw. hat, spielt die versunkene Vergangenheit eine entscheidende Rolle in der Konstitution und Gestaltung des Jetzt. Wenn jede lebendige Urimpression allmählich versinkt, wird sie „immer weniger affektiv. Und wenn von verschiedenen Gegenständen nichts affektiv wird, so sind diese verschiedenen in eine einzige Nacht untergetaucht, im besonderen Sinn unbewußt geworden.“434 Gerade die Rolle dieser unbewussten Niederschläge soll im Folgenden näher untersucht und herausgestellt werden. b) Phänomenologie des Unbewussten als Phänomenologie der versunkenen Sedimentierungen Ein Passus aus Husserls Analysen zur passiven Synthesis kann hier als übersichtlich und exemplarisch angesehen werden, um innerhalb dieses Themas fortzuschreiten. Er lautet: „Es wird uns hier wie überall sichtlich und immer besser noch sichtlich werden, daß sozusagen das Schicksal des Bewußtseins, all das, was es an Wendungen und Wandlungen erfährt, in ihm selbst nach der Wandlung als seine ‚Geschichte’ niedergeschlagen bleibt.“ 435 Der Ausdruck „Schicksal des Bewußtseins“ betont den transzendentalen Charakter dieser Dynamik der beständigen Sedimentierung im Bewusstsein jeder Erfahrung und jedes Erlebnisses. Husserl stellt ausdrücklich fest: „Ich brauche nicht zu sagen, dass diesen ganzen Betrachtungen, die wir durchführen, 433 Hua XXXIX, 587 (meine Hervorhebung). Hierzu schreibt Biceaga: „Husserl says that forgetting, if not plainly impossible, is just the temporary withholding of access to safely stored meanings. The failes retrievial os not a sign of the irrevocable loss of past experiences. Consciousness does not really forget; it is just unaware of all that it has managed to preserve. The effect of passivity in all this would be to postpone the eventually successfull recall“ (Biceaga, Victor: The Concept of Passivity in Husserl’s Phenomenology, Dordrecht 2010, 64). 434 Hua XI, 172. 435 Hua XI, 38 (meine Hervorhebung). 109 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich auch ein berühmter Titel gegeben werden kann, der des ‚Unbewussten’. Es handelt sich also um eine Phänomenologie dieses sogenannten Unbewussten.“ 436 Die Rolle und die Implikationen der sedimentierten Geschichte des Ich sollen später durch die Analyse des Husserlschen Begriffs von bleibenden Meinungen und transzendentalen Habitualitäten genauer herausgearbeitet werden, während jetzt das Wesen dieser unbewussten Sedimentierungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken soll. Im Rahmen einer Phänomenologie des Unbewussten spielt der oben genannte Begriff der affektiven Kraft eine zentrale Rolle. Wie schon hervorgehoben wurde, versinkt nämlich jede lebendige Erfahrung immer weiter und gleichzeitig erfährt die affektive Kraft eine allmähliche Modifizierung und eine bis zur Unmerklichkeit gelangende Schwindung. Husserl betont mehrfach und mithilfe verschiedener Formulierungen, dass jede lebendige Gegenwartsleistung [...] sich im Gebiet der toten oder vielmehr schlafenden Horizontsphäre niederschlägt, und zwar in der Weise einer festen Sedimentordnung, da stetig, während am Kopfende der lebendige Prozeß neues, ursprüngliches Leben erhält, am Fußende alles, was gewissermaßen Enderwerb der retentionalen Synthese ist, sich niederschlägt.437 Jedes Erlebnis und jede Gegenwart besitzen eine gewisse affektive Kraft und üben einen mehr oder weniger starken motivationalen Reiz auf das Bewusstsein aus. Es gilt schließlich festzustellen, dass eine Affektion nur abstrakterweise als alleinstehend betrachtet werden kann: Die Dynamik des Bewusstseinslebens zeigt deutlich, dass mehrere Reize beständig das Ich erregen, aber einige dieser Reize stehen im Vordergrund, während andere im Hintergrund bleiben. Durch eine Beobachtung unserer alltäglichen Erfahrung kann man anerkennen, dass „[d]ie Umwelt [...] für jede wache Person, gemäss dem Unterschiede der cogitationes ihres Lebens in ‚Affektionen und 436 Hua XI, 154 (meine Hervorhebung). Francesco Saverio Trincia erklärt mit diesen Worten den Husserlschen Begriff von „unbewusst“: „[L’inconscio] è un accadimento della vita della coscienza che si genera e che si incontra quando l’io perde il contatto con la dimensione passiva di tale vita che non lo affetta, che non lo ,colpisce’ più. La ,fenomenologia dell’inconscio’ è il titolo di questa specifica situazione. Essa si caratterizza come un’interruzione della continuità che lega in base allo schema del tempo la vita intenzionale della coscienza con la sua passività“ (Trincia, Francesco Saverio, Husserl, Freud e il problema dell’inconscio, Brescia 2008, 104) 437 Hua XI, 178. 110 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Aktionen der spezifischen Wachheit’ (derjenigen, die die ausgezeichnete Form des ich bin affiziert, ich erfahre, ich denke, ich tue etc. <haben>), andererseits der unwachen Hintergrunderlebnisse [sich gliedert]“, und zwar: „1) in das Umweltliche, das die Person gerade „angeht“, das für sie in Betracht ist, sie beschäftigt, sie stört, Reize übt etc., 2) andererseits das Umweltliche, das toter Hintergrund ist.“ 438 Hierzu schreibt Husserl: In jeder universal überschauten lebendigen Gegenwart haben wir natürlich ein gewisses Merklichkeitsrelief, ein Relief der Bemerksamkeit und Aufmerksamkeit. Es scheidet sich da also Hintergrund und Vordergrund. Der Vordergrund ist das im weitesten Sinne Thematische. Das Null der Merklichkeit liegt in einer eventuell beträchtlichen Lebendigkeit des Bewussthabens, die aber keine besondere antwortende Tendenz im Ich erregt, bis zum Ichpol nicht vordringt. 439 Man könnte eigentlich von lebendigen Bewusstseinsdaten sprechen, ohne das gesamte Bewusstseinsleben sowohl in seinen aktiven, lebendigen als auch in seinen passiven, unbemerkten Dimensionen und in ihrer gleichzeitigen Verflechtung zu berücksichtigen. „Vordergrund ist nichts ohne Hintergrund. Die erscheinende Seite ist nichts ohne nicht erscheinende. Ebenso in der Einheit des Zeitbewußtseins.“ 440 Gerade diese Gradualität der Merklichkeit der affektiven Kraft ist einer der grundlegenden Schlüsselpunkte des Husserlschen Begriffs des Unbewussten, wie er im Folgenden deutlich hervorhebt: Unabhängig von der Artung der Bewusstseinsdaten [...] gibt es eine Gradualität der Lebendigkeit, und dieser Unterschied bleibt noch erhalten im Rayon der Aufmerksamkeit. Diese Gradualität ist es, die auch einen bestimmten Begriff von Bewußtsein und Bewußtseinsgraden bestimmt und den Gegensatz zu dem im entsprechenden Sinn Unbewussten. Letzteres bezeichnet das Null dieser Bewußtseinslebendigkeit und, wie sich zeigen wird, keineswegs ein Nichts. Ein Nichts nur an affektiver Kraft und damit an denjenigen Leistungen, die eben eine positiv wertige Affektivität (über dem Nullpunkt) voraussetzen. Es handelt sich also nicht um ein Null nach Art eines Null der Intensität qualitativer Momente.441 438 Hua XV, 54. Hua XI, 167. 440 Hua X, 55. 441 Hua XI, 167. 439 111 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Das Synonym für das Unbewusste ist hier für Husserl also das Null von Bewusstseinslebendigkeit, oder – wie er es zusätzlich noch nennt – „ein Hintergrund oder Untergrund von Unlebendigkeit, von affektiver Wirkungslosigkeit (Null).“ 442 Es ist wichtig, noch einmal genauer anzugeben, dass dasjenige, was hier im Zentrum der Untersuchung steht, nicht das allgemeinere phänomenologische Thema der von Vordergrund und Hintergrund gekennzeichneten Struktur des Bewusstseinslebens ist. Vielmehr steht etwas Spezifischeres im Blick, und zwar die Frage, wie von Unbewusstem hinsichtlich dessen, was retentional versunken ist, gesprochen werden kann. Husserl sagt in seinen Vorlesungen von 1920/21: „Alles aktiv Konstituierte versinkt aber in den Hintergrund und verwandelt sich in eine Passivität, aus dem Gedächtnis auftauchend kann sie ähnlich affizieren wie eine sonstige Passivität. Und doch trägt sie den Stempel ihres Ursprungs und ihre wesentliche Eigenart immerfort an sich.“443 Dieser „Stempel des Ursprungs“ bezeichnet die strenge Beziehung, welche die aktive und passive Sphäre vereinigt und führt auf die Betrachtungen des letzten Kapitels über den Unterschied zwischen aktiven und passiven Motivationen zurück. Eine weitere Implikation des Husserlschen Motivationsbegriffs betrifft nämlich das, was er „sekundäre Passivität“ 444 oder „sekundäre Sinnlichkeit“ 445 nennt.446 In diesem Kontext bemerkt er, dass jeder Ichakt [...] in das ichlose Reich der Passivität versinkt und dort, inaktiv geworden, passive Motivationskraft übt, sich passiv mit anderem verflicht, so dass wir zu 442 Hua XI, 168 Hua XXXI, 40. Hierzu schreibt Husserl außerdem: „Aber das im aktuellen Jetzt tätige Ich umgreift mit seinem aktuellen Interesse einen besonderen Vergangenheits- und Zukunftshorizont als den Interessenhorizont. Obschon als Horizont nur gelegentlich in Erinnerungen wirklich anschaulich vergegenwärtigt, bildet er einen umschriebenen lebendigen dunklen Hintergrund, der in dieser beständigen Gewecktheit und als das in der Bereitschaft zu unmittelbar vermöglicher Rückerinnerung und Vorveranschaulichung wohl unterschieden ist von dem weiteren Hintergrund des sedimentierten Lebenshorizontes seiner sedimentierten Interessen“ (Hua XV, 39). 444 Vgl. Hua XXXVII, 111; Husserl, Erfahrung und Urteil, 300. 445 Vgl. Hua XXX, 364. 446 Vargas Bejarano erklärt hierzu: „Die sekundäre Passivität bezeichnet diejenigen Akte bzw. Sinneseinheiten, die in die Vergangenheit versunken sind, aber die noch einen gewissen motivierenden Einfluss auf die gegenwärtigten Akte haben können“ (Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 178). 443 112 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich scheiden haben zwischen primärer und sekundärer Passivität, wobei die Letztere aus Aktivität herstammt und natürlich dieses intentionale Gepräge auch behält. 447 Von solchen Grundgesetzlichkeiten war bereits im Zusammenhang der willentlichen Selbstbestimmung die Rede: Auch wenn das willentliche Fiat jederzeit unaufhörlich erneuert wird, ist „das personale Ich [...] ständig in einer universalen ,Setzung‘ – weitester Willensmodus – [...], in der alles, was ihm gilt und galt in allem intentionalen Wandel, doch gilt, ihm Geltendes ist, stand gehalten, behalten“ 448. Alles, was erlebt wurde, neigt dazu zu verbleiben. Diese transzendentale Tendenz, erhalten zu bleiben, hört nie auf, wie Husserl hier deutlich erklärt: Natürlich bleibt das Wesentliche erhalten, wenn die retentionale Verdunkelung den letzten Rest an Affektivität verloren hat und der Prozeß selbst den letzten Rest der Lebendigkeit des Strömens. Früher meinte ich, daß dieses retentionale Strömen und VergangenseinKonstituieren auch noch im vollen Dunkel unaufhörlich fortgehe. [...] Aber diese retentionale Abwandlung führt immer wieder in das eine Null. Was sagt dieses Null? Es ist das beständige Reservoir der in dem lebendigen Gegenwartsprozeß zu lebendiger Stiftung gekommenen Gegenstände. Für das Ich sind sie darin verschlossen, aber sehr wohl zu seiner Verfügung. [...] Dieses Sein und selbst Bewußt-bleiben hört nicht auf, wenn der Prozeß hinsichtlich der betreffenden retentionalen Identitätslinie im Nullpunkt sein Ende erreicht hat.449 Das unbewusste Null wird hier von Husserl wieder als ein stetig erneuertes Reservoir bestimmt, wo alles einsinkt und weiterbesteht, was das Ich erlebt hat. Sämtliche vergangenen Erfahrungen gehen niemals verloren, sondern verbleiben und fahren mit der Konstitution des Ich und der Herausbildung des „im Verborgenen seiende[n] und kontinuierlich zusammenhängende[n] System[s] der Sedimente“ fort, und zwar in „ein[em] Zusammenhang, der [...] aber nur reproduktiv verwirklicht wäre, wenn wir unser ganzes Leben von Anfang an und in einem Zuge stetig reproduzieren würden, reproduzieren könnten.“ 450 Die versunkenen Sedimentierungen sind also die „Komponenten des Gedächtnisuntergrundes. Dieses birgt in sich geordnete Niederschläge, in fester Ordnung gelagerte, aller besonderen Retentionen, aller 447 Hua XXXVII, 111. Hua XXXIV, 473. 449 Hua XI, 177 (Meine Hervorhebung). 450 Hua XI, 183-184. 448 113 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich konstituiert gewesenen Gegenwarten.“ 451 Die Ordnung dieser Niederschläge ist durch die transzendentalen Urgesetze des inneren Zeitbewusstseins und besonders durch die motivationale Gesetzlichkeit geregelt, die im Zusammenhang der verschiedenen Momente des Zeitstromes beständig wirkt. Diese letzten Überlegungen profilieren Ergebnisse, die direkt das Wesen des Ich berühren. Wie schon im letzten Kapitel bezüglich der Analyse der Willensakte und seiner verschiedenen Modalitäten – besonders dank der Beiträge Husserls und Geigers – hervorgehoben wurde, ist eine irrtümliche Darstellung des Ichlebens jene, die sie als eine Reihe von punktuellen Momenten vorstellt. Wie nämlich der Wille nicht nur im Moment der Entscheidung oder der Stellungnahme wirkt, sondern beständig in seinen verschiedenen Modi und Gradualitäten auch in der passiven Sphäre des Ichlebens am Werk ist, so ist etwas Ähnliches in Bezug auf die Beziehung zwischen der lebendigen Gegenwart und den versunkenen Niederschlägen des Ich zu beobachten. Das Ich erscheint eben gleichsam als ein Eisberg: Seine Spitze bilden die gegenwärtigen Urimpressionen und die entsprechenden Umstände, aber sie schließen in sich die unendliche Tiefe von vergangenen und verbleibenden Erwerben. In der Lebendigkeit früherer Gegenwart lag ihre Verwandlung in neue und von da aus in immer neue Gegenwart, wobei im Lebensprozess vergangene Gegenwart allmählich ins Dunkel versinkt eines „Unbewusstseins“, während doch die jeweilige Gegenwart in sich selbst die Vergangenheitshorizonte als dunkle, aber auch befragbare enthält, natürlich am Leitfaden der bleibenden und in ihrer zunächst leeren horizonthaften Historizität verständlichen Erwerbe. 452 Die sedimentierten Erwerbe sind befragbar und verständlich – wie diese Bemerkung Husserls erläutert und wie es hier auch bereits gezeigt worden ist – aufgrund ihres motivationalen Charakters, der das gesamte Leben des Ich umfasst. Was retentional versinkt, verläuft nicht in einer gänzlich chaotischen und unsinnigen Dimension, sondern behält seine verständlichen Sinnesverbindungen bei. Dieses transzendentale Phänomen bezeichnet eine Dynamik, die jedermann in seiner eigenen Erfahrung auffinden kann. Husserl beobachtet nämlich Folgendes: „Indem die 451 452 Hua XI, 194 (Meine Hervorhebung). Hua XV, 395. 114 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Wahrnehmung ursprünglich Kenntnis erwirbt, erwirbt sie auch ein für die Dauer bleibendes Eigentum des Erworbenen, einen jederzeit verfügbaren Besitz.“ 453 Wenn man darüber nachdenkt, wie man auf die Frage „Wer bist du?“ spontan antworten würde, wird schnell deutlich, dass jede mögliche Antwort darauf mit den eigenen Erwerben und Sedimentierungen zu tun hat. Man könnte auf diese Frage z.B. unter Bezugnahme auf seine eigene Familie, seinen Herkunftsort, seine eigenen Interessen, seinen Beruf usw. antworten. Dies wäre natürlich keine exhaustive Antwort, weil dabei sowohl der Horizont der eigenen Erwartungen oder Hoffnungen und auch – dies ist besonders wichtig – der Bezug zum Kern seiner persönlichen Eigentümlichkeit und Einzigartigkeit fehlt, d.h. zu dem persönlichen Spezifikum, das nie ausschließlich auf eine Reihe vergangener Ereignisse zurückgeführt werden kann. In allen diesen Fällen stünde mit Sicherheit ein unvermeidlicher Bezug auf die eigene Geschichte im Zentrum der Antwort, d.h. ein Bezug zu „dem weiteren Hintergrund des sedimentierten Lebenshorizontes seiner sedimentierten Interessen.“454 In seinen letzten Überlegungen über den Begriff der Intersubjektivität schlägt Husserl einige Überlegungen vor, die dieses Thema betreffen und einen etwas problematischen, aber gleichzeitig sehr interessanten Charakter aufweisen. Er schreibt nämlich: Das Wickelkind, das neugeborene. Wie ist es als Ich seiner Daten und von diesen als affizierenden und von den Ichakten für sich selbst konstituiert? Es ist schon erfahrendes Ich einer höheren Stufe, es hat schon Erfahrungserwerbe vom mutterleiblichen Dasein her, es hat schon seine Wahrnehmungen mit Wahrnehmungshorizonten. Daneben neuartige Daten, Abhebungen in den Sinnesfeldern, neue Akte, neue Erwerbe auf dem Untergrund, der schon Vorerwerb ist, es ist schon Ich der höheren Habitualitäten, aber ohne Reflexion auf sich, ohne ausgebildete Zeitlichkeit, ohne verfügbare Wiedererinnerungen, strömende Gegenwart mit Retention und Protention. 455 Wenn Husserl feststellt, dass schon das Wickelkind, wenngleich mit altersspezifischen Eigentümlichkeiten, über Erfahrungserwerbe verfügt, dann betont er noch einmal den strukturellen Charakter dieser beständigen Dynamik des 453 Hua X, 10. Hua XV, 398. 455 Hua XV, 605. 454 115 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich retententionalen Niederschlags der Erfahrung: Es gibt ein Ich und keine gegenwärtige Ich-Erfahrung ohne diese unbewusst auftretenden Horizonte. Husserl schreibt in den Cartesianischen Meditationen, dass „[d]as ego [...] für sich selbst sozusagen in der Einheit einer Geschichte [sich konstituiert]“ 456. Das ist einer der wichtigsten Kernpunkte der Anschauung des Ich im Rahmen der Transzendentalphänomenologie Husserls: Die Subjektivität wird von ihm nicht als ein geschichtsloses, reines Ich aufgefasst, sondern – mit den Worten Brudzinskas – „als ein aktives, urteilendes und stellungnehmendes, aber zugleich auch als ein erleidendes, passiv motiviertes und rezeptives Ich vorgefunden, das in seinem Leib wurzelt und Sinnstiftung nur im Horizont seiner Geschichte und kraft eigener Affektivität leisten kann.“457 3.2 Die Wirksamkeit des Verdeckten Es ist wichtig, nun einen Punkt hervorzuheben, der schon in der Thematik des motivationalen Charakters des passiven Lebens des Ich latent präsent war. Im ersten Kapitel wurde bereits betont, dass die passive Stufe des geistigen Lebens eine motivationale Kraft aufweist, die beständig wirksam ist und infolgedessen immer wieder die aktiven Handlungen, Gedanken und Gefühle beeinflusst und bewegt, auch wenn es sich um eine unbemerkte und verdeckte Wirksamkeit handelt. Husserls wichtige Entdeckung des motivationalen Wesens der Passivität erweist sich im Rahmen der vorliegenden Überlegungen als äußerst aufschlussreich, um den Husserlschen Begriff des Unbewussten genauer zu fassen. Diesbezüglich erweist sich ein Text Husserls von 1934 als besonders bedeutsam. Husserl schreibt darin, dass „[s]chlechtin, im äußersten Sinn unbewusst [...] die sedimentierte Aktivität und ihr ständiges Mitfungieren in den Weckungen, in der ständigen Assoziation, und damit innig zusammengehörig die ständige und ständig sich 456 Hua I, 109. Brudzinska, Jagna; Die phänomenologische Erfahrung und die Überlegungen im Anschluss an Husserl und Freud, in: Lohmar, Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie. Neue Felder der Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und 2006, 57. 457 Frage nach dem Unbewussten. Dieter; Fonfara, Dirk (Hrsg.): Kooperation: Cognitive Science, Religionswissenschaft, Dordrecht 116 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich wandelnde Habitualität [ist].“ 458 Noch einmal wird von Husserl die besondere phänomenologische Bedeutung des Begriffes des Unbewussten vorgestellt, und zwar eines Unbewussten, das in den retentional versunkenen Sedimentierungen vorheriger Erlebnisse besteht. Was dennoch hier von Husserl hervorgehoben wird, ist das beständige assoziative Mitfungieren dieser Niederschläge und die entsprechende Urstiftung der Habitualitäten. Husserl vertieft sodann seine Überlegungen durch eine Bezugnahme auf das Verhältnis zwischen Wachheit und Schlaf. Das Phänomen des Schlafes ist – wie das des Unbewussten – ein Rätsel und ein Grenzproblem für den phänomenologischen Ansatz, weil der Schlaf sich einer direkten Beobachtung entzieht und keine lebendige Gegebenheit aufweist. Der Schlaf kann in Verbindung mit der Frage nach dem Unbewussten gebracht werden (wie es Freud ausführlich in seiner Theorie der Traumdeutung entwickelt hat), weil der Schlaf ein Reich des Bewusstseinslebens ist, in dem das Ich sich seiner selbst nicht eigentlich bewusst ist. In einem anderen Text aus den frühen dreißiger Jahren beschreibt Husserl den Schlaf als den „Limes totaler Affektionsentspannung und Aktionslosigkeit, der Willenslosigkeit, Willensentspanntheit“, der als Eigentümlichkeit „die Universalität des Passivwerdens des Ich als Interessen-Ich“ 459 aufweist. Husserl bemerkt in dem bereits zitierten Text von 1934, dass das beständige Phänomen des Wechsels von Wachheit und Schlaf „eine Schichtung des Aktlebens in einen Hintergrund und Vordergrund, als Vordergrund die vonstatten gehenden aktuellen Akte im ursprünglichen Vollzug“ mit sich bringt und dass „der Schlaf [...] diesen Modus periodisch und gelegentlich [ändert].“ 460 In dieser transzendentalen Dynamik von Vordergrund und Hintergrund, die – wie schon ausführlich gezeigt worden ist – das Strömen des Bewusstseinslebens unaufhörlich begleitet, zeichnet sich eine bestimmte Eigentümlichkeit ab, welche die Beziehung zwischen aktiver und passiver Stufe kennzeichnet, und zwar die Wirkung des Hintergrundes auf den Vordergrund. So stellt Husserl fest: „Alles Sedimentierte ist noch 458 Hua XXXIV, 472. Hua XXXIX, 591. 460 Hua XXXIV, 472. 459 117 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich ‚lebendig’“461 und er fragt: „[K]lopft es nicht an, ist es nichts, ist es nicht ein anderer Modus personalen Seins, immer noch personal?“ 462 Die Antwort auf diese Frage beruht auf einer phänomenologischen Analyse des Ichlebens, welche die stets untrennbare Verflechtung zwischen Bewusstem und Unbewusstem vor allem in seiner gegenseitigen Beeinflussung berücksichtigt. Die ersten Seiten des Manuskripts E III 10 von 1930 sind sehr wichtig, um diesen Punkt zu klären, nicht nur wegen des betreffenden Themas, sondern auch wegen der ungewöhnlichen, von Husserl verwendeten Terminologie, die auf einen psychoanalytischen Themenbereich zu verweisen scheint. Hier schreibt Husserl: Eingeklemmte Affekte, leidenschaftliche Erregungen, die unerfüllt bleiben, die einer Epoché unterworfen werden – aber nicht durchstrichen: Sie gelten fort. Worin bestand die Epoché? Nicht nur Enthaltung davon, ihnen Folge zu leisten, obschon ev. Möglichkeiten der aktiven Erfüllung beständen, etwa gar solche Möglichkeiten herzustellen versuchen. Sondern eine Enthaltung, die unter allen Umständen innegehalten werden soll. 463 Husserl weist hier auf einen in der Phänomenologie eher unüblichen Begriff von Epoché hin: Es handelt sich um eine Epoché von leidenschaftlichen Affekten und Erregungen, die sich der psychoanalytischen Verdrängung zu nähern scheint. Trotz dieser Epoché gelten – mit den Worten Husserls – die unerfüllten Affekte nach wie vor, weil sie lediglich unterworfen, aber nicht durchgestrichen werden können. Daran kann man noch einmal deutlich die Lebendigkeit der Sedimentierungen erkennen. Ein Zeugnis der Wirksamkeit der Strebungen, die der Epochè unterworfen sind, ist das unvermeidliche Unbehagen, das einigen spezifischen Verdrängungen entspricht und im Bereich des Pathologischen enden kann. Es handelt sich um das „Problem des ,eingeklammten Affektes’ als ‚Krankheit’ der Seele: eine habituelle Unbefriedigung, die nicht ein Nichts ist, auch wenn nicht daran gedacht wird.“ 464 In der Inhaltsangabe des Manuskripts fasst Husserl diese unvermeidliche Motivationskrakt zusammen, die 461 Hua XXXIV, 472. Hua XXXIV, 473. 463 E III 10, 1. 464 E III 10, 1-2. Husserl beschreibt hier mit diesen Worten einen pathologischen Zustand, in dem das Gehemmte sich durch Kompensation in einer neuen Form vorstellt: „Krankenheitsbilder: Kompensation – unbefriedigt sucht man nach Befriedigung anderer Sphäre“ (E III 10, 2). 462 118 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich jede gehemmte Erregung bzw. jeder Instinkt auf das Ich ausübt: „Wie kann ein Urtrieb, wie der Geschlechtstrieb, durchstrichen werden – Askese? Jede verdeckte Geltung fungiert assoziativ mit (Freud).“465 In dieser Sphäre verflechten sich mehrfache und komplexe Stufen von Aktivität und Passivität; Wille und Unfreiwilligkeit sowie willentliche und verborgene Motivationen kämpfen miteinander: Zur Epoché von dem Gewährenlassen der Möglichkeit der Auswirkung (bei instinktiven Begehrungen liegt darin eine Periodizität von Genuß und wieder Aufwachen des Triebes als Begehren) gehört das „Wegsehen“ und Wegsehen-wollen. Was ich nicht „weiß“ (was mir nicht lebendig vor Augen steht), macht mich nicht heiß. [...] Wegsehen und Wegsehenwollen. Aber damit ist der Affekt nur „verdeckt“, hinuntergedrückt und doch da, wirksam wie alles Verdeckt-hinuntergedrückte. 466 Das Verdeckte ist also noch da und es dringt immerzu auf das Ich ein, auch wenn dies nur in Form einer Kompensation geschehen kann oder die verdeckten Affekte zuweilen weit in der Vergangenheit Ereignissen entsprechen oder so kraftlos sind, dass ihre Motivationskraft gegen Null geht. In diesem letzten Fall „[senden s]innliche Daten (und so Daten überhaupt) [...] gleichsam affektive Kraftstrahlen auf den Ichpol, aber in ihrer Schwäche erreichen sie ihn nicht, werden nicht wirklich für ihn zu einem weckenden Reiz.“ 467 Wenn dagegen das gerichtete Hintergrundelement über eine genügende Kraft verfügt, verwirklicht es das „eventuelle [...] Lebendig-werden der untergedrückten Proteste“ 468, und zwar „affiziert [es] das Ich – dieses reagiert mit der Zuwendung, die Vorstellung nimmt die Gestalt der erfassenden an, in der der Ichblick auf das Gegenständliche gerichtet ist.“ 469 465 E III 10, VI. Wie es später noch erklärt werden soll, handelt es sich um eine erhebliche Passage, weil sie eine der seltenen expliziten Hinweise Husserls auf Freud ist. 466 E III 10, 2. 467 Hua XI, 149. „Die Bestandstücke a und b sind nach wie vor Stücke von intentionalen Ganzen, sie haben verdrängte Ergänzungsstücke, welche gegen die im Scheinbild von a auf b und umgekehrt gerichteten Forderungen und vor allem gegen ihre wechselseitigen Erfüllungen vom Untergrund her protestieren, obschon die Proteste zu schwach sind, zu wenig hörbar sind, um zu einem klaren Zweifel und einer Negation zu führen“ (Hua XI, 199). 468 Hua XI, 199. 469 Hua XI, 84. 119 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Eine Passage in Husserls Ethik-Vorlesungen zeigt sich hier als besonders bedeutsam: Ich mag noch so sehr vergessen; was einmal für mich Mittel ist, behält, solange es für mich als dasselbe erkennbar ist, seinen intentionalen Charakter, selbst durch alle Modifikationen hindurch, die ich damit vornehmen mag. [...] Es kann nichts verloren gehen. Jede Modifikation eines Charakters hat in sich selbst den bleibenden Sinn, Modifikation von einem vor dem anderen Charakter zu sein. Die Charakteristiken können freilich in gewisser Art „unbewusst“ werden. Aber darin liegt nur, die Charaktere <können> zeitweise verdeckt, verborgen, in ihrer Motivationskraft gehemmt sein. Das Verborgene ist aber nicht nichts, und das Gehemmte ist keine verbale sondern eine wirkliche Potenzialität, der man, nachdem sie wieder wirksam geworden 〈ist〉, es ansehen kann, dass sie nicht tot, sondern eben nur schlafendes Leben war.470 Nichts geht verloren und alles, was gehemmt und somit unbewusst ist, ist nicht tot, sondern noch lebendig. Das Verborgene ist eine potenziell wiedererweckbare Stufe von Erlebnissen, d.h. – immer mit den Worten Husserls – ein schlafendes Leben. 3.3 Husserl und Freud: Zwei Perspektiven auf das Unbewusste Die letzteren Überlegungen bieten die Gelegenheit, einen Schritt zu entwickeln, der jetzt für die Behandlung des Begriffs des Unbewussten notwendig wird. Die Analysen über die Wirksamkeit der schlafenden Affekte führten unmittelbar zu diesem Schritt hin. Die bisherige Erläuterung dieses Begriffs bei Husserl erfolgte noch ohne eine explizite Bezugnahme auf die zentrale denkerische Persönlichkeit jeder Untersuchung der unbewussten Dimension des Ichlebens – auf Sigmund Freud, der, wie allgemein bekannt ist, ebenso wie Husserl Philosophiestudent bei Franz Brentano an der Wiener 470 Hua XXXVII, 327 (Meine Hervorhebung). 120 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Universität gewesen ist.471 Diese gemeinsame biographische Wurzel lässt eine gewissenhafte Rekonstruktion der Beziehung beider Denker noch interessanter werden, aber dies wäre ein Thema für weitere umfangreiche Forschungen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden können.472 Zumindest aber sollen einige grundlegende Kernpunkte einer Gegenüberstellung zwischen dem phänomenologischen und psychoanalytischen Ansatz zum Unbewussten kurz hervorgehoben werden, um insbesondere die jeweiligen Eigentümlichkeiten beider Ansätze zu verdeutlichen. Die Thematisierung Freuds bietet im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zuallererst die Gelegenheit, nochmals die problematische, aber grundsätzliche Frage aufzuwerfen nach der Rechtmäßigkeit, von einem phänomenologischen Standpunkt aus einen philosophischen Ansatz zum Problem des Unbewussten zu versuchen. Mit anderen Worten, man kann die Frage stellen: Sind die dunklen Gebiete der Subjektivität wirklich zugänglich für eine phänomenologische Untersuchung oder entziehen sie sich 471 Obwohl Husserl und Freud Zeitgenossen sind (1856 bzw. 1859 geboren und 1938 bzw. 1939 gestorben), die beide durch Brentano beeinflusst wurden, ist es nötig zu bemerken, dass sie zwar parallel gearbeitet haben, ohne sich jedoch tatsächlich begegnet zu sein. Wie Ziegler zum Verhältnis von Phänomenologie und Psychoanalyse feststellt, „beginnt die Kommunikation zwischen den Disziplinen erst in der jeweils zweiten Generation. Die Begründer – Husserl und Freud – hielten sich ganz an ihre Methoden und Wissenschaften und scheuten Anleihen bei anderen psychologischen und philosophischen Ansätzen“ (Ziegler, Robert Hugo: Die Phänomenologie und die Provokation des Unbewussten, in: Husserl Studies 26/2 (2010), 107). Holenstein bemerkt hierzu: „Die direkten Bezüge Husserls auf Freud sind einmal gering an der Zahl und zum zweiten durchgehend marginaler Natur. Bemerkenswerter sind schon gewisse indirekte Beziehungen und zwar über gemeinsame Lehrer wie über gemeinsame Nachfahren. Bei den Lehrern ist hier weniger an Brentano zu denken, den beide in Wien hörten, als an Herbart und seine Schule [...]. Zur eigentlichen Kontaktnahme mit den Entdeckungen der Psychoanalyse kam es erst in der nachhusserlschen Phase der Psychoanalyse, insbesondere in deren französischen Richtung” (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 320). Aus diesem Grund finden sich explizite Hinweise Husserls auf Freud nur sehr selten. Hierzu gehört z.B. Ms. B II 3/16a vom Juni 1934, in dem Husserl seine Überlegungen zum Thema der Triebe als „eine Vordeutung auf die ,Freudsche’ Psychoanalyse – mit ihren eingeklammerten Affekten, ihren ,Verdrängungen’ usw.” bezeichnet, oder das im Rahmen dieser Arbeit bereits zitierte Ms. E III 10, 3. Darüber hinaus – wie wieder Holenstein betont – finden sich „in Husserls Privatbibliothek [...] nur zwei kleine Schriften von S. Freud, seine fünf Vorlesungen von 1909 Ueber Psychoanalyse und seine Selbstdarstellung in der Ausgabe von 1936, beide ohne Lesespuren!“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 321). 472 Das Thema der Berührungspunkte und der Unterschiede zwischen den Anschauungen Husserls und Freuds wird in einer umfangreichen zu einem tieferen Verständnis Literatur thematisiert. Siehe hierzu z.B.: Bernet, Rudolf: Unconscious consciousness in Husserl and Freud, in: Welton, Donn: The new Husserl: a critical reader, Bloomington 2003; Brudzinska, Jagna; Die phänomenologische Erfahrung und die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen im Anschluss an Husserl und Freud, in: Lohmar, Dieter; Fonfara, Dirk (Hrsg.): Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie. Neue Felder der Kooperation: Cognitive Science, Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Religionswissenschaft, Dordrecht 2006; Perreau, Laurent: Phénoménologie husserlienne et métapsychologie freudienne: la pulsion et l’incoscient, in: Alter – Revue de phénoménologie 14 (2006); Serra, Alice Mara: Archäologie des (Un)bewussten. Freuds frühe Untersuchung der Erinnerungsschichtung und Husserls Phänomenologie des Unbewussten, Würzburg 2010; Trincia, Francesco Saverio, Husserl, Freud e il problema dell’inconscio, Brescia 2008; Ziegler, Robert Hugo: Die Phänomenologie und die Provokation des Unbewussten, in: Husserl Studies 26/2 (2010). 121 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich – gerade, weil sie unbewusst sind – jedweder transzendentalen Klärung? Schon dasjenige, was bisher zu Husserls Phänomenologie des Unbewussten hervorgehoben wurde, legt eine erste Antwort nahe, löst aber noch nicht die Problematik dieser Frage auf, die nun besser durch eine kurze Gegenüberstellung mit der psychoanalytischen Methode geklärt werden soll. So scheint genau betrachtet das Thema des Unbewussten eines der größten theoretischen Rätsel der Phänomenologie zu sein („Index d’une énigme“473, wie Merleau-Ponty es mit einem bekannten und wirksamen Ausdruck genannt hat), weil es die Schattenseite jener Subjektivität ist, die sich dank der phänomenologischen Reduktion an sich selbst wenden will. Wie diesbezüglich Bernet betont: Taking its point of departure from this Freudian determination of the connection between the conscious and the Unconscious, a transcendental phenomenology of consciousness is confronted with the task of showing how it is possibile that consciousness can bring to present appearance something unconscious, that is, something foreign or absent to consciousness, without thereby incorporating it into or subordinating it to the conscious present. 474 Es ist zunächst wichtig zu verdeutlichen, dass die Wege Husserls und Freuds – trotz der oben genannten gemeinsamen Brentanoschen Wurzel – etwas gewaltig anderes sind. Der Ansatz Freuds im Blick auf die Tiefen des Ich ist vor allem klinisch und erst danach theoretisch.475 Sein klinischer Ansatz und die daraus folgenden Beobachtungen lassen im übrigen auch in der spekulativeren, mit dem Namen „Methapsychologie“ bezeichneten Phase seines Werkes nicht nach: Das ursprüngliche und hauptsächliche Ziel Freuds ist von vornherein, die Motive der psychischen Störungen oder Krankheiten zu enthüllen sowie Neurosen und Psychosen zu heilen. Bei Husserl fehlt eine ähnliche klinische Erfahrung hingegen ganz und gar. Außerdem muss erwähnt werden, dass die 473 Merleau-Ponty, Maurice: Préface, in: Hesnard, Angélo: L’œvre de Freud et son importance pour le monde moderne, Paris 1960, 9. 474 Bernet, Unconscious consciousness in Husserl and Freud, 329. 475 Dazu betont Bernet nochmals: „Freud’s understanding of the Unconscious is rooted in the clinicalempirical observation of phenomena such as dreams, slips of the tongue and other neurotic symptoms, regressive-infantile types of behaviour in adults, delusions in schizophrenia, etc. Based on this are in Freud’s word also ,metapsychological’ observations that strive for a theoretical determination of the essence of the Unconscious in its relation to consciousness“ (Bernet, Unconscious consciousness in Husserl and Freud, 327). 122 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich ersten Schritte Freuds, welche dem tatsächlichen Beginn der Psychoanalyse vorausgehen, sich im medizinischen und daher physiologischen Gebiet bewegen476, während das Werk Husserls einen vollständig anderen Anfang nimmt. All diese Merkmale machen allerdings eine fruchtbare Gegenüberstellung von Husserl und Freud keineswegs unmöglich, sondern bestimmen vielmehr die methodische Grenze dieser schon lange als interessant und ertragreich angesehenen Konfrontation.477 Ein erster Punkt soll sofort hervorgehoben werden, der direkt in der vorliegenden Arbeit das zentrale Thema der Motivation direkt berührt. Was im ersten Kapitel hinsichtlich der Anerkennung Husserls einer motivationalen Gesetzlichkeit der gesamten Erfahrung und daher auch ihrer passiven und irrationalen Schichten gezeigt wurde, findet einen festen Berührungspunkt mit der Freudschen Psychoanalyse, wie Husserl selbst in einer der sehr seltenen Bezugnahmen mit einem direkten Zitat aus Freuds Passagen erkennt, wenn er schreibt: „Alles Verdeckte, jede verdeckte Geltung fungiert mit assoziativ und apperzeptiv, was die freudsche Methode ermöglicht und voraussetzt.“ 478 Die Bedingung der Existenz der psychoanalytischen Methode ist nämlich die Behauptung, dass auch die scheinbar unwesentlichen Erscheinungen des Ichlebens eine verborgene Bedeutung besitzen, wie die Überlegungen Freuds zur Traumdeutung oder zur Psychopathologie des Alltagslebens deutlich erweisen. Kein Geschehen, so banal oder anscheinend zufällig es auch ist, ergibt sich außerhalb einer 476 Über den Entwicklungsgang Freuds von einer physiologischen zur psychoanalytischen Perspektive schreibt Serra: „Demnach stehen Freud frühe, sogenannte vor-psychoanalytischen Arbeiten ausschließlich auf physiologisch-physikalischer Basis, während die zweite, mit der Traumdeutung (1900) beginnende Phase die systemathische Grundlage für die Psychoanalyse gelegt habe. Diese Neuorientierung Freuds zeigt sich erstmals nach seinem Pariser Aufenthalt 1885/86 bei Charcot, sofern er ab dann aufgehört habe, die Hysterie durch physiologische Gründe oder – wie es in seinem wissenschaftlichen Umfeld üblich war – als ,anatomische Läsion’ aufzuklären, und sie stattdessen psychologisch bzw. metapsychologisch mit den Begriffen ,Vorstellung’ und ,Affekt’ erläutert habe. Mit dieser neuen Perspektive sei in der entstehenden Psychoanalyse die Psychologie anstelle der Anatomie und der Physiologie zu einer ‚nosologischen Alternative’ geworden“ (Serra, Archäologie des (Un)bewussten. Freuds frühe Untersuchung der Erinnerungsschichtung und Husserls Phänomenologie des Unbewussten, 11-12). 477 Hierzu schreibt Jagna Brudzinska: „Berücksichtigt man, dass bei Freud all diese Strukturen und Relationen einen triebhaften Charakter aufweisen und die Psychoanalyse die seelische Entwicklung (und somit die subjektive Genesis) als Geschichte der Triebschicksale begreift [...], könnte die Absicht, die freudschen Thesen mit den Mitteln der Phänomenologie als Bewusstseinsphilosophie anzugehen, Zweifel hervorrufen. Doch eine eingehende Lektüre Husserls zeigt, dass die Phänomenologie als Subjektivitätstheorie für den Dialog mit der Psychoanalyse geradezu prädestiniert ist“ (Brudzinska, Die phänomenologische Erfahrung und die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen im Anschluss an Husserl und Freud, 56). 478 E III 10, 3. 123 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Verflechtung von Sinnzusammenhängen, die sich während einer psychoanalytischen Therapie entdecken lassen. Wie Freud z.B. im Rahmen seiner Überlegungen zur Hysterie betont, ist zunächst ein Kern vorhanden von solchen Erinnerungen (an Erlebnisse oder Gedankengänge), in denen das traumatische Moment gegipfelt oder die pathogene Idee ihrer reinste Ausbildung gefunden hat. Um diesen Kern herum findet man eine oft umglaublich reichliche Menge von anderem Erinnerungsmaterial, das man bei der Analyse durcharbeiten muss. 479 Die psychoanalytische Therapie stützt sich auf die Voraussetzung, dass die Fragen, warum z.B. eine Hysterikerin diese bestimmten Symptome aufweist oder – auf einer alltäglicheren und nicht-pathologischen Ebene – warum ich das geträumt habe, sinnvolle Antworten finden können. Die oben schon erwähnte Psychopathologie des Alltagslebens ist vollständig begründet auf dieser theoretischen Voraussetzung, wie Freud bezüglich des Vergessens von Eigennamen deutlich darlegt: Meine Voraussetzung ist nun, daß diese Verschiebung nicht psychischer Willkür überlassen ist, sondern gesetzmäßige und berechenbare Bahnen einhält. Mit anderen Worten, ich vermute, daß der oder die Ersatznamen in einem aufspürbaren Zusammenhang mit dem gesuchten Namen stehen, und hoffe, wenn es mir gelingt, diesen Zusammenhang nachzuweisen, dann auch Licht über den Hergang des Namenvergessens zu verbreiten. 480 Das Vergessen von Namen fungiert hier natürlich nur als ein Beispiel, das allerdings diese psychoanalytischen Grundlagen beleuchten kann. Wie Ziegler deutlich hervorhebt, stellt „[d]ie Psychoanalyse [...] also als Behauptung auf, dass jedes psychische Phänomen auch einen psychischen Sinn hat, der allerdings häufig erst entdeckt werden muss. Sie bestätigt sich auch in eben dem Maße, in dem ihr diese Entdeckung gelingt.“ 481 479 Freud, Sigmund: Zur Psychotherapie der Hysterie, in: Studien über Hysterie. GW 1: Werke aus den Jahren 1892-1899, Frankfurt a. M. 1977, 291. 480 Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: GW 4, Frankfurt a. M. 1941, 7. 481 Ziegler, Die Phänomenologie und die Provokation des Unbewussten, 112. Hierzu schreibt Holenstein: „Die assoziativen Beziehungen stellen nur eine Begünstigung der Fehlleistung dar. Allein das Sinnmotiv macht die faktische Auswahl unter den vielen möglichen Assoziationen verständlich und die affektive Energie, mit der es besetzt ist, ihre Durchsetzung“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 320). 124 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Eine Passage aus dem zweiten Band der Ideen zeigt sich hier als grundlegend, weil es sich außerdem um einen der seltenen Punkte es handelt, wo Husserl explizit auf die Psychoanalyse Bezug nimmt. Gerade diese Passage bietet jedoch gleichzeitig die Möglichkeit, einige tiefe Differenzen zwischen den Begriffen des Unbewussten bei Husserl und Freud zu erfassen. Den Rahmen dieser Überlegungen Husserls bildet die Analyse des Begriffes der Motivation, und hier insbesondere die „Assoziation als Motivation“, d.h. der sogenannte Kreis der passiven Motivationen, welche Husserl mit den folgenden Worten beschreibt: Motivation von Stellungnahmen durch Stellungnahmen (aktive Thesen durch aktive Thesen), sondern [...] Erlebnissen beliebiger Art, und zwar entweder von solchen, die „Niederschläge“ aus früheren Vernunftakten, Vernunftleistungen sind oder nach „Analogie“ von solchen als apperzeptive Einheiten auftreten, ohne von der Vernunftaktion wirklich gebildet zu sein, oder von solchen, die völlig vernunftlos sind: die Sinnlichkeit, das sich Aufdrängende, Vorgegebene, das Getriebe in der Sphäre der Passivität. 482 In dieser Auflistung kommen Erlebnisse vor, die nicht als bloße Synonyme angesehen werden können. Während nämlich die erstgenannten eine schwächere Bedeutung von passiver Motivation – d.h. als Niederschlag vergangener Vernunftakte, die jetzt nicht mehr lebendig sind – bezeichnen, scheinen die letzteren Ausdrücke etwas adäquater das psychoanalytische Unbewusste anzugeben, besonders wenn Husserl von der völlig vernunftlosen Sinnlichkeit und dem sich aufdrängenden Getriebe spricht. Die Fortsetzung der Passage zeigt den nicht aufhebbaren Abstand zwischen Husserls und Freuds Anschauungen, weil Husserl hier klarstellt: Das einzelne darin ist im dunklen Untergrunde motiviert, hat seine „seelischen Gründe”, nach denen man fragen kann: wie komme ich darauf, was hat mich dazu gebracht? Daß man so fragen kann, charakterisiert alle Motivation überhaupt. Die „Motive“ sind oft tief verborgen, aber durch „Psychoanalyse“ zutage zu fördern. Ein Gedanke „erinnert“ mich an andere Gedanken, ruft ein vergangenes Erlebnis in die Erinnerung zurück usw. In manchen Fällen kann das wahrgenommen werden. In den meisten Fällen aber ist die Motivation zwar im Bewußtsein wirklich vorhanden, aber sie kommt nicht zur Abhebung, sie ist unbemerkt oder unmerklich („unbewußt“).483 482 483 Hua IV, 222. Hua IV, 222-223. 125 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Husserl weist zum einen eine tiefe Übereinstimmung mit der oben genannten psychoanalytischen Voraussetzung der Entdeckbarkeit des verborgenen Sinnes der psychischen Erscheinungen auf, markiert zum anderen aber auch einen grundlegenden Unterschied zur Freudschen Kategorie des Unbewussten. Freud zufolge ist das Unbewusste das zentrale Moment des Seelenlebens und wirkt und drängt sich durch eine gewisse Unabhängigkeit von den Motivationsgesetzen des Bewusstseinslebens auf.484 Eine Passage Freuds von 1913 kann diesen Punkt verdeutlichen, weil er hier behauptet: „Das Unbewußte umfaßt einerseits Akte, die bloß latent, zeitweilig unbewußt sind, sich doch aber sonst von den bewußten in nichts unterscheiden, und andererseits Vorgänge wie die verdrängten, die, wenn sie bewußt würden, sich von den übrigen bewußten aufs grellste abheben müßten.“485 Und kurz darauf gibt er genau an, dass ein psychischer Akt der ersten Art „noch nicht bewußt, wohl aber bewußtseinsfähig [...] [ist], d.h. er kann nun ohne besonderen Widerstand beim Zutreffen gewisser Bedingungen Objekt des Bewusstseins werden. Mit Rücksicht auf diese Bewußtseinsfähigkeit heißen wir das System Bw auch das ,Vorbewußte’.“ 486 Im Gegensatz hierzu ist die zweite Gattung unbewusster Vorgänge das, was Freud eigentlich das Unbewusste (Ubw) nennt. Zusammenfassend kann man Freud zufolge sagen, „daß das System Vbw die Eigenschaften des Systems Bw teilt, und daß die strenge Zensur am Übergang vom Ubw zum Vbw (oder Bw) ihres Amtes waltet.“ 487 Diese Worte Freuds weisen darauf hin, dass der phänomenologische Begriff des Unbewussten – wie es von vielen betont worden ist – sich mehr dem Vorbewussten 484 Hierzu betonen Askay und Farquhar: „Freud’s natural-scientific approach to the unconscious simply presupposed the understanding that only transcendental phenomenology couls offer; the problematic of the unconscious could only be adequately dealt with after the phenomenological analysis of consciousness. Hence, from Husserl’s standpoint, Freud had it reversed: consciousness is not constructed upon and hence a derivative of the unconscious (as with Schopenauer); instead, a proper phenomenological analysis of consciousness provides the genuine grounding for an understandig of various levels of ,unconscious intentionalities’ “ (Askay, Richard; Farquhar, Jensen: Apprehending the inaccessible: Freudian Psychoanalysis and Existential Phenomenology, Evanston 2006, 170). 485 Freud, Sigmund: Das Unbewusste, in: GW 10: Werke aus den Jahren 1913-1915, Frankfurt a. M. 1967, 270. 486 Freud, Das Unbewusste, 270. 487 Freud, Das Unbewusste, 270. 126 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Freuds als dessen Unbewusstem nähert.488 Das, was Husserl das „Unbewusste“ nennt, entspricht einer Kategorie, die auch bei Freud vorhanden ist, aber die in seiner psychoanalytischen Perspektive nur als ein erstes, schwaches und – in gewissem Sinn – uneigentliches „Unbewusstes“ bezeichnet werden kann. In der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse von 1932 gibt Freud an, dass nur in einem deskriptiven, aber nicht eigentlich in einem dynamischen Sinn das Vorbewusste als unbewusst bezeichnet werden kann, und dass wir von einem deskriptiven Standpunkt „einen Vorgang unbewußt heißen, wenn wir annehmen müssen, er sei derzeit aktiviert, obwohl wir derzeit nichts von ihm wissen. Diese Einschränkung läßt uns daran denken, daß die meisten bewußten Vorgänge nur kurze Zeit bewußt sind; sehr bald werden sie latent, können aber leicht wiederum bewußt werden.“ 489 Die dynamische Perspektive leitet etwas Neues ein und ohne sie „hätten wir [...] nicht das Recht erworben, den Begriff eines Unbewußten in die Psychologie einzuführen.“ 490 Zusammenfassend erklärt Freud mit diesen Worten die begriffliche Unterscheidung: Die Berücksichtigung dieser dynamischen Verhältnisse gestattet uns jetzt, zweierlei Unbewußtes zu unterscheiden, eines, das leicht, unter häufig hergestellten Bedingungen, sich in Bewußtes umwandelt, ein anderes, bei dem diese Umsetzung schwer, nur unter erheblichem Müheaufwand, möglicherweise niemals erfolgt. [...] Wir heißen jenes Unbewußte, das nur latent ist und so leicht bewußt wird, das Vorbewußte, behalten die Bezeichnung „unbewußt“ dem anderen vor. 491 488 Ricoeur behauptet hierzu, dass „[l]‘inconscient de la phénoménologie, c’est le preconscient de la psychoanalyse, c’est-à-dire un inconscient descriptiv et non encore topique“ (Ricoeur, Paul: L’interprétation. Essai sur Freud, Paris 1965, 382). Ebenso schreibt Holenstein: „Was hier unbewusst genannt wird, sind Konstitutionsprozesse, die vor der ichlichen Erfassung und der gegenständlichen und sinnstiftenden Auffassung liegen. Es handelt sich dabei, wie bei den meistens als phänomenologische Unbewusstheiten angeführten Tatsachen des unthematisierten Horizontes und der vorreflektiv fungierenden Intentionalität jedes aktuellen Bewusstseinserlebnisses um Phänomene, welche die Psychoanalyse als ‚vorbewusst’ einstuft“ (Holenstein, Phänomenologie der Assoziation, 320). Desgleichen betont diesbezüglich Trincia: „Di qui prende le mosse il passo indietro di Husserl nei confronti della massima vicinanza appena raggiunta rispetto a Freud. Da questo momento, l’inconscio husserliano tende a presentarsi nei panni del preconscio freudiano. Catturato nel meccanismo temporale del ,ricordare’, esso tende a fondarsi sull’equivalenza della motivazione ,oscura’ e della lontananza temporale, che distanzia il contenuto del vissuto dal centro dell’attenzione e lo relega nell’ambito di ciò che resta ,inavvertito’ “ (Trincia, Francesco Saverio: Husserl, Freud e il problema dell’inconscio, Brescia 2008, 86-87). 489 Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: GW 15, Frankfurt a. M. 1969, 77. 490 Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 77. 491 Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 77-78. 127 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Wie Ziegler deutlich hervorhebt, ist das Unbewusste in der psychoanalytischen Perspektive „eben das, was als solches, d.h. als Unbewusstes niemals ganz bewusst werden kann, das aber das Bewusste dennoch bestimmt, das sich in ihm ausdrückt [...]. So muss, für die Phänomenologie undenkbar, ein selbst nicht Gegebenes durchgehend für die Erklärung des allein Gegebenen herangezogen werden.“ 492 Für die Phänomenologie gilt eher das Gegenteil: Das „allein Gegebene“, und zwar das Bewusstsein, seine Wesensstrukturen und seine anschaulichen Gegebenheitsmodi, bilden den einzigen Weg, um auch das nicht direkt erscheinende Seelenleben zu erfassen. So schreibt Husserl bezüglich der Unterstufe der Passivität: Es liegt in der Natur der Sachlagen, dass man von diesen Unterstufen nur sprechen kann, wenn man schon das fertig und aktiv Konstituierte vor Augen hat, und wenn man von der Aktivität abstrahiert, so ist sie zunächst unvermeidlich eine wesensmäßig noch unbestimmte, so dass erst die nachkommende Untersuchung der höheren Stufe auch für (die) untere Reinheit des Verständnisses ihrer Leistung geben kann. 493 Wenn Husserl von passiven oder irrationalen Motivationen spricht, folgt daraus keineswegs ein völliger Bruch mit den Vernunftmotivationen. Besser gesagt, Vernunftmotivationen besitzen eine rationale und willentliche Eigentümlichkeit, die in unbekannter Form der instinktiven und unbewussten Sphäre zugehört, aber es handelt sich nicht um zwei verschiedene Welten, sondern um zwei Dimensionen, die einen beständigen Sinnzusammenhang aufweisen. Das Bewusste und seine bewussten Motivationen bilden also das zentrale Moment der Husserlschen Vorstellung des Seelenlebens und stellen den Schlüssel dar, um das Unbewusste zu erfassen und wiederzuerwecken. Es ist bedeutsam, dass Husserl am Ende des besagten Zitats aus den Ideen II die Begriffe „unbemerkt“ und „unmerklich“ als Synonyme für „unbewusst“ vorschlägt: Das Wiedererlangen der im Unbewussten versunkenen Zusammenhänge und Erlebnisse ergibt sich als ein Zurückverfolgen der vergangenen, aber noch lebendigen Sedimentierungen. Wie Husserl in seinen Analysen zur passiven Synthesis deutlich hervorhebt, ist „[j]edes gewesene Erlebnis [...] gewesen: 492 493 Ziegler, Die Phänomenologie und die Provokation des Unbewussten, 110. Hua XXXI, 3. 128 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich an sich. Aber doch für das Ich, nämlich so, daß es für das Ich ein vorhandenes, ein wahrhaft seiendes, ein erkennbares ist. Wäre dem nicht so, so wäre von einem Bewußtseinsstrom überhaupt nicht zu reden.“ 494 Kurz danach fügt er hinzu, dass „in jedem Fall, und schon in der Passivität [...], doch all das bereit [ist], was die Leistung des aktiven Ich ermöglicht, und es steht unter den festen Wesensgesetzen, nach denen die Möglichkeit dieser Leistung verständlich werden kann.“ 495 Im psychoanalytischen Ansatz Freuds verhält es sich dagegen anders, wie Serra hervorhebt: In seiner Theorie der Erinnerungsschichten geht Freud [...] zunächst nicht von der Untersuchung der psychischen Phänomene schlechthin aus, so dass daher die zugrunde liegenden Konstitutionsschichten untersucht werden. Dies ist der von Husserl bevorzugte Weg. Freud wendet sich hingegen zunächst der Untersuchung der dem Bewusstsein unzugänglichen Vorgänge zu. 496 Freud beobachtet nämlich, dass „[m]an [...] sich dann auf den Standpunkt stellen [muss], es sei nichts anderes als eine unhaltbare Anmaßung, zu fordern, daß alles, was im Seelischen vorgeht, auch dem Bewußtsein bekannt werden müsse.“497 Diese in letzter Konsequenz wesentliche Unzugänglichkeit des Unbewussten bei Freud bezeichnet den radikalsten Unterschied zum phänomenologischen Ansatz Husserls.498 Freud schreibt nämlich in Triebe und Triebschicksale von 1915: „Da das Studium des Trieblebens vom Bewußtsein her kaum übersteigbare Schwierigkeiten bietet, bleibt die 494 Hua XI, 208. Hua XI, 209. Hierzu bemerkt Perreau: „L’inconscient phénoménologique apparaît donc comme une possibilité intime de la conscience. De ce point de vue, les réflexions husserliennes ont le mérite de suggérer une conception psychoanalytique des rapports entre le conscient et l’inconscient qui ne les pense plus en termes d’opposition tranchée entre deux instances de la vie psychique du sujet. Husserl disqualifie ainsi la conceptualisation psychoanalytique de l’inconscient qui est bien la plus discutable, celle qui apparaît au cours de la détermination topique des différents lieux de la vie psychique“ (Perreau, Phénoménologie husserlienne et metapsychologie freudienne: la pulsion et l’inconscient, 28-29). 496 Serra, Archäologie des (Un)bewussten. Freuds frühe Untersuchung der Erinnerungsschichtung und Husserls Phänomenologie des Unbewussten, 180. 497 Freud, Das Unbewusste, 265. 498 Hierzu schreibt Bernet: „Thus a phenomenological understanding of the phenomena of the Unconscious analysed by Freud implies a critique of every attempt to determine the Unconscious in total independence from consciousness or as its hidden origin“ (Bernet, Unconscious consciousness in Husserl and Freud, 348). 495 129 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich psychoanalytische Erforschung der Seelenstörung die Hauptquelle unserer Kenntnis.“ 499 Diese Behauptung erweist sich als äußerst wichtig, weil sie das Wesen des psychoanalytischen Ausgangspunktes zeigt: Obwohl Freud in Das Unbewusste erkennt, dass „dabei die Bewusstheit nicht umgehen [kann], da sie den Ausgangspunkt aller unserer Untersuchungen bildet“ 500, schreibt er in eben demselben Werk, dass „die Daten des Bewußtseins in hohem Grade lückenhaft sind; sowohl bei Gesunden als bei Kranken kommen häufig psychische Akte vor, welche zu ihrer Erklärung andere Akte voraussetzen, für die aber das Bewußtsein nicht zeugt.“ 501 Mit anderen Worten: Auch nach Freud stellt das Bewusstsein den verbindlichen Zugang zum Unbewussten dar, aber es handelt sich hier nicht um das Bewusstsein selbst, sondern um seinen Mangel, seine „Lücke“. Dies impliziert eine wesentliche Distanz zwischen Bewusstem und Unbewusstem und die jeweilige Anerkennung zweier verschiedener Wirkungsebenen. Husserl selbst bestätigt mit dem Ausdruck „Vor-Ich“ 502 die Existenz einer genetischen Vorstufe des Bewusstseins, die jene ursprünglich triebhafte Passivität bezeichnet, welche der Konstitution der Vernunftakte des Ich vorangeht. Wie Nam-In Lee deutlich erklärt, handelt es sich um „das blinde Ausstrahlungszentrum der ursprünglichen Instinkte.“503 Es ist die Aufgabe der genetischen Phänomenologie, diese transzendentale Stufe des Ich hervorzuheben und zu rekonstruieren.504 Gerade diese Aufgabe wird von Husserl immer weiter verfolgt und eingehend untersucht: Das Ergebnis des genetisch-phänomenologischen Weges ist der Begriff der Triebintentionalität, d.h. des „Gedanken[s] der ursprünglichsten Intentionalität“ 505, den 499 Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale, in: GW 10: Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt a. M. 1967, 270. 500 Freud, Das Unbewusste, 271. 501 Freud, Das Unbewusste, 265. 502 Siehe hierzu: Taguchi, Shigeru: Das Problem des ,Ur-Ich’ bei Edmund Husserl, Dordrecht 2006, 116-122; Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 214-218. Beide heben die Eigentümlichkeit des Begriffs des Vor-Ich gegenüber dem vom Ur-Ich als „Urboden aller Geltungen“ hervor. 503 Lee, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, 214. 504 Hierzu schreibt Taguchi, dass „das Vor-Ich für mich als Phänomenologisierenden in einer weiteren ,Ferne’ [liegt], da es um eine vergangene Vorstufe geht, in der ich noch nicht dieses Ich bin, die aber in meiner Geschichte des Bewußtseins tief verborgen ist. Das Vor-Ich muß erst rekonstruiert werden“ (Taguchi, Das Problem des ,Ur-Ich’ bei Edmund Husserl, 119). 505 Yamaguchi, Ichiro: Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, Den Haag 1982, 35. Yamaguchi zeigt auf den folgenden Seiten außerdem, dass der Begriff der Triebintentionalität – wenn auch ohne diese Benennung – eine wichtige Quelle in den Überlegungen zur passiven Synthesis hat. 130 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Husserl besonders in den dreißiger Jahren ausarbeitet.506 Obwohl die letzen Analysen Husserls zu diesen Themen kompliziert und aus terminologischer Sicht ungenau scheinen, ist zu bemerken, dass sich für ihn auch in der vorichlichen Stufe keine Ichlosigkeit zeigt. Wie Taguchi betont, ist „[d]ie passive Intentionalität [...] zwar nicht im spezifischen Sinne ‚ichlich’, setzt aber die Zentrierung des Ich bereits voraus.“ 507 Es ist eben das Wesen der phänomenologischen Methode, das es dagegen unmöglich macht, das Unbewusste als etwas völlig anderes als das Bewusstsein zu denken. „Will man das Unbewusste“ – so schreibt Brudzinska – „im Rahmen der Phänomenologie zum Thema machen, muss man also zuerst die Möglichkeiten seiner – sozusagen – Phänomenologisierung befragen.“ 508 Einer der wichtigsten Vertreter dieser Phänomenologisierung des Unbewussten ist sicherlich Eugen Fink, der in der sogenannten „Finks Beilage zum Problem des ,Unbewußten’“ 509 diese problematische Thematik behandelt. Fink präzisiert sogleich die theoretische und methodische 506 Die Texte über Intersubjektivität, die Husserl in den dreißiger Jahren geschrieben hat und die im 15. Band der Husserliana veröffentlicht wurden, stellen den hauptsächlichen Bezugspunkt dar, um den Begriff der Triebintentionalität zu erfassen. Hier schreibt Husserl nämlich: „Das Ich als spezifisches Subjekt der instinktiven Triebe (als Triebhabitualitäten), der durch alle lebendige Gegenwart hindurchgehenden Triebintentionalitäten“ (Hua XV, 148). „Indessen ist die Frage, ob nicht, und notwendig, Triebintentionalität, auch die auf Andere (geschlechtlich-sozial) gerichtete, eine Vorstufe hat, die vor einer ausgebildeten Weltkonstitution liegt — mag die Weltkonstitution auch nicht so weit reichen wie für den Menschen als ‚Vernunftwesen’. Ich denke hier an die Probleme Eltern, oder vor allem, Mutter und Kind, die aber auch im Zusammenhang der Kopulationsproblematik erwachsen. Die Primordialität ist ein Triebsystem. [...] Dürfen oder müssen wir nicht eine universale Triebintentionalität voraussetzen, die jede urtümliche Gegenwart als stehende Zeitigung einheitlich ausmacht und konkret von Gegenwart zu Gegenwart forttreibt derart, dass aller Inhalt Inhalt von Trieberfüllung ist und vor dem Ziel intendiert ist, und dabei auch so, dass in jeder primordialen Gegenwart transzendierende Triebe höherer Stufe in jede andere Gegenwart hineinreichen und alle miteinander als Monaden verbinden, während alle ineinander impliziert sind — intentional?“ (Hua XV, 594-595). 507 Taguchi, Das Problem des ,Ur-Ich’ bei Edmund Husserl, 117. In dem genannten Text über Triebintentionalität aus dem 15. Band fügt Husserl hinzu: „Die Rückfrage und Rekonstruktion führt auf die ständige Zentrierung durch den Ichpol jeder Primordialität, der ständig Pol bleibt in ständigem Gang der Objektivation, in der auf der weltlichen Seite das objektivierte Ich mit seinem Leib steht.“ (Hua XV, 595) 508 Brudzinska, Die phänomenologische Erfahrung und die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen im Anschluss an Husserl und Freud, 56. In Richtung einer Phänomenologisierung der Psychoanalyse geht die interessante Arbeit von Bernet. Er will zeigen, dass schon die Husserlsche Analyse der anschaulichen Vergegenwärtigung bei Wiedererinnerung und Phantasie ein Weg zum Unbewussten ist, weil sie die Möglichkeit des Bewusstseins, etwas Unbewusstes zur Erscheinung zu bringen, darstellt. Er behauptet nämlich: „Taking its point of departure from this Freudian determination of connection between the conscious and the Unconscious,a transcendental phenomenology of consciousness is confronted with the task of showing how it is possible that consciousness can bring to present appearance something unconscious, that is, somethig foreign or absent to consciousness, without thereby incorporating it into or subordinating it to the conscious present“ (Bernet, Unconscious consciousness in Husserl and Freud, 329). 509 Fink, Eugen: Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, in: Hua VI, 473-475. 131 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Voraussetzung seiner Überlegungen und schreibt dann: „Die unter dem Titel des ,Unbewußten’ sich meldenden Probleme sind in ihrem eigentlichen Problemcharakter erst zu begreifen und methodisch zureichend zu exponieren nach der vorgängigen Analytik der ‚Bewußtheit’.“510 Eine „Beleuchtung des erfahrungstheoretischen Sinns des Unbewussten“ 511 setzt nach Fink also notwendig eine Analyse des Bewusstseins voraus. Fink ist sich der möglichen Einsprüche bewusst, denen ein solcher Ansatz begegnen kann, und schreibt hierzu: Man wird schnell mit dem Einwand bei der Hand sein daß die Ansetzung der Problematik des „Unbewußten“ als einer intentionalen von vornherein schon ein fragwürdiges methodisches Präjudiz sei, gleichsam den Versuch darstelle, das „Un-Bewußte“ mit den methodischen Mitteln des Verstehens von Bewußtsein zu interpretieren. Hat man damit denn nicht eine Vorentscheidung getroffen derart, daß das Unbewußte irgendwie verdunkeltes Bewußtsein, aufweckbar es Bewußtsein, Vorstufe oder Nachgestalt des Bewußtseins sei, also letzten Endes auf Bewußtsein zurückleitbar? Hat man damit nicht hinsichtlich des Lebens der Subjektivität die vorgefaßte Meinung, daß Leben und Bewußtsein dasselbe sei? 512 Solche Einwände sind nach Fink allerdings Ergebnisse „einer prinzipiellen philosophischen Naivität“, die das Fundament von „auf dem Untergrund einer undurchsichtigen Empirie entworfenen ,mythischen’ Theorien über das (in den Phänomenen des ,Unbewußten’ sich anzeigende) eigentliche Wesen des Lebens, sei es den naturalistischen Mechanismus der ‚libido’ oder sonst eine ,Dynamik’ der Triebe und Instinkte”513 bildet. Der Ausdruck „ ,mythischen’ Theorien“ erinnert unweigerlich an eine bekannte Passage aus den Neuen Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Freuds, in denen er feststellt: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nicht 510 Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 473. Brudzinska, Die phänomenologische Erfahrung und die Frage nach dem Unbewussten. Überlegungen im Anschluss an Husserl und Freud, 55. 512 Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 473. 513 Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 474. 511 132 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich sicher, sie scharf zu sehen.“ 514 Eine solche Behauptung ist in der Perspektive Finks gerade gekennzeichnet von einer theoretischen Naivität, die in Folgendem besteht: Man glaubt immer schon zu kennen, was das „Bewußte“, das Bewußtsein ist, und entschlägt sich der Aufgabe, zuvor den Begriff, gegen den alle Wissenschaft vom Unbewußten ihr Thema immer abgrenzen muß, eben den des Bewußtseins, zu einem vorgangigen Thema zu machen. Weil man aber nicht weiß, was Bewußtsein ist, verfehlt man prinzipiell den Ansatz einer Wissenschaft von „Unbewußten“.515 Mit den Worten von Perreau kann verdeutlicht werden, dass in einer phänomenologischen Perspektive „l’inconscient [...] participe essentiellement de notre vie psychique, non comme un ,néant totalement mystérieux’, mais bien comme cette autre part de nous-mêmes, où gît une pulsionnalité transcendentale qui n’œuvre pas encore avec suffisamment de force pour qu’on puisse la déceler.“ 516 Fink zufolge ist das Bewusstsein „uns gewissermaßen das Nächste“517, weshalb man in den Irrtum verfallen könnte, es als selbstverständlich vorauszusetzen, als ob es etwas schon Bekanntes und Überschaubares wäre. Das Ziel der Phänomenologie und insbesondere der phänomenologischen Reduktion ist es gerade, diese angebliche Selbstverständlichkeit aufzudecken, um die transzendentalen Bewusstseinsstrukturen hervortreten zu lassen und sie sowie ihre Gegebenheitsmodi zu beschreiben. Die Überschreitung dieser „fast unausrottbare[n] Naivität“ 518 stellt den ersten notwendigen Schritt jedes Ansatzes zur Frage nach dem Wesen des Bewusstseins und des Unbewussten dar, wie Fink nachdrücklich feststellt: Die intentionale Analytik der Phänomenologie aber zerstört den Schein „unmittelbarer Gegebenheit des Bewußtseins“ und führt in eine neuartige und schwer durchzuhaltende Wissenschaft hinein, in der man allmählich erst sehen und begreifen lernt, was Bewußtsein ist. Und wenn man auf den langen Wegen intentionaler Analytik sich zu einem Verständnis des „Bewußtseins“ durchgearbeitet hat, kann man die Problematik des Unbewußten nie 514 Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 101. Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 474. 516 Perreau, Phénoménologie husserlienne et metapsychologie freudienne: la pulsion et l’inconscient, 14. 517 Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 474. 518 Hua VI, 82. 515 133 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich mehr in der Naivität exponieren wollen, die mit Bewußtsein und Unbewußtem umgeht wie mit alltäglich bekannten Dingen. 519 Wie Perreau klar zusammenfasst, „la phénoménologie [...] est ici envisagée comme une possible contribution positive à la théorisation de l’inconscient, et à vrai dire, aux yeux de Fink, comme la seule véritablement possible.”520 Durch diese kurze Gegenüberstellung zwischen den Positionen Husserls und Freuds ist noch einmal deutlich geworden, dass die wirkliche Potentialität, die unbewussten Motivationen jeder Handlung wieder wirksam und verstehbar werden zu lassen, das eigentliche Merkmal eines phänomenologischen Ansatzes zum Rätsel des Unbewussten ist. Aus diesem Grund verdient dieser Punkt im Folgenden eine größere Aufmerksamkeit. 3.4 Die Möglichkeit der Weckung Eine Feststellung Husserls aus den Cartesianischen Meditationen bestätigt die erkannte Eigentümlichkeit des Unbewussten aus phänomenologischer Perspektive, d.h. die Möglichkeit der Weckung von versunkenen Erlebnissen. Husserl schreibt hier nämlich: Vernunft und Unvernunft, im weitesten Sinn verstanden, bezeichnen keine zufälligfaktischen Vermögen und Tatsachen, sondern gehören zur allgemeinsten Strukturform der transzendentalen Subjektivität überhaupt. [...] Jedes vage, leere, unklare Bewußtsein ist von vornherein nur Bewußtsein von dem und dem, sofern es auf einen Weg der Klärung verweist, indem das Vermeinte als Wirklichkeit oder als Möglichkeit gegeben wäre. Jedes vage Bewußtsein kann ich befragen, wie sein Gegenstand aussehen müßte. 521 Diese Möglichkeit, jedes eigene Bewusstseinserlebnis zu befragen, gehört strukturell zur transzendentalen Subjektivität und bildet die Voraussetzung für die Ablehnung, die passive Dimension des Lebens des Ich als ein unzugängliches Reich zu erachten. Der unausgesetzte Prozess der Sedimentierung all dessen, was einst lebendig und bewusst 519 Fink, Finks Beilage zum Problem des „Unbewußten“, 474. Perreau, Phénoménologie husserlienne et metapsychologie freudienne: la pulsion et l’inconscient, 14. 521 Hua I, 22. 520 134 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich gewesen ist, führt dazu, – wie bereits betont worden ist – dass „die retentionale synthetische Linie [...] in das allgemeinsame Null der Unterschiedslosigkeit [sich verliert]. Und doch, in der Kontinuität dieses Prozess hat der Sinn sich identisch erhalten, er hat sich nur verhüllt, er ist aus explizitem Sinn zu einem impliziten geworden.“522 Da dieses Versinken fortwährend geschieht, entsteht eine Gradualität zwischen den Niederschlägen, die mehr oder weniger verborgen im Unbewussten liegen können. Diesbezüglich unterscheidet Husserl zwischen Naherinnerungen und Fernerinnerungen, und zwar „zwischen Wiedererinnerungen, die geweckt sind durch die noch urlebendige [...] Retention“ und „Wiedererinnerungen, <die> [...] in den retentionalen Fernhorizont hineingreifen.“ 523 Die Fernerinnerungen sind jene, die das Problem der Weckung des Unbewussten direkter betreffen, weil sie „nicht in dem unmittelbaren Gegenwartsbereich ihre retentionale Anknüpfung haben, vielmehr eine ferne, längst versunkene Bewußtseinsvergangenheit wiederaufleben lassen“ 524. Für sie ist daher der Terminus Wiedererinnerung nicht ganz passend, weil es für diese tiefe Stufe der Sedimentierung keine Möglichkeit gibt, sie wieder anschaulich zu vergegenwärtigen: Es handelt sich eher um die Möglichkeit der Weckung unbewusster Erinnerungen. Hier muss noch einmal betont werden, dass gerade die Weckung des Unbewussten jene Aufgabe darstellt, welche Husserl der Psychoanalyse zuerkennt.525 Die Erlebnisse „versinken in den unterschiedslosen, gleichsam leblos gewordenen allgemeinen Horizont der Vergessenheiten – wenn nicht assoziative Weckung statthat.“ 526 Die Möglichkeitsbedingung der Weckung ist die Assoziationssynthese. Wie im ersten Kapitel schon hervorgehoben wurde, besitzen die passiven Assoziationen eine Motivationsgesetzlichkeit und stellen das unbemerkte Gewebe der Erfahrung selbst dar. 522 Hua XI, 174. Hua XI, 112. 524 Hua XI,114. 525 Vgl. Hua IV, 222. 526 Hua XI, 80. Siehe hierzu auch Hua XI, 78: „Es geht also eine assoziative Weckung von der Gegenwart aus auf eine retentionale Vergangenheit [...]. Ebenso kann aus dem Reich der scheinbar zu nichts gewordenen Vergessenheiten, aus dem fernen Horizont, in den schließlich alle Retentionen versinken, eine der alten, unlebendigen, nicht mehr abgehobenen Retentionen gewissermaßen wieder geweckt werden, wobei sie zunächst die Gestalt einer abgehobenen leeren Retention annimmt und annehmen muß.“ 523 135 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Die Assoziation motiviert die Weckung und ermöglicht damit die Rückgewinnung des scheinbar Verlorenen. Husserl spricht diesbezüglich von „weckende[m] Bewußtsein“: „Das Gegenwärtige erinnert an das Vergangene. Ebenso kann, während eine Wiedererinnerung abläuft, eine zweite Wiedererinnerung auftreten, mit ihr in dem Zusammenhang, der sich noematisch darin charakterisiert, dass der erste erinnerte Vorgang an den zweiten erinnerten erinnert.“ 527 Wie diese letzte Bemerkung Husserls deutlich verstehen lässt, ist die Bedingung der Weckung eine „Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Weckendem und Gewecktem.“ 528 Das Wiederauftauchen auch von versunkener Bewusstseinsvergangenheit ist möglich [...] denn unter Vermittlung einer Ähnlichkeitsweckung. Man sieht dann, daß hier sicher Wesensgesetze walten. Jede Weckung geht von einer impressionalen oder schon unanschaulich oder anschaulich reproduzierten Gegenwart auf eine andere reproduktive Gegenwart. Diese Beziehung oder, wie wir sogleich sagen können, diese Synthese setzt ein „Brückenglied“ voraus, ein Ähnliches; von da aus wölbt sich die Brücke als eine spezielle Synthese durch Ähnlichkeit. Dadurch vermittelt, tritt eine Gegenwart mit einer anderen vergangenen Gegenwart, korrelativ ein volles Gegenwartsbewußtsein mit einem anderen, versunkenen in eine universale Synthese, die den Rahmen abgibt für besondere Weckungssynthesen und besondere Reproduktionen.529 Serra bemerkt dazu, dass diese Bewusstseinsdynamik, die Husserl beschreibt, „zur Erklärung der freudschen Fehlleistung grundsätzlich bei[trägt] [...]. Jedes Moment einer Vergegenwärtigung kann Momente anderer vorheriger Wahrnehmungen oder Erinnerungsakte dadurch assoziativ wecken, dass sie einmal in einem bereits vollzogenen Akt mitbewusst waren.“ 530 Alle alltäglichen Vergesslichkeiten und Fehlleistungen sind in der Freudschen Perspektive Beweise dieser beständig mitfungierenden weckenden Assoziation, die trotz der Hemmung oder Verdrängung des bewussten Ich wirkt. Einen unüberwindbaren Unterschied zwischen ihren Positionen 527 Hua XI, 118. Hua XI, 123. 529 Hua XI, 123. 530 Serra, Archäologie des (Un)bewussten. Freuds frühe Untersuchung der Erinnerungsschichtung und Husserls Phänomenologie des Unbewussten, 205. 528 136 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich markiert dennoch, dass Husserl zufolge nichts Unbewusstes – im Gegensatz zu Freud – eine totale Unzugänglichkeit und daher Unverständlichkeit besitzt.531 § 4. Die bleibenden Meinungen und die transzendentalen Habitualitäten In der Behandlung des Themas der retentional versunkenen Sedimentierungen und ihrer Wirksamkeit und Beeinflussung des aktuellen Lebens des Ich wurde bereits ein Punkt hervorgehoben, der im Folgenden besondere Aufmerksamkeit verdient: Es handelt sich um die niedergeschlagene „Geschichte“ des Ich, ihre Bedingungen, ihre transzendentale Dynamik sowie ihre theoretischen Implikationen für die gesamte Husserlsche Auffassung der Subjektivität. In den Analysen zur passiven Synthesis findet man eine Äußerung, die dieses Thema zweckmäßig einleiten kann: Der Leitgedanke ist: Nichts kann in einem Bewußtseinsstrom bzw. seinem Ich bewußt werden, ohne daß dieses Bewußtsein nach Wesensgesetzen, also nach schlechthin unaufhebbaren Gesetzen und aus seinem Material hyletischer Bestände die entsprechende intentionale Genesis vollbracht hat, deren Ausschlag das betreffende retentionale System ist, in welchem die Vorbedingungen für das Ansich eines so gearteten Typus intentionaler Objektivität und für seine Normierung liegen. Bewusstsein ist ein unaufhörliches Werden. Aber es ist nicht eine bloße Aufeinanderfolge von Erlebnissen, ein Fluß, wie man sich einen objektiven Fluß denkt. Bewusstsein ist ein unaufhörliches Werden als ein unaufhörliches Konstituieren von Objektivitäten in einem unaufhörlichen progressus der Stufenfolge. Es ist eine nie abbrechende Geschichte. Und Geschichte ist ein stufenweises, von einer immanenten Teleologie durchherrschtes Konstituieren immer höherer Sinngebilde. 532 Was hier von Husserl beschrieben wird, ist der sich immerfort entwickelnde Charakter des vom genetischen Standpunkt betrachteten Bewusstseins: Es zeigt sich 531 Hierzu schreibt Nathalie Depraz: „[L]’inconscient n’a pas le même sens pour l’un et pour l’autre: Husserl comprend l’inconscient comem un pré-conscient, un irréfléchi qui peut toujours se meur en préréflechi, ce qui donne un accés possible aux zones inconscientes de notre conscience, par une réactivation possible qui correspond à une dynamique d’avènement à la conscience; Freud voit au contraire dans l’inconscient un noyau d’opacité irréductible, qui ressortit en dernière instance à cette part de déterminisme mécanique foncier en nous“ (Depraz, Nathalie: Pulsion, Instinct, Desir. Que signifie Trieb chez Husserl? – à l’epreuve des perspectives de Freud, Merleau-Ponty, Jonas et Scheler-, in Alter – Revue de phenomenologie 9 (2001), 117). 532 Hua XI, 218-219 (Meine Hervorhebung). 137 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich nämlich als ein unaufhörliches Werden, d.h. als eine progressive, stufenweise sich durch das Zeitströmen vollziehende Geschichte, in der sich alles bis zur unterschiedslosen Nullsphäre niederschlägt. Der transzendentale Fluss von Urimpression, Retention und Protention – wie am Anfang des Kapitels bereits betont worden ist – stellt eben die Bedingung der Geschichte als Horizont und strukturelle Dynamik des Bewusstseinslebens dar. Die Aufgabe ist es jetzt, eine genetische Perspektive einzunehmen, um das Wesen und die Rolle dieses nie abbrechenden Werdens in der Bildung des aktuellen Bewusstseins zu untersuchen. Der § 29 des zweiten Bandes der Ideen, dessen Titel „Konstitution von Einheiten innerhalb der immanenten Sphäre. Die bleibenden Meinungen als Niederschläge im reinen Ich“ ist, kann als einer der bedeutungsvollen Anhaltspunkte solcher Untersuchung herausgestellt werden, um das Thema danach durch andere Stellen des Husserlschen Werkes zu vertiefen. Die genannten Seiten aus den Ideen II bieten die Gelegenheit, einen wesentlichen Punkt herauszugreifen: Die Dynamik des fortschreitenden Versinkens des Bewusstseinslebens, sein progressives UnbewusstWerden und die beständige Wirksamkeit der unbewussten Stufen, die nie „durchgestrichen“ werden können, auch wenn ihre Motivationskraft fast unmerklich geworden ist – all diese Momente sind keine bloß empirischen oder psychologischen Kennzeichnungen des realen Ich, sondern haben einen transzendentalen Charakter. Es handelt sich deshalb nicht um etwas Kontingentes oder Nebensächliches, das nur das empirische Ich betrifft, sondern um etwas, das mit den transzendentalen Möglichkeitsbedingungen des Ich zu tun hat. Der genannte Paragraph nimmt hierzu eine zentrale Stellung ein, weil Husserl darin „eine Wesensgesetzmäßigkeit des reinen Ich“533 darlegen möchte, die folgendermaßen lautet: [J]ede „Meinung” [ist] eine Stiftung [...], die solange Besitz des Subjekts bleibt, als nicht Motivationen in ihm auftreten, die eine „Änderung“ der Stellungnahme, eine Dahingabe der alten Meinung, bzw. hinsichtlich ihrer Komponenten eine partielle Preisgabe, hinsichtlich der ganzen eine Veränderung fordern. Jede Meinung eines und desselben Ich 533 Hua IV, 112. 138 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich verbleibt notwendig in der Kette von Wiedererinnerungen, solange sie nicht auf Motive hin durchgestrichen wird. 534 Was meint Husserl mit dem Ausdruck „Meinung“ bzw. mit den „,bleibenden Meinungen’ eines und desselben Subjekts“535? Der Ausdruck bezieht sich auf „gewisse Einheitsbildungen“, die „[i]nnerhalb eines monadischen absoluten Bewußtseinsstromes [auf]treten [...], die aber von der intentionalen Einheit des realen Ich und seiner Eigenschaften durchaus verschieden sind.“ 536 Husserl betont mehrfach, dass solche Meinungen das rein transzendentale Ich betreffen, weshalb sie keine empirische oder psychologische Geltung haben und führt dies konkret aus: „Man kann sie in gewissem Sinn ,habituelle’ nennen, es handelt sich aber nicht um einen gewohnheitsmäßigen Habitus, als ob das empirische Subjekt reale Dispositionen, die da gewohnheitsmäßige heißen, gewinnen würde. Der Habitus, um den es sich hier handelt, gehört nicht zum empirischen, sondern zum reinen Ich.“ 537 Dieses Wesensgesetz hat zum Gegenstand die Konstitution der Identität des Ich und ihre Möglichkeitsbedingungen, wie Husserl im Folgenden näher ausführt: Die Identität des reinen Ich liegt nicht nur darin, daß ich (wieder das reine Ich) im Hinblick auf jedes cogito mich als das identische Ich des cogito erfassen kann, vielmehr: ich bin auch darin und a priori das selbe Ich, sofern ich in meinen Stellungnahmen notwendig Konsequenz übe in einem bestimmten Sinn; jede „neue“ Stellungnahme stiftet eine bleibende „Meinung“, bzw. ein Thema [...], so daß ich von nun ab, so oft ich mich als denselben erfasse, der ich früher war, oder als denselben, der jetzt ist und früher war, auch meine Themata festhalte, sie als aktuelle Themata übernehme, so wie ich sie früher gesetzt habe. 538 Diese Ausführungen verweisen auf das Thema der Motivation, weil man Husserl zufolge Themata nur aufgrund von bestimmten Motiven setzt (Husserl betont eben, dass die „Motivlosigkeit [...] als Nullfall der Motivation genommen [wird]“)539: Die Motivationszusammenhänge zeigen sich noch einmal als das, was jede Icherfahrung 534 Hua IV, 113. Hua IV, 111. 536 Hua IV, 111. 537 Hua IV, 111. 538 Hua IV, 111-112 (Meine Hervorhebung). 539 Hua IV, 112. 535 139 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich strukturiert und bewegt. Die Konstitution der Identität des Ich und ihre Entwicklung sind immer wieder motiviert und zudem hält Husserl fest: Bin ich derselbe, der ich bin, so kann die Stellungnahme nicht anders als „bleiben“ und ich bei ihr bleiben, ich kann eine Änderung nur dadurch vollziehen, daß die Motive andere werden. [...] Ich kann mir [...] nur dadurch in meiner Stellungnahme „untreu“ werden, ich kann nur dadurch „inkonsequent” werden, daß ich eben ein anderer geworden bin, insofern ich anderen Motivationen unterliege. In Wahrheit bin ich mir aber nicht untreu, ich bin immerfort derselbe, aber im wechselnden Strom der Erlebnisse, in denen öfter neue Motive sich konstituieren. 540 Die Identität des Ich bildet sich also durch eine gewisse den Motivationszusammenhängen zugrunde liegende Folgerichtigkeit, so dass ich mich im Weiterbestehen oder Ändern der sich vorstellenden Motive und meiner entsprechenden Stellungnahmen wandle, aber letztlich immerfort derselbe bin: „Schon darin liegt eine Art Konsequenz des Ich. Denn ein ‚stehendes und bleibendes’ Ich könnte sich nicht konstituieren, wenn sich nicht ein stehender und bleibender Erlebnisstrom konstituierte.“ 541 Noch deutlicher drückt sich Husserl in der Beilage dieser Seiten aus, wenn er schreibt: „[D]ie Überzeugung ändern ist ‚sich’ ändern. Aber in der Änderung und Unveränderung ist das Ich identisch dasselbe eben als Pol.“ 542 Dies stellt die transzendentale Voraussetzung der beständigen Möglichkeit der Weckung versunkener Erlebnisse dar: Kraft dieses konsequenzialen Sich-Konstituierens des Ich „kann [es] sich als identisches in seinem Verlauf finden. Es kann also in Wiedererinnerungen auf frühere Cogitationen zurücksehen und seiner als des Subjekts dieser wiedererinnerten bewußt werden.“543 Es gäbe kein Ich, wenn die Meinungen nicht in der Kette der Wiedererinnerungen verbleiben würden und „wenn nicht die 540 Hua IV, 112 (Meine Hervorhebung). In den Analysen zur passiven Synthesis betont Husserl: „So bleibt es als Ich einstimmig, einstimmig mit ‚sich selbst’, als Ich konsequent. Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, was ich entschieden habe, bleibt entschieden. So bin ich immer derselbe, identisches Subjekt einstimmiger Spontaneität“ (Hua XI, 360). 541 Hua IV, 113. 542 Hua IV, 311 (Meine Hervorhebung). 543 Hua IV, 112-113. „Indessen, was sich bewusstseinsmäßig als Gegenstand ursprünglich konstituiert, also derart, daß der Gegenstand als er selbst originaliter bewußt wird, das konstituiert sich in Wesensnotwendigkeit im ursprünglichen Zeitbewußtsein als kontinuierlich Identisches und bleibend Identifizierbares – identifizierbar dann auch über die Sphäre der lebendigen Gegenwart hinaus vermittels von Verkettungen der Wiedererinnerungen“ (Hua XI, 144). 140 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Möglichkeit bestünde, das Dunkel zur Klarheit zu bringen.“544 Die Weckung hat nach Husserl strukturell mit der Freiheit des Ich zu tun oder, genauer gesagt, mit jenen fast unmerklichen Stufen des Willens, die einer echten Stellungnahme – mit den Worten Husserls, einem eigenen Ja – vorangehen: Die frühere Überzeugung (Erfahrung usw.) behält für mich Geltung — das sagt nichts anderes als: ich „übernehme” sie, reproduzierend mache ich den Glauben mit. Es ist nicht ein Zustimmen, ein Jasagen derart wie bei einer Frage, einem Zweifel, einer bloßen Zumutung. Und doch muß ich so etwas wie zustimmen, sofern wir doch die zwei Schichten unterscheiden können: die Erinnerung mit dem früheren Subjekt, dem früheren Glauben, Überzeugtsein, Erfahren etc., während das jetzige Subjekt nicht mitmacht. Und dasselbe in eins mit dem Mitmachen, wobei das Mitmachen freilich kein eigener Schritt ist, kein eigenes Ja. 545 Um diese Wesensgesetzlichkeit zu beleuchten, führt Husserl ein einfaches Beispiel an, und zwar den Fall, dass ich einen Groll hege. Er bemerkt hierzu: Die verschiedenen dauernden Erlebnisse, zugehörig zu Dauerstrecken, die innerhalb der phänomenologischen Zeit getrennt sind, haben eine Beziehung zueinander und konstituieren ein dauernd Bleibendes, die Überzeugung, den Groll, der damals, in dem und dem Zeitpunkt aus den und den Motiven entsprang und von da an bleibendes Eigentum des Ich ist, und er ist auch in den Zwischenstrecken der phänomenologischen Dauer, in denen er nicht erlebnimäßig konstituiert war. 546 Der damals aktuelle Groll lebt also als bleibendes Eigentum des Ich fort, auch wenn er nicht mehr aktuell lebendig oder bewusst ist. Er geht nie völlig verloren, sondern bleibt seit dem Moment seiner Urstiftung bestehen: „Für alle Zeit ‚besteht’ diese Erinnerung, solange nicht Motive auftreten, die sie aufheben und damit auch der ursprünglichen Erinnerung ihr Recht nehmen.“ 547 So wie einige auftretende Motive die 544 Hua IV, 113. „Nach diesen Prozessen aktueller Kenntnisnahme, Prozessen der Explikation ist der Gegenstand, auch wenn er in der Passivität versunken ist, bleibend konstituiert als der durch die betreffenden Bestimmungen bestimmte. Er hat die in den beschriebenen Akten ursprünglich konstituierten Sinnesgestaltungen in sich aufgenommen als habituelles Wissen. Im ersten Blick einer späteren neuen Wahrnehmung ist er bewusst mit dem freilich leeren Horizont erworbener Kenntnisse, und jede neue Explikation hat den Charakter einer Wiederholung und einer Reaktivierung der Assoziation des schon erworbenen ,Wissens’“ (Hua XXXI, 23). 545 Hua IV, 117. 546 Hua IV, 113-114. 547 Hua IV, 115. 141 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Möglichkeit der Erinnerung eines Bewusstseinsinhalts entfernen können, genauso wäre „in jeder Stelle der Zeit [...] die Wiederholung dieser Erinnerung etwas Motiviertes.“ 548 Wieder betont Husserl: Auf Grund einer Überlegung und gewisser Motive komme ich zur Überzeugung A, sie wird hier als meine bleibende Überzeugung gestiftet. Späterhin rekurriere ich darauf als auf meine bekannte Überzeugung; eine Erinnerung taucht auf, unklar oder klar, die Motive, die Urteilsgründe vielleicht völlig dunkel: meine alte Überzeugung, gestiftet ich weiß nicht mehr wann, sie hat ihre Gründe, nach denen ich vielleicht suche, was ein anderes ist als nach neuen Gründen für sie suchen. 549 Sogleich gibt er genau an, dass das, was hier in Betracht zu ziehen ist, das SichKonstituieren und das Sich-Entwickeln der Identität des Ich sind: „Es handelt sich hier nicht um den überall identischen Gehalt der Überzeugung als ideale Einheit, sondern um den Gehalt als Identisches für das Subjekt, als ihm Eigenes, von ihm in früheren Akten gewonnen, aber nicht mit den Akten vorübergehend, sondern dem dauernden Subjekt zugehörig als ihm dauernd Verbleibendes.“ 550 Es bietet sich an, die Behandlung dieser Seiten der Ideen II mit einer letzten, dieser Stelle entnommenen Äußerung Husserls zu schließen, weil sie wieder auf den Hauptpunkt verweist und den weiteren Horizont der möglichen theoretischen Implikationen, die auch andere Stellen Husserls thematisieren, eröffnet: „Es bedarf aufhebender Gründe, um von der alten Überzeugung abzugehen. Es fragt sich freilich, was hierin liegt, in diesem ‚es bedarf’. Es ist kein empirisch-psychologisches Faktum — wir haben es ja mit dem reinen Bewußtsein vor der Konstitution des realen psychischen Subjekts zu tun.“ 551 Hierzu stellt sich dennoch eine Frage, welche die bisher erreichten Ergebnisse zusammenfasst: Was bedeutet es, dass die bleibenden Meinungen eine Grundgesetzlichkeit nicht des empirischen, sondern des reinen Ich darstellen? Sie werden von Husserl auch als Habitus des Ich bezeichnet. Aber wie kann ein Habitus, der schlechthin die empirische und geschichtliche Stufe der Erfahrung darstellt, zum reinen Ich gehören? In welchem Sinn spricht Husserl der transzendentalen Habitualität? 548 Hua IV, 115. Hua IV, 116. 550 Hua IV, 116. 551 Hua IV, 117 (Meine Hervorhebung). 549 142 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Im § 32 der Cartesianischen Meditationen, dessen Titel eben Das Ich als Substrat von Habitualitäten lautet, finden sich hierzu wichtige Erläuterungen. Im vorangehenden Paragraphen hatte Husserl gerade bemerkt, dass „[d]as ego selbst [...] für sich selbst seiendes in kontinuierlicher Evidenz [ist], also sich in sich selbst als seiend kontinuierlich konstituierendes“ 552, und im Anschluss daran formuliert er nun: Aber nun ist zu bemerken, daß dieses zentrierende Ich nicht ein leerer Identitätspol ist (so wenig irgendein Gegenstand das ist), sondern vermöge einer Gesetzmäßigkeit der transzendentalen Genesis mit jedem der von ihm ausstrahlenden Akte eines neuen gegenständlichen Sinnes eine neue bleibende Eigenheit gewinnt. Entscheide ich mich z.B. erstmalig in einem Urteilsakte für ein Sein und So-sein, so vergeht dieser flüchtige Akt, aber nunmehr bin ich und bleibend das so und so entschiedene Ich, ich bin der betreffenden Überzeugung. 553 Das transzendentale Ich ist also kein leerer Pol: Jede Stellungnahme stiftet eine neue bleibende Eigenheit, die das Ich prägt, so dass „[j]ede Überzeugungsänderung [...] eine Ichänderung [ist].“ 554 So bemerkt Husserl in den Pariser Vorträgen: „Das Ich ist nicht bloß Pol auftretender und verschwindender Stellungnahmen; jede Stellungnahme begründet im Ich etwas Verharrendes, seine bis auf weiteres bleibende Überzeugung.“ 555 Das verweist auf jene strukturelle Bewusstseinsdynamik, die im Rahmen der Phänomenologie des Willens – sowohl bei Husserl als auch bei Pfänder und Geiger – hervorgehoben worden ist, d.h. die Selbstbestimmung jeder Willensentscheidung. Husserl betont hier nämlich: „Ich entschließe mich — das Akterlebnis verströmt, aber der Entschluß verharrt — ob ich passiv werdend in dumpfen Schlaf versinke oder andere Akte durchlebe — er ist fortdauernd in Geltung; korrelativ: ich bin hinfort der so Entschlossene, und solange, als ich den Entschluß nicht aufgebe.“ 556 Es gibt also eine selbstbestimmende Rückwirkung jeder Stellungnahme auf das Ich, dessen Konstitution deshalb genetisch rekonstruiert werden kann, da „[i]ch selbst, der in seinem bleibenden Willen Verharrende, [mich] ändere, wenn ich 552 Hua I, 100. Hua I, 100-101. 554 Hua IX, 214. 555 Hua I, 29. 556 Hua I, 101. 553 143 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Entschlüsse oder Taten durchstreiche, aufhebe.“ 557 In den Pariser Vorträgen findet man dieselbe Betonung: „Habe ich mich z.B. in einem Urteilsakt für ein So-sein entschieden, so vergeht dieser flüchtige Akt, aber ich bin nun weiter das Ich, das so entschieden ist, ich finde mich selbst, und bleibend, als das Ich meiner mir bleibenden Überzeugungen. So für jede Art Entscheidungen, z.B. Wert- und Willensentscheidungen.“ 558 Der neue hier zu vollbringende Schritt besteht nun darin, dass sich die Dynamik der bleibenden Überzeugungen als eine transzendentale Struktur des Ich und seiner Erfahrung erweist, und nicht als etwas, das bloß das empirische geschichtliche Leben jedes Ich-Menschen betrifft. In den Ideen II beschreibt Husserl mit diesen Worten den Unterschied zwischen reinem und personalem Ich: Das reine Ich „ist [...] nicht zu verwechseln mit dem Ich als der realen Person, mit dem realen Subjekt des realen Menschen; es hat keine ursprünglichen und erworbenen Charakteranlagen, keine Fähigkeiten, Dispositionen usw. Es ist nicht auf wechselnde reale Umstände mit realen Eigenschaften und Zuständen wechselnd bezogen.“559 Auf jeden Fall ist dieses reine Ich „ganz und gar nichts Geheimnisvolles oder gar Mystisches“560, sondern der transzendentale Pol jeder Erfahrung, d.h. das „Zentrum aller Intentionalität.“ 561 Husserl betont nämlich, dass „es sich als reines Ich im Menschen und der Persönlichkeit wieder[findet], sofern diese Gegenstände mit einem Auffassungssinn gesetzt sind, demgemäß das reale Ich das reine Ich einschließt in der Art eines apperzeptiven Kerngehaltes“ 562, so dass, wenn „ich [...] also mehrere Menschen [setze], so auch mehrere prinzipiell gesonderte reine Ich und zugehörige Bewußtseinsströme. Es gibt soviele reine Ich als es reale Ich gibt.“ 563 557 Hua I, 101. Hua I, 26. Hierzu betont Husserl in den Analysen zur passiven Synthese: „Als urstiftender stiftet er mit der Entscheidung eine bleibende Entschiedenheit des Ich. Das Ich, das sich so entschieden hat, ist als Ich von nun ab ein anderes. In ihm hat sich etwas niedergeschlagen als seine verbleibende Bestimmtheit, und wenn nun das Ich das Urteil wiederholt, so ‚aktualisiert’ es, verwirklicht es nur die Entscheidung, die von früher in ihm war, als seine bleibende Entschiedenheit“ (Hua XI, 360). 559 Hua IV, 104. 560 Hua IV, 97. 561 Hua IV, 109. 562 Hua IV, 110. 563 Hua IV, 110. 558 144 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Wenn die Wesensgesetzmäßigkeit der Urstiftung der bleibenden Meinungen zum reinen Ich gehört, ist es rechtmäßig, den scheinbar oxymoronischen Begriff von transzendentaler Habitualität einzuführen. Die Habitualität kann als transzendental bezeichnet werden, wenn ihre Urstiftung immer wieder einen neuen transzendentalen Horizont der ichlichen Erfahrung eröffnet.564 So betont Vargas Bejarano: „[I]n diesem Prozess [spielen] ebenfalls die Habitualitäten eine wichtige Rolle [...], die den transzendentalen Horizont ausmachen, durch den Gegenständlichkeit aufgefasst wird.“ 565 Das reine Ich ist nicht – wie schon hervorgehoben wurde – ein „bloße[r] leere[r] Pol, sondern jeweils [...] das stehende und bleibende Ich der verharrenden Überzeugungen, der Habitualitäten, in deren Veränderung sich allererst Einheit des personalen Ich und seines personalen Charakters konstituiert.“ 566 In seinen Analysen zur Phänomenologie der Intersubjektivität von 1933 bemerkt Husserl, dass [d]ieses zu jedem Einzelphänomen als Subjekt gehörige transzendentale Ich [...] auch transzendentales Ich für mich als dieses Menschen-Ich [ist]. Als transzendentaler Betrachter meines transzendentalen Seins und Lebens sehe ich, dass dieses menschliche Ich und menschliche Ichleben in der Welt zwar mein transzendentales Gebilde ist, aber so, dass darin dieses Gebilde den Charakter der Selbstapperzeption des transzendentalen Ich hat, das dadurch eingegangen ist in apperzeptive transzendentale Leistungen, die ihm einen besonderen, den weltlichen Seinssinn geben vermöge zugehöriger transzendentaler Habitualitäten. Nicht der pure Ichpol, dieser ist etwas Abstraktes; er ist, was er ist, in seinen Affektionen und Aktionen und in seinen entsprechenden Habitualitäten und dem ganzen konkreten Untergrund seines Bewusstseinsstromes. 567 564 Hierzu stellt Held fest: „Interessen (im geläufigen Sinne,) Gewohnheiten, Kenntnisse usw. Sie sind das noetische Analogon zu den bleibenden Typen der Dingerfahrung. Husserl nennt die Habitualitäten. Es sind erworbene ,Eigenschaften’ des transzendentalen Ich, und das Ich ist entsprechend als ihr ,Träger’, ihr Substrat aufzufassen. Träger von Habitualitäten kann es aber nur sein, weil es durch seine mannigfachen Noesen hindurch als identisches verharrt“ (Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, 88). 565 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 159. 566 Hua I, 26. Hierzu betont Hiroshi Goto: „Der frühere Bewußtseinszustand kann entweder selbst eine Habitualität oder ein stellungnehmender Akt – und wohl auch eine aktuelle Affektion – sein. Im Fall des stellungnehmenden Aktes, nämlich der aktiv-aktuellen ,Spontaneität’ (Hua XI, 358), fungiert die Habitualität als die Fortsetzung der ursprünglichen Stellungnahme durch Bildung der habituellen Stellungnahme wie als Grundlage der Wiederaktualisierung dieser ,habituell gewordene[n]’ Stellungnahme (Hua XIV, 17). Die freie Stellungnahme untersteht somit zunächst in diesem Habitualisierungs- und Reaktivierungsvorgang in zweifacher Weise dem Gesetz der Habitualität“ (Goto, Hiroshi: Der Begriff der Person in der Phänomenologie Edmund Husserls: Ein Interpretationsversuch der Husserlschen Phänomenologie als Ethik im Hinblick auf den Begriff der Habitualität, Würzburg 2004, 112). 567 Hua XV, 541. 145 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Die transzendentalen Habitualitäten, d.h. die beständige potenzielle und motivierte Stiftung bleibender Meinungen, lassen das reine Ich in neuem Licht erscheinen, weil es aus dieser Perspektive die transzendentale Möglichkeitsbedingung der Entwicklung und der Geschichte des Ich-Menschen darstellt, wie Husserl deutlich in einer Beilage seiner Analysen zur passiven Synthesis erklärt: Wir könnten sagen, das Ich als Ich entwickelt sich fortgesetzt durch seine ursprünglichen Entscheidungen und ist jeweils ein Pol mannigfaltiger aktueller Entschiedenheiten, Pol eines habituellen Strahlensystems von aktualisierbaren Potenzen für positive und negative Stellungnahme, und ihnen entsprechend trägt es, allerdings mittels Wiedererinnerung, seine ganze wieder aufzuwickelnde Geschichte in sich. 568 Jede Urstiftung einer bleibenden Überzeugung ist transzendental, weil sie zu einem „habituellen Niederschlag“ wird, und „[s]ie ist nun ein bleibender Zug in meinem Ich, solange ich sie nicht in neuen Akten aufgegeben habe. Jedes aktuelle Meinen verwandelt sich in meine hinfort verbleibende Meinung. Mit jedem Akt erweitert sich der habituelle Bestand meines Ich, das also mit seinen immer neuen Akten wächst und wird.“ 569 Die Geschichte des Ich gewinnt also eine transzendentale Geltung: Die Motivationskraft der Erfahrungsereignisse und die entsprechenden Stellungnahmen des Ich eröffnen jederzeit einen transzendentalen Horizont, den nur eine motivierte Stellungnahme modifizieren kann. § 5. Die Konstitution des bleibenden Charakters und der Persönlichkeit Wenn – wie es sich bereits ergeben hat – das reine Ich den apperzeptiven Kerngehalt des realen Ich darstellt, ist die Gesetzmäßigkeit der transzendentalen Genesis der 568 569 Hua XI, 360. Hua XXXVII, 334. 146 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Identität des reinen Ich die Bedingung der Konstitution des bleibenden Stils jeder Person und ihres personalen Charakters.570 Hierzu schreibt Husserl: Indem aus eigener aktiver Genesis das Ich sich als identisches Substrat bleibender IchEigenheiten konstituiert, konstituiert es sich in weiterer Folge auch als stehendes und bleibendes personales Ich – in einem allerweitesten Sinn, der auch von untermenschlichen Personen zu sprechen gestattet. Sind auch die Überzeugungen im allgemeinen nur relativ bleibende, haben sie ihre Weisen der Veränderung (durch Modalisierung der aktiven Positionen, darunter Durchstreichung oder Negation, Zunichtemachung ihrer Geltung), so bewährt das Ich in solchen Veränderungen einen bleibenden Stil mit durchgehender Identitätseinheit, einen personalen Charakter.571 Das Ich erhält durch die sich immer wandelnden und ihn motivierenden Zustände einen bleibenden Stil und eine bleibende Persönlichkeit, weil jede Stellungnahme einen Horizont eröffnet, der zunächst ein neuer Horizont seiner selbst ist 572: Der selbstbestimmende Charakter jeder Überzeugung und jedes Willensaktes hat zur Folge, dass diese jeweils eine irreversible Bestimmung in der Identität des Ich selbst bezeichnen.573 Aus diesem Grund bemerkt Husserl, „dass das Ich, indem es jetzt so will, damit eine Willensgesinnung, einen habituellen, bleibenden Willen stiftet und, im allgemeinen wenigstens, bei seinem Willen ‚bleibt’. Und so wird es verstanden.“ 574 Man kann von Irreversibilität nicht in dem Sinne sprechen, dass das Ich nach einer bestimmten Stellungnahme immer dasselbe bleiben wird, da – wie die 570 Hierzu betont Vargas Bejarano: „Nachdem eine Entscheidung vollzogen wurde, gerät sie nicht in Vergessenheit, sondern sie kann die nachkommenden Akte derart beeinflussen, dass ein Stil, eine personale Verhaltensweise aufgebaut wird. In diesem Sinne wird sich hier zeigen, wie der feste Stil bzw. die Habitualitäten entscheidend für die Bildung der Personalität sind” (Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 260). Auch In-Cheol Park stellt fest: „Die Habitualität ist die Grundlage für die Bildung der Personalität eines Subjekts. Der Grundzug einer Habitualität ist ihre Dauerhaftigkeit. Wenn eine Habitualität von einem Subjekt einmal angenommen wurde, bleibt sie von da an solange bestehen, als sie vom Subjekt nicht willentlich abgestreift wird“ (Park, In-Cheol: Die Wissenschaft von der Lebenswelt: Zur Methodik von Husserls später Phänomenologie, Amsterdam 2001, 110). 571 Hua I, 101. 572 „Wir sehen damit zugleich, wie eine Persönlichkeit, ein Ich als durch seine Zeit hindurch bleibendes Ich in seinen bleibenden Interessenrichtungen und ihren Themen eine Identitätstruktur hat. In jeder dieser Richtungen strebt es konsequent nach Einstimmigkeit mir sich selbst, wobei zugleich alle diese Einstimmigkeiten zu einer höheren Zusammenstimmung kommen müssen“ (Hua IX, 412). 573 Hierzu betont Noor: „La volition se déroule dans le tempes er s’achève dans une continuité du vouloir. La conscience de l’identité de l’ego somme sujet du vouloir requiert la continuité de la prise de position. Dans ce contexte Husserl se réfère à la mémoire. La conscience de l’identité de soi comme sujet du vouloir s’effectue dans le souvenir des actes de volition passés qui valent encore dans le présent. Cette relation se manifeste comme affirmation de la volition passée, affirmation qui est aussi affirmation du soi“ (Noor, Individualité et volonté, 138). 574 Hua XIV, 168-169. 147 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich Wesensgesetzlichkeit der bleibenden Meinungen gezeigt hat – sich bei Änderung der Motive sich auch das Ich ändern kann: Diese Irreversibilität ist dagegen eine andere Bezeichnung, um jenes „Nie-Verlorenwerden-Können“ jedes Bewusstseinsinhalts auszudrücken. Wie in der Behandlung des retentionalen Versinkens der Sedimentierungen schon hervorgehoben wurde, ist das innere Zeitbewusstsein die transzendentale Bedingung des Strömens und der Sich-Niederschlagens jeder aktuellen Ich-Erfahrung. Dasselbe gilt für jede selbstbestimmende Stellungnahme. Diese transzendentale Dynamik betrifft „alle meine mir ebenfalls selbsteigenen Habitualitäten, die im Ausgang von selbsteigenen stiftenden Akten sich als bleibende Überzeugungen konstituieren.“ 575 Das Fortschreiten des Lebens bringt also strukturell das fortlaufende Entstehen des personalen Charakters mit sich, d.h. der personalen Identität: „Durch alle Modi aber geht hindurch die Identität des Ich, des Identischen des Interesses, des Identischen im Wandel der Modi seines Interessiert-Sich-Auslebens, im weitesten Sinne gesprochen der Willensmodi, die ihrerseits in ihrem modalen Wandel eine innere Einheit haben, die auch bloße Affektion und Aktion verbindet.“ 576 Stufenweise entwickelt sich „[d]asselbe Ich, das immerfort schon seine ‚erworbenen’ bleibenden Interessen hat und immer neu nun sich entzünden lässt.“ 577 Das Ich ist deshalb kein statischer, sondern ein beständig werdender Pol: Die Vorhabe bezieht sich immerzu auf (das), was ich im Voraus und von früher schon habe als das, womit ich weiteres vorhabe. Und so habe ich immer schon Vorgegebenes, eine vorgegebene Welt in strömender Beweglichkeit und darauf bezüglich den Prozess der aktuellen Tätigkeiten, letztlich in aktuell umbildende Handlung ausmündend und endend in einer neuen Habe, einem nunmehr für mich Seienden. Aber seiend im Allgemeinen mit einem praktischen Sinn, der noch weitere Handlungen erfordert, oder mit einem Sinn des Erwerbs, mit dem künftig, in den sich im Lebensgang vorzeichnenden Zwecksetzungen, zu wuchern sein wird. 578 Zu diesem beständigen Werden des Ich tragen sowohl alle freien und bewussten Stellungnahmen bei als auch die gesamte Sphäre der unbewussten, aber noch 575 Hua I, 134. Hua XXXIX, 594. 577 Hua XXXIX, 591-592. 578 Hua XXXIX, 597. 576 148 Die Rolle der passiven Sedimentierungen und der transzendentalen Habitualitäten in der Konstitution des Ich motivierenden Sedimentierungen, weil alle diese Momente die Identität des Ich modellieren und prägen. Die letzen Überlegungen führen die Untersuchung zu neuen Fragenstellungen, genauer: zu ethischen Fragen. Was bisher aus den verschiedenen Analysen hervorgegangen ist, ist gerade eine bestimmte Anschauung der Subjektivität: Es handelt sich um ein Ich, das immer die Möglichkeit der willentlichen Selbstbestimmung hat, das aber gleichzeitig in verschiedenen graduellen Modalitäten der Willensspannung lebt und das immer wieder von unbewussten Tendenzen motiviert und beeinflusst wird. Es ist schließlich ein Mensch mit einem geschichtlichen und gleichzeitig bleibenden Wesen. Husserl beschreibt die Personen als jene, die als letzte Elemente von personalen Gemeinschaften und zuoberst Menschheiten fungieren können und fungieren: Es gehören ihnen, wo es sich um bleibende Einheiten handelt, bleibende personale Charaktere zu, und sofern sie selbst in dieser Hinsicht für sich selbst und Andere erfahrbar sind, haben sie, als Gegenstände der Umwelt (zu der die Subjekte der Umwelt, die einzelnen wie die Gemeinschaften, in Rückbezogenheit auf sich selbst immer auch mitgehören), ihre personalen Bedeutungscharaktere [...]. 579 Das Bewusstseinsleben zeigt sich Husserl zufolge „als Geltungsleben, Geltungen als habituelle Überzeugungen stiftend, in deren Einstimmigkeit ich mich selbst erhalten“ 580 kann. Das nächste Ziel dieser Untersuchung ist es nun, die ethischen Folgen dieser Husserlschen Auffassung der Subjektivität und seines Lebens zu erfassen. 579 580 Hua XV, 58. Hua XV, 519. 149 Drittes Kapitel Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden § 1. Einleitung: Die ethische Frage als Kern der Phänomenologie Husserls Bisher wurden einige grundwesentliche Dimensionen der Husserlschen Auffassung der Subjektivität hervorgehoben, insbesondere die jeden Akt begleitende Willensspannung sowie der motivationale Charakter des gesamten Lebens des Ich, der sowohl die aktive Handlungen als auch die passive und unbewusste Dimension umfasst. Diese Ergebnisse regen weitere Untersuchungen an, welche die ethischen Implikationen der Husserlschen Konzeption des personalen Subjekts betreffen. Es ist wichtig festzuhalten, dass Husserl nie aufgehört hat, sich mit ethischen Fragen zu befassen. Housset betont deutlich, „La question de l’éthique n’est pas une annexe de la réflexion phénoménologique, mais constitue l’horizon de toute recherche théorique en tant qu’elle est une praxis. Le savoir fonde, pour Husserl, une vie dans la constante responsabilité de soi.“ 581 Die Ethik ist kein bloßer Zusatz zu den bisher entwickelten theoretischen Überlegungen Husserls, sondern bildet ihre andere Seite. Zu erfassen ist nun der ethische Kern, der die Husserlsche Phänomenologie antreibt. Es ist nicht einfach, ein Gesamtbild der ethischen Überlegungen Husserls zu gewinnen, da – wie Ullrich Melle zu Recht hervorhebt – „[e]ven Husserl’s is ethics not limited to a few lofty and rhetorical generalities […], Husserl’s ethical reflections and investigations do not amount to a fully developed ethical theory.“ 582 Einige Texte, die den wesentlichen Anhaltspunkt für die folgenden Untersuchungen darstellen, fassen in gewissem Sinn seine grundlegenden ethischen Betrachtungen zusammen, so z.B. die Vorlesungen über Ethik aus den Jahren 1908-1914 und 1920-1924 (die im XXVIII. und XXXVII. Band der Husserliana veröffentlicht wurden) oder die Kaizo-Artikel von 581 582 Housset, Emmanuel: Personne et sujet selon Husserl, Paris 1987, 235. Melle, Ullrich: The development of Husserl’s ethics, in: Études phénoménologiques 13/14 (1991), 116. 150 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden 1923-1924.583 Allerdings beschränkt sich der ethische Kern der Phänomenologie nicht nur auf solche expliziten Abhandlungen, sondern begleitet ein als roter Faden den gesamten denkerischen Weg Husserls, trotz der zuzeiten durchaus verschiedenen Perspektiven seiner ethischen Überlegungen. Ein näheres Eingehen auf die ethische Frage wird von der Natur der Phänomenologie selbst gefordert: Die Phänomenologie steht für Husserl nämlich einer ethischen Entscheidung viel näher als einem theoretischen philosophischen System, wie im letzten Teil dieses Kapitels noch deutlicher ausgeführt werden soll. Sebastian Luft bemerkt hierzu: „Philosophie zu betreiben ist für Husserl aus zutiefst ethischen Gründen motiviert. Philosophie, und damit einhergehend wahre Wissenschaft, sind somit [...] eine ‚Anleitung zum seligen Leben’, beziehungsweise umgekehrt, die moralische Aufgabe des Menschen ist von tiefsten Gründen aus auf Wissenschaft und Philosophie angelegt.“ 584 Zahlreiche Passagen in den Texte Husserls zeigen diese bedeutungsvolle ethische Spannung, die jeden Denkschritt und jede theoretische Analyse beseelt, wie z.B. die folgende aus den Cartesianischen Meditationen, in denen Husserl deutlich den personalen und selbstverantwortlichen Charakter der Entscheidung jedes Philosophen hervorhebt: Jeder, der ernstlich Philosoph werden will, muß sich „einmal im Leben“ auf sich selbst zurückziehen und in sich den Umsturz aller ihm bisher geltenden Wissenschaften und ihren Neubau versuchen. Philosophie — Weisheit (sagesse) — ist eine ganz persönliche Angelegenheit des Philosophierenden. Sie soll als seine Weisheit werden, als sein selbsterworbenes, universal fortstrebendes Wissen, das er von Anfang an und in jedem Schritte verantworten kann aus seinen absoluten Einsichten. 585 Die Phänomenologie entspricht als Philosophie der ganz persönlichen und jedem Philosophieren zugehörigen Anspannung, Gewissheit und Glückseligkeit zu gewinnen. „Das universale rein theoretische Interesse nimmt also zugleich eine dienende Funktion an für ein universales Interesse nicht nur physischer, sondern geistiger 583 Vgl. Hua XXVII. Luft, Sebastian: Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des Personenbegriffs, in: Merz, Philippe; Staiti, Andrea; Steffen, Frank (Hrsg.): Geist–Person–Gemeinschaft. Freiburger Beiträge zur Aktualität Husserls, Würzburg 2010, 221. 585 Hua I, 44. 584 151 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Selbsterhaltung.“ 586 Dies liegt darin begründet, dass der Mensch strukturell „Herr seiner selbst und seiner Umwelt werden [will], er [...] ein dauernd ihn befriedigendes Leben durch ein Verständnis der Welt und seiner selbst als Subjekt [sucht], das in ihr lebt, in sie hineinstrebt.“ 587 Eine solche ethische Entscheidung, sich auf sich selbst zurückzuziehen, wird von der Erfahrung einer beständigen und immer stärker werdenden Enttäuschung motiviert und im alltäglichen Leben zeigt sich deutlich: „Die ursprünglich mehr oder minder vollkommen freie Aktivität in der Bildung von Vorhaben und ihren Verwirklichungen verwandelt sich in eine ‚blinde’ Passivität, muß sich bei ähnlichen Situationen quasiinstinktiv zum Tun fortziehen lassen.“ 588 Aber dies ist keine echte menschliche Existenzweise und führt daher unvermeidlich zu einem Eindruck des Versagens. Diese peinliche Lebenslage beschreibt Husserl mit folgenden Worten: „Als reifes, waches Ich in seiner jeweiligen Umwelt leben, ist nicht nur überhaupt irgendwie leben, sondern gelingend leben wollen. Daher sagt der Mensch bei sich häufendem Mißlingen: ,So kann man nicht leben’, und umgekehrt antwortet der erfolgreiche Mensch auf die Frage: ,Wie geht’s?’, einfach mit den Worten: ,Man kann leben’.“ 589 Jeder Mensch glaubt jeweils, ein Gutes gefunden zu haben, das ihm eine fortdauernde Glückseligkeit garantieren kann, aber „solche Entwertungen [erwachsen] in der peinlichen Erkenntnis, das erzielte ,Gute’ sei nur ein vermeintliches Gutes; die ihm gewidmete Arbeit sei also eine nutzlose, die Freude daran eine sinnlose gewesen, und darnach eine solche, die hinfort nicht mehr zur Glückssumme des bisherigen Lebens gerechnet werden dürfe.“ 590 Das Leben sei so immer wieder von einem „Mißraten der Vorhaben“ 591 bestimmt, was deutlich unerträglich und „wider die ,Vernunft’“ 592 ist. Aus dieser peinlichen Erfahrung erwächst allerdings die Möglichkeit, den Gang eines neuen und echten Lebens zu eröffnen: „Das Versagen als vorausgesehene 586 Hua XXXII, 12-13. Hua XXXII, 12. 588 Hua XXIX, 383. 589 Hua XXIX, 384. 590 Hua XXVII, 30. 591 Hua XXIX, 383. 592 Hua XXIX, 383. 587 152 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Möglichkeit motiviert m.a.W. das fürsorgliche freie Eingreifen, nämlich eine freie Besinnung, eine habituelle Willensrichtung darauf, die Vorhaben klärend zur Evidenz zu bringen, und natürlich ihre Bezogenheit auf die so oft nur ganz vage apperzipierte Situation, die also mit zu klären ist.“ 593 Es ist deshalb immer die freie Gelegenheit gegeben, sich auf sich selbst zurückzuziehen, so dass „das spezifische Wahrheitsstreben bzw. das Streben nach Bewährung, nach ,endgültiger’ Rechtfertigung durch einsichtige Begründung“594 erneut entstehen kann. Mit dem Entstehen eines solchen Wahrheitsstrebens wird dann für jeden Höherstrebenden die Frage brennend: Wie soll ich mein Leben und Streben vernünftig ordnen, wie dem quälenden Zwiespalt mit mir selbst entgehen, wie dem berechtigten Tadel der Mitmenschen? Wie kann ich mein ganzes Leben zu einem schönen und guten gestalten und, wie der traditionelle Ausdruck lautet, wie die echte Eudaimonie, die wahre Glückseligkeit, erlangen?595 Diese Fragen weisen eine starke ethische Kennzeichnung auf und stellen den Inhalt des echten menschlichen Selbstbewusstseins dar, da es „[z]um Wesen des Menschenlebens [...] ferner [gehört], daß es sich beständig in der Form des Strebens abspielt.“596 Das Streben nach einer wertvollen Existenz, nach der Überschreitung von Enttäuschungen oder Entwertungen, stellt sich nicht als eine Entscheidung dar, die ein für alle Mal getroffen wird, sondern vielmehr als ein beständiger Kampf zwischen Werten. Es „treten neue wirkliche und praktisch mögliche Werte in den Gesichtskreis, streiten mit den soeben noch geltenden und entwerten sie eventuell für den Strebenden, indem sie selbst als höherwertige den praktischen Vorzug fordern.“ 597 Diese Dynamik führt schließlich dazu, dass „das Subjekt [...] im Kampf um ein ,wertvolles’, gegen nachkommende Entwertungen, Wertabfälle, Wertleeren, Enttäuschungen gesichertes, sich in seinen Wertgehalten steigerndes Leben [lebt], um ein Leben, das eine fortlaufend einstimmige und sichere Gesamtbefriedigung gewähren könnte.“ 598 In einem 593 Hua XXIX, 383-384. Hua XXVII, 30 595 Hua XXVIII, 11. 596 Hua XXVII, 25. 597 Hua XXVII, 25. 598 Hua XXVII, 25. 594 153 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Manuskript aus dem Jahr 1933 versieht Husserl diesen ethischen Spannungs- und Kampfcharakter des Lebens mit dem bedeutungsvollen Ausdruck „Existenzsorge“: Vor dem Ich eröffnet sich immer wieder ein „offene[r] Horizont von Möglichkeiten, und zwar Vermöglichkeiten, mehr oder minder bestimmten und unbestimmten Vermöglichkeiten von ,Existenzweisen’ “ 599, was dazu führt, dass „[a]lles Leben in der Hoffnung [...] Leben in der Existenzsorge [ist]. [...] Der Mensch, der im normalen Leben lebt, ((lebt)) in der normalen Lebenshoffnung überhaupt, innerhalb ihrer aber natürlich in ständiger Sorge des Wie der Erfüllung.“600 Die hohe Bedeutung, die der Ethik von Husserl zugeschrieben wird, impliziert als Voraussetzung und als Folge die Hervorhebung der Freiheit des Ich, welche schon im ersten Kapitel mit dem Ausdruck „Ich kann“ bezeichnet worden ist. Nur weil der Kern jedes Menschen strukturell ein „Ich kann“ ist, entsteht die beständige Möglichkeit, zu wählen und sich für einen höheren Wert zu entscheiden. Der Mensch allein hat nicht nur singuläre praktische Möglichkeiten vor sich, sondern überschaut offene Horizonte von Möglichkeiten in Form bewußtseinsmäßig konstruierter [...] Unendlichkeiten. […] Und indem er sich damit in Möglichkeiten hineindenkt, [...] befreit er sich von dem Drang und Zwang der singulären Aktualitäten, von den Triebreizen der erfahrenen Wirklichkeiten, der singulären, durch antizipierende Vermutung sich entgegendrängenden und in der Reizkraft streitenden realen Möglichkeiten. In die Bereiche freier Möglichkeiten und in das konstruktive Spiel der Unendlichkeiten eintretend, unterbindet er die Aktualität und wird frei Wählender; er wählt nicht nur zwischen gegebenen Einzelheiten, sondern er bezieht sie in das Universum von Möglichkeiten, das praktisch in Betracht kommen kann. 601 Dieser Horizont von unendlichen Möglichkeiten stellt – worauf in den folgenden Überlegungen näher eingegangen wird – das Wesen der personalen Subjektivität bei Husserl dar. „Im menschlichen Leben, als dem des animal rationale, liegt also schon eine stets bereite Motivation zur Wahrung und Übung seiner immer schon ausgebildeten Vermögen der Erkenntnis-Freiheit.“ 602 Dies zieht die Ethik als phänomenologische 599 E III 6, 2. E III 6, 2. 601 Hua XXVII, 100. 602 Hua XXIX, 384. 600 154 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Aufgabe nach sich, da „Ziele, Aufgaben [...] nur Personen [haben], die sich Aufgaben stellen.“603 § 2. Die ethischen Folgen der Motivationsgesetzmäßigkeit Der erste Schritt besteht darin, die ethischen Implikationen der bisher erreichten theoretischen Ergebnisse herauszuarbeiten. Die Analysen des ersten Kapitels haben die Willensdimension des gesamten Ichlebens hervorgehoben, besonders den Selbstbestimmungscharakter, der sowohl jeden expliziten als auch unbemerkten Willensakt kennzeichnet. In jedem Wollen ist das Ich Subjekt und zugleich Objekt des Aktes, weil es jede Stellungnahme prägt. Sodann stellten die Überlegungen des zweiten Kapitels in der Thematisierung des beständigen Sich-Sedimentierens der Erlebnisse die nicht nur empirische, sondern auch transzendentale Rolle der Habitualitäten in der Konstitution des Ich und der Persönlichkeit heraus. Die theoretische Vorbedingung all dieser Ergebnisse ist – wie bereits mehrfach im Laufe der Arbeit gezeigt wurde – das Verständnis der Motivation als Grundgesetzlichkeit des gesamten Lebens des Ich, sowohl für seine aktive als auch für seine passive und unwillentliche Stufe. Die Motivationsgesetzmäßigkeit impliziert nämlich, dass kein Akt des Ichlebens wie ein bloß kausaler Mechanismus behandelt werden darf, sondern vielmehr wie eine freie Entgegnung auf Sinnzusammenhänge. Somit kann Motivation in einem gewissen Sinn als Synonym für geistige Freiheit verstanden werden. Was im Folgenden dargestellt werden soll, ist gerade die andere, nämlich die ethische Seite dieser transzendentalen Dynamik, da – wie Janet Donohoe deutlich unterstreicht – ohne diese Grundgesetzlichkeit „Husserl would not have been able to develop such an understanding of the ego’s habits and character that contribute directly to this ethical position. [...] The true self of the ego is maintained in the streaming living present through the sedimentation of ethical, as well as other, positions taken.“604 Wenn jede willentliche Stellungnahme eine neue bleibende Eigenheit des Ich stiftet und jede 603 Hua XXIX, 373. Donohoe, Janet: Husserl on Ethics and Intersubjectivity. From Static to Genetic Phenomenology, New York 2004, 130. 604 155 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Änderung der Motive eine Änderung der Stellungnahme motivieren kann, zeigt sich nun eine transzendentale Gesetzmäßigkeit der Genesis des Ich, die zugleich Bedingung der Konstitution des ethischen Stils jeder Persönlichkeit bildet.605 Alois Roth hebt diesen Punkt deutlich hervor: In dieser Korrelation von Ich und Umwelt vollzieht sich eine doppelte Entwicklung. Einerseits begründet die Subjektivität in ihrem mannigfaltigen, sowohl passiven wie aktiven Bewußtseinsleben ihre eigene Umwelt. [...] Andererseits entfaltet sich in eben diesem Prozeß das Ich selbst als Personalität, gewinnt seinen relativ bleibenden und doch immerfort sich wandelnden Habitus, seinen Charakter mit den verschiedensten Charaktereigenschaften, seinen bleibenden und neugewonnenen Kenntnissen und Fertigkeiten.606 Husserl schreibt hierzu: So ist jedes Preisgeben eines Willens, und ebenso überhaupt eines Aktes [...], eine Änderung meines Ich als Ich, dem man keineswegs gerecht wird, indem man dem Ich eine tabula rasa zugesellt, auf der Akterlebnisse kommen und wieder verschwinden, sei es auch nach empirisch-induktiv zu findenden Regelungen, nicht als ob ich ein „anderes Ich“ dadurch würde, sondern ich bin dabei dasselbe verharrende Ich, verharrend in dieser Art spezifisch ichlicher Veränderungen.607 Das Ich ist daher keine „tabula rasa“, sondern eine verharrende Einheit, die in einer sich entwickelnden Geschichte sich konstituiert und ausprägt.608 Nach Husserl ist „[j]eder Akt, ‚erstmalig’ vollzogen, [...] ,Urstiftung’ einer bleibenden Eigenheit, in die immanente Zeit hinein dauernd [...]. Das Ich bleibt solange unverändert, als es ,bei 605 Dorion Cairns hebt in seinen Conversations with Husserl und Fink die wesentliche Rolle des Willens in der Konstitution der Persönlichkeit hervor: „The structure of personality is basically volitional, ‚decisional’. Logic has its validity for me through my subjecting of my will and though to it – a recognizing of its authority“ (Cairns, Dorion: Conversations with Husserl und Fink, Den Haag 1976, 47). Hierzu schreibt außerdem Enzo Paci: „Si pone qui il problema dell’Ich Pol e cioè il problema dell’autocostituzione dell’Ich che acquista il carattere di un Io personale, […]. Ciò che l’Io sente e decide (e anche ciò che non ha deciso) forma la sua personalità: l’Ich Pol è costituito da decisioni, da convinzioni e atti che in lui permangono. Ciò che permane costituisce il complesso delle qualità personali dell’Io“ (Paci, Enzo: Tempo e verità nella fenomenologia di Husserl, Bari 1961, 118). 606 Roth, Alois: Edmund Husserls ethische Untersuchungen dargestellt anhand seiner Vorlesungsmanuskripte, Den Haag 1960, 142. 607 Hua XXIX, 372. 608 Melle betont: „For Husserl, personal identity presupposes lasting convictions. Such lasting convictions are habitual sediments of the free, theoretical, axiological and practical position-takings of the ,ego’. My person would fragment and disintegrate if my position-takings would not crystallize into habitual convictions. I am I only so long as I have harmonious opinions. Only then can I preserve myself as me“ (Melle, The development of Husserl’s ethics, 126). 156 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden seiner Überzeugung, Meinung bleibt’; die Überzeugung ändern ist ,sich’ ändern. Aber in der Änderung und Unveränderung ist das Ich identisch dasselbe eben als Pol.“ 609 Keine Entscheidung lässt das Ich gleichgültig oder immun, im Gegenteil, die Entscheidung wirkt sich auf das Ich aus. Ullrich Melle sieht deutlich, dass das „Ich [...] mehr als ein leerer Identitätspol in den von ihm vollzogenen Akten [ist]. Das Ich hat einen Charakter, hat bleibende personale Eigenheiten und Eigenschaften. Diese entstehen aus den Ichakten durch Habitualisierung, durch Urstiftung und Nachstiftung.“ 610 Wenn jede Stellungnahme eine bleibende Eigenheit stiftet und eine bleibende Überzeugung bestimmt, zeigt sich eine ethische Kennzeichnung, die auf allen Urteilen und Entschlüssen des Subjekts lastet. So hält Husserl in einem Manuskript fest: „Ich bin in meinen Ueberzeugungen. Ich erhalte mein eines und selbes Ich – mein ideales Verstandes-Ich –, wenn ich immerzu und gesichert fortstreben kann zur Einheit einer Gesamtüberzeugung.“ 611 Die Identität des Ich besteht nicht nur in seinen Vermögen, Eignungen oder Gaben, sondern bildet sich durch seine bisherigen Überzeugungen, die von Mal zu Mal von den sich vorstellenden Motiven geleitet werden.612 Neue Motive führen das Ich zu neuen Stellungnahmen, so dass sich fortwährend die eigentlich ethische Persönlichkeit gemäß dieser transzendentalen Gesetzlichkeit „als Substrat der Entscheidungen“ 613 ausbildet. So kann Husserl sagen: 609 Hua IV, 311. „Ich kann nicht ein Mensch sein, ich kann nicht Person sein, wenn ich jedem Reiz blind folge, wenn ich bloß instinktiv in gleichen Linien reagiere, wenn ich bloss Subjekt psychophysischer Dispositionen bin, die mich passiv in gleichen Reaktionstypen dirigieren. Ich kann Person nur sein, sofern ich nicht nur bleibende Apperzeptionen habe und durch sie eine standhaltende und mir als ichfremd gegenüberstehende Welt, sondern sofern ich bleibende ‚Überzeugungen’ habe, selbsterworbene, selbsttätig gewonnene Überzeugungen, durch tätige Stellungnahmen vom Ich her, bleibende Wertungen, bleibenden Willen, bleibend in dem Sinn, dass für mich selbst konstituiert ist dieses Identische [...] dieser bleibende Wille, diese feste Willensrichtung, ihr wirklich genugzutun etc.“ (Hua XIV, 196). 610 Melle, Ullrich: Husserls personalistische Ethik, in: Centi, Beatrice; Gigliotti, Gianna (Hrsg.): Fenomenologia della ragion pratica: L'etica di Edmund Husserl, Neapel 2004, 335. 611 A VI 30, 54b. 612 Melle kommentiert diesen Gedanken: „Ich bin, der ich bin als Person, durch meine habituellen Überzeugungen, Wertungen, Zielsetzungen, Ideale und Projekte. Auch meine Fähigkeiten beruhen zu einem großen Teil auf habitualisierten und sedimentierten Ichleistungen, dem Lernen und Üben. Die Welt, in der wir leben im ganzen Reichtum ihrer sachlichen, axiologischen und praktischen Bestimmungen und die vergemeinschafteten personalen Subjekte im ganzen Reichtum ihrer personalen Hexis sind Korrelate; es sind korrelative Gerinnungsprodukte von urstiftenden Ichleistungen, die letztlich Auffassungsleistungen an vorgegebenen, in der Urpassivität entstandenen Erlebniseinheiten sind“ (Melle, Husserls personalistische Ethik, 336). 613 Hua IV, 331. 157 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Sein als Ich, als Person, ist, wie wir sehen, in eigener, eben in personaler Weise, verharrend und in Veränderungen derselbe <zu> sein. Im Wachleben (dem Urmodus alles Lebens) vollziehe ich Akte und immer wieder neue Akte, alle darin einig, daß sie von dem einen und selben Ichzentrum ausstrahlen, als meine Setzungen. Jede ,neue’, als erstmalige charakterisierte Setzung stiftet einen neuen Modus meines verharrenden Seins, in dem ich nach Vorübergehen des Aktus ,hinfort’ bin, z.B. nach ,Fassung’ eines neuen Entschlusses (und nach seinem Vergehen als Aktus) eben hinfort der so Entschlossene, so Gewillte bin. Mein bleibender Wille geht nun als eine Komponente in meinen jeweiligen Gesamthabitus ein.614 Jeder Willensakt besitzt eine Selbstbestimmungskraft und wirkt deshalb auf die ethische Natur des Ich ein. Jede willentliche Stellungnahme „hinterlässt einen Niederschlag im Bereich des Habituellen, der dann seinerseits wieder in die künftige Praxis hineinwirkt; wie z.B. jeder gute Wille, jeder Akt ethischer Selbstüberwindung den habituellen Kraftfonds für weitere gute Taten in der Seele erhöht, wie jeder schlechte Wille ihn mindert.“ 615 Dieser Niederschlag in der eigenen Habitualität führt dazu, dass jede willentliche Entscheidung nicht unabhängig ist, sondern vielmehr in enger Verbindung steht mit der Kette der vorangegangenen Entscheidungen und – allgemeiner noch – mit der vorangehenden persönlichen Geschichte, die sich immer wieder durch neue Zustände und Motive entwickelt. Husserl beschreibt dies sehr präzise: Ich hänge von Motiven ab, ich hänge in der neuen Betätigung einer alten Entscheidung von der früheren Entscheidung ab, ich bin, der ich jetzt bin, durch mein früheres Sein (Michentscheidend-Sein) bestimmt. Und so bin ich auch als personales Subjekt von wirklichen und möglichen Entscheidungen, sowohl nach meiner ursprünglichen Eigenart als nach den in faktischen Verhältnissen zur Auswirkung gekommenen Entscheidungen, eine Einheit von Bestimmungen (von ihren Stellungen und Eigenheiten in ihren Stellungen), die nicht Einheit aus bloßer Assoziation ist, sondern dieser vorhergeht. 616 Diese Abhängigkeit des Ich von seinen früheren Erlebnissen besteht keineswegs in irgendeiner deterministischen Auffassung der Entwicklung der Persönlichkeit, weil diese nach Husserl immer dafür frei ist, eine neue sinnvolle Stellung einzunehmen, die 614 Hua XXIX, 365. Hua XXXVII, 8. 616 Hua IV, 331-332. 615 158 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden nicht vorhersehbar ist. Es ist auf jeden Fall einfach festzustellen, dass jedermann seinen habituellen Stil von Stellungnahmen und Überzeugungen hat, der „zu einer entsprechenden Selbstapperzeption führen wird, und so kann auch über mich und Andere induktiv ausgesagt werden, wie die Stellungnahmen verlaufen dürften.“ 617 Obwohl solcher Selbstapperzeption keine Vorhersehbarkeit der künftigen Entwicklung einer Persönlichkeit entspricht, stellt sie gleichsam eine gewisse Selbstbeeinflussung fest, die jeden Schritt des Ich begleitet. Husserl erläutert dies näher: „Jedenfalls, wie ich bin, wie ich, als der ich bin, mich gegebenenfalls verhalten würde (stellungnehmend), kann ich voraussagen für eine klar umschriebene und von mir klar vorgestellte Situation, während, wofern sie unbestimmt ist, ich darüber auch nichts Sicheres werde aussagen können.“ 618 Im Laufe des Lebens bildet sich eine moralische Persönlichkeit heraus mit einem gewissen Kreis von praktischen Möglichkeiten durch Erziehung, Ausbildung, positive oder negative Erfahrungen und besonders durch die jederzeit freie persönliche Antwort auf all diese geschichtlichen Erlebnisse. Husserl gibt hierzu eine ausführlichere Erläuterung: Das „ich kann eine gewisse Entscheidung, z.B. die für einen Mord, nicht vollziehen“, „ich kann so etwas nicht tun“ besagt, wie ich bin (und ev. früher, wie ich war, und wie ich voraussichtlich sein werde); alle die Motive, die zu einem Mord als die ihn möglicherweise bestimmenden gehören, sind für mich keine wirkenden Motive. Die Möglichkeit des Mordes ist eine praktische Möglichkeit, sofern ich, gesetzt daß ich ihn wollte, ihn ausführen könnte. Jede Willenshandlung bezieht sich auf einen praktischen Bereich und so auch diese. Und in diesem Sinn kann ich so ziemlich jede irrige Handlung (obschon, genauer, manche, die von Anderen ausgeführt worden ist, mein praktisches Können übersteigt, etwa das Fassadenklettern) vollziehen. Aber hinsichtlich der Stellungnahme gilt, daß ihre Möglichkeit überhaupt nicht in den Rahmen der praktischen Möglichkeiten gehört. 619 Jedem persönlichen Stil entspricht deshalb ein praktisches Können, d.h. ein Kreis von vorhersehbaren praktischen Möglichkeiten, der sich für jedermann – ohne die Möglichkeit plötzlicher und unvorhersehbarer Handlungen auszuschließen – aus den vorangehenden Stellungnahmen bildet. Jede einzelne Stellungnahme ist also von einer 617 Hua IV, 331. Hua IV, 331. 619 Hua IV, 331. 618 159 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden ethischen Verantwortung gekennzeichnet, wie Husserl in seinen Vorlesungen zur Ethik mit diesen Fragen unterstreicht: Welche Motivationen spielen hierbei, und welche Rolle spielt insbesondere dieses wunderbare Phänomen der Selbstbestimmung, in dem das Ich nicht etwa wie sonst einen Akt naiv aus sich entlässt und durch ihn dies oder jenes vernünftig tut, sondern in dem das Ich sich selbst als Ich, und zwar als von nun ab rein das Gute wollendes Ich, willentlich setzt und sich eventuell „innerlich“ völlig ‚erneuert’, oder mindest sich dazu bestimmt, ein neues werden zu wollen?620 Diese von Husserl als „wunderbares Phänomen der Selbstbestimmung“ bezeichnete Dynamik bildet den grundlegenden Kern seiner ethischen Überlegungen. Wie im ersten Kapitel bereits hervorgehoben wurde, unterscheidet Husserl zwischen aktiven und passiven Motivationen und stellt fest, dass die ersten, d.h. die Vernunftmotivationen, jene sind, welche die eigentlich geistige Dimension der Subjektivität betreffen, weil sie Freiheit, echten Willen und Selbstbewusstsein hineinziehen. Diese sind deshalb die eigentlichen ethischen Motivationen, weil sie die menschliche Fähigkeit der Selbstbestimmung mitberücksichtigen. Die aktiven Motivationen stellen die Verantwortung des Subjekts in jeder seiner Handlungen und Stellungnahmen dar, weil sie beweisen, dass es jederzeit die freie Möglichkeit hat, sich selbst und sein Leben zu prägen, die Instinkte einzudämmen und die höchsten Werte anzunehmen. Der Begriff der geistigen Subjektivität, d.h. der Person, ist bei Husserl strukturell verbunden mit der Kategorie von Verantwortung, weil Verantwortlich-Sein dem Bewusstsein des selbstbestimmenden Charakters der eigenen Stellungnahmen entspricht. Im zweiten Band der Ideen betont Husserl nämlich, dass [vor allem] gegenüber dem allgemeinen und einheitlichen empirischen Subjekt die „Person” in einem spezifischen Sinne abzugrenzen [ist]: das Subjekt der unter dem Gesichtspunkt Vernunft zu beurteilenden Akte, das Subjekt, das „selbst-verantwortlich“ ist, das Subjekt, das frei und geknechtet, unfrei, ist; Freiheit im besonderen Sinne genommen, und wohl im eigentlichen Sinne.621 620 621 Hua XXXVII, 162. Hua IV, 257. 160 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Aus diesem Grund neigt man allgemein dazu, jeden Menschen trotz der Berücksichtigung externer und unkontrollierbarer Faktoren als voll verantwortlich für den Zustand seines eigenen Lebens anzusehen. Edith Stein erkennt diese Eigentümlichkeit der menschlichen Person sehr deutlich, wenn sie bemerkt: Wenn wir eine Pflanze oder ein Tier sehen, die „verkümmert“ sind, d.h. bei denen das für sie Spezifische nicht zur Entfaltung gebracht ist, so machen wir die ungünstigen Lebensbedingungen dafür verantwortlich, evtl. den Menschen, der sie in diese ihnen nicht gemäßen Lebensbedingungen versetzt hat. Bei dem Menschen ziehen wir die entsprechenden Faktoren auch in Betracht, aber außerdem machen wir ihn selbst verantwortlich für das, was aus ihm geworden und nicht geworden ist. 622 Auch Scheler stimmt mit dieser Betonung der Verantwortung als grundsätzlicher Eigenschaft jeder menschlichen Handlung und Entscheidung überein, wenn er unterstreicht, dass die Zurechenbarkeit einer Handlung bei einigen bestimmten Zuständen wie z.B. psychischen Erkrankungen nicht gelte: „Es sollte daher bei psychiatrischen Analysen des krankhaften Charakters immer in sorgfältigster Weise vermieden werden, sittlich tadelnde und lobende Ausdrücke anzuwenden.“623 Allerdings „hebt die psychische Erkrankung wohl die ,Zurechenbarkeit’ der betreffenden Handlungen zur Person auf, keineswegs aber hebt sie die ,Verantwortlichkeit’ der Person überhaupt auf, denn diese steht mit dem Sein der Person in Wesenszusammenhang.“ 624 Im Aufweis der motivationalen Gesetzmäßigkeit aller Dimensionen des Ich-Lebens tritt die Unwahrheit jeder bloß mechanischen Erklärung der menschlichen Handlungen zutage. Der Mensch ist immer frei, weil er nur von Sinnzusammenhängen, nie aber von einer blinden Kausalität motiviert wird: Die Seele ist kein Klavier, vor dem das Ich als Spieler sitzt, als ob es sich eine schöne Fertigkeit einüben wollte, dergemäß wie die Töne so die Lebensakte nach schönen Weisen und gewisserweise mechanisch abliefen [...]; sondern das moralische Ich, das Ich der beständigen und unaufhörlichen Selbsterziehung, ist das Ich, das sich bessern, das sich 622 Stein, Edith: Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung zur philosophischen Anthropologie, Freiburg i. Br. 2004, 77-78. 623 Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bonn 2000, 478. 624 Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bonn 2000, 478. 161 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden selbst so umschaffen will (sich selbst als Ich), dass es als ethisches Ich eo ipso nur gutwollendes sein kann. 625 Diese Bestimmung des Begriffs des moralischen Ich zeigt, dass eine Person nach Husserl in ethisch gültiger Weise lebt, wenn sie sich in einer beständigen Spannung hinsichtlich der echten Selbstbestimmung hält, nach den höchsten Werten strebt und sich ihrer persönlichen Verantwortung bewusst ist. „Das moralische Ich weiß sich als causa sui seiner Moralität.“ 626 Es lebt eine beständige Spannung, die alle seine Akte begleitet, auch wenn diese Spannung nicht immer den Charakter einer expliziten Stellungnahme haben muss. Der Wille kann in verschiedenen Erscheinungsformen und Modalitäten auftreten, wie auch schon im Beitrag Geigers hervorgehoben wurde: Die Freiheit des Ich ist beständig am Werk, nicht nur in den eigentlichen Entscheidungen, sondern auch in den „Quasi-Stellungnahme[n]“ 627 sowie in den beinahe unbemerkten Habitualitäten.628 Hierzu schreibt Husserl, dass im moralischen Ich „die Selbstbestimmung und Selbstnormierung aktuell sein [kann und soll], während sie im Strom des eigentlich moralischen Lebens […] habituell ist und habituell sein muss.“ 629 Es gibt deshalb eine ethische Habitualität und diese „bedeutet hier wie sonst hinsichtlich des Ich und seines moralischen Lebens einen imprägnierten phänomenologischen Charakter, einen moralischen Stempel, dessen Intentionalität jederzeit entfaltet werden 625 Hua XXXVII, 162. Hua XXXVII, 163. Donn Welton schreibt: „On the one hand, ,the absolutely rational person is causa sui in reference to its rationality.’ Essence is defined by existence. On the other hand, it is the ideal of rationality that brings us as persons into the condition of being rational persons, that serves as the ideal of a process of becoming rational. Existence is defined by essence. Husserl’s ethical theory culminates in a self-referential ideal of humanity“ (Welton, Donn: The other Husserl. The Horizons of Transcendental Phenomenology, Bloomington 2000, 317). 627 Hua XXXVIII, 402. 628 Hierzu schreibt Mensch: „Three Husserlian positions allow us to see the self as embracing all these aspects. The first is that the self is not a substance or a thing, but rather a process. When Husserl says that subjectivity ‚constitutes itself, he means that it is engaged in the ongoing process of self-constitution. In fact, subjectivity is this process. The process involves all the aspects of freedom. They appear as levels or stages in the self’s constitution. This does not mean that a level, once achieved, is left behind. It is not the case that the self enjoys a spontaneous childhood, gets caught by desire, and finally proceeds beyond this to reach the stage of autonomous, rational selfhood. Nothing is left behind. All the aspects of freedom are copresent as different stages of the same ongoing process. The process called the ,self’ is constantly proceeding from a pure undetermined spontaneity through intermediate stages to a rationally autonomous selfhood“ (Mensch, Freedom and Selfhood, 42). 629 Hua XXXVII, 163. 626 162 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden kann durch Wiederholung der entsprechenden, die Moralität bestätigenden Akte.“ 630 Jede moralische Stellungnahme stiftet eine bleibende Richtung im Ich und bekräftigt die ethische Habitualität, sein eigenes Leben frei zu bestimmen. Das Wort „Habitus”, in all seinen den verschiedenen Akten entsprechenden Besonderungen, darf nicht von außen her, nicht aus einer Menschen in der Welt betrachtenden Empirie verstanden werden, somit nicht als Titel für gewohnheitsmäßige Erwartungen, für empirische Anzeigen ihres künftigen Aktverhaltens; sondern jenes bis auf weiteres bleibende Sein (einen Willen, ein Urteil haben, eine Wertschätzung usw.) bezeichnet etwas, das überhaupt und in Wesensnotwendigkeit aus jedem neuen Aktus entspringt und nunmehr der Person als solcher – bis auf weiteres – zu eigen ist und in sinngemäß bestimmtem Entsprechen: dem jeweiligen Wollen der bleibende Wille, dem jeweiligen Urteilen das Urteil usw. Freilich heißt es da immer „bis auf weiteres”. 631 Der eigentliche Ursprung des echten moralischen Lebens liegt nach Husserl in der eigentlichen Willensentscheidung, die eine bestimmte willentliche Stellungnahme impliziert, aber besteht die in dieser Stellungnahmen implizierten Folge daraus, eine echte moralische Habitualität zu stiften. Wie Peucker betont, „[a]lthough Husserl, like Aristotle, claims that virtuous acting becomes almost automatically a kind of ,second nature’ of the person, he primarily stresses that the real ethical life has its origin in the activity of the acting ego and not in a passive and naïve process of habituation.“ 632 Nur durch eine aktive Urstiftung kann ein ethisches Leben anfangen und immer wieder erneuert werden. Da die moralische Verantwortung der Selbstbestimmung jede Stellungnahme oder Quasi-Stellungnahme belastet, kann Husserl sagen: „Den höchsten 630 Hua XXXVII, 163. „So ist er der identisch verharrende Mensch und ist zugleich eben als planend-erwerbender in der Ständigkeit eines aktuellen Lebens, strömend-leistenden, immer neue Habitualitäten, personale Gerichtetheiten und Erwerbe für es, für sein Identischsein und -Haben stiftend, realisierend“ (Hua XXIX, 382). Housset betont die Beziehung zwischen Habitualität und aktiver Verantwortung: „Toutes ces habitualités sont comme ,l’avoir’ du je pur. L’expression est certes équivoque, mais sert à distinguer l’ipséité sédimentée, l’habituel, de l’ipséité véritablement active, ou personnelle, par laquelle le sujet s’engage et s’expose dans ses convinctions persistantes. Plus encore, la simple conséquence porte en elle un télos, celui du sujet rationnel qui se décide par des raisons. L’habitualité ne suffit donc pas à fonder la subjectivité rationnelle, mais constitue le sol qui rend possible la vie rationnelle, par example celle du mathématicien qui persiste dans ses convictions. La sédimentation du sens fonde la possibilité d’une responsabilité à l’égard du sens“ (Housset, Personne et sujet selon Husserl, 79). 631 Hua XXIX, 365. 632 Peucker, Henning: From Logic to the Person: An Introduction to Edmund Husserl’s Ethics, in: The Review of Metaphysics 62 (2008) 324. 163 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Wert repräsentiert die Person, die habituell dem echten, wahren, gültigen, freien Entschließen höchste Motivationskraft verleiht.“ 633 § 3. Die erste Richtung der Ethik Husserls: Die formale Ethik und der Parallelismus zwischen Logik und Ethik Die jeweiligen Sinnzusammenhänge und Akzentsetzungen der ethischen Überlegungen Husserls ändern sich beträchtlich innerhalb der Entwicklung seines Werkes. Im Rahmen dieser Arbeit ist es selbstverständlich nicht möglich, eine vollständige Behandlung der Entwicklung und der Veränderungen seiner phänomenologischen Ethik vorzunehmen. Allerdings ist ein zusammenfassender Durchblick hilfreich, um den roten Faden freizulegen, der sich durch die gesamte Ethik Husserls zieht. In der Husserlschen Ethik können zwei unterschiedliche Richtungen ausgemacht werden, welche zwei verschiedenen Phasen seines Werkes entsprechen. Ullrich Melle sieht im Ersten Weltkrieg ein wichtiges Kriterium für die Erkenntnis der verschiedenen Momente.634 Der Krieg sei ein historisches Ereignis, welches einen Wendepunkt in den ethischen Überlegungen Husserls markiere.635 Melle führt hierzu aus: To speak of a pre- und post-war ethics in Husserl could give the false impression that there exists a radical rupture, or a full-turn in Husserl’s ethical thought. This ist not the case, as least insofar as Husserl’s own self-understanding is concerned. Many fundamentals and basic positions of his ethics remain essentially unchanged. What can be said is that the experience of the war and its aftermath lent Husserl’s ethics a greater practical urgency. 636 Obwohl man sagen muss, dass diese Klassifizierung aufgrund der tiefen, das gesamte ethische Werk Husserls kennzeichnenden Kontinuität philosophisch noch strenger 633 Hua IV, 268. Vgl. hierzu Melle, The Development of Husserl’s Ethics, 115-135; Melle, From Reason to Love, in: Drummond, John; Embree, Lester (Hrsg.): Phenomenological Approaches to Moral Philosophy. A Handbook, Dordrecht 2002, 229-248. 635 Melle schreibt hierzu: „In considering the development of Husserl’s ethics, it is useful to distinguish an earlier phase from a later phase. Indeed, one can speak of a pre-war and a post-war ethics, for it was the First World War, with its grave consequences and also the personal suffering and shock which it brought, that can be seen as a certain caesura in Husserl’s ethical reflections“ (Melle, The Development of Husserl’s Ethics, 115). 636 Melle, The Development of Husserl’s Ethics, 117. 634 164 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden gefasst werden müsste, erweist sie sich doch als sehr hilfreich, um die Veränderungen des Interesses Husserls an der Ethik verstehen zu können. Knapp zusammengefasst besteht die „Vorkriegsethik“ 637 aus den Vorlesungen von 1897, 1902, 1908/09 und 1911, die im XXVIII. Band der Husserliana versammelt sind.638 Die späteren ethischen Überlegungen Husserls finden sich in den Vorlesungen über „Fichtes Menschheitsideal“ von 1917/18 639, in der Vorlesung über Ethik aus den Sommersemestern 1920/1924 im XXXVII. Band der Husserliana sowie in den Aufsätzen über Erneuerung, die er in den Jahren 1923 und 1924 für die japanische Zeitschrift Kaizo geschrieben hat.640 Zudem existieren zahlreiche ethische Bemerkungen in anderen Texten Husserls, so z.B. im zweiten Teil der Vorlesungen über Erste Philosophie oder in einigen Manuskripten, die in den drei Bänden über Intersubjektivität641 veröffentlicht wurden. Es ist wichtig festzuhalten, dass sich die vorliegende Arbeit besonders auf die Inhalte der späteren Husserlschen Ethik konzentriert, die auch den Kern der folgenden Überlegungen dieses Kapitels bilden. Aus den bisherigen Ausführungen kann jedoch zusammenfassend festgehalten werden, dass gerade auch der Horizont der frühen Ethik Husserls zu berücksichtigen ist, weil diese erste Phase die Grundlage für seine spätere Ethik bildet und zahlreiche Anregungen gibt für die Bestimmung der gesamten phänomenologischen Ethik Husserls. 637 Vgl. Melle, Objektivierende und nicht-objektivierende Akte, 35-49. Dieser Band der Husserliana enthält vor allem die „Vorlesungen über Ethik und Wertlehre”, die Husserl im Wintersemester 1908/09 und in den Sommersemestern 1911 und 1914 in Göttingen gehalten hat. Der wesentliche Kern dieser Vorlesungen besteht aus dem, was bereits 1908/09 vorgetragen wurde, während die anderen Teile ihre Erweiterung und Überarbeitung darstellen. Von den frühen ethischen Vorlesungen vom Sommersemester 1897, die Husserl als Privatdozent in Halle gehalten hat, sowie vom Sommersemester 1902 sind nur einige Blätter erhalten und als ergänzender Text im Band veröffentlicht. 639 Hua XXV, 267-293. 640 Hua XXVII, 3-124. 641 Vgl. Hua XIII; Hua XIV; Hua XV. 638 165 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Einen wesentlichen Bezugspunkt für die ersten ethischen Überlegungen Husserls stellt ohne Zweifel Franz Brentano642 dar, der besonders in seinem Werk Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis643 von 1889 ein deutliches Interesse für ethische Probleme bekundet. Husserl gibt offen zu, dass die Überlegungen Brentanos zur Ethik die Quelle seiner ethischen Perspektive bilden: Hier können wir an Brentanos geniale Schrift Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1889) anknüpfen, der zuerst solche Gesetze formuliert hat, wie denn diese Schrift überhaupt den Anstoß für all meine Versuche einer formalen Axiologie gegeben hat. Brentano steht freilich auf psychologischem Boden und hat, ebensowenig wie in der logischen Sphäre die Möglichkeit und Notwendigkeit einer formalen Bedeutungslogik, so hier nicht diejenige einer idealen und formalen Ethik und Axiologie erkannt. Aber das hindert nicht, daß bei Brentano die fruchtbaren Keime liegen, die zu Weiterbildungen berufen sind. 644 Das von Brentano übernommene Ziel der ersten Husserlschen Ethik besteht kurz gesagt darin, den ethischen Skeptizismus und Relativismus durch die Grundlegung einer formalen und apriorischen Ethik und Axiologie zu überwinden, d.h. durch formale moralische Gesetze, die nicht bloß induktiv oder empirisch, sondern apriorisch verfasst sind und „nach denen man logisch korrekt handeln soll [...]. Anders als so zu handeln wäre ‚irrational’ und damit ethisch verwerflich.“ 645 Einer der von Husserl genannten „fruchtbaren Keime“, die bei Brentano anzutreffen sind, ist also ohne Zweifel, dass er die dringende Notwendigkeit einer wissenschaftlich begründeten Ethik erfasst hat. Brentano möchte nämlich eine Antwort auf die folgende Frage finden: „Gibt es ein natürliches Sittengesetz in dem Sinne, daß es, seiner Natur nach allgemeingültig und 642 Als Herausgeber des Bandes der ersten ethischen Vorlesungen bemerkt Melle: „Wie die Fragmente aus den Anfangsstücken von Husserls ethischen Vorlesungen aus den neunziger Jahren zeigen, begann Husserl seine frühen ethischen Vorlesungen wie Brentano mit der Aristotelischen Bestimmung der Ethik als praktische Wissenschaft von den höchsten Zwecken und der Frage nach der Erkenntnis der richtigen Endzwecke. Von da ging Husserl ebenso wie Brentano in seinen Vorlesungen über zur Frage nach den ethischen Grundwahrheiten, den Prinzipien. Es folgen bei Husserl wie bei Brentano Ausführungen über die Unbeweisbarkeit der Prinzipien und über Evidenz. Brentano wendet sich dann der Frage nach dem Ursprung der ethischen Prinzipien zu, wobei es um die Frage geht, ob die Prinzipien der Ethik Erkenntnisse oder Gefühle sind. Im Zusammenhang damit geht Brentano sowohl auf den Gegensatz zwischen rationalistischer und empiristischer Ethik in der klassischen englischen Moralphilosophie wie vor allem auf den Gegensatz zwischen Hume und Kant ein. Im Anschluß an die historisch-kritischen Ausführungen folgt Brentanos eigener Grundlegungsversuch der Ethik.“ (Melle, Ullrich: Einleitung des Herausgebers, in: Hua XXVIII, XVI-XVII). 643 Brentano, Franz: Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1921. 644 Hua XXVIII, 90. 645 Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des Personenbegriffs, 225. 166 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden unumstößlich, für die Menschen aller Orte und aller Zeiten, ja für alle Arten denkender und fühlender Wesen Geltung hat, und fällt seine Erkenntnis in den Bereich unserer psychischen Fähigkeiten?“ 646 Gibt es nun eine Möglichkeit, wirklich zu wissen, dass etwas gut ist? Zahlreiche Beispiele aus der täglichen Erfahrung scheinen eine positive Antwort auf diese Frage nahezulegen647, aber wenn man um jeden Preis versucht, eine universelle Antwort zu etwas zu finden, das an sich und nicht nur für einzelne Fälle gut ist, „[scheint d]ie Sache [...] rätselhaft.“ 648 Gerade diese Unfähigkeit zur Antwort bildet die Quelle des ethischen Skeptizismus und Relativismus, die als Hauptfeinde von Brentano bezeichnet werden können.649 Die Lösung dieses Rätsels besteht nach Brentano in der Feststellung von ethischen Geboten, d.h. Geboten in der Bedeutung, in welcher man von Geboten der Logik spricht für unser Urteilen und Schließen. [...] Die Gebote der Logik sind natürlich gültige Regeln des Urteilens, d.h. man hat sich darum an sie zu binden, weil das diesen Regeln abweichende Urteilen dem Irrtum zugänglich ist; es handelt sich also um einen natürlichen Vorzug des regelgemäßen vor dem regelwidrigen Denkverfahren. Um einen solchen natürlichen Vorzug und eine darin gründende Regel, nicht aber um ein Gebot fremden Willens wird es sich also auch bei dem Sittlichen handeln müssen. 650 Auch Husserl weiß darum, dass es auf Grund des herrschenden ethischen Relativismus nötig ist, eine Arbeit über den Aufbau der Ethik zu verfassen. Er übersteigt 646 Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 9. Hierzu schreibt Brentano: „Wir geben, wie der Einsicht vor dem Irrtum, so, allgemein gesprochen, der Freude (wenn es nicht gerade eine Freude am Schlechten ist) vor der Traurigkeit den Vorzug. Wenn es Wesen gäbe, welche hier umgekehrt bevorzugten, so würden wir dies, und mit Recht, als ein verkehrtes Verhalten bezeichnen“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 9). 648 Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 20. Brentano selbst erkennt diesen Mangel in der Geschichte der Philosophie an: „Indessen, wie immer der Weg, der zur ethischen Erkenntnis führt, den Laien und auch den Philosophen vielfach im Nebel lag, so müssen wir doch, da der Prozeß ein komplizierter ist, und viele Momente dabei zusammenwirken, erwarten, daß Spuren auch von der Wirksamkeit jedes einzelnen von ihnen für sich in der Geschichte sich aufzeigen lassen werden“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 36-37). 649 Durch ein klares Beispiel versucht Brentano, die Falschheit der „Relativitätslehre“ zu zeigen: „Nach dieser würde kein Satz der Ethik, auch nicht der, daß man das Beste des weitesten Kreises beim Handeln maßgebend machen solle, ausnahmslose Gültigkeit haben. In der Urzeit und auch später, lange Jahrhunderte hindurch, wäre, wie er ausdrücklich behauptet, ein solches Verfahren ebenso unsittlich gewesen wie in spätern das entgegengesetzte. Wir müßten, in die Zeiten der Menschenfresserei zurückblickend, mit den Menschenfressern und nicht mit dem sympathisieren, der innerlich etwa seiner Zeit vorauseilend, schon damals die allgemeine Nächstenliebe gepredigt hätte. Das sind Irrtümer, welche nicht bloß durch die philosophische Reflexion auf die Erkenntnisprinzipien der Ethik, sondern auch durch die Erfolge unserer christlichen Missionäre schlagend widerlegt werden“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 34). 650 Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 12. 647 167 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden dennoch die Position Brentanos und erkennt den Ursprung des Relativismus nicht in den jeweiligen Falschheiten der verschiedenen Philosophien, sondern allgemeiner in der Psychologisierung der ethischen Prinzipien651, wie er auch deutlich in den „Logischen Untersuchungen“ bezüglich des Psychologismus in der logischen Gebiet betont, wenn er schreibt, dass „der Psychologismus in allen seinen Abarten und individuellen Ausgestaltungen nichts anderes als Relativismus [ist], nur nicht immer erkannter und ausdrücklich zugestandener.“652 Der ethische Skeptizismus hat nach Husserl gewaltige Auswirkungen: Er führt nämlich zur Leugnung jeder sozusagen wirklich verpflichtenden Pflicht. Begriffe wie „gut“ und „böse“, „praktisch vernünftig“ und „unvernünftig“ werden zu bloßen Ausdrücken empirischpsychologischer Fakta der menschlichen Natur, wie sie nun einmal ist, wie sie sich kulturgeschichtlich unter den zufälligen Umständen menschlicher Kulturentwicklung, und weiter zurückgehend, biologisch in der Entwicklung der menschlichen Spezies im Kampf ums Dasein und dergl. ausgebildet hat. Sie drücken, wenn der Empirist recht hat, keine absoluten Ideen aus, die ihren allgemeinen Sollenssinn für jedes wollende und fühlende Wesen haben, mag es welcher Welt immer, welcher wirklichen oder einstimmig denkbaren, angehören. 653 651 Es ist bedeutsam, dass Brentano selbst dieses Verdienst Husserls anerkennt. In seinem Werk „Grundlegung und Aufbau der Ethik”, das erst 1952 von Franziska Mayer-Hillebrand aus dem Nachlass veröffentlicht wurde, schreibt er nämlich: „In neuerer Zeit ist die Lehre von der Evidenz und ihrem Analogon auf dem Gebiete der Gemütstätigkeiten als ,Psychologismus’ bezeichnet worden. Husserl, der Begründer der Phänomenologie, hat diesen Namen geprägt. Die Psychologisten fassen die Evidenz als ,Gefühl der Überzeugung’ auf. Aber ein Gefühl der Überzeugung könne die Wahrheit des betreffenden Urteils nicht verbürgen und führe zum Relativismus, weil jedes Urteil, das mit diesem geheimnisvollen Evidenzgefühl ausgestattet ist, wahr wäre und daher bei anderen Wesen Urteile, die unseren ,evidenten’ entgegengesetzt sind, diesen Bewußtseinsindex tragen könnten. Es ist jedoch eine gänzliche Verkehrung des Phänomens der Evidenz, wenn man sie als ein ,Gefühl der Überzeugung’ bezeichnet“ (Brentano, Franz: Grundlegung und Aufbau der Ethik, Bern 1952, 155). 652 Hua XVIII, 130. Philippe Merz gibt genauer die verschiedenen Ausführungen des ethischen Skeptizismus an, die Husserl unter dem Titel „Psychologismus” zusammennimmt, und schreibt, dass „seit dem 18. Jahrhundert verschiedene psychologistische und empiristische Positionen [sich entwickelt haben], die dafür plädieren, dass die Ideen von ,gut’ und ,böse’ oder ,praktisch vernünftig’ und ,unvernünftig’ keine überzeitlich gültigen Normen darstellen, sondern entweder (1.) Ausdrücke der empirisch-psychologischen Funktionsweisen und Zustände des menschlichen Geistes, (2.) der kulturrelativen menschlichen Normensysteme oder (3.) der evolutionsbiologisch erklärbaren Anpassungsstrategien der Spezies Mensch. Diese Hauptvarianten des Psychologismus, Konventionalismus und Biologismus eint ihr Reduktionismus und Relativismus, die, konsequent zu Ende gedacht, zu einer nonkognitivistischen und skeptischen Theorie der Praxis führen“ (Merz, Philippe: Husserls analytische Begründung der Ethik, in: Merz, Philippe; Staiti, Andrea; Steffen, Frank (Hrsg.): Geist–Person–Gemeinschaft. Freiburger Beiträge zur Aktualität Husserls, Würzburg 2010, 277). 653 Hua XXVIII, 13. 168 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Während die Widerlegung des theoretischen Skeptizismus durch eine reiche und lange Gedankengeschichte nachgewiesen wird, stellt sich die Situation für die Ethik anders dar. In der Antike war zwar die formale Logik entstanden und hatte sich etabliert, nicht aber eine formale Ethik. Hierzu bemerkt Husserl: „Aristoteles war der Vater der Logik, weil er eigentlich der Schöpfer der logischen Analytik, dessen, was wir auch formale Logik nennen, gewesen ist [...]. Durch seine Nikomachische Ethik, so viel Schönes sie bieten mag, ist er nicht im gleichen Sinn Vater der Ethik geworden.“ 654 Die extremen Auswirkungen des ethischen Skeptizismus rufen eine bestimmte gefühlsmäßige Reaktion, eine Art Empörungsgefühl hervor über das, was Husserl einen „praktischen Widersinn“ 655 nennt, der aber noch keineswegs als Analogon der Widerlegung des logischen Skeptizismus gelten kann. So stellt Husserl seinen Hörern die Frage: Hebt sich auch der ethische und axiologische Psychologismus durch so etwas wie einen Widersinn auf? Etwa durch einen praktischen Widersinn? Aber was ist das, fragen wir, ein praktischer Widersinn? Handelt es sich etwa nur um praktische Konsequenzen, vor denen wir gefühlsmäßig zurückschrecken, gegen die sich unser Gefühl aufbäumt? Aber Gefühle widerlegen doch nichts. Eine Widerlegung ist doch eine theoretische Sache und muß sich theoretisch als theoretischer Widersinn bekunden. 656 654 Hua XXVIII, 37. Hua XXVIII, 30. 656 Hua XXVIII, 30. 655 169 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Nur eine auf der formalen Logik beruhende formale Ethik, nicht dagegen ein bloßes Abstoßungsgefühl, kann den Skeptizismus wirklich ausschließen.657 Der Leitgedanke der Husserlschen Ethik zwischen 1897 und 1914 ist es, die Notwendigkeit einer formalen Ethik und Axiologie gegen jeden Relativismus zu begründen, und der Weg dorthin besteht aus einem Parallelismus und einer ernsten Gegenüberstellung mit der Logik, wie schon Brentano gesehen hatte.658 Perreau formuliert deutlich: „L’analogie établie par Husserl entre éthique et logique constitue l’épine dorsale de cette entreprise. Husserl affirme avec force qu’il est possible d’établir un parallèle entre éthique et logique; c’est-à-dire phénoménologique analogue à celle accomplie pour la logique par 657 Husserl bemerkt weiter, dass der Skeptizismus dieselbe Dynamik und denselben inneren Widerspruch sowohl im logischen als auch im ethischen Gebiet aufweist: „Extremer ethischer Skeptizismus muß in weiterer Folge zunächst besagen Leugnung einer praktischen Vernunft überhaupt, Leugnung jedweder unbedingt objektiven Geltung in dem ganzen Feld der Praxis. Hier finden wir die Analogie. Skeptische Behauptungen hätten das Charakteristische, daß sie in ihrem Inhalt generell das negierten, was sie als Behauptungen sinnvoll voraussetzen. Skeptische Forderungen wären danach und in genauer Parallele solche Forderungen, die in ihrem Inhalt generell das negierten, was sie ihrem Sinn nach als Forderungen vernunftgemäß voraussetzen. Auch Forderungen, und nicht bloß Aussagen, können negativ sein; dem ,Es ist nicht’ entspricht ein ‚Tue das nicht!’. Wenn nun ein generelles ‚Tue nicht!’ das verwehren will, was Voraussetzung jeder vernünftigen Forderung als solcher ist, so wäre das ein skeptischer Widersinn“ (Hua XXVIII, 33-34). Vincenzo Costa betont in diesem Zusammenhang: „Questo parallelismo tra le due forme di scetticismo – osserva Costa – indica che, come vi sono regole puramente logico formali, allo stesso modo vi sono anche regole etiche puramente formali“ (Costa, La fenomenologia, 461). Siehe auch Gianna Gigliotti: „La confutazione dello scetticismo etico [è] imperniata sulla perfetta analogia con la confutazione dello scetticismo gnoseologico, entrambe fondandosi sulla contraddittorietà del porre qualcosa che contemporaneamente si toglie“ (Gigliotti, Gianna: Materia e forma della legge morale nell’interpretazione husserliana del formalismo di Kant, in: Centi, Beatrice; Gigliotti, Gianna (Hrsg.): Fenomenologia della ragion pratica: L'etica di Edmund Husserl, Neapel 2004, 49). 658 Es ist wesentlich zu beachten, dass Husserl auch schon in dieser Phase seines ethischen Denkens klar wird, dass die formale Ethik eine ergänzende Dimension der materiellen Ethik darstellt. Diese Unterscheidung zwischen formaler und materieller Ethik fällt unter den Rahmen der Analogie zwischen Logik und Ethik, da sowohl eine formale als auch eine materielle Logik besteht. Hierzu schreibt Husserl, dass „die Analogie von Formalem und Materialem in der praktischen Sphäre mit demjenigen in der logischen Sphäre durchaus statthat“ (Hua XXVIII, 139). Während die Aufgabe der formalen Ethik in der Entdeckung der formalen Universalität der Prinzipien der vernünftigen Handlung besteht, beschäftigt sich die materielle Ethik mit der Konkretheit des praktischen Lebens und der Handlung. Wie Perreau betont: „Queste due discipline sono entrambe necessarie affinchè l’etica sia completa“ (Perreau, Laurent: La double viseé de l’éthique husserlienne: intentionnalité et téléologie, in: Alter – Revue de phénoménologie 13 (2005), 22). Der Mangel einer materiellen Ethik wird von Husserl selbst anerkannt, wenn er bemerkt: „Dieses formale Prinzip sich vor Augen zu halten, es ausdrücklich auszusprechen, kann nützlich sein, so wie es nützlich sein kann, sich formal-logische Gesetze zu formulieren und sich von ihnen mahnen <zu> lassen. Aber die Frage, was gut und besser und Bestes ist, wird uns so nicht beantwortet; und auch theoretisch ist nur ein kleiner, wenn auch der fundamentalste Teil der Aufgabe einer wissenschaftlichen und zunächst apriorischen Ethik erledigt. Denn nun wären die Grundklassen von Werten zu fixieren bzw. die von praktischen Gütern und dann theoretisch zu erforschen die zugehörigen Vorzugsgesetze“ (Hua XXVIII, 140). Trotz der Anerkennung der Wichtigkeit der Aufgabe einer materiellen Ethik gibt es jedoch keine Spur von ihr in diesen ersten Vorlesungen. 170 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden les Recherches Logiques.“ 659 Der allgemeinere Rahmen dieser Unternehmung ist die Kritik der theoretischen, axiologischen und praktischen Vernunft, die Husserl in jenen Jahren durch die Vermittlung der Brentanoschen Klassifizierung der verschiedenen Aktklassen herausarbeitet, wie bereits im ersten Kapitel bezüglich des Problems des Fundierungszusammenhangs zwischen objektivierenden und nicht-objektivierenden Akten hervorgehoben wurde. Wie bei den Gesetzen der formalen Logik, die auf die reine Form hinweisen, die ein Urteil unabhängig von seinem Inhalt besitzen muss, so sind die rein formalen Gesetze der Ethik zu erkennen und zu formulieren. Der Parallelismus zwischen formaler Logik und formaler Ethik setzt nämlich voraus, dass die Werte aus Objektivitäten als Korrelaten der wertenden Akte analog zu den logischen Gegenständlichkeiten der doxischen Sphäre und nicht nur aus subjektiven Gefühlen oder Empfindungen bestehen660 : Aufgrund dieser Voraussetzung herrschen „[i]n diesen 659 Perreau, La double viseé de l’éthique husserlienne: intentionnalité et téléologie, 19. Auch im logischen Gebiet ist nach Husserl der Ursprung des logischen Skeptizismus im Psychologismus zu erblicken: „Jede Lehre, welche die rein logischen Gesetze entweder nach Art der Empiristen als empirisch-psychologische Gesetze faßt oder sie nach Art der Aprioristen mehr oder minder mythisch zurückführt auf gewisse ,ursprüngliche Formen’ oder ,Funktionsweisen’ des (menschlichen) Verstandes, auf das ,Bewußtsein überhaupt’ als (menschliche) ,Gattungsvernunft’, auf die ,psychophysische Konstitution’ des Menschen, auf die ,Gattungsvernunft’ des Menschen, auf den ,intellectus ipse’, der als angeborene (allgemein menschliche) Anlage dem faktischen Denken und aller Erfahrung vorgeht u. dgl. – ist eo ipso relativistisch, und zwar von der Art des spezifischen Relativismus“ (Hua XVIII, 130-131). Oder: „Werden im Sinn der psychologistischen Auffassung die logischen Gesetze überhaupt und darunter die Gesetze der Aristotelischen Analytik wesentlich auf die menschliche Natur bezogen, drücken sie also Besonderheiten der menschlichen Seelenausstattung aus, so kommt ihnen nur temporäre Geltung zu, sie geraten selbst in den Fluß der Entwicklung. Extreme Psychologisten, die den rühmlichen Mut der Konsequenz hatten, haben dies auch ausdrücklich anerkannt“ (Hua XXVIII, 22). Der psychologistische Relativismus ist dennoch in sich widersprüchlich, und Husserl enthüllt seine Widersinnigkeit mit dem klassischen Argument gegen den Skeptizismus: „Überlegen wir aber, daß jede Behauptung, sofern sie den Anspruch auf Wahrheit erhebt, den Satz vom Widerspruch voraussetzt. Sie will Wahres aussagen, sie sagt ,So ist es’ und selbstverständlich gehört es zu ihrem Sinn, daß damit ausgeschlossen sei, daß es, so nicht ist’. Daß ein ,So ist es’ das entsprechende ,So ist es nicht’ ausschließt, dies und nicht mehr sagt der Satz vom Widerspruch aus; und somit verliert ohne seine Geltung jede auf Wahrheit Anspruch erhebende Behauptung ihren Sinn. Wir erkennen so die Widersinnigkeit der psychologistischen Auffassung“ (Hua XXVIII, 22). 660 Peucker hebt diesen Punkt deutlich hervor: „The closeness of Husserl’s theory to Brentano becomes even more obvious when one compares how both philosophers combine reason with the accomplishments of our consciousness. Both think that the three disciplines of reason have their subjective origin in certain acts of consciousness, which can be clarified through an investigation of these acts: logic by going back to acts of presenting and judging, ethics through the acts of willing and acting, and axiology through the acts of feeling and evaluating. According to Brentano and Husserl, in all three types of acts we can also raise the question of their correctness or validity, since all three can be either right or wrong, correct or incorrect. Because of that, these acts stand in a very close and intricate relation to the normative distinctions that we make in the sphere of reason when we, for example, claim something as being true or good“ (Peucker, From Logic to the Person: An Introduction to Edmund Husserl’s Ethics, 311). Philippe Merz schreibt hierzu: „Die Analyse dieser Aktarten mit ihren noematischen Korrelaten und jeweiligen Zusammenhängen von Intention und Erfüllung bildet die systematisch tiefste, akttheoretische Begründungsstufe für eine pluralistische Theorie der Vernunft“ (Merz, Husserls analytische Begründung der Ethik, 281). 171 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden sowohl für unser alltägliches Erleben und Handeln als auch für unser Selbstverständnis zentralen Lebensbereichen [...] demzufolge nicht allein irrationale Affektivität oder kulturrelative Zufälligkeit, sondern Wesensgesetze.“ 661 Formale Ethik und formale Axiologie führen zu Formulierungen formaler Gesetze, die eine formale Axiologie und eine formale Praktik bilden. Husserl ist in der Verwirklichung dieser Aufgabe von den axiologischen Prinzipien Brentanos662 beeinflusst, besonders von seinem kategorischen Imperativ: „Tue das Beste unter dem Erreichbaren!“ Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es nicht angebracht, die einzelnen formalen Gesetze detailliert darzulegen, aber es ist besonders wichtig hervorzuheben, dass alle ethischen Gesetze auf apriorischen Motivationsgesetzen beruhen, die „Gesetze vernünftiger Konsequenz“ 663 sind. Hierzu schreibt Husserl: [W]as die Zusammenhänge der Wertungsakte anlangt, so bestehen in allen Sphären Zusammenhänge der Motivation: Das Grundwerten motiviert das Werten für die abgeleiteten Werte. Und Motivation in all ihren Arten untersteht der Rechtsbeurteilung: sie ist vernünftig oder unvernünftig und untersteht Normgesetzen, insbesondere aber formalen Normgesetzen, die von der Materie der jeweiligen Endwerte und Mittelwerte abstrahieren. Überall können wir hierbei von Gesetzen der Konsequenz sprechen, das sind eben überall das Wort Motiv am Platz. 664 Diese motivationalen formalen Normgesetze der Konsequenz setzen noch einmal den Parallelismus zwischen logischer, ethischer und axiologischer Vernunft, da „[s]o wie wir auf logischem Gebiet und speziell in den Verhältnissen mittelbaren Denkens 661 Merz, Husserls analytische Begründung der Ethik, 273-274. Vgl. Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 24-30. Husserl vertieft und erweitert die Brentanosche Formulierung. Brentano konzentriert sich besonders auf die Begriffbestimmung des Guten und des Besseren. Er schreibt hierzu, dass „das Bessere [...] dasjenige [sei], was mit Recht mehr geliebt werde, was mit Recht mehr gefalle“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 25). Hier stellt sich allerdings die Frage, wann etwas besser als etwas anderes ist und als Besseres von uns erkannt wird. Diesbezüglich schlägt er als Kriterium des Summierungsprinzips vor: „Schon Aristoteles hebt es hervor, daß bei Gutem die Summe immer besser sei als der einzelne Summand. Ein solcher Fall von Summierung liegt auch vor bei längerer Dauer. Die gleiche Freude, welche eine Stunde währt, ist besser als die, welche im Augenblick erlischt“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 27). Brentano ist sich dessen bewusst, dass solche Kriterien selbstverständlich scheinen können, aber er formuliert genauer: „Selbstverständlich sind sie nun allerdings, müssen es aber auch wohl sein, da wir ja hier von dem, was Grundlage werden soll, handeln“ (Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 28). Für eine gründlichere Analyse der Berührungspunkte und der Unterschiede zwischen den Gesetzesformulierungen bei Husserl und Brentano siehe Gérard, Vincent: L’analogie entre l’éthique formelle et la logique formelle chez Husserl, in: Centi, Beatrice; Gigliotti, Gianna (Hrsg.): Fenomenologia della ragion pratica: L'etica di Edmund Husserl, Neapel 2004, 132-138. 663 Hua XXVIII, 70. 664 Hua XXVIII, 71. 662 172 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden von analytischem Grund und analytischer Folge sprachen, so hätten wir hier zu sprechen von analytisch-praktischen Gründen und analytisch-praktischen Folgen.“ 665 Im Gebiet der Logik gilt: „Wer überzeugt ist, daß A gilt, kann vernünftigerweise nicht zweifeln, ob A gilt.“ 666 Und wie in der Logik ist „[d]er Zielentschluß, der Zielvorsatz [...] zu bezeichnen als Willens-Grundsatz, Willens-Prämisse für den auf das Mittel bezüglichen Entschluß als Willens-Folge-Satz.“667 Diese in der praktischen Vernunft geltenden Motivationszusammenhänge besitzen keinen psychologischen Charakter, denn die Erfahrung zeigt deutlich, dass es immer möglich ist, etwas Schädigendes zu wählen oder das einem bestimmten Ziel entsprechende Mittel abzulehnen. Es handelt sich um apriorische Gesetze, die an sich rational sind: Prinzipien wie „Das Nichtsein eines Unschönen ist gut (erfreulich), das Sein eines Unschönen ist von Übel“ 668 oder „Man kann nicht das Wollen des A wollen und A schlechthin nicht wollen“ 669 sind an sich rational und unabhängig von unseren jeweiligen psychologischen Zuständen oder unseren faktischen Überzeugungen. 670 Am Ende dieser kurzen Darlegung der ersten Phase der ethischen Überlegungen Husserls kann man besser verstehen, welche Ansicht seine Analyse anregt. Es handelt sich hier um eine Ansicht, die Husserl nie aufgibt, da sie die Grundlage und den Kern seines Begriffs der menschlichen Vernunft betrifft, was im Folgenden näher erläutert werden soll. Melle stellt klar das Zentrum der Husserlschen Ethik heraus, von dem bereits die ersten ethischen Vorlesungen ausgehen Die Willensvernunft, so könnte man sagen, besteht im Vernunftwillen, im prinzipiellen Willen zur Vernunft, d.h. in der Bereitschaft und im Entschluss, sein Aktleben als Ganzes und ein für allemal unter das Vernunftgesetz des kategorischen Imperativs zu stellen. Aus dem Wissen um seine Trägheit und seine beständige Neigung, den Mächten der Passivität 665 Hua XXVIII, 70. Hua XXVIII, 71. 667 Hua XXVIII, 70. 668 Hua XXVIII, 75. 669 Hua XXVIII, 128. 670 Hierzu schreibt Paolo Spinicci: „Il senso delle argomentazione husserliane è da un lato molto più impegnativo dall’altro assai più debole. È più debole, perché sostenere che non si può desiderare ciò che si ritiene dannoso non significa affatto che non possa darsi il caso di un desiderio siffatto […]. Ma è anche molto più impegnativa: che non si debba volere ciò che non si desidera che sia è una proposizione in sé razionale, la cui evidente necessità non è affatto relativa alla nostra umana natura poiché non poggia sulla nostra disposizione psicologica di fatto“ (Spinicci, Paolo: Indicazioni per una lettura dei Lineamenti di etica formale di Edmund Husserl, in: Husserl, Edmund: Lineamenti di etica formale, Florenz 2002, 9). 666 173 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden blind zu folgen, entschließt sich das personale Ich, den kategorischen Imperativ zu seinem Lebensgesetz zu machen, also sein Aktleben selbst dem kategorischen Imperativ entsprechend zu gestalten. 671 Der kategorische Imperativ „Wolle einsichtig das Beste unter dem Erreichbaren“672 ist nun für Husserl das höchste formale Willensgesetz der menschlichen Vernunft, wie auch Alois Roth deutlich betont, wenn er schreibt: „Nicht das Beste überhaupt im jeweiligen praktischen Bereich ist das Geforderte, sondern der auf dieses Beste gerichtete einsichtige Wille und diesem folgend die Realisierung des einsichtig Besten.“ 673 Die radikale Dringlichkeit für jeden Menschen, sein eigenes Leben nach diesem kategorischen Imperativ auszurichten, stellt auch den Kern der späteren Ethik Husserls dar. Die Akzente verschieben sich, die direkte Beeinflussung durch Brentano wird weniger ausdrücklich, das Beharren auf der Notwendigkeit einer formalen Ethik und auf ihrem Parallelismus mit der formalen Logik lässt nach. Aber zugleich werden als Herzstücke die Zentralität der Rolle des „Willens zur Vernunft“ und der Kampf gegen den ethischen Relativismus festgehalten.674 In der Krisis sagt Husserl nämlich, 671 Melle, Husserls personalistische Ethik, 344. F I 21, 20. 673 Roth, Edmund Husserls ethische Untersuchungen dargestellt anhand seiner Vorlesungsmanuskripte, 136. 674 Es ist wichtig zu bemerken, dass Husserl nie aufgehört hat, die Notwendigkeit der Begründung einer formalen Ethik zu betonen. In seinen Vorlesungen über Fichte von 1917 schreibt Husserl bezüglich der Kantischen Lehre der praktischen Vernunft: „Das menschliche Trieb- und Willensleben steht wie sein Erfahrungs- und Denkleben unter apriorischen Gesetzen. Der theoretischen Vernunft steht zur Seite eine praktische Vernunft. Hier werden wir des erhabenen Sittengesetzes bewußt, des kategorischen Imperativs der Pflicht, der schlechthin unbedingten Forderung, ohne jede Rücksicht auf unsere Neigungen und auf irgend erwachsende Folgen unsere Pflicht zu erfüllen. In seiner absoluten Geltung zweifellos, gehört dieses Gesetz nicht zu den eine Natur konstituierenden. Aber es erhebt uns, zugleich indem es uns sich unterwirft, zur Würde moralischer Menschen, macht uns zu Mitgliedern einer sittlichen Welt“ (Hua XXV, 273). In den Kaizo-Artikeln beschreibt Husserl nämlich die formale Ethik als „Wissenschaft vom Wesen und den möglichen Formen eines solchen Lebens in reiner (apriorischer) Allgemeinheit“ (Hua XXVII, 20) und bemerkt hierzu: „Hier fehlt eben die parallele apriorische Wissenschaft, sozusagen die mathesis des Geistes und der Humanität; es fehlt das wissenschaftlich entfaltete System der rein rationalen, der im ,Wesen’ des Menschen wurzelnden ,apriorischen’ Wahrheiten, die als der reine Logos der Methode in die geisteswissenschaftliche Empirie in einem ähnlichen Sinne theoretische Rationalität hineinbrächten und in einem ähnlichen Sinne rationale Erklärung empirischer Tatsachen möglich machten, wie die reine Mathematik der Natur empirische Naturwissenschaft als mathematisch theoretisierende und somit rational erklärende möglich gemacht hat“ (Hua XXVII, 7). Eine anderweitige Bestätigung der wesentlichen Kontinuität der ethischen Überlegungen Husserls lässt sich darin finden, dass er die formalen axiologischen Gesetze in den zwanziger Jahren erneut vorschlägt. Im zweiten Teil von Erste Philosophie nimmt Husserl erneut das Absorptionsgesetz auf und spricht von „eine[r] endlose[n] Kette sich nicht nur aneinanderreihender, die frühere absorbieren, sie dabei in gewisser Weise erhalten, Werte und Zwecke — Werte und Zwecke, deren spätere Summen sondern aufeinander bauender, sich integrierender, erhöhender und doch wieder durch Überschießung entwerten, ferner Werte, die in diesem endlosen Stufenbau der erhöhenden Steigerung selbst ein Wertganzes ausmachen“ (Hua VIII, 13) 672 174 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden dass die Skepsis zum „Zusammenbruch des Glaubens an die ‚Vernunft’ “675 führt, und er setzt hinzu: „Verliert der Mensch diesen Glauben, so heißt das nichts anderes als: er verliert den Glauben ‚an sich selbst’, an das ihm eigene wahre Sein, das er nicht immer schon hat, nicht schon der Evidenz des ‚Ich bin’, sondern nur hat und haben kann in Form des Ringens um seine Wahrheit, darum, sich selbst wahr zu machen.“ 676 § 4. Husserls späte Ethik: Erneuerung und Verantwortung Um das Wesen der zweiten, neuen Richtung der Ethik Husserls sichtbar machen zu können, ist es hilfreich, kurz auf das Ereignis des Ersten Weltkriegs zurückzukommen, weil es einen entscheidenden Wendepunkt für die von ihm behandelte Problematik darstellt. Dieses dramatische Geschehnis lässt im Husserlschen Denken das wesentliche Bedürfnis reifen nach einer radikalen Erneuerung sowohl in individueller als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Ein wichtiges Zeugnis dessen stellen die drei Vorlesungen über „Fichtes Menschheitsideal“ dar, die Husserl erstmals im November 1917 in Freiburg im Rahmen von Kursen für Kriegsteilnehmer gehalten hat.677 Bei dieser Gelegenheit zeigt Husserl eine starke persönliche Anteilnahme gegenüber dem Krieg und trägt Passagen vor, deren Charakter und Tonlage weit entfernt scheinen von denen seiner ersten ethischen Vorlesungen: „[D]azu kam nun dieser Krieg, dieses über alles Begreifen große und schwere Schicksal unserer deutschen Nation. Welches Phänomen! [...] Es ist eine Zeit der Erneuerung all der idealen Kraftquellen, die dereinst im eigenen Volk und aus seinen tiefsten Seelengründen erschlossen worden sind und die schon früher ihre rettende Kraft bewährt hatten.“ 678 Abgesehen von der auf den ersten Blick rhetorisch anmutenden Tonart der Ausführungen Husserls über den Krieg besteht der Kern dieser Vorlesungen in einem nachdrücklich persönlichen und gemeinschaftlichen Aufruf zur ethischen Erneuerung. Der Standpunkt Husserls zum Krieg ändert sich besonders 675 Hua VI, 10. Hua VI, 11. 677 Husserl wiederholte diese Vorlesungen noch zweimal im Januar 1918 und im November 1918 (kurz vor dem Abschluss des Waffenstillstands) für die Hörer aus der Philosophischen Fakultät. Siehe hierzu: Nenon, Thomas; Sepp, Hans Reiner: Einleitung des Herausgebers, in: Hua XXV, XXVIII. 678 Hua XXV, 268. 676 175 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden aufgrund seines von diesem geschichtlichen Ereignis verursachten schwerwiegenden persönlichen Verlusts.679 Gerade dieses Drama aber bestärkt Husserl in dem Bewusstsein der Notwendigkeit einer Neugeburt des menschlichen Lebens und der Wiederentdeckung des Wesens der europäischen Kultur. Der Krieg erweist sich freilich als der denkbar größte Irrweg für eine Erneuerung. In zwei Briefen von 1920 an William Hocking und an Winthrop Bell drückt Husserl seine tiefe Enttäuschung und Erschütterung darüber aus: „Was der Krieg enthüllt hat, ist das unsägliche nicht nur moralische u. religiöse, sondern auch philosophische Elend der Menschheit. [...] Aus dem geistigen Elend ist nun auch das physische Elend geworden, das nun seinerseits immer neues moralisches Elend in furchtbaren Progressionen erzeugt.“ 680 Und weiter: „Dieser Krieg, der universalste und tiefste Sündenfall der Menschheit in der ganzen übersehbaren Geschichte, hat ja alle geltenden Ideen in ihrer Unklarheit und Unechtheit erwiesen. [...] Der Krieg der Gegenwart, zum Volkskrieg im wörtlichsten und grauenvollsten Sinne geworden, hat seinen ethischen Sinn verloren.“ 681 Trotz der unterschiedlichen und in gewisser Weise auch naiven Auffassungen über die Bedeutung des Weltkriegs bestimmt dieses Moment auch Husserls Vorlesungen von 1917 und zwar in einer bestimmten Betonung der beständigen menschlichen Möglichkeit, immer höheren Zwecken zu folgen. Basierend auf den Prinzipien der Philosophie Fichtes unterstreicht Husserl, dass das Wesen der Subjektivität im Handeln besteht, da „Subjekt sein [...] durchaus und nichts anderes als Handelnder sein [ist].“ 682 Aber dies genügt nicht, weil es nicht nur um ein bloßes Handeln geht, sondern um ein zielgerichtetes, d.h. ein teleologisches Handeln: Subjekt sein ist eo ipso eine Geschichte, eine Entwicklung haben, Subjekt sein ist nicht nur Handeln, sondern notwendig auch von Handlung zu Handlung, von Handlungsprodukt in neuem Handeln zu neuen Produkten fortschreiten. Im Wesen des Handelns liegt es, auf ein 679 Der Erste Weltkrieg markiert einen sehr schmerzhaften persönlichen Einschnitt im Leben Husserls: Sein jüngerer Sohn Wolfgang wird 1916 im Krieg getötet, sein älterer Sohn Gerhart schwer verwundet. Zudem kehrt auch einer seiner engsten und liebsten Schüler, Adolf Reinach, nicht mehr aus dem Krieg zurück. Vgl. Orth, Ernst Wolfgang: Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls Ethos der Erneuerung in seinen japanischen Kaizo-Artikeln, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993), 341. Siehe hierzu: Dok I, 200. 680 Dok. III/3, 163. 681 Dok. III/3, 12. 682 Hua XXV, 275. 176 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Ziel gerichtet sein. Handelt das Ich, so wäre es im ersten Erzielen tot und nicht lebendiges Ich, wenn nicht jede Erzielung neue Ziele, jede Aufgabe neue Aufgaben aus sich hervortriebe in unendlicher Folge. Die unendliche Kette von Zielen, Zwecken, Aufgaben kann aber nicht zusammenhanglos sein, sonst wäre das Ich nicht ein Ich, sonst motivierte nicht eine Erzielung, die Erfüllung einer ersten Aufgabe, eine neue und so fort. Jedes Ziel ist ein Telos, aber alle Ziele müssen zusammenhängen in der Einheit des Telos, also in teleologischer Einheit. – Und das kann nur der oberste sittliche Zweck sein. 683 In diesen letzten Zeilen wird die synthetische Erscheinung jener dynamischen Struktur des Lebens der Subjektivität sichtbar, die den Grund der Ethik darstellt, welche Husserl in den Jahren nach dem Krieg ausarbeitet. Die ethische Frage kommt ins Spiel, wenn das Ich sich seiner strukturellen, auf ein oberstes Telos gerichteten Spannung bewusst wird und die Erneuerung als persönliche Verantwortung auf sich nimmt. Der Krieg hat schmerzlich vor Augen geführt, dass die europäische Kultur dringend einer geistigen Erneuerung bedarf, woraus neue ethische Erfordernisse erwachsen. Husserl schreibt hierzu in den Kaizo-Artikeln: Erneuerung ist der allgemeine Ruf in unserer leidensvollen Gegenwart und ist es im Gesamtbereich der europäischen Kultur. Der Krieg, der sie seit dem Jahre 1914 verwüstet und seit 1918 nur statt der militärischen Zwangsmittel die ,feineren’ der seelischen Torturen und der moralisch depravierenden wirtschaftlichen Nöte gewählt hat, hat die innere Unwahrheit, Sinnlosigkeit dieser Kultur enthüllt. 684 Aus diesem Grund stellt Husserl die Frage: „Sollen wir warten, ob diese Kultur nicht von selbst in ihrem Zufallspiel wertzeugender und wertzerstörender Kräfte gesunde? Sollen wir den ,Untergang des Abendlandes’ als ein Fatum über uns ergehen lassen? Dieses Fatum ist nur, wenn wir passiv zusehen – passiv zusehen könnten. Aber das können auch die nicht, die uns das Fatum verkünden.“685 Ernst Wolfgang Orth erfasst deutlich die ethische Spannung des Bewusstseins der Notwendigkeit einer Erneuerung, die bei Husserl in den Jahren nach dem Krieg und insbesondere in den Kaizo-Artikeln zum Ausdruck kommt: „Husserl reagiert auf die deutsch-europäische Katastrophe. Und er versucht auch, Europa dessen eigene Ideale vorzuhalten, an denen es sich wieder 683 Hua XXV, 275. Hua XXVII, 3. 685 Hua XXVII, 4. 684 177 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden aufrichten und erneuern sollte. Hier muß man weniger von einem interkulturellen als von einem innerkulturellen Problem sprechen.“ 686 Wenn der Begriff der persönlichen Erneuerung das Hauptmoment der Überlegungen Husserls darstellt, stellt sich eine wesentliche Frage, die von Luft wie folgt diskutiert wird: „Was aber ist es, was erneuert werden soll? Von woher soll die Erneuerung kommen und wohin soll sie führen? Ausgangspunkt ist der naiv dahinlebende Mensch, der sich nicht selbst inne seiende. Was diese Person nicht kennt, ist ihr wahres Wesen, das erfahren werden muss, da nur von ihm die Erneuerung zur ,eigentlichen’ Person ausgehen kann.“ 687 Der oberste sittliche Zweck, das Telos, muss also der unendlichen Kette von Zielen im Alltag des naiv dahinlebenden Menschen entnommen werden. Wie in der Einleitung des Kapitels bereits hervorgehoben wurde, motiviert das gespannte Bedürfnis nach eigentlicher Erneuerung allererst die peinliche Erfahrung einer fortlaufenden Enttäuschung, weil jedes vermutete Gut sich immer wieder als unbefriedigend erweist: „Jeder Mensch findet sich in einer endlos offenen Werte-Welt, und zwar Welt praktischer Werte, die ,in infinitum’ zu übersteigern sind, die in Steigerungen menschlich erwachsen sind. Alles, was man schafft, verweist auf Besseres und hat im allgemeinen ein Besseres, das schon Andere erworben haben, das man aber nicht selbst genießen kann, neben sich.“ 688 Die Werte überwinden sich beständig selbst, weil sich immer wieder ein höherer Wert zeigt. „Werte haben ihre besonderen Arten der Entwertung, nicht bloss vom Sein des Wertobjektes und der antizipierten Werteigenschaften her, sondern auch die Weisen der Entwertung [...] durch Minderwertigkeit im Vergleich mit höheren Werten.“689 Dies erfolgt in Form eines Streites, der auch schmerzvoll sein kann, wie Husserl konstatiert: „Das Ich kommt im Streit niederen und höheren Wertlebens immer wieder in die Lage, dessen bewußt werden zu müssen in Form tiefster Unbefriedigung, daß es erstrebt, was ihm letztlich 686 Orth, Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls Ethos der Erneuerung in seinen japanischen Kaizo-Artikeln, 339. 687 Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des Personenbegriffs, 226. 688 Hua XV, 405. 689 Hua XV, 405. 178 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden zuwider ist, eine Weise des Lebens und Strebens, die es mit sich selbst in Streit bringt (im Gefühl ausgedrückt: in Unseligkeit verfallen läßt).“ 690 Eine solche beständige Enttäuschung impliziert einen unendlichen Weg, der stufenweise zum obersten Gut führt. Diese unaufhörliche Annäherung wird von Husserl auch durch das Bild eines Wanderweges verdeutlicht: In einem Text von 1931 bemerkt Husserl, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Menschen und Tieren darin besteht, dass „für mich und dann für jedermann (als Mitmenschen) ein ,Lebensweg’ konstituiert ist, meine Lebenszeit, meine ,Lebensgeschichte’.“ 691 Dieses Bild ist allerdings „doch nicht ganz passend“ 692, weil in einem Wanderweg schon von vornherein ein Endziel (z.B. eine schöne Aussicht) „vorbedacht und vorgewollt“693 ist, während der sogenannte Lebensweg eine fortlaufende Entwicklung impliziert, und von vornherein keine teleologische Einheit, die alle Sonderzwecke und -handlungen vereinheitlicht“ 694, einschließt. Die ständige freie Möglichkeit des Menschen, sich durch äußerlich treibende Kräfte beeinflussen zu lassen, und die schmerzvolle Erfahrung der Entwertung aller Ziele, die sich danach als eitel oder leer erweisen695, zeigen sehr deutlich, dass das Leben kein geradliniger Weg ist, wie es ein vorherbestimmter Plan für eine Wanderung sein könnte. Die Zwecke des Lebens bekunden sich schrittweise, wie die Erfahrung des Kindes zeigt: 690 Hua VI, 485. Die existentiellen Folgen eines Lebens, das sich bei niederen und nur scheinbaren Werten aufhält, werden von Husserl folgendermaßen gefasst: „[E]in Leben, das sich in Scheinbefriedigungen verliert, verliert sich selbst, ist Scheinleben, ist ein leeres, sich selbst negierendes Leben“ (Hua XXV, 285). 691 Hua XV, 419. 692 Hua XV, 419. 693 Hua XV, 419. 694 Hua XV, 419. 695 Im Rahmen der formalen Praktik, die Husserl in seinen ersten ethischen Vorlesungen behandelt, wird das formale, diese Erfahrung der Enttäuschung betreffende Gesetz formuliert. Husserl schreibt hierzu: „Jedenfalls ist es das Eigentümliche, daß die Hintansetzung eines Besseren eben unter allen Umständen den Positivwert der gleichzeitigen Vorziehung eines Guten so sehr verdirbt, daß sie aufhört, noch positiv zu sein. Es ist gleichsam eine aufgehobene Kraft, aufgehoben durch eine im selben Angriffspunkt (in selben Ich und derselben Zeit) wirkende Gegenkraft” (Hua XXVIII, 131). „Sowie also einer dieser Höherwerte neu in den Gesichtskreis der Wahl tritt, verschiebt sich also die richtige Willensantwort; was vordem das Beste war, ist nachher als ein einzelnes Summenglied ein minder Gutes, dessen Wahl also schlecht wäre. Immerfort heißt es nach unserem Gesetz, das Bessere bzw. Beste geht voran, aber immer nur in dem Sinn, daß ein minder Gutes zu wählen, wo ein Besseres im Wahlkreis liegt, verkehrt wäre“ (Hua XXVIII, 133). Der existentielle Gegenwert dieses formalen Gesetzes besteht gerade in der peinlichen Entwertung jeder vermuteten Erlangung. 179 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Das Kind ist vorweg mit Zweckobjekten umgeben; im alltäglichen Gebrauch lernt es sie in ihrer Zweckhaftigkeit verstehen, und so lernt das Kind auch, umgeben von zwecktätigen Nächsten, ihre Zwecktätigkeit als solche verstehen und Zweckobjekte verstehen nicht nur als Gebrauchsobjekte, sondern als teleologisch gewordene (Urgeschichte). Nachahmend ist es tätig und spielt es Tätigkeit; es erwächst Neugier, Interesse für das Gewordene, Interesse für das „warum das so ist“. Die Frage des Warum ist ursprünglich Frage nach der „Geschichte“.696 Diese letzte Äußerung Husserls weist auf die zitierte Passage der Vorlesungen über Fichte hin, wo Husserl betont, dass Subjektsein eine Geschichte, eine Entwicklung und eine unendliche Kette von Zwecken und Aufgaben impliziert. Diese Kette stellt sich nicht als zusammenhanglos dar, sondern als ein Weg, der eine innere sich entwickelnde Teleologie, oder in den Worten Husserls, einen „bleibende[n] teleologische[n] Charakter“697 aufweist, der im Laufe der persönlichen Geschichte vor jedermann erscheint und sich entfaltet. Wie Hoyos Vásquez betont, hat „[d]ie Lebenswelt [...] nach Husserl ein ,teleologisches Gesicht’, das allgemein betrachtet das ,Zweck-Gesicht’ der vorgegebenen Welt ist.“ 698 Hierzu schreibt Husserl: Dergleichen Objekte [...] erfahren nachträglich, wenn sie als fertige in unseren Gesichtskreis treten und uns vom Hintergrund her affizieren, sofort eine entsprechende Auffassung gemäß ihrem Zwecksinn. Sofort erkennen wir sie wieder als so und so zweckgestaltet, als allgemein dienlich für die und die Zwecke und als dazu bestimmt. [...] Ganz unmittelbar folgt der Blick ihrer teleologischen Gliederung und Formung in ihrer Sonderbedeutsamkeit; so daß für das auffassende Subjekt ein doppelschichtiger Gegenstand dasteht: alles, was in den erfahrenden Sonderblick tritt, hat teils seine ursprüngliche eigenwesentliche Bestimmung als auch die in ihm fundierte Zweckbestimmung.699 696 Hua XV, 420. Bereits zehn Jahre früher, in einem Text von 1921, drückt Husserl den fortlaufenden Charakter der Entwicklung des Bewusstseins durch das Beispiel des Wachstums eines Kindes aus: „Entwickelt sich das Kind, so lernt es die Forderung verstehen, es lernt das Sollen der Reinlichkeit u.dgl., es lernt sich unterwerfen, dulden, gehorchen und lernt schliesslich selbst frei wollen und von sich aus passiv erstreben, was ihm vordem aufgezwungen war, es lernt selbst den Wert der Gesundheit verstehen und ihr zuliebe einem momentanen Reiz, einer momentanen Annehmlichkeit, Bequemlichkeit widerstehen“ (Hua XIV, 178). 697 Hua IX, 408-409. 698 Hoyos Vàsquez, Guillermo: Intentionalität als Verantwortung. Geschichtsteleologie und Teleologie der Intentionalität bei Husserl, Den Haag 1976, 139. 699 Hua IX, 409. 180 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Jedes Objekt zeigt unmittelbar eine teleologische Zweckbestimmung, weil es ein ursprüngliches Gerichtetsein der Subjektivität gibt, das zur kontinuierlichen Erfüllung in diesem und jenem gelangt. Die Lebenswelt erscheint allerdings nicht als eine Summe oder Reihe von Sonderzwecken, sondern als ein teleologischer Gesamthorizont, der alle Sonderzwecke umfasst und auf ein endgültiges ideales Telos gerichtet ist. Husserl hebt den originären Charakter dieser teleologischen Spannung hervor, die jeden Akt des Ichlebens durchdringt, da „durch jedes transzendentale Dasein, aber nicht bloss einzeln, sondern in der intersubjektiven Vergemeinschaftung und als intersubjektive Totalität [...] ein Einheitsstreben der ,Vervollkommnung’ [hindurchgeht].“700 Nur dem Menschen eignet strukturell dieses Streben, das Tier kennt es nicht. „Das Tier ist an die Wirklichkeit gebunden, das ist, es folgt blind, passiv der Motivationskraft der auf es einstürmenden Affektionen, der Sinnesaffektion, der Neigungen, der Begierden, der passiv sich auswirkenden realisierenden Tendenz.“ 701 Der Mensch ist dagegen immer frei, d.h. „für ihn geht die Möglichkeit den Wirklichkeiten vorher. Er beherrscht die Wirklichkeit durch Beherrschung der Möglichkeiten.“ 702 In dieser interessanten Beilage seiner Kaizo-Artikel entwickelt Husserl die Beschreibung dieser Eigentümlichkeit des Menschen im Vergleich zum Tier weiter: Nur der Mensch hat ein Schicksal, hat bewußt im Auge die offenen Unendlichkeiten der sein freies Wirken hemmenden Zufälle, Hemmungen, Störungen, Widerstände, nur <er> seine personale Selbsterhaltung, die durch das Bewußtsein der vielfältigen in ihm selbst, in der äußeren Natur, in der Tierwelt, in der ihn als Mitglied umspannenden Menschenwelt liegenden Unendlichkeiten in seinem Leben und Streben bestimmt <wird>, nur er strebt nach „Glückseligkeit“ und erhebt sich zu unendlichen Zwecken, zu Zwecken, die Zweckideen sind, <die> einzelne Zwecke niederer Ordnung in sich schließen, einzelne Zwecke, die selbst schon, wie alle menschlichen Zwecke, Zweckideen sind, [...] die unendlichen Aufgaben, die sich nur verendlichen in Form endloser Wiederholung gleicher Zwecktätigkeit mit gleichen nützlichen Leistungen.703 Dieses Streben, das den Menschen zu immer neuen Zwecken treibt, entsteht aus der menschlichen Erfahrung und ist darin feststellbar: Nur der Mensch erfährt beständig vor 700 Hua XV, 404. Hua XXVII, 98. 702 Hua XXVII, 98. 703 Hua XXVII, 98. 701 181 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden sich selbst den unendlich offenen Horizont der Möglichkeiten und das unaufhörliche Streben nach der höchsten Befriedigung, d.h. nach der echten Seligkeit, wie Husserl in seinen Vorlesungen über Fichte mit aller Deutlichkeit hervorhebt: „Alles Leben ist Streben, ist Trieb nach. Befriedigung. Durch alle noch unvollkommene Befriedigung geht dieser Trieb hindurch, das ideale Ziel ist also immerfort reine und volle Befriedigung, mit einem Wort Seligkeit. Seinem Wesen nach will also alles Leben seliges Leben sein.“ 704 Wenn dieses Streben nach Seligkeit im Menschen derart strukturell verankert ist, so ist es kein Zufall, dass der Mensch, immerfort mit Einzelheiten der Erfahrung, der Bewertung, der begehrenden und handelnden Abzielung (Bezweckung) beschäftigt, niemals zu einer Zufriedenheit kommt, oder vielmehr, dass keine Befriedigung im einzelnen und in der Endlichkeit wirkliche und volle Befriedigung ist, und dass Befriedigung auf eine Lebenstotalität und personale Seinstotalität verweist, auf eine Einheit in der Totalität der habituellen Geltungen, die alle Endlichkeit übersteigt. [...] Die Persönlichkeit [...] schliesst von vornherein, und wesensmässig, als unselbständige Schichten erfahrend, wertend, strebend auf Verwirklichung (Realisierung) Gerichtetsein, und das ist zur Geltung Bringen und dann habituell in Geltung Haben, ein.705 Hier ist zu beachten, dass dieses Gerichtetsein nicht nur die eigentliche rationale Stufe des menschlichen Lebens betrifft, sondern auch die Unterschicht der Passivität, der Instinkte und Triebe, die beständig an jeder Handlung des Ich wesentlich mitwirken, denn es erwachsen „auch in der Passivität und Aktivität habituelle Seiten der Persönlichkeit“ 706, wie Husserl in der Vorlesung über phänomenologische Psychologie unterstreicht. Unsere Betrachtungen über den Begriff von Motivation haben bereits die beständige, jeden Moment des Ich-Lebens begleitende Verflechtung zwischen Aktivität und Passivität, Vernünftigkeit und Unvernünftigkeit hervorgehoben: Husserl schmälert keineswegs die wesentlichen Abweichungen zwischen der aktiven Sphäre – welche die willentliche und daher eigentlich ethische Sphäre darstellt – und der passiven Sphäre, er sieht diese jedoch nicht wie zwei Welten an. Beide Dimensionen, sowohl die rationale als auch die triebmäßige, sind Dimensionen der Motivation, die einerseits irrational, 704 Hua XXV, 285. Hua XV, 404. 706 Hua IX, 414. 705 182 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden passiv und ichlos, andererseits dagegen aktiv, rational und frei sind. Eine wesentliche Verständlichkeit vereinigt also diese Sphären und diese Einheit führt dazu, dass das Gerichtetsein auf Befriedigung, das zu einem echten ethischen Streben nach Erneuerung werden kann, sich bereits innerhalb der passiven Dimension des Lebens teleologisch ausrichtet und wirksam wird.707 Noch einmal hören wir auch aus ethischer Sicht die Worte Husserls: „Die passive Motivation ist der Mutterboden der Vernunft.“ 708 Vargas Bejarano spricht diesbezüglich von einem „Reifungsprozess”, da „niemand eine für sein Leben radikale Entscheidung [trifft], ohne zuvor durch Motivationen beeinflusst zu sein und Einschätzungen abzuwägen.“709 An diesem Reifungsprozess nach der Erneuerung seines eigenen Lebens haben nun sowohl rationale Entscheidungen und Stellungnahmen als auch Triebe, Habitualitäten und verborgene Wünsche teil. Wie Husserl bemerkt, trägt „[d]as Ich als Person [...] in sich (als aus ihm herauserkennbar, auch wenn es davon nichts weiss) die Idee eines Seins als wahrer Person (die Idee seiner echten Existenz, seines echten Daseins). Diese Idee besagt eine aktuell in ihm liegende Potentialität.“ 710 Diese Potentialität bezeichnet daher ein latentes vorantreibendes Streben, das jeden Akt des Ich begleitet, auch wenn es nicht immer die Form einer rationalen und expliziten Stellungnahme annimmt. Dieses beständige Streben ist die Möglichkeitsbedingung für die Konstitution der Einheit der Person, weil sich durch den Einklang und die Beständigkeit des Strebens ein bestimmter, charakteristischer persönlicher Stil konstituiert. Husserl drückt dies folgendermaßen aus: Letztlich geht durch das Ichleben hindurch ein Streben, zu einer Einheit und zu Einhelligkeit in der Mannigfaltigkeit seiner Überzeugungen zu kommen, derart, daß das Ich 707 Perreau hebt diesbezüglich hervor: „La pulsion imprime un élan ou plutôt une poussée première qui est toujours pour Husserl une tension vers. C’est sur ce point que se joue en définitive l’alternative entre la théorie de la pulsion promue par la métapsychologie freudienne et la conception phénoménologique de la pulsion. Husserl pense la pulsion sur un mode qui n’est pas celui de la détermination causale, mais celui de l’orientation en finalité (vers une fin qui n’est toutefois pas d’emblée déterminée dans son contenu)“ (Perreau, Phénoménologie husserlienne et metapsychologie freudienne: la pulsion et l’inconscient, 25). Hierzu betont auch Irene Angela Bianchi: „In un esistente intelligente anche la tendenza è intenzionalità, e tuttavia per quanto in essa non sia ancora presente l’‚intendere ragionevole’, non manca l’intenzionalità, che è il principio dell’essere, un’apertura al mondo nella sua totalità. Così il livello inferiore, inteso come impulso, aspirazione, tendenza, riceve il suo senso d’essere dal ,superiore’ cioè il volere cosciente e pensante, ma non il contrario“ (Bianchi, Irene Angela: Fenomenologia della volontà. Desiderio, volontà, istinto nei manoscritti inediti di Husserl, Mailand 2003, 126). 708 Hua XXXVII, 332. 709 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 304. 710 Hua XIV, 297. 183 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden zu einem solchen werden will, das sich selbst treu bleibt bzw. sich treu bleiben kann, sofern es nie mehr geneigt ist, seine Überzeugungen preiszugeben, und, was damit wesensmäßig zusammenhängt, unselig zu werden. 711 Dieses Streben nach Einhelligkeit besteht auch aus einer beständigen triebmäßigen Spannung, d.h. – mit den Worten von Yamaguchi – einer „Uraffektion des Triebs“, welche „nicht von Anfang an feste, bestimmte Richtungen, Ziele hat“ 712, aber der eigentlich willentlichen Entscheidung vorangeht und in ihr bewusst und rational werden kann. Das echte Wollen bahnt sich den Weg zum Ziel mittels eines triebmäßigen Strebens, da „jeder Wille, der sich nicht unmittelbar, nicht sogleich in der lebendigen Evidenz der Vorhabe verwirklichen kann, die Verwandlung in eine Sonderform des Triebes [erfährt], der sich günstigenfalls, wenn ,seine Zeit’ kommt, in der Weise der Auslösung eines fiat auswirkt.“ 713 Dieses beständige Streben bildet die Einheit einer allgemeinen und personalen Richtung. In den Vorlesungen über „Fichtes Menschheitsideal“ fragt sich Husserl diesbezüglich: „Was gibt der Unendlichkeit von Tathandlungen und der Typik ihrer Leistungen eine feste teleologische Direktion? Die Antwort lautet: Durch das unendliche Handeln geht ein unendlicher, nach Befriedigung sich sehnender Trieb.“714 Noch deutlicher drückt sich Husserl in einem Text von 1931 aus: Dieser teleologische Prozess, der Seinsprozess der transzendentalen Intersubjektivität, trägt in sich einen universalen, zunächst in den einzelnen Subjekten dunklen „Willen zum Leben“, oder vielmehr, Willen zum wahren Sein (vielleicht können wir sagen, der jeweilige Wille in seiner patenten Form hat einen latenten „Willenshorizont“). In der Entwicklung wird er in einzelnen Subjekten zunächst patent, oder aus dem offen-leeren, ungeformten Horizont wird ein geformter, der Mensch in seinem Transzendentalen erwacht, es erwacht in ihm der Horizont des echten Menschentums. 715 Dieser dunkle „Wille zum Leben“ oder latente „Willenshorizont“ stellt den passiven und triebmäßigen Hintergrund dar, welcher den Menschen drängt und durch eine 711 Hua IX, 214. Yamaguchi, Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Edmund Husserl, 59. 713 Hua VI, 485. 714 Hua XXV, 277. 715 Hua XV, 378 (Meine Hervorhebung). 712 184 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden vernünftige Stellungnahme von Latenz zu Patenz übergehen kann.716 In einem Manuskript von 1935 geht Husserl näher auf diesen Punkt ein: Der Mensch im menschlichen Selbstbewusstsein [...] weiss [...] sich als darin hineingeboren, hineinerzogen, mit einem Trieb Mensch zu sein, strebend, getrieben, im Trieb zur Menschlichkeit; schon Mensch, aber im Menschwerden immerzu begriffen – er ist schon und ist im Wollen, ist Ich in seinen Interessen als habituellen Wollungen – und darin ist er zukünftig auf künftiges Menschsein und künftige Weltlichkeit gerichtet. 717 Und er fügt hinzu: „Hier haben wir: verborgene ,Vernunft’ als Trieb, der ständig lebendig ist und dem Menschen als solcher, als Streben in einen Horizont bewusst ist. Patenz ist dabei der Wille, der ,weiss’, was er will, der Trieb ist aber trieberfüllende Ziele schon vor Augen haben. [...] Der Mensch ist schon im menschlichen Trieb.“ 718 Ferner heißt es: „Im Mensch ist Latenz immer schon Patenz der Vernunft.“ 719 Das instinktive Gerichtetsein zeigt sich daher als ein ahnungsloses Streben, es ist jedoch – mit den Worten von Hoyos Vàsquez – „teleologisch vom Subjekt her, weil Menschen im ,Instinkt’ immer schon gerichtet sind auf einen Endsinn als ,Zielvorstellung.’ “ 720 Des Weiteren lesen wir bei Husserl: „Alles Leben vollzieht sich im weitesten Sinn im Streben und ist insofern praktisch, es vollzieht sich als Triebleben passiv oder als eigentliches Willensleben aktiv in Ichakten.“ 721 Nur im Rahmen dieser beständigen Verflechtung zwischen Passivität und Aktivität kann man von einer wirklichen Persönlichkeit sprechen, weil nur auf der Grundlage des passiv fortdauernden Strebens ein einheitliches Subjekt, d.h. die Person, entstehen kann. Husserl schreibt in einem 716 Rolf Kühn betont mehrfach in seinem Werk über den Husserlschen Begriff der Passivität die wesentliche Rolle, welche die angeborenen Instinkte und Strebungen in der sowohl subjektiven als auch intersubjektiven teleologischen Entwicklung spielen: „Der angeborene Urtrieb, der gerade den lebensweltlichen Wandel als offene Möglichkeiten impliziert [...], enthält eine ,Typik’ der Trieberfüllung, die sich bereits mit dem Übergang vom ,dunklen Ahnen’ zur eigentlichen Intentionalität inchoativ auswirkt. Deshalb haben wir schon hier lebensweltlich-kulturelle ,Entwicklung’, das heißt periodischrhythmisierte Lebenswelt im Modus des Begehrens und Befriedigtseins als ständige Auswirkung von instinktiven Sonderhorizonten, die einerseits der individuellen ,Selbsterhaltung’ sowie andererseits als Spielraum der Ko-praxen aller Beteiligten dienen, um die mannigfachen ,Interessen’ zu vereinen“ (Kühn, Rolf: Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der genetischen Phänomenologie, Freiburg/München 1998, 426). 717 A V 20, 1-2. 718 A V 20, 2. 719 A V 20, 3. 720 Hoyos Vàsquez, Intentionalität als Verantwortung. Geschichtsteleologie und Teleologie der Intentionalität bei Husserl, 141. 721 Hua XXXVII, 248. 185 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Text von 1936: „Ich lebe ein intentionales Leben, und Intentionalität der Ursprungsform ist aktuell abzielen, erzielen, erzielend haben eine Habe. [...] Alle meine Intentionen, Intentionen dieses ersten Sinnes, in ihrer Bewegung bilden, nicht ein Nebeneinander, sie sind alle Strahlen meines einheitlichen ,Willens’, meines einheitliches Seins.“ 722 Das Ichleben wird daher von einem Willenszug bestimmt, der die verschiedenen Interessenrichtungen der Subjektivität umfasst und die personale Identität fortwährend prägt: Es handelt sich gerade um einen „einheitliche[n] Trieb, der durch alles Streben und durch alle Sonderakte hindurchzielt.“ 723 Die Person hat nämlich ihre personale Einheit in der Einheit ihres mannigfaltigen Strebens und der Willenszug führt – wie hinsichtlich der transzendentalen Geltung der Habitualitäten bereits hervorgehoben wurde –auf diese Weise durch die Mannigfaltigkeit von Stellungnahmen, Strebungen und Erwerbe zur Begründung von festen Habitualitäten oder „Themata“ 724, wie sie Husserl in den Ideen II nennt: Diese bleibenden Habitualitäten stellen die dauernde Basis jeder möglichen, zukünftigen und neuen Stellungnahme dar. Hierzu schreibt Husserl: Einstellung, allgemein gesprochen, besagt einen habituell festel Stil des Willenslebens in damit vorgezeichneten Willensrichtungen oder Interessen, in den Endzwecken, den Kulturleistungen, deren gesamter Stil also damit bestimmt ist. In diesem bleibenden Stil als Normalform verläuft das jeweilig bestimmte Leben. [... Das] Leben hat immer einen Normalstil und eine beständige Historizität der Entwicklung in diesem. 725 Eine bleibende Willensrichtung umspannt beständig das Leben des Menschen. Diese Dynamik spielt zudem eine zentrale Rolle in den ethischen Überlegungen Husserls, weil nur aufgrund der Möglichkeit der Begründung eines habituellen und festen Lebensstils von einer echten ethischen Persönlichkeit die Rede sein kann. „Jede Person [hat] in sich 722 Hua VI, 470. Hua VI, 485. 724 Hua IV, 112. So schreibt Husserl: „[J]ede ,neue’ Stellungnahme stiftet eine bleibende ,Meinung’, bzw. ein Thema (ein Erfahrungsthema, ein Urteilsthema, ein Freudenthema, ein Willensthema), so daß ich von nun ab, so oft ich mich als denselben erfasse, der ich früher war, oder als denselben, der jetzt ist und früher war, auch meine Themata festhalte, sie als aktuelle Themata übernehme, so wie ich sie früher gesetzt habe. Und das sagt: Themata sind ursprünglich gesetzt, schlechthin oder auf Motive hin (Motivlosigkeit wird als Nullfall der Motivation genommen); auf Grund derselben Motive kann ich, das stellungnehmende Ich, nicht anders mich verhalten“ (Hua IV, 112). 725 Hua VI, 326. 723 186 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden eine universale Einheit des Lebens, [...] den beweglichen Stil eines sich im strömenden Leben in seinen erfahrenden Stellungnahmen durch Selbstkorrektur ständig erhaltenden Ich“726: Die Einheit des Lebens wird hier von Husserl als ein beweglicher Stil gefasst, der durch die neuen Stellungnahmen und Selbstkorrekturen fest und zugleich wandelbar bleibt. „Da jedes Streben, also jede Intention die Willensgestalt, also die eines willentlichen Wahrnehmens [...], eines willentlichen Erinnerns, Produzierens, Wertens usw. annehmen kann, so verstehen wir die Möglichkeit einer willkürlichen und von da ab habituellen Willenseinstellung des Ich auf eine allgemeine bleibende thematische Sphäre.“727 Die Möglichkeit, eine ethische Persönlichkeit auszubilden und sein eigenes Leben wesentlich zu erneuern, entsteht gerade aus dieser beständigen Möglichkeit des Auftretens einer willkürlichen und habituellen Willenseinstellung des Ich. Wie Vargas Bejarano betont, ist „[d]ie Veränderung einer personalen Lebenseinstellung [...] dermaßen bedeutend, dass sie als eine Art von Neugeburt des Subjektes auszulegen ist; daher hat Husserl den Terminus ,Erneuerung’ für die Kaizo-Aufsätze gewählt.“ 728 Es handelt sich nur dann um eine ursprünglich ethische Erneuerung, wenn eine echte willentliche Neugeburt stattfindet. Eine Passage aus den Vorlesungen über Ethik und Wertlehre von 1920 ist diesbezüglich von Bedeutung, weil Husserl hier den Inhalt der Entscheidung für die ethische Erneuerung verdeutlicht: Jeder von uns sagt: Ich – ich will mein Leben, mein ganzes Leben von nun ab in allen seinen Akten und mit seinem gesamten Erlebnisgehalt so leben, dass es mein bestmögliches Leben sei; mein bestmögliches, d.h. das bestmögliche, das ich kann. Dies ist das für mich gesollte und absolut gesollte Leben. Das Sollen ist Korrelat des Wollens, und zwar eines vernünftigen Wollens, das Gesollte ist die Willenswahrheit. 729 Das Sich-Erneuern entspricht deshalb der willentlichen Wahl des bestmöglichen Lebens und des Gesollten als vernünftige Willenswahrheit; das Sollen zeigt sich innerhalb der konkreten und empirischen Geschichte des Ich. So unterstreicht Luft mit Recht: „Was ich im Innersten bin, kann ich aber nur erfahren und realisieren im 726 Hua XV, 404. Hua IX, 413. 728 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 288. 729 Hua XXXVII, 252. 727 187 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden ständigen Austausch mit der Welt und den Situationen, mit denen sie mich konfrontiert.“730 Hierzu bemerkt Husserl: Was ich soll, ist bestimmt durch das „Ich kann“, und was ich kann, ist ein anderes, als was ein jeder andere kann. Was ich kann, ist aber nicht bloß in meiner momentanen Umgebung beschlossen, sondern mein gegenwärtiger Wille umspannt meinen gesamten Zukunftshorizont, weil mein „ich kann” in seine mehr oder minder unbestimmten und bestimmten Weiten hineinreicht. Mein Bestes ist, genauer gesprochen, bestimmt durch meine Vergangenheit und Gegenwart, und meine Zukunft ist noch völlig ohne Vorzeichnung.731 Der Horizont meines „Ich kann“ umreißt den Umkreis meiner möglichen Entscheidungen732, aber im Rahmen dieses Horizonts spielt der Wille die Hauptrolle, da „[d]ie entscheidendste Vorzeichnung [...] mein Wille [vollzieht]. Mein ganzes Leben liegt ausgebreitet vor mir, und ausgebreitet vor mir liegt die um mich herum orientierte Umwelt als meine Umwelt.“ 733 Der Zeitpunkt der ethischen Willensentscheidung wird von Husserl oft als eine eigentliche Berufung aufgefasst, die den Moment der wirklichen Entdeckung des eigenen menschlichen Wesens festlegt. In seinen Vorlesungen über „Fichtes Menschheitsideal“ hebt er diese Dimension ethischer Berufung hervor, wenn er bemerkt, dass dem sittlichen Menschen die „Glückseligkeit“ im Sinne des „Ziel[s] einer möglichst großen Summe des Genusses“ 734 nur ein als ein „äffende[s] Trugideal“ erscheinen kann, weshalb er frei [...] der aus seiner praktischen Vernunft ertönenden Stimme [folgt]: Handle nach deiner Bestimmung! Nie kann dieses Leben in ethischer Freiheit sein Ende haben, wie die wahre Philosophie lehrt, es entfaltet sich in einer Unendlichkeit von Aufgaben als ein unendlich sie lösendes Handeln. Und darin findet der echte Mensch seine Seligkeit, es ist die Seligkeit der sittlichen Autonomie in der Befreiung von aller sinnlichen Sklaverei.735 730 Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des Personenbegriffs, 230. 731 Hua XXXVII, 252. 732 Hierzu führt Husserl aus: „Vor dem wirklichen und eigentlichen Handeln und seiner wirklichen Erzielung liegt also sozusagen als ein Apriori, als Evidenz im voraus (vor der Tat) diejenige unseres SoKönnens. Diese Evidenz, die der subjektiven Möglichkeit, der Echtheit, der Vernünftigkeit, von beidem in eins, von Ziel und Weg, versichert“ (Hua XXIX, 375). 733 Hua XXXVII, 252. 734 Hua XXV, 279. 735 Hua XXV, 280 (Meine Hervorhebung). 188 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Der Kern der ethischen Erneuerung besteht gerade in dieser inneren Stimme, die den Menschen auffordert, nach seiner ihm eigentümlichen vernünftigen Natur zu leben. Luft gibt zu dieser Thematik eine interessante Anregung, wenn er schreibt: Wie folge ich dem Ruf aber, nachdem er erhört ist? Den Ruf zu erhören, mein innerstes Wesen zu erfahren ist, Husserl zufolge, die Bedingung der Möglichkeit für Selbsterneuerung. Doch wie geht das konkret vor sich? Die Selbsterneuerung durch „ethische Epoché“ [...] kreiert ja nicht ein neues Selbst [...]: Indem das Subjekt die Berufung erfährt, wird dieses auch explizit zu dem, was sie implizit schon war. 736 Die innere Stimme appelliert an jenes zuvor schon genannte Streben nach Befriedigung, das den Menschen bereits im naiven und alltäglichen Leben bestimmt und vorantreibt, im Alltag jedoch, ohne dass dies bewusst geschieht, zu einem tatsächlich wirksamen Erneuerungsträger wird. Die ethische Willensentscheidung, d.h. das ethische fiat, markiert die Übergangsstelle von einer impliziten zu einer expliziten Suche nach einer Lebensveränderung. Aus diesem Grund legt Husserl ein beträchtliches Gewicht auf die Selbstbesinnung, da „[d]ie Frage der Selbstbesinnung, die das Ich an sich selbst stellt, die [ist], worauf es in diesem ganzen Leben als einem Ganzen des Strebens und im einzelnen sich tätig Verwirklichens hinauswill.“737 Die Möglichkeit der Selbstbesinnung ist eine menschliche Eigentümlichkeit und „gehört zum Grundwesen des Menschen – das Wort Mensch so verstanden, wie es im tätigen Leben immer verstanden wird: als Person, die sich selbst anspricht als Ich.“738 Nur wenn ein Mensch eine echte Selbstbesinnung durchlebt, kann er sein angeborenes Telos entdecken und 736 Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des Personenbegriffs, 230. Hierzu schreibt Strasser: „The movement in question is an ,evolution’ in the primitive sense of the Latin ,e-volvere’; that is, it is a continual process of successive disengagements. It is a question of a constant transition from the implicit to the explicit, from that which is hidden to the manifest state, from that which is unconscious to the conscious state“ (Strasser, Stephan: History, Teleology and God in the Philosophy of Husserl, in: Analecta Husserliana, IX, „The Teleologies in Husserlian Phenomenology. The irreducible Element in Man”, Dordrecht 1979, 322). 737 Hua VI, 485. 738 Hua VI, 485 (Meine Hervorhebung). Hierzu hebt Hoyos Vásquez hervor: „Die Freiheit als Wesenseigentümlichkeit der Person gründet also in der teleologischen Einheit des Ich. Die Vermöglichkeit zwischen dem praktischen ,ich könnte’ und dem ,ich kann oder ich kann es nicht tun’ der freien Entscheidung zu unterscheiden, gehört als Selbstbesinnung zum Grundwesen des Menschen. Selbstbesinnung ist nicht bloße vergegenständlichende Beschreibung meines retenierten Ich. Sie stellt vielmehr eine eigenartige Antizipation dar“ (Hoyos Vàsquez, Intentionalität als Verantwortung. Geschichtsteleologie und Teleologie der Intentionalität bei Husserl, 147). 189 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden eine willentliche neue Selbstbestimmung verwirklichen. Das Gesollte deckt sich also in diesem Fall mit dem wirklichen Inhalt des Willens, wie Husserl deutlich herausstellt: „Was ich da erwirken kann, das unterliegt meiner Überlegung, und das Beste von dem, was ich überhaupt für jetzt und für meine ganze Zukunft kann dazu erwirken, das ist mein, dieses Individuums, Gesolltes.“ 739 Der kategorische Imperativ, den Husserl schon in seiner früheren formalen Ethik unter dem Eindruck Brentanos formuliert hatte, wandelt sich jetzt in einen Aufruf zu einer ethischen Erneuerung und zum Inhalt der Aufforderung der inneren Stimme.740 Husserl fährt fort: Aber darauf kommt es an, dass ich mir das sage, dass ich es erkenne, dass ich einen universalen Normwillen stifte, der ein für alle Mal diesen kategorischen Imperativ vor mir aufrichtet: Tue von nun ab und ohne Wanken das Beste, dein Bestes für immerdar, ergreife es in normgerechter Erkenntnis und wolle es in normbewusstem Willen. Also darauf kommt es an, darauf, dass nicht naiv, zufällig, ohne Normgewissheit, sondern eben im strengsten Sinn nach bestem Wissen und Gewissen das Beste erwählt und getan ist, und dass dieses „nach bestem Wissen und Gewissen“ aus dem einen, das ethische Leben ein für alle Mal stiftenden Willen hervorgegangen und zum habituell leitenden kategorischen Imperativ des ganzen Lebens geworden ist. 741 Durch die selbstbestimmte Willensentscheidung wird daher der kategorische Imperativ zur Struktur und zum Kern des menschlichen Lebens, das nicht mehr die Form eines naiven Strebens nach Befriedigung, sondern einer selbstbewussten Zustimmung zum Besten annimmt. Donohoe hebt diesbezüglich hervor: „The very process of becoming human, then, is an ethical process. Vocation sets up for each individual his absolute ought. This seemingly relative interpretation of the best possible life is demanded absolutely of the subject and becomes thereby an absolute imperative.“ 742 Dadurch wird der kategorische Imperativ zu einem Habitus des Ich: „Der den Modus des persönlichen Seins in Form der Selbstregierung urstiftende Wille 739 Hua XXXVII, 252-253. Hierzu schreibt Fröhlich: „Im Sinne eines kategorischen Imperativs ist gefordert (gesollt), das Gut dieser Wahl eines höchsten Guts innerhalb des praktischen (und material bestimmten) Bereichs auch zu realisieren. Diese Realisierung und ihre Bewertung ist dabei keineswegs mehr Gegenstand einer formalen Gesetzlichkeit. Hier richtet sich der Wille unmittelbar auf Reales und damit auch auf Gegebenes“ (Fröhlich, Günter: Form und Wert, Würzburg 2011, 330). 741 Hua XXXVII, 253. 742 Donohoe, Husserl on Ethics and Intersubjectivity. From Static to Genetic Phenomenology, 131. 740 190 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden wird habituell.“ 743 In jeder willentlichen Stellungnahme ist das Ich sowohl Subjekt als auch Objekt des Aktes. Jede Entscheidung prägt daher die Persönlichkeit und sie motiviert und stiftet – wie die Analyse des zweiten Kapitels ausführlich gezeigt hat – eine neue bleibende Eigenheit des Ich. Jeder Stellungnahme eignet eine gewisse Irreversibilität, und das betrifft in besonderem Maße die Willensentscheidung als persönliche Antwort auf die ethische Berufung „Handle nach deiner Bestimmung!“ Denn „wenn erst einmal dieses neue Selbst (wie auch immer) entdeckt ist, gibt es kein Zurück, ähnlich einer religiösen Konversion: Man kann den ,alten Adam’ nie wieder rück-konstituieren.“ 744 Die dringende Notwendigkeit einer ethischen Erneuerung führt Husserl zu keinem unbestimmten ethischen Aufruf, sondern zur Freilegung jener einzigen Lebensform, die dieses Lebensideal verkörpern kann. Es handelt sich um die Philosophie: Nur sie kann das angeborene Telos der Menschheit auf sich nehmen. § 5. Die Phänomenologie als die höchste ethische Willensentscheidung 5.1 Die universale ethische Epoché Die notwendige Voraussetzung für jede ethische Erneuerung ist eine radikale Selbstbesinnung, wie im vorangegangenen Abschnitt herausgestellt wurde. Aber etwas muss noch bestimmt werden, weil die vorherigen Überlegungen noch nicht genau gezeigt haben, dass nach Husserl die echte und höchste Form von Selbstbesinnung einer bestimmten Stellungnahme entspricht, derjenigen des Philosophen nämlich, die durch die phänomenologische Epoché sich verwirklicht. Nur wenn die ethische Rolle der phänomenologischen Reduktion berücksichtigt wird, kann man das echte ethische Ideal Husserls ergreifen. Es handelt sich dabei um ein Ideal, das in der Gestalt des Phänomenologen gipfelt, was im Folgenden näher erläutert werden soll. Im Laufe dieser Arbeit sind der Husserlsche Begriff des Willens und seine innere Komplexität mehrfach ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt worden. Der Mensch 743 Hua VI, 485. Luft, Das Subjekt als moralische Person. Zu Husserls späten Reflexionen bezüglich des Personenbegriffs, 231. 744 191 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden wird beständig von einer Willensspannung belebt und das Wollen bekundet sich in verschiedenen Modi, die sich in immer neuen Verflechtungen mit triebmäßigen Strebungen zeigen: Aus diesem Grund ist es möglich, dass Husserl auch von Willenspassivität und Geiger von einem unerlebten Wollen spricht, da ein beständiger Willenszug dem aktiv willentlichen fiat vorangeht. Aber Husserl zufolge bildet die phänomenologische Epoché jenen echten willentlichen Entschluss, der den Höhepunkt der menschlichen Aktivität und den höchsten Ausdruck seiner Freiheit darstellt. Die Epoché entspricht nämlich einer „totalen Interessenwendung, durchgeführt in einer neuen, durch einen besonderen Willensentschluß gestifteten Konsequenz.“ 745 Eine Passage aus dem zweiten Teil der Vorlesungen 1923/24 über die Erste Philosophie hebt deutlich den willentlichen Charakter der Epoché hervor: Die Reflexion ist ursprünglich eine solche im Willen. Das Subjekt faßt ja, indem es sich zum philosophischen Subjekt bestimmt, einen auf sein gesamtes künftiges Erkenntnisleben gerichteten Willensentschluß. Es will von nun ab nicht mehr überhaupt und irgendwie erkennen, nicht so – ob vorwissenschaftlich oder wissenschaftlich – wie bisher, sondern willentlich bestimmt es sich als immerfort nur absolut gerechtfertigte Erkenntnis, und eine systematische, universale, eine Philosophie Wollenden. Aus diesem reflektiven Willen entspringen die Besinnungen über den Sinn dieses Zieles und die Möglichkeiten seiner Verwirklichung.746 Der anfängliche Akt der Reflexion besteht daher in einem Willensentschluss, den das Subjekt frei fasst, wenn es beschließt, sich selbst vom Nebel der Unklarheit zu befreien.747 Dieser tiefe Sinn der phänomenologischen Reduktion lässt sie in einem neuen Licht erscheinen. Die mehrfache Betonung der absoluten Notwendigkeit dieser Methode durch Husserl, um zum Feld der reinen transzendentalen Subjektivität zu gelangen, hat nämlich oft den Vorwurf der Abstraktion auf sich gezogen. Allein ein solcher Vorwurf macht deutlich, dass die ursprüngliche Motivation der phänomenologischen Epoché nicht begriffen wurde: Die Epoché ist von einem 745 Hua VI, 147-148. Hua VIII, 6-7. 747 Hierzu schreibt Enzo Paci: „L’uomo, che vive nell’oscurità che lo circonda e che lotta con essa, deve ,rivelarsi’ a se stesso. Con l’esercizio fenomenologico l’uomo si scopre come un essere che è tale in quanto è chiamato ad una vita posta sotto il segno dell’evidenza, dell’apoditticità, della presenza“ (Paci, Tempo e verità nella fenomenologia di Husserl, 163). 746 192 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden lebendigen ethischen Bedürfnis motiviert, und zwar der „Weisheitsliebe“.748 Als Dorion Cairns Husserl daraufhin ansprach, dass viele Menschen von brennenden existentiellen Fragen umgetrieben werden und deshalb annehmen, dass die phänomenologische Reduktion doch einen eher abstrakten und vom Leben weitab liegenden Weg darstelle, antwortete ihm Husserl, dass ein solches Vorurteil auf einem Missverständnis beruhe: „They must see, however, that the long road of phenomenology is the only one that can lead to real answers to such problems. Up to the time of the war he was, he agreed, theoretisch eingestellt <set in theoretical attitude>, but since that time ,existential’ problems have been of primary interest to him too.“ 749 Husserl stellt die inneren Motive der Epoché deutlich heraus: Auch hier kann die Freiheit einer die Wirksamkeit dieser personalen „Tradition“ stillhaltenden Epoché einsetzen und die auf Verdeutlichung und Klärung gerichtete, die rechtfertigende Besinnung. [...] Ursprünglich liegt das Motiv für eine Besinnung in der früheren, öfteren unliebsamen Erfahrung, die wir mit der passiven Übernahme der im natürlichen Gang der Traditionalisierung erfolgenden Verunklärung und mit der Sinnverwandlung gemacht haben, die das passive Walten der assoziativen Übertragung von Ähnlichem auf Ähnliches in solchen Fällen mit sich führt – wo die Ähnlichkeit nicht durch den ursprungsechten Sinn, sondern durch den in Unklarheit getrübten bestimmt ist. Der Anfang ist hier, nämlich im Aufspringen der Motivation zum Einsatz verdeutlichender und klärender Besinnung selbst nur eine passiv, instinktiv fungierende Motivation. Die passiv, mehr oder minder unklar auftauchende Erinnerung an mißlingende Erzielungen motiviert ein Stillhalten und Sichbesinnen. 750 In der„früheren, öfteren unliebsamen Erfahrung“ stützt sich deshalb die Motivation, welche den Philosophen antreibt, darauf, eine neue und absolute Selbstbesinnung in 748 Hua VIII, 10. „Soweit übernimmt also der anfangende Philosoph die Motivationen des Wissenschaftlers überhaupt, sie leben in ihm nur fort, da er ja vordem schon Wissenschaftler war. Im Grunde genommen will er überhaupt daran gar nichts ändern, er will als Philosoph gar nichts anderes sein denn Wissenschaftler, aber freilich echter, radikal echter Wissenschaftler, und wie den Wissenschaftler sonst bewegt ihn die Weisheitsliebe, nach der er sich nennt und die zunächst nichts anderes als wissenschaftliche Wahrheitsliebe ist, in der Weise einer habituellen Hingabe an das im Wesen der Urteilssphäre beschlossene Wertereich der Wahrheit. Auch er läßt sich also durch diese Wahrheitsliebe zu einer bleibenden Lebensentscheidung bestimmen, die auf das Größte und Beste dieses Wahrheitsreiches gerichtet ist, im Rahmen praktischer Möglichkeit“ (Hua VIII, 10, meine Hervorhebung). 749 Cairns, Conversations with Husserl und Fink, 60. 750 Hua XXIX, 376. 193 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Gang zu setzen: Es handelt sich um eine „existentielle“ Motivation, könnte man sagen, obwohl Husserl dieses Adjektiv nie verwendet hätte. Die Möglichkeit der Epoché gehört zum Horizont des menschlichen „Ich kann“ und stellt zugleich den Gipfel der menschlichen Freiheit dar, die ihn radikal vom Tier unterscheidet. Denn nur der Person eignet „das Vermögen universaler Vorbetrachtung der in unendliche Horizonte hineinzuzeichenden Möglichkeiten, Vermögen freier Zurückhaltung aller ,Stellungnahme’, das ist aller Auswirkung der herrschenden Stufungen transzendenter Zwecke, einer universalen Erwägung ihrer Werte und der Ordnung des in sie hineinwirkenden bestmöglichen Lebens und einer ihm gemäß mit besten Gütern ausgestatteten Umwelt.“751 Die Selbstbesinnung besteht in einer „Tat der Freiheit“752 und immer radikaleren Stufen der Besinnung entspricht eine immer tiefere Freiheit, wie Husserl im Folgenden bemerkt, indem er eine Art Gliederung von fortlaufenden Stufen der Freiheit vornimmt: [...] haben wir fürs erste das freie „Ich kann” jener Epoché, die für die Besinnung als Vorbesinnung vorausgesetzt ist. Zweitens deren Leistung – im Fall vollkommen einsichtiger Durchführung –. Oder die freie Tat der Verdeutlichung und Klärung besteht darin, daß sie im voraus evident macht das Tun-Können. Das Tun ist dann vorgegeben, antizipiert in der Form der evidenten Vor-Habe. Als drittes haben wir die Freiheit der Ausführung, das ist das aufgrund der Evidenz der Vorhabe frei erfolgende ,Handeln’ (im gewöhnlichen Sinne eben als ausführendes Tun). Dies ist das Tun selbst, das in seinem Verlauf den Endcharakter der Habe von jener Vorhabe besitzt. 753 Für das Verständnis des Wesens der phänomenologischen Methode ist nun der Zusammenhang zwischen menschlicher Freiheit und Epoché von größter Wichtigkeit, da das Außer-Geltung-Setzen des positionalen Weltglaubens Husserl zufolge keine bloß 751 Hua XXVII, 99. Francesco Saverio Trincia betont die zentrale Rolle der freien und schöpferischen Selbstbestimmung in der Husserlschen Ethik und schreibt hierzu: „Not only what we are going to do in the future is in itself the result of a creative process, but also what we have already done has been created by us, and we can therefore speak of a ‚creative past’. If an ethical order can be given and must be obeyed, any action has to have a ‚starting point with thefirst fiat which gives the first original creative impulse’ (Hua XXVIII, 110). To the starting point corresponds, in the structure of acting described by Husserl in the ,phenomenology of the will’, the ‚final point, which has the feature of the ‚it is done’’ (Hua XXVIII, 110). The process of action springs (entquillt) from the continuity that binds any will to the will that comes after. The entire process of action has the shape of the ‚creation peculiar to the will’ (Hua XXVIII, 111)“ (Trincia, Francesco Saverio: The ethical imperative in Edmund Husserl, in: Husserl Studies 23/3 (2007), 177). 752 Hua XIX, 375. 753 Hua XIX, 375. 194 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden intellektualistische Vorstellung, sondern das Ergebnis eines motivierten und persönlichen Willensentschlusses ist: „[I]ch kann mich auch in meiner Freiheit diesem natürlichen Mitglauben der Reflexion versagen. Ich kann es so tun, daß ich mich rein verhalte als ein an dem Dasein und Sosein des wahrgenommenen Hauses und an dem Dasein der Welt überhaupt absolut uninteressierter Zuschauer.“ 754 Im zweiten Teil von Erste Philosophie wird eine weitere Vertiefung der Bestimmung des ethischen Wesens der Epoché vorgenommen. Die phänomenologische Einklammerung jeder naiven Geltung, die wir beständig „in voller Freiheit“ 755 vollziehen können, kann der Mensch auf sein eigenes Leben anwenden, wodurch sie die Form einer eigentlich ethischen Epoché erhält. Tatsächlich gehören zu meinem Möglichkeitshorizont ständig „verschiedene mögliche Reflexionen“ 756: Ich kann tatsächlich jeweils Urteilsakte, Willensakte, Gefühlsakte, Begehrungsakte usw. verwirklichen. Es gibt allerdings eine besondere Möglichkeit, in der ich „auch entsprechende Entschlüsse fassen [kann], welche die ganzen Lebensstrecken betreffen.“ 757 Husserl nennt hierzu einige klare Beispiele: „[I]ch kann die kommenden Ferien einer Willensregel unterwerfen, sie nach meinen Zwecken zu gestalten; ich kann auch in gewisser Weise Lebensstrecken der Vergangenheit zum Willensthema machen, wie wenn ich eine Kritik meines Lebens in der Studentenzeit übe.“ 758 Der Horizont meiner Kritik kann sich außerdem von meinem Leben als Student zu meinem gesamten Leben erweitern: In diesem Fall handelt es sich um „eine universale Kritik meines ganzen bisherigen Lebens“ und „in eins damit mein[es] ganze[n] künftige[n] Leben[s]“ 759: Das Ergebnis dessen ist der Zugang „zu einer merkwürdigen, auf 754 Hua VIII, 92. Hua III/1, 65. 756 Hua VIII, 154. 757 Hua VIII, 154. In den Kaizo-Artikeln betont Husserl, dass die Möglichkeit des „Wollen[s] in den Formen des Überhaupt“ (Hua XXVII, 24) den Unterschied zwischen Mensch und Tier markiert. Er schreibt hierzu: „Das ,bloße Tier’ mag z.B. unter gewissen Umständen immer wieder in gleicher Weise tun, aber es hat nicht den Willen in der Form der Allgemeinheit. Es kennt nicht, was der Mensch in den Worten ausspricht: ,Ich will überhaupt, und wo immer ich derartige Umstände vorfinde, so handeln, weil mir derartige Güter überhaupt wert sind“ (Hua XXVII, 25). 758 Hua VIII, 154. 759 Hua VIII, 154. 755 195 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden universale Überschau des Lebens bezogenen reflektiven Selbstregelung.“ 760 Die ethische universale Epoché stellt also die Voraussetzung jener willentlichen Stellungnahme dar, die „in eine umfassende universale Willensregelung eingeht.“ 761 In einer diese Passage betreffenden Note gibt Husserl genauer an, dass die ethische Epoché nicht mit der phänomenologischen transzendentalen Epoché zu verwechseln ist, da „die ethische Epoché eine ganz andere Universalität [...] als die phänomenologische [hat]. Sie betrifft alle und jede Geltung, die in personalen Akten meines bisherigen Lebens ins Spiel gesetzt war. Aber das sagt nicht: alle Geltung überhaupt, die in mir ihren Ursprung hat. Z.B. die Seinsgeltung der Welt ist nicht betroffen.“762 Husserl erkennt deswegen an, dass der Begriff von ethischer Epoché noch überhaupt „genau zu bestimmen“ 763 ist, aber ohne Zweifel erfüllt die Universalität einer solchen das ganze Leben umspannenden Epoché das Husserlsche Erfordernis einer absoluten ethischen Berufung des Menschen. Das ethische Leben ist ein Leben in der radikalsten Selbstbesinnung, da nur diese die Grundlage einer echten Erneuerung darstellen kann. Vor der Selbstbesinnung lebt der Mensch einfach eine beständige und blinde Willensspannung, die ihn jeweils zu bloß momentanen Zielen oder Interessenlagen führt. Hierzu schreibt Melle: On a somewhat higher level it is life in the tradition, the naive taking over of unquestioned validities. However, the human person is capable of becoming distanced from all pregiveness; and is capable of universal critique and self-critique. The person can draw together the totality of previous life, and can draw together from this totality the conclusions for future life. The person can come to the insight, that the first life was neither satisfactory nor good, and choose for a new life. The person can make a decision that encompasses one’s entire future life.764 760 Hua VIII, 154. Noor betont deutlich in seinem Artikel, dass nach Husserl die Möglichkeit einer universalen Selbstkritik des Lebens die Eigentümlichkeit der Person bildet: „Le thème des valeurs absolues personnelles est étroitement lié à la conception de la réflexion l’,universale ethische epoché’. Cette ,universale Kritik’ s’effectue dans la vue d’ensemble de la vie du sujet dans sa dimension aussi bine passée qu’à venir. Cette vue critique met l’ensemble de cette vie personnelle, à travers ses prises de position, hors jeu, afin de découvrir son caractère spécifique“ (Noor, Individualité et volonté, 160). 761 Hua VIII, 155. 762 Hua VIII, 319. 763 Hua VIII, 319. 764 Melle, The development of Husserl’s ethics, 125. 196 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Durch diese ethische Selbstbesinnung und reflektive Überschau seines ganzen Lebens gewinnt das Ich „die Möglichkeit freier, selbsteigener Evidenz nach Ziel und Methode. Sein Wille entkräftet die Tradition, und nun hat es die Möglichkeit einer radikalen, freien Kritik und Entscheidung.“ 765 Wenn der Mensch sich entscheidet, die absolute reflektive Selbstregelung zu vollziehen, erfährt er eine Befreiung von der Sklaverei der Instinkte und entdeckt sein echtes und eigentliches Wesen. Das eigentliche Ichleben bleibt dem naiv seinen Interessen Hingegebenen völlig verborgen. Es bleibt das für uns, solange als wir nicht die totale Einstellungsänderung vollziehen lernen [...]. In ihr sehen wir erst das vordem in der alltäglichen Lebensnaivität nie Gesehene, das unser eigentliches personales Ichsein als Sein in personal intendierenden, in personalen Akten bleibendes Sein stiftendes Leben ausmacht. 766 Aus diesem Grund kann Husserl die ethische Epoché sogar mit dem bekannten delphischen Spruch „Erkenne dich selbst!“ vergleichen, wenn er in den Pariser Vorträgen bemerkt, dass „der notwendige Weg zu einer im höchsten Sinne letztbegründeten Erkenntnis, oder, was einerlei ist, einer philosophischen, [...] der einer ‚universalen Selbsterkenntnis’“ führt. Er fügt erläuternd hinzu: „Das delphische Wort: γνϖθι σεαυτòν hat eine neue Bedeutung gewonnen. Positive Wissenschaft ist Wissenschaft in der Weltverlorenheit. Man muß erst die Welt durch Epoché verlieren, um sie in universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen.“767 Wie die delphischen Worte die Einladung waren, einen endgültigen Schritt zu verwirklichen, den man nicht mehr rückgängig machen kann, so gibt auch die phänomenologische totale Einstellungsänderung den Anstoß für einen neuen und unumkehrbaren Weg. Husserl unterteilt daher die Menschen gemäß der ethischen Selbstbesinnung: So haben wir für das personale Dasein zwei menschliche Stufen, die des Menschen, der noch nicht im vollen Sinn Person ist, sofern er noch nicht die letzte Selbstbesinnung vollzogen und in sich die Urstiftung der Selbstregierung vollzogen hat, und die des 765 Hua XXIX, 402. Hua XXIX, 371. 767 Hua I, 39. 766 197 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Menschen, der das schon vollzogen hat. Selbstbesinnung bleibt die ständige Funktion des zum vollen Menschen Werdens und das volle Menschentum Verwirklichens.768 Die Form der höchsten Verwirklichung des vollen Menschentums ist die des Philosophen, da „die durch diesen Entschluß gestiftete habituelle Lebensform des werdenden Philosophen“ 769 das Erkenntnisleben darstellt und sich „in vollkommener und steter Selbstverantwortung“ 770 verwirklicht. 5.2 Die radikale Lebensentscheidung des Phänomenologen: Ein Leben absoluter Berufung In den Kaizo-Artikeln stellt Husserl heraus, dass „Erneuerung des Menschen – des Einzelmenschen und einer vergemeinschafteten Menschheit – […] das oberste Thema aller Ethik“ ist.771 Die Möglichkeitsbedingung einer Erneuerung liegt in der beständig möglichen Selbstbestimmung, die jeder Mensch aus sich selbst heraus üben kann. Gemäß dieser Voraussetzung ist Husserl interessiert an „a priori verschieden[en], spezifisch menschliche[n] Lebensformen bzw. personale[n] Menschentypen, die uns zur obersten Wertform des ethischen Menschen emporleiten und in ihr kulminieren.“ 772 Wie Melle feststellt, „it is this individual ethical projekt which is the deepest ground of personal identity and individuality. Every person has an individual ethical idea, its own true ,I’, and the realization of this ,ego’, this ,I’ is the vocation of every person.“ 773 Je nach dem allgemeinen Lebensziel, das jedermann für sein eigenes Leben wählt, gibt es verschiedene Lebensformen bzw. eine ihnen entsprechende „Regelforderung“774, so dass „eine Gesinnung unbedingter Hingabe an gewertete Ziele, entsprungen aus der 768 Hua VI, 486. Hua VIII, 7. 770 Hua VIII, 7. 771 Hua XXVII, 20. 772 Hua XXVII, 26. Irene Angela Bianchi schreibt zu diesem Themenkomplex: „La scelta etica della professione è per Husserl basata su questa missione personale. La professione che una persona sceglie corrisponderebbe alla missione individuale. Questo dovere professionale è l’autentico compito della mia vita e dà alla mia vita un obiettivo razionale che abbraccia un’unità teleologica“ (Bianchi, Irene Angela: Etica husserliana, Studio sui manoscritti inediti degli anni 1920-1934, Mailand 1999, 268). 773 Melle, The development of Husserl’s ethics, 131. 774 Hua XXVII, 27. 769 198 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Unbedingtheit ihres Begehrens, zum Prinzip einer Lebensregelung wird.“ 775 Die Mannigfaltigkeit der Lebensformen hängt damit zusammen, dass – in den Worten von Orth – die „Freiheit und Kritikfähigkeit in einer Kultur mehr oder weniger ausdrücklich und in durchaus differenzierten Gestalten zur Geltung kommen“ 776 kann. Husserl geht in diesem Zusammenhang darauf ein, dass „auch z.B. Reichtum, Ehre, Macht, Ruhm den Charakter eines persönlichen Endzweckes haben und Formen eines sogenannten Berufslebens bestimmen [können].“ 777 Da die Freiheit beständig am Werk ist, gibt es auch Fälle einer irrationalen Hingabe, wenn z.B. eine „blinde Verliebtheit“ 778, der Ruhm oder das Geld die einzigen Lebensziele bilden. Was Husserl hier hervorheben will, ist – kurz gesagt – die strukturelle Dynamik, die jedem menschlichen Leben eignet, nach der jedermann sich selbst einem angeblichen oder wahren Guten widmet. Die mehr oder weniger bewusste Stellungnahme weist immer eine gewisse Unumkehrbarkeit auf, wie Husserl hier klar bemerkt: Allgemeine Züge, zur Einheit einer allgemeinen geistigen Form sich verbindend, finden wir freilich in gleicher Weise wiederkehrend, wo immer in gewöhnlichem oder höherem Sinn von Beruf die Rede ist. Z.B. wer sich für den kaufmännischen Beruf entscheidet, es darin möglichst weit, zu größtmöglichem Reichtum, zu Macht, zu Ansehen zu bringen, entscheidet sich auch [...] innerlich in der Form des Ein-für-allemal. 779 In den zahllosen Arten von Lebensformen hebt sich allerdings ein besonderer Fall ab, und zwar „der einer Entscheidung für ein Berufsleben in einem prägnanten und höheren Sinn“ 780: Husserl schlägt hierzu verschiedene Beispiele vor: „So ist die Kunst für den e c h t e n K ü n s t l e r, d i e Wi s s e n s c h a f t f ü r d e n e c h t e n Wi s s e n s c h a f t l e r 775 Hua XXVII, 28. Orth, Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls Ethos der Erneuerung in seinen japanischen Kaizo-Artikeln, 343. 777 Hua VIII, 12. In einem Manuskript von 1933 beschreibt Husserl mit diesen Wortern den Begriff des „Berufslebens”: „Ein Berufsleben ist Leben in vielen Zwecken, die aber synthetisch einheitlich verbunden sind und derart, daß das gesamte Leben als in diesem synthetischen Aufbau in besonderen Zwecken und Bestrebungen selbst Einheit eines Lebenszweckes bedeutet und eines willentlichen Lebens überhaupt (eines das ganze Leben umspannenden Lebenswillens), der auf diesen Lebenszweck geht: darauf geht in der ständigen Form des Berufs als Lebenszweckes, immer neu im Einzelnen sich Ziele zu stellen und auf sie hin zu leben, durch sie hindurch auf neu zu stellende Ziele gerichtet sein in neuen Erzielungen und so immerfort“ (E III 6, 8). 778 Hua XXVII, 28. 779 Hua VIII, 12-23. 780 Hua XXVII, 28. 776 199 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden (den ,Philosophen’) ,Beruf’; sie ist das Gebiet geistiger Tätigkeiten und Leistungen, zu dem er sich ,berufen’ weiß und so, daß nur die Schöpfung solcher Güter ihm zu ,innerster’ und ,reinster’ Befriedigung gereicht, ihm mit jedem vollen Gelingen das Bewußtsein der ,Seligkeit’ gewährt.“ 781 Die echte ethische Lebensform kann nur im Kreis dieser verschiedenen Berufsleben verwirklicht werden, da hier das Ich „liebend sich [den Werten] hingibt, sich mit ihnen in der schöpferischen Realisierung eint.“ 782 Wie Donohoe diesbezüglich unterstreicht: „It is only when we choose our vocation in compliance with that love for a realm of value that we are following our professional duty and claiming an authentical life. Such a love for a realm of value gives life an encompassing, rational goal. In developing our habits and convictions in line with this goal, we are realizing a true self.“ 783 Ein Berufsleben ist nach Husserl ein Leben, das „sein Berufsziel [hat], das im ganzen durch das Leben des Berufsmenschen sich hindurchziehenden Zusammenhang der Berufsbetätigungen den Charakter eines ein für allemal erwählten Endzieles hat, dem alle Berufsbetätigungen zugeordnet sind.“ 784 Alle oben genannten zitierten Beispiele stellen Formen „universaler Selbstregelung“785 dar, aber sie entsprechen auf keinen Fall voll den Kriterien des absolut ethischen Lebens, da sie „zwar das gesamte Leben [umgreifen], aber doch nicht so, daß sie jede Handlung bestimmend regeln, nicht jeder eine normative Gestalt erteilen, die ihre Ursprungsquelle in dem allgemeinen, die Regel festsetzenden Willen bemäße.”786 Solche Berufsleben wirken sich wieder „in einer gewissen Naivität“ 787 aus, weil bei ihnen noch „die habituelle Intention auf eine Kritik der Ziele und ausführenden Wege, sowohl was ihre Erreichbarkeit, ihre Zielangemessenheit und Gangbarkeit 781 Hua XXVII, 28. Hua VIII, 13. 783 Donohoe, Husserl on Ethics and Intersubjectivity. From Static to Genetic Phenomenology, 130. 784 Hua VII, 317. 785 Hua XXVII, 28. 786 Hua XXVII, 29. 787 Hua XXVII, 30. 782 200 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden anlangt als auch ihre axiologische Gültigkeit, ihre werthafte Echtheit“788 fehlt. Einen weiteren Schritt in der ethischen Selbstbestimmung bildet die von derart peinlichen Entwertungen und Enttäuschungen ausgehende Motivation, die [...] das Bedürfnis nach solcher Kritik und somit das spezifische Wahrheitsstreben bzw. das Streben nach Bewährung, nach ,endgültiger’ Rechtfertigung durch einsichtige Begründung motiviert. Ein solches Streben mag zunächst nur in einzelnen Fällen oder Klassen von Fällen zutage treten und sich auswirken. Indessen, es bestehen hier wesensmäßige Möglichkeiten für eine Motivation, welche in einem allgemeinen Streben nach einem vollkommenen Leben überhaupt ausmünden, nämlich einem Leben, das in allen seinen Betätigungen voll zu rechtfertigen wäre und eine reine, standhaltende Befriedigung gewährleistete. 789 Welche Lebensform kann eine solche Vollkommenheit erreichen und daher das höchste ethische Ideal verkörpern? Die Antwort darauf muss lauten: Das Leben des Philosophen, dem „das Verantwortlichkeitsbewußtsein der Vernunft oder das ethische Gewissen“ 790 gehört. Die Einzigartigkeit der Philosophie bekundet sich schon in ihrem Anfang, weil die Philosophie – obschon jedes Berufsleben eine mehr oder weniger bewusst stiftende Stellungnahme voraussetzt – nur dank dem höchsten und selbstbewussten fiat anheben kann. Für den Wissenschaftler oder den Künstler entsteht „diese Liebe und die ihr folgende persönliche Lebensentscheidung unvermerkt“ 791 und „[d]ie eventuell später erfolgende ausdrückliche Berufswahl hat dann den Charakter einer bloßen Bestätigung und zugleich ausdrücklichen Formung des ohnehin schon natürlich erwachsenen habituellen Lebens- und Tatwillens.“792 Um in die Philosophie einzutreten, muss das Ich in voller Freiheit sein fiat aussprechen und daher jenen 788 Hua XXVII, 30. Hierzu schreibt Donn Welton: „Certainly, life-forms based on self-regulation (such as vocational goals) are a step beyond ,animal naivety’ in that we freely choose and actively follow such goals. But it is possible to be caught in a second naivety in which ,a critique of the goals and the paths we choose to reach them is missing’. At first, critique may be concerned only with individual cases and maybe simply preoccupied with questions of avoiding further pain or maximizing future pleasure. But there is also the possibility that we will reach beyond particular goals and that critique will become part of a general striving for a full and complete life, a life that can order and justify all its activities. As humans we have the ability to ,overview’ our whole life, our possible activities, and their consequences“ (Welton, The other Husserl. The Horizons of Transcendental Phenomenology, 315). 789 Hua XXVII, 30. 790 Hua XXVII, 32. 791 Hua VIII, 19. 792 Hua VIII, 19. 201 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Willensentschluss fassen, den die Phänomenologie als Epoché bezeichnet. Während Künstler und Wissenschaftler ihre Berufungen sozusagen als vorgängig vorhanden entdecken, steht es beim Philosophen „[g]anz anders. […] Er bedarf notwendig eines eigenen, ihn als Philosophen überhaupt erst und ursprünglich schaffenden Entschlusses, sozusagen einer Urstiftung, die ursprüngliche Selbstschöpfung ist. Niemand kann in die Philosophie hineingeraten.“ 793 Die Willensentscheidung, welche dazu führt, in die Philosophie einzutreten, stellt einen völlig selbstbewussten Schritt dar, und aus diesem Grund bildet das Philosophieren eine einzigartige Lebensform, die von einem eigentümlichen Verantwortungsbewusstsein bestimmt ist: Der Philosoph engagiert sich mit höchster Gewissenhaftigkeit und bringt seine gesamte Existenz in eine unendliche Aufgabe ein. Der Zusammenhang zwischen dem Wesen der philosophischen Praxis und dem Willen wird von Husserl unaufhörlich unterstrichen: Die Philosophie entsteht nämlich „aus einer durchgängigen höchsten und letzten Selbstbesinnung, Selbstverständigung, Selbstverantwortung des Erkennenden für seine Erkenntnisleistungen“794, und diese absolute Selbstbesinnung ist nach Husserl die Bedingung für das willentliche fiat des anfangenden Philosophen795, das den wirklich schöpferischen Akt der menschlichen Erneuerung bildet: Die Reflexion ist ursprünglich eine solche im Willen. Das Subjekt faßt ja, indem es sich zum philosophischen Subjekt bestimmt, einen auf sein gesamtes künftiges Erkenntnisleben gerichteten Willensentschluß. Es will von nun an nicht mehr überhaupt und irgendwie erkennen, [...] sondern willentlich bestimmt es sich als immerfort nur absolut gerechtfertigte Erkenntnis, und eine systematische, universale, eine Philosophie Wollenden. 796 Möglichkeitsbedingung der Philosophie ist es, die volle Verantwortung für das Ziel auf sich zu nehmen sowie eine universale Schau und universale Kritik seines eigenen bisherigen Lebens zu verwirklichen. „[D]as philosophierende Ich [muss] für sich selbst zum Willensthema werden, um eine Philosophie erzielen zu können, so gilt es, aber erst 793 Hua VIII, 19. Hua VIII, 3. 795 1937 betont Husserl nochmals: „Mich besinnen! Das ist schon ein neuer Anfang, sich in dieser Situation besinnen ist die prinzipielle ,Möglichkeit’, die Philosophie in Frage zu stellen und nach ihren Bedingungen zu fragen“ (Hua XXIX, 411). 796 Hua VIII; 9. 794 202 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden in weiterer Folge, daß es für sich selbst auch zu seinem ersten Erkenntnisthema werden muß.“797 Wie Sophie Loidolt bemerkt, „[konstituiert sich d]as ethische Subjekt somit als frei antwortendes“ 798: Das Leben des Philosophen erhebt sich also zum eigentlichen menschlichen Leben in seiner Wahrheit, da nur der Philosoph dem ethischen Anspruch gänzlich entspricht und in Einklang mit der menschlichen Berufung lebt: Philosoph ist nur, wer sich der Philosophie weiht, wie nur der Künstler ist, der sich selbst ganz und gar der Kunst weiht. Sich für Philosophie interessieren, gelegentlich über Wahrheitsfragen nachdenken und selbst daran fortlaufend arbeiten, ist noch nicht Philosoph sein [...]. Was da fehlt, ist der Radikalismus des Willens zum Letzten, der die Unendlichkeit der reinen Idee und die Unendlichkeiten einer ganzen Ideenwelt vor Augen hat und sich nur genugtun kann im Hinleben gegen die ewigen Pole, in welchem Hinleben und Sichschöpferisch-tätig-ausleben er sich selbst als ewiges Ich verwirklicht. 799 Philosoph-Sein ist nun keine gelegentliche Aktivität, sondern eine immer wieder vollzogene Erneuerung des willentlichen fiat der Selbstbesinnung: Diese Stellungnahme begründet ein bleibenden Habitus als „die durch diesen Entschluß gestiftete habituelle Lebensform des werdenden Philosophen, so charakterisiert sie sich als die eines Erkenntnislebens in vollkommener und steter Selbstverantwortung.“ 800 Es handelt sich um eine neue Art des Willens und – allgemeiner – des Menschen. Vor diesem Hintergrund kann Husserl sogar sagen, das philosophische Leben sei – ähnlich dem Resultat einer religiösen Konversion – ein neues Leben:801 Und folge ich diesem Ruf, was tue ich anderes als mich, mich als endliches, als sinnliches, unechtes, unwahres Ich verlieren, um mich selbst, mein echtes und wahres, mein unendliches, vom Irdischen gereinigtes Ich zu gewinnen? So lebend, im Irdischen das 797 Hua VIII, 7. Loidolt, Sophie: Husserl und das Faktum der praktischen Vernunft. Anstoß und Herausforderung einer phänomenologischen Ethik der Person, in: Ierna, Carlo; Jacobs, Hanne; Mattens, Filip (Hrsg.): Philosophy, Phenomenology, Sciences. Essays in Commemoration of Edmund Husserl, Dordrecht/ Heidelberg/London/New York 2010, 494. 799 Hua VIII, 17. 800 Hua VIII, 7-8. 801 Vargas Bejarano betont den Radikalismus der ethischen Entscheidung, die einen neuen Menschen erschafft: „Die willentliche ,Sich-selbst-Veränderung’ in Bezug auf die echte Personalität ist so entscheidend, dass das menschliche Leben sich in zwei Phasen einteilen kann, nämlich vor und nach der ethischen Willensentscheidung. In dieser ganz und gar nicht alltäglichen Entscheidung kann das Subjekt seine ,echte Personalität’ als Ziel entdecken. Es gelingt ihm, die verborgene Teleologie des Lebens zu wecken“ (Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 326). 798 203 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Ewige, im Unreinen das Reine, im Endlichen das Unendliche herausahnend und in unermüdlicher Liebestat als reine Schönheit verwirklichend, gewinne ich nicht bloß „Glück“, sondern „Seligkeit“, nämlich jene reine Befriedigung, in der allein ich mich befriedige; und eben damit verwirkliche ich mich selbst als den, der ich mich allein seiend nennen kann im Geiste und der Wahrheit.802 Die Möglichkeitsbedingung des Erreichens einer solchen reinen Befriedigung ist eine totale und beständige Selbstbesinnung: Wie Husserl nämlich mit einem starken Ausdruck hervorhebt, kann „die Struktur des echt humanen Lebens als ein ,Panmethodismus’“ 803 gekennzeichnet werden, und zwar „als ein Leben der ,Methode’, [...] ein Leben in der Selbstzucht bzw. der Selbstkultur, der Selbstregierung unter ständiger Selbstüberwachung.“ 804 Die Beschreibung der ethischen Rolle des Philosophen, seiner Eigentümlichkeiten, seiner Aufgabe macht begreiflich, warum Husserl in der Krisis die Philosophen als „Funktionäre der Menschheit“ bezeichnet. Er schreibt nämlich: „Die ganz persönliche Verantwortung für unser eigenes wahrhaftes Sein als Philosophen in unserer innerpersönlichen Berufenheit trägt zugleich in sich die Verantwortung für das wahre Sein der Menschheit, das nur als Sein auf ein Telos hin ist und, wenn überhaupt, zur Verwirklichung nur kommen kann durch Philosophie – durch uns, wenn wir im Ernste Philosophen sind.“ 805 Solche Ausführungen bekräftigen mit Nachdruck, dass die Lebensform des Philosophen der Form des echten Menschentums entspricht, weil er echte willentliche Selbstbeherrschung der Instinkte, habituelle und bleibende Selbstbesinnung, Selbstbewusstsein seines eigenen rationalen Wesens sowie Verantwortung gegenüber dem in ihm lebendigen Telos und der Gesellschaft verkörpert. 802 Hua VIII, 16. Hua XXVII, 39. 804 Hua XXVII, 38-39. 805 Hua VI, 15. 803 204 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden § 6. Abschließende Betrachtungen: Der Vorrang des Willens Die voranstehenden Betrachtungen verfolgten das Ziel, in der Husserlschen Perspektive das Wesen der personalen Subjekte von intentionalen Erlebnissen zu beleuchten. Es ist also an der Zeit, die Ergebnisse dieser Analyse zusammenzufassen. „Das Ich-Sein ist beständiges Ich-Werden. Subjekte sind, indem sie sich immerfort entwickeln“ 806, formuliert Husserl in seinen Vorlesungen über Ethik 1920-24. Diese Behauptung schließt einen wesentlichen Kern der Husserlschen Auffassung der Person ein, da sich für ihn die Person in der Entwicklung ihres eigenen Lebens herausbildet, das – wie im Vorfeld hervorgehoben wurde – mit einem Wanderweg vergleichbar ist. „Bewußtsein ist ein unaufhörliches Werden. [...] Es ist eine nie abbrechende Geschichte“ 807: Im Laufe dieses werdenden Wanderweges entdeckt der Mensch stufenweise seine Fähigkeiten, seine persönlichen Aufgaben und seine Eigentümlichkeit, wie Husserl in den Ideen II ausführt: Das Ich kann mehr sein und anderes als das Ich als apperzeptive Einheit. Es kann verborgene Fähigkeiten (Dispositionen) haben, die noch nicht hervorgetreten sind [...]. Jemand „kennt“ sich nicht, „weiß“ nicht, was er ist; er lernt sich kennen. Beständig erweitert sich die Selbsterfahrung, die Selbstapperzeption. Das „Sichkennenlernen“ ist eins mit der Entwicklung der Selbstapperzeption, der Konstitution des „Selbst“, und diese vollzieht sich in eins mit der Entwicklung des Subjektes selbst. 808 Dieses „Sichkennenlernen“ bekundet sich als ein unendlicher Vorgang, in dem das „Selbst” sich konstituiert im Sinne eines immer mehr zunehmenden Selbstbewusstseins seiner eigenen personalen Identität. Die schmerzhafte Erfahrung der Enttäuschung spielt hierfür eine zentrale Rolle, da sie quasi eine Art von Schwindelgefühl darstellt, das die Person immer wieder dazu motiviert, ihr wahres Selbst zu suchen. Es geht dabei um sehr viel, nämlich um das eigentliche Wesen des eigenen Lebens: „Je mehr nun der Mensch im Unendlichen lebt und bewußt die Möglichkeiten künftigen Lebens und Wirkens überschaut, um so mehr hebt sich für ihn die offene Unendlichkeit möglicher 806 Hua XXXVII, 104 (Meine Hervorhebung). Hua XI, 218-219. 808 Hua IV, 252. 807 205 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Enttäuschungen ab und erzeugt eine Unzufriedenheit, die schließlich – in Erkenntnis der eigenen Wahlfreiheit und Freiheit der Vernunft – zur Unzufriedenheit mit sich selbst und seinem Tun wird.“ 809 Was ist der Motor dieser entwickelnden Dynamik? Welche menschliche Fähigkeit spielt die Hauptrolle in dem beständigen Ich-Werden? Ohne Zweifel ist dies der Wille: Er stellt jene Kraft, jene lebendige Energie dar, die den Antrieb für jeden Schritt auf dem Lebensweg ermöglicht. Man kann daher in der Husserlschen Auffassung des Ich einen offenkundigen Vorrang der Willensfähigkeit vor allen anderen menschlichen F ä h i g k e i t e n a u s m a c h e n , d a i m Wi l l e n d i e Vo r a u s s e t z u n g u n d d i e Möglichkeitsbedingung auch der theoretischen Sphäre liegen. „Alles Wachleben ist Willensleben, wir haben immer etwas vor, nicht nur neue Vorhaben, sondern immer haben wir <auch> vor frühere Willensrichtungen, die noch nicht zur Realisierung gekommen sind, weil es nicht ‚an der Zeit’ war.“ 810. Die willentliche Kraft motiviert nämlich jene Stellungnahme der universalen ethischen Epoché, durch die das Leben einen neuen Kurs einschlagen kann, der es von der Unzufriedenheit mit sich selbst wegführt. Die jeden Akt begleitende Teleologie bekundet sich daher als ein „universaler Voluntarismus“ 811, weil die Dimension des Willens vom beständigen Gerichtetsein auf die Zukunft gekennzeichnet ist und sich gerade in diesem Gerichtetsein fortlaufend das eigentliche Telos des Lebens verwirklicht. Vargas Bejarano kommentiert dies folgendermaßen: „Die Teleologie besagt nicht eine von vornherein gegebene Bestimmung des ,Lebensweges’, d.h. ihre Notwendigkeit gilt nicht unabhängig von den Willensstellungnahmen des Subjektes, sondern sie entsteht und verwirklicht sich aufgrund der Willensintentionalität und des Willensentschlusses.“ 812 Dieser Vorrang des Willens zieht eine wichtige Folge nach sich, nämlich das absolute Vertrauen, das Husserl in die menschlichen Fähigkeit setzt, sein eigenes Leben frei und 809 Hua XXVII, 32. Hua XXIX, 373. 811 Dorion Cairns berichtet von einer Konversation mit Husserl 1931: „Husserl said he has been working on the carrying out of a universal voluntarism. He objects to regarding such classifications of acts as Brentano’s as representing true fundamental distinctions. Every act as carried out by the ego is a decision, a Bejahung, <affirmation> and there is furthermore a volitional aspect in the background phenomena of the mind. There is a sort of Hintergrundsentscheidung <background decision>, which is not a full egodecision“ (Cairns, Conversations with Husserl und Fink, 61). 812 Vargas Bejarano, Phänomenologie des Willens, 337. 810 206 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden vernünftig zu gestalten. Die Husserlsche Ethik ist somit von einem tief optimistischen Rationalismus gekennzeichnet.813 In den Kaizo-Artikeln wird dieser Punkt deutlich hervorgehoben, da Husserl hier konstatiert, dass der Mensch „Subjekt und zugleich Objekt seines Strebens [ist], das ins Unendliche werdende Werk, dessen Werkmeister er selbst ist.“ 814 Andererseits aber ist sich Husserl dessen bewusst, dass [d]er Anfang jeder Selbstentwicklung [...] Unvollkommenheit [ist]. Vollkommenheit ist zwar die konsequent leitende Zweckidee in der Entwicklung; aber der bloße Wille, vollkommen zu werden, macht nicht mit einem Male die Vollkommenheit, deren Realisierung an die notwendige Form eines endlosen Ringens, aber auch Erstarkens im Ringen gebunden ist. Immerzu besteht dabei die Wesensmöglichkeit, daß der Mensch in ein „sündhaftesƒ“ Weltleben hineingerät [...].815 Nun besteht immer die Gefahr eines sündhaftes Lebens, d.h. eines Lebens, das „momentan oder in längeren Zeitstrecken, sich von ,äußeren Affektionen’ forttreiben läßt und ,sich an die Welt verliert’.“816 Dieses ständige Risiko eines ethischen Falls ist nach Husserl dem Menschen gleichsam angeboren, gehört immer schon zu ihm, denn „ ,Es irrt der Mensch, solang er strebt’, also solang er Mensch ist. Wir würden darnach das Irren jeder Art nicht nur als eine offene Wesensmöglichkeit, sondern auch [...] als eine in jedem erdenklichen Menschenleben faktisch unvermeidliche Möglichkeit ansehen.“ 817 Das Bild eines unfehlbaren Menschen, den Husserl als „paradiesischen Menschen“ 818 bezeichnet, ist daher nur eine fiktive Situation, die nie zu einer wirklichen Person passen kann. Mehr noch, der paradiesische Mensch wäre „[i]n seiner reflexionslosen Naivität [...] nur ein durch blinde Instinkte an zufällig stabile 813 Hiroshi Goto merkt hierzu an: „Das Wesen der ethischen Person liegt in der höheren Habitualität des höheren Willens, nämlich in der habitualisierten Gestalt der freien Stellungnahme durch Stellungnahme (insbesondere Wollen von Wollen). Der Wille höherer Stufe muß sich einerseits gegen den immer drohenden Verfall in die passive Habitualität selbst habitualisieren. Andererseits ermöglicht der habituelle Wille höherer Stufe das unendliche Streben nach der ,Gottesidee’ als ,Limes’. Kurz: Die ethische Lebensform ist kontinuierlich und diskontinuierlich zugleich“ (Goto, Der Begriff der Person in der Phänomenologie Edmund Husserls: Ein Interpretationsversuch der Husserlschen Phänomenologie als Ethik im Hinblick auf den Begriff der Habitualität, 148). 814 Hua XXVII, 37. 815 Hua XXVII, 38. Hierzu betont Melle: „To be sure, the solemn decision to a new, ethical life does not guarantee its realization. The decision must ever again be constantly revalidated in battle with the impulses“ (Melle, The development of Husserl’s ethics, 126). 816 Hua XXVII, 38. 817 Hua XXVII, 34. 818 Hua XXVII, 34. 207 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Verhältnisse ideal angepaßtes Tier. Der Mensch aber ist kein bloßes [...] Tier. Es hat [...] ,Selbstbewußtsein’.“819 Aufgrund seines wesenhaften Selbstbewusstseins, das den Menschen durchgängig auszeichnet, kann er sich immer wieder willentlich seiner personalen Eigentümlichkeit annehmen, seine beständige Irrtumsmöglichkeit anzuerkennen und dadurch eine noch stärkere Selbstbeherrschung und Selbstverantwortung ausüben. Die selbstbewusste und willentliche Rationalität ist daher eine strukturelle Fähigkeit des Menschen und stellt ein Kampfmittel gegen jede Irrationalität und jeden Rückfall in ein bloß instinktives Leben dar. Es gibt nun eine „Gradualität der Vollkommenheit des Menschentums als solchen“, da [j]e freier und klarer der Mensch sein gesamtes Leben überschaut, wertet und nach praktischen Möglichkeiten überdenkt, je kritischer er die Lebenssumme zieht und für sein gesamtes künftiges Leben des alles berücksichtigenden Ansatz macht; je entschlossener er die erkannte Vernunftform des Lebens in seinen Willen aufnimmt und sie zum unverbrüchlichen Gesetz seines Lebens macht: um so vollkommener ist er – als Mensch. 820 Husserl zeigt also ein standhaftes Vertrauen in die Kraft des menschlichen Willens und in seine Möglichkeit, sich von der Sklaverei der Instinkte zu befreien. Damit bekundet sich eine deutliche Priorität der Willens- und Vernunftssphäre vor der Irrationalitätsdimension, obwohl die Beziehung zwischen diesen zwei Komponenten sich als ein immerwährender Kampf erweist. Auf jeden Fall muss man konstatieren, dass Husserl nie tiefgehend auf das Problem des Bösen und seine Implikationen in der gesamten Auffassung des Ich eingegangen ist. Melle bemerkt hierzu: [t]he most important philosophical foundation of Husserl’s post-war ethics is a rationalist optimistic anthropology. According to Husserl, the individual person and the community of persons are capable of a radically new beginning based on an autonomous rational will. Self-esteem, self-cultivation, self-formation, self-determination, self-creation, selfdirection, self-regulation – are the concepts with which Husserl characterizes the essence of ethical life.821 819 Hua XXVII, 34. Hua XXVII, 35. 821 Melle, The development of Husserl’s ethics, 124. 820 208 Der ethische Horizont des Husserlschen Ich-Begriffs: Das willentliche Ich-Werden Die Philosophie, und insbesondere die Phänomenologie, bildet also das echte ethische Leben, weil in ihr der fortwährende selbstbewusste Willensvollzug der menschlichen Selbstverantwortung geschieht: Der Phänomenologe besitzt ein „letztes Selbstverständnis des Menschen als für sein eigenes menschliches Sein verantwortlichen, sein Selbstverständnis als Sein im Berufensein zu einem Leben in der Apodiktizität.“822 Wie die Analyse des zweiten Kapitels hervorgehoben hat, stiftet jede willentliche Stellungnahme einen bleibenden und habituellen Willen, da sie einen Horizont eröffnet, der zunächst ein neuer Horizont seiner selbst ist: Der selbstbestimmende Charakter jedes Willensaktes hat die Eröffnung einer neuen Bestimmung in der Identität der Person zur Folge. Das gilt ganz besonders für jene höchste Willensentscheidung, welche die universale ethische Epoché verkörpert, weil es die Ethik Husserls „immer zuläßt, daß Menschsein ein Teleologischsein und Sein-sollen ist und diese Teleologie in allem und jedem ichlichen Tun und Vorhaben waltet, daß sie in allem durch Selbstverständnis das apodiktische Telos erkennen kann.“ 823 822 823 Hua VI, 275. Hua VI, 275. 209 Schluss Am Ende dieser Überlegungen seien ein kurzer Rückblick und eine Betrachtung der Ergebnisse der Analysen dargelegt. Die Phänomenologie des Willens hat sich, dank Husserl, Pfänder und Geiger, im ersten Kapitel als eine Untersuchung herausgestellt, die den inneren Kern der menschlichen Erfahrung erfasst, da – mit den Worten Husserls – „[a]lles Wachleben [...] Willensleben“ 824 ist und ständig von einer willentlichen Spannung begleitet wird. Der Beitrag Pfänders hat die Eigentümlichkeit des echten Willensaktes hervorgehoben, seine Kennzeichnungen dargelegt und sein Wesen als „ein eigentümliches Tun, in dem das Ich-Zentrum aus sich selbst hinaus zentrifugal einen geistigen Schlag ausführt“ 825 anerkannt. Die Analysen Pfänders liegen der Husserlschen Phänomenologie des Willens zugrunde und bilden für Husserl ohne Zweifel einen Bezugspunkt, doch geht dieser noch einen Schritt über Pfänder hinaus, indem er die Komplexität des Phänomens des Wollens mit einbezieht und mithin dessen Nuancen nicht einebnet. Zielerfassung, bewusste Selbstbestimmung sowie echte Stellungnahme stellen nur einen temporären Höhepunkt des weiten und vielschichtigen Willensphänomens dar, welches sich als ein das gesamte Ichleben umfassendes Phänomen zeigt. Pfänder strebt nun die Anerkennung der Freitätigkeit des Ich im Vergleich zur mechanischen Kausalität der Naturphänomene an, aber seine Position verbirgt die Kehrseite einer dualistischen Auffassung der Geistigkeit, denn sie impliziert, dass der aktiven und der passiven „Partien der Seele“ 826 zwei verschiedene kausale Ordnungen – die Motivationsgesetzlichkeit und die Naturkausalität – entsprechen. Husserl hingegen übersteigt diesen Dualismus: Seine umfassendere Auffassung des Begriffs der Motivation schmälert keineswegs die wesentlichen Abweichungen zwischen aktiver Willenssphäre und passiver Sphäre der Triebe und unwillkürlicher Assoziationen, sondern erkennt in diesen Dimensionen ein und dieselbe Motivationsgesetzlichkeit, die sich jedoch nach zwei verschiedenen Modi manifestiert, nämlich nach dem rationalen/ 824 Hua XXIX, 373. Pfänder, Motive und Motivation, 135. 826 Pfänder, Motive und Motivation, 146. 825 210 Schluss aktiven und dem irrationalen/passiven Modus. Die Motivation umfasst das gesamte Reich der Geistigkeit und seiner Erfahrung, da sie dem Bereich der Verständlichkeit und des Sinnes entspricht. Sowohl die rationalen als auch die passiven und irrationalen Motivationen stellen also eine Weil-Ordnung dar, die mit der Frage nach dem Warum und nicht mit dem mechanischen Reiz-Reaktions-Modell zu tun hat. Genau aus dieser Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit der gesamten Struktur der Erfahrung besteht die Grundlage der Husserlschen Phänomenologie des Unbewussten, die im zweiten Kapitel ausführlich betrachtet worden ist. Wenn die gesamte Erfahrung eine motivationale Struktur besitzt, besteht eine strenge Verbindung, welche die aktive und die passive Sphäre vereinigt, da beide Sphären nach Sinneszusammenhängen strukturiert sind. Obwohl also das unaufhörliche Werden des Bewusstseinslebens sowohl ein beständiges Versinken der Erlebnisse in das Reich der Vergessenheiten als auch eine zunehmende Modifikation der affektiven Kraft impliziert, geht nach Husserl nichts spurlos verloren: Alles, was vom Ich erlebt wurde, neigt nun dazu, zu verbleiben. Aus diesem Grund kann jeder Akt in Bezug auf seine verborgenen Motivationen und Sinneszusammenhänge befragt werden und in dieser Hinsicht weist die Husserlsche Phänomenologie des Unbewussten eindeutige Berührungspunkte mit dem Freudschen psychoanalytischen Ansatz auf: Die Möglichkeitsbedingung der psychoanalytischen Methode ist ja gerade die Behauptung, dass auch die scheinbar unwesentlichen Erscheinungen des Bewusstseinslebens einen verborgenen Sinn besitzen. Wenn eine Phänomenologie des Unbewussten möglich sein soll, kann demnach das Unbewusste nicht etwas ganz anderes als das Bewusstsein sein, sondern muss im Gegenteil etwas darstellen, das mit dem Bewusstsein und seinen Sinneszusammenhängen strukturell zu tun hat, wie Fink klar hervorhebt. Vordergrund und Hintergrund des Bewusstseinslebens verflechten sich beständig und jede aktive Stellungnahme oder Entscheidung schließt in sich die Geschichte von vergangenem und verbleibendem Erwerben. Die bleibenden Meinungen als Niederschläge im reinen Ich stellen daher die Wesensgesetzmäßigkeit der Konstitution des Ich, seiner transzendentalen Habitualitäten und seiner persönlichen Identität dar und drücken die „Art Konsequenz des Ich“827 aus. Jede willentliche 827 Hua IV, 113. 211 Schluss Entscheidung stiftet eine neue, bleibende Eigenheit, die stufenweise an der Konstitution der Geschichte des Ich und sowie an der Prägung seiner ethischen Persönlichkeit mitwirkt. Die Ergebnisse dieser ersten beiden Teile der Arbeit haben dann im dritten Kapitel ihre ethische Kehrseite offenbart – besser gesagt, sie haben ihre ethische Voraussetzung enthüllt: Diese besteht im Vorrang der Willensfähigkeit vor allen anderen menschlichen Fähigkeiten. Ungeachtet ihrer vielfältigen Redigierungen bekräftigen die ethischen Überlegungen Husserls beständig die Möglichkeit der willentlichen Selbstbestimmung und ethischen Selbsterneuerung des Menschen: Immer wieder kann, nach Husserl, der Mensch eine echte und wertvolle Willensentscheidung treffen, die seinem eigentümlich rationalen Wesen entspricht. Obgleich rationale und irrationale Motivationen sich beständig als miteinander verflochten offenbaren, und obwohl darüber hinaus jede aktive Stellungnahme in gewissem Sinn die Kette der vorangehenden Motivationen in sich einschließt, ist es die wesentliche Möglichkeit des durch Assoziationssynthese stattfindenden Weckens versunkener, verborgener oder scheinbar irrationaler Erlebnisse und folglich die Möglichkeit, die Dimension der Irrationalität wieder im Auge der Vernunft zu behalten, welche den menschlichen Horizont beherrscht. Ein Aufgerichtetsein auf das telos der idealen Rationalität regt das Leben des Ich an und kommt zum echten Ausdruck in der höchsten Willensstellungnahme der Philosophie bzw. der Phänomenologie, denn eine solche Stellungnahme lässt zu, sowohl dass die Verständlichkeit der Motivationsgesetzlichkeit der Erfahrung und das angeborene telos enthüllt werden als auch dass der Mensch sich dieses telos bewusst werden kann. Wie Husserl in den Vorlesungen Einleitung in die Philosophie von 1922/23 betont: „Das Eigentümliche der Phänomenologie und der phänomenologischen Philosophie ist extremster Radikalismus der Wahrhaftigkeit oder extremster Radikalismus in der Durchführung des Willens zu einer Erkenntnis aus vollkommen gutem Gewissen, in weiterer Folge zu einem Werten und Wollen aus vollkommen gutem Gewissen.“ 828 828 Hua XXXV, 288. 212 Zusammenfassung auf Italienisch VOLONTÀ, INCONSCIO, MOTIVAZIONE: L’ORIZZONTE ETICO DELLA CONCEZIONE HUSSERLIANA DELL’IO INDICE PRIMO CAPITOLO FENOMENOLOGIA DELLA VOLONTÀ E DELLA MOTIVAZIONE 1. Introduzione: la volontà da un punto di vista fenomenologico 2. Alexander Pfänder 2.1 L’incontro e la collaborazione con Husserl 2.2 Una differenza fondamentale: il ruolo della riduzione fenomenologica 3. La fenomenologia della volontà: un confronto tra Husserl e Pfänder 3.1 Pfänder: il colpo spirituale dell’atto volontario 3.2 Husserl: la fenomenologia del volere 3.2.1 Il rapporto di fondazione tra atti obiettivanti e non-obiettivanti a) Il sorgere del problema nelle Ricerche logiche b) Sviluppo della concezione husserliana in Idee I e nei corsi sull’etica e sulla dottrina dei valori del 1908-1914 3.2.2 La complessità del fenomeno della volontà e le sue modalizzazioni 3.2.3 Moritz Geiger: il volere non vissuto 3.2.4 Il carattere peculiare della volontà in Husserl 4. La motivazione come legge fondamentale del mondo spirituale 4.1 L’analisi pfänderiana della motivazione 4.2 La motivazione nella fenomenologia di Husserl 4.2.1 La motivazione come connessione di senso dell’esperienza 4.2.2 La motivazione passiva: pulsione e associazione 214 SECONDO CAPITOLO IL RUOLO DELLE SEDIMENTAZIONI PASSIVE E DELLE ABITUDINI TRASCENDENTALI NELLA COSTITUZIONE DELL’IO 1. Introduzione: l’enigma dell’inconscio 2. Il fenomeno di decorso e l’orizzonte infinito della coscienza interna del tempo 2.1 L’”ora” dell’impressione originaria 2.2 La “coda di cometa” delle ritenzioni e la rimemorazione 2.3 La protenzione 3. L’inconscio come “regno delle cose dimenticate e apparentemente ridotte ad un nulla” 3.1 Le sedimentazioni di atti non più attuali Le modificazioni ritenzionali e l’inabissarsi di ogni contenuto di coscienza Fenomenologia dell’inconscio come fenomenologia delle sedimentazioni inabissatesi 3.2 L’operatività di ciò che è nascosto 3.3 Husserl e Freud: due prospettive sull’inconscio 3.4 La possibilità del ridestamento 4. Le opinioni intenzionali permanenti e le abitualità trascendentali 5. La costituzione del carattere permanente e della personalità 215 TERZO CAPITOLO L’ORIZZONTE ETICO DELLA CONCEZIONE HUSSERLIANA DELL’IO: IL VOLONTARIO DIVENIRE-IO 1. Introduzione: il problema etico come nucleo della fenomenologia di Husserl 2. L’implicazione etica della legalità motivazionale 3. La prima etica di Husserl: il parallelismo tra logica formale ed etica formale 4. L’etica del dopoguerra: rinnovamento e responsabilità 5. La fenomenologia come decisione etica suprema 5.1 L’epoché etica universale 5.2 La radicale decisione di vita del fenomenologo: la vita come vocazione assoluta 6. Considerazioni conclusive: il primato della volontà 216 Zusammenfassung auf Italienisch Primo capitolo Fenomenologia della volontà e della motivazione 1. Introduzione: la volontà da una prospettiva fenomenologica Nel primo capitolo del mio lavoro ho posto al centro dell’indagine il tema della volontà e della motivazione. Questi due ambiti possiedono un ruolo fondamentale all’interno della fenomenologia di Husserl, come dimostrano le numerose pagine che il filosofo vi ha dedicato: a partire dalle Ricerche logiche in avanti, Husserl, allo scopo di comprendere e descrivere l’essenza degli atti volontari, non ha mai smesso di cimentarsi in analisi tanto di carattere statico quanto genetico. La volontà possiede agli occhi di Husserl una caratteristica che la distingue da ogni altra dimensione dell’agire umano: essa, infatti, non può essere considerata come una facoltà che si collochi semplicemente accanto ad altre. Essa è piuttosto una dimensione trasversale che accompagna ogni istante della vita dell’io, poiché, in un certo qual modo, sottesa ad ogni suo atto. Il tema della volontà coinvolge altri importanti interrogativi tra loro connessi, come quello che riguarda il rapporto tra la sfera volontaria e quella involontaria o la natura degli istinti e delle pulsioni. Esso introduce inoltre un altro grande ambito d’indagine fenomenologica, vale a dire il tema della “motivazione”, sfera che Husserl definisce «la legge della vita spirituale»829. Trattare il tema della volontà implica non solo la presa in esame di quegli elementi che hanno eminentemente a che fare con la dimensione volitiva – come la decisione, la presa di posizione, la messa in azione – ma anche tutti quei livelli della vita dell’io che, sebbene non possano essere considerati prettamente “volontari”, non possono nemmeno essere immediatamente esclusi da questa sfera: conseguenza di una simile esclusione sarebbe l’indebito impoverimento della ricchezza e della complessità soggettiva. Siamo 829 Husserl, Edmund: Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo, Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, tr. it. di V. Costa, Einaudi, Torino 2002, p. 223 (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Bd. IV, a cura di M. Biemel, Martinus Nijhoff, Den Haag, 1952). 217 Zusammenfassung auf Italienisch condotti come si vede, partendo dalla fenomenologia degli atti propriamente volontari, al dominio delle tensioni volitive preconscie, dei desideri, degli istinti. L’originalità della fenomenologia husserliana della volontà, colta in questo suo interesse per le diverse modalizzazioni del volere, trova un importante interlocutore nella figura di Alexander Pfänder. A tal proposito ho scelto di strutturare entrambe le sezioni di questo capitolo come un confronto tra le posizioni dei due filosofi. Tale trattazione comparativa ha delle rilevanti ragioni di natura tanto storiografica quanto teoretica. 2. Alexander Pfänder Pfänder, allievo di Theodor Lipps, è stato l’interlocutore privilegiato dell’Husserl del primo decennio del ‘900 ed il suo indiscusso punto di riferimento per ciò che concerne il tema del mio lavoro. Testimonianza di questa intensa collaborazione sono il fitto scambio epistolare, le numerose note che Husserl ha posto a margine delle sue personali copie delle opere di Pfänder e la cospicua mole del cosiddetto Pfänder-Konvolut, vale a dire l’insieme dei manoscritti husserliani che da Husserl stesso sono stati segnalati come relativi alle posizioni di Pfänder o semplicemente ai temi da lui trattati. Dopo aver brevemente ricostruito la figura di Pfänder, il suo percorso filosofico e la vicenda della sua collaborazione diretta con Husserl, mi sono soffermata a mostrare il ruolo e il valore che Pfänder attribuisce alla fenomenologia. Egli, insieme a quegli exallievi di Lipps che si uniscono nell’Akademisch Psychologischer Verein, aderisce alla proposta husserliana delle Ricerche logiche. La pubblicazione delle Logische Untersuchungen fu decisiva per Pfänder e per gli altri appartenenti al circolo: essi infatti videro nell’opera di Husserl il tentativo più compiuto di quella psicologia descrittiva che puntava a superare le ristrette categorie della psicologia di stampo fisiologisticomaterialistico e che costituiva già lo scopo del lavoro di Lipps e del Verein. Ciò che, tuttavia, Pfänder non condividerà mai dell’impostazione husserliana – che nel corso degli anni viene maturando fino alla cosiddetta “svolta trascendentale” – è il ruolo e la natura della riduzione trascendentale. In questo primo capitolo una tale premessa 218 Zusammenfassung auf Italienisch metodologica ha lo scopo di dare rilievo a una differenza che non riguarda solo l’impostazione preliminare ma anche e soprattutto gli esiti a cui giungeranno le analisi dei due filosofi inerenti alla volontà e alla motivazione. 3. La fenomenologia della volontà: un confronto tra Husserl e Pfänder Per quanto riguarda la fenomenologia del volere pfänderiana due testi in particolare fungono da punto di riferimento imprescindibile: Phänomenologie des Wollens 830 e Motive und Motivation831. Essi, infatti, oltre a essere testi su cui Husserl ha intensamente lavorato, offrono spunti teoretici utili a far emergere i numerosi nodi problematici di una fenomenologia della dimensione volontaria e pratica della vita dell’io. Essendo Pfänder rappresentante di una concezione classica delle caratteristiche peculiari degli atti volontari, entrare nel merito delle sue analisi offre il grande vantaggio di aiutare a mettere in risalto la concezione husserliana, la quale mostra, invece, tratti di grande originalità e di messa in questione dell’ovvio. Pfänder, sulla scorta di Lipps, distingue tra un volere in senso largo e un volere in senso stretto: il primo abbraccia tutta la sfera dello Streben, vale a dire della tensione volitiva, delle pulsioni, dei desideri; solo il secondo può, tuttavia, essere chiamato propriamente “volere”. Affinché si possa parlare di atto volontario in senso stretto secondo Pfänder è necessario che siano presenti, certo, la coscienza progettuale (Projektbewusstsein) e l’opinione volontaria (Willensmeinung), ma anche la coscienza del dovere (Sollensbewusstsein), eventualmente manifestantesi come esplicito riconoscimento ed espressa approvazione (Anerkennung e Billigung)832 . Condizione imprescindibile affinché si realizzi un atto volontario è la coscienza della possibilità di realizzazione di ciò che si possiede come obiettivo. Gli elementi fin qui elencati, tuttavia, pur essendo necessariamente compresenti nell’atto volontario, mancano ancora del vero e proprio presupposto pratico. Questo viene infatti a costituire il tratto peculiare 830 Pfänder, Alexander: Phänomenologie des Wollens. Eine psychologische Analyse, Barth, Leipzig 1900. Pfänder, Alexander: Motivi e motivazione, in: La persona: tra apparenza e realtà. Testi fenomenologici 1911-1933, a cura di R. De Monticelli, Cortina, Milano 2000 (Motive und Motivation, in: Phänomenologie des Wollens. Motive und Motivation, Barth, München 1963). 832 Cfr. Ivi, p. 15. 831 219 Zusammenfassung auf Italienisch della volontà: il “colpo spirituale” (geistiger Schlag833 ) sferrato dall’io a partire dal proprio centro e diretto con moto centrifugale verso l’oggetto. Attraverso tale immagine Pfänder vuole sottolineare il carattere di assoluta libertà della volontà, la sua spontaneità e il suo potere decisionale: la volontà, nell’orizzonte delle sue analisi, si staglia come quella dimensione che obbliga ad un ripensamento degli schemi della psicologia fisiologistica perché essa incarna una libertà che rompe ogni meccanismo. L’io tuttavia non è solo il soggetto realizzatore dell’atto volontario, bensì ne rappresenta, al contempo, l’oggetto. Il prendere posizione volontario possiede un carattere di autodeterminazione che distingue il soggetto umano da ogni altro essere vivente, in quanto solo l’uomo può decidere di plasmare se stesso, la propria vita e il proprio mondo-ambiente. Quando, invece, prendiamo in esame gli altri fenomeni appartenenti alla sfera del volere in senso largo – ossia il bramare, il desiderare, il tendere – scopriamo come in essi, secondo Pfänder, si agiti una dinamica del tutto differente: queste tendenze sono infatti cieche e non hanno trovato la loro origine nella libera mossa dell’io. Al contrario, esse tentano di usurparne la libertà lottando tra loro e dirigendosi centripetamente verso il nucleo centrale dell’ego. Pfänder arriva quindi a distinguere tra due sfere della soggettività, l’Ich-Zentrum e l’Ich-Leib: mentre da un lato abbiamo la sede della volontà, dall’altro incontriamo, invece, la dimensione in cui si agitano le tendenze cieche e pulsionali. L’analisi pfänderiana apre alcuni quesiti che nella sua opera tuttavia non sembrano trovare risposta. Domandiamoci, infatti, se osservando la nostra esperienza, possiamo sempre distinguere in modo così netto tra ciò che è volontario e ciò che non lo è o lo è solo parzialmente. Le nostre azioni quotidiane non sono forse costantemente accompagnate da atti che noi definiremmo volontari, nonostante non sia presente una netta coscienza dello scopo oppure non venga sferrato un “colpo spirituale”? Husserl offre a questo proposito un contributo interessante. Per entrare nel cuore della fenomenologia husserliana del volere ho inizialmente preso in esame la problematica del rapporto tra gli atti obiettivanti e quelli non833 Cfr. Ivi, pp. 24-25. 220 Zusammenfassung auf Italienisch obiettivanti così come emerge a partire dalle Ricerche logiche e poi nel primo volume delle Idee e nei corsi sull’etica del 1908-1914, la cui comprensione risulta imprescindibile per la trattazione del tema degli atti volontari. Nelle Ricerche Logiche Husserl, sulla scia della classificazione brentaniana dei fenomeni psichici, sostiene che ogni vissuto intenzionale si connota per la sua essenza di atto obiettivante o ha un un atto obiettivante come proprio fondamento. Un atto si mostra come obiettivante quando possiede carattere posizionale: obiettivanti sono dunque percezioni, giudizi, rimemorazioni e, più in generale, tutti gli atti che hanno come correlato intenzionale un oggetto o uno stato di cose. Non-obiettivanti sono invece gli atti assiologici, pratici (volere, desiderare etc.): essi sono atti complessi che necessitano di un atto obiettivante come fondamento, il quale fornisca loro un’oggettualità di riferimento. Nella cornice delle Ricerche Logiche gli atti volitivi mantengono dunque il carattere di una strutturale dipendenza dagli atti obiettivanti, sebbene già in questo testo Husserl non manchi di rilevare il carattere problematico di tale rapporto di fondazione sollevando l’ipotesi del riconoscimento di uno specifico carattere intenzionale anche agli atti non-obiettivanti. Proprio l’approfondimento della specifica intenzionalità degli atti volitivi e pratici condurrà Husserl – nel primo volume delle Idee e nei corsi sull’etica del 1908-1914 – a un ripensamento del rapporto di fondazione tra atti obiettivanti e non-obiettivanti e a un più deciso riconoscimento della specificità del carattere intenzionale degli atti pratici, sebbene non venga mai meno l’attribuzione di un privilegio agli atti dossici, come sottolinea lo stesso Husserl nei corsi sull’etica, quando afferma che senza la ragion logica «la ragion valutativa e quella pratica sono, per così dire, mute e in un certo senso cieche»834. Dopo aver approfondito tale aspetto ho tentato di rispondere alle domande emerse a partire dal confronto con i testi di Pfänder. Husserl, così come Pfänder, sottolinea a più riprese come la peculiarità dell’atto volontario sia rappresentata dalla capacità decisionale, dall’assoluta libertà, dalla possibilità di autodeterminazione dell’io. 834 Husserl, Edmund: Lineamenti di etica formale, Le Lettere, Firenze 2002, p. 85 (Vorlesungen über Ethik und Wertlehre, 1908-1914, Bd. XXVIII, a cura di U. Melle, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht – Boston 1988). 221 Zusammenfassung auf Italienisch Sintetizzando tutte queste caratteristiche nell’espressione “fiat”, già utilizzata da James 835, il filosofo tende a un parallelo sinonimico con il geistiger Schlag pfänderiano. Non si può, però, parlare di una sinonimia totale; esiste, infatti, un punto in cui le posizioni dei due filosofi si discostano. Esso trova luogo nel riconoscimento che Husserl, a differenza di Pfänder, opera nei confronti delle numerose modalizzazioni del fenomeno del volere. Scrive, infatti, Husserl nel secondo volume delle Idee: «Prima della volontà implicante la tesi attiva del “fiat” viene l’agire come agire istintivo, per esempio l’involontario “io mi muovo”, l’involontario “prendo” i miei sigari, desidero fumarne uno e lo faccio “senz’altro”, tutte cose, certo, che non si possono facilmente distinguere dal caso della volontà in senso stretto»836. Il manoscritto A VI 3/5-7, che appartiene al suddetto Pfänder-Konvolut, è, in questo senso, un testo ricchissimo di spunti, da momento che qui Husserl muove a Pfänder la critica esplicita di non aver preso in esame le infinite modalità di intrecci intenzionali attraverso cui la volontà può manifestarsi. Al fine di esemplificare la complessità inaggirabile propria della dimensione volitiva, ho scelto di coinvolgere un altro dei primi fenomenologi provenienti dalla scuola di Lipps, Moritz Geiger. Questi nel testo Frammento sul concetto di inconscio e sulla realtà psichica 837 si cimenta nella dimostrazione dell’esistenza di un “volere non vissuto” (unerlebtes Wollen), espressione volutamente ossimorica che tuttavia cattura tutta una serie di fenomeni quotidianamente esperiti da ciascuno. Geiger propone questo esempio: Poniamo il caso che si voglia scrivere una lettera: questo fatto ha inizio (come ogni volere) con una posizione di volontà: ci si decide a scrivere la lettera. Ma non si continua a decidersi. E tuttavia, una volta che la decisione è presa, non per questo si cessa di volere: il volere dura molto di più [...]. Si continua a voler scrivere la lettera, mentre si va a prendere la carta, mentre si cerca nell’agenda l’indirizzo del destinatario della lettera, mentre si 835 Cfr. James, William: Principles of Psychology, Henry Holt and Co., New York 1890, p. 522. Husserl: Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo, Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 259. 837 Geiger, Moritz: Frammento sul concetto di inconscio e sulla realtà psichica, in: La persona: tra apparenza e realtà. Testi fenomenologici 1911-1933, a cura di R. De Monticelli, Cortina, Milano 2000 (Fragment über den Begriff des Unbewussten und die psychische Realität, Max Niemeyer, Halle 1930). 836 222 Zusammenfassung auf Italienisch sistema l’inchiostro, mentre si intinge il pennino e si scrive. Nel mentre in cui si compiono questi atti di sostegno, subordinati al volere, si continua sempre a voler scrivere.838 Geiger, sulla base di una nuova posizione di fronte ai fenomeni psichici che egli denomina realismo immanente839, combatte quella che viene da lui identificata come “psicologia dei vissuti”, vale a dire quella scienza psicologica che tende a identificare la psiche con una serie di vissuti che si manifestano in modo puntuale. La volontà dimostra la non attendibilità di una simile concezione poiché questa dimensione della vita dello spirito non può essere confinata solo e unicamente al momento espressamente “vissuto”, al momento della scelta o della presa di posizione, in quanto queste ultime sono come le punte di un iceberg abissalmente più profondo e ricco di sfumature e strati. Il contributo di Geiger aiuta a mettere in luce la problematicità della dimensione volontaria e la non banale scelta teoretica husserliana attenta, da un lato, a non livellare i gradi della tensione volitiva, dall’altro a non venir meno nel sottolineare il carattere di autodeterminazione e di libertà dell’atto volontario vero e proprio (aspetto che emerge chiaramente nelle lezioni sull’etica raccolte nel XXVIII volume dell’Husserliana, ed in particolare nella sezione dedicata alla fenomenologia della volontà). 4. La motivazione come legge fondamentale del mondo spirituale La sezione dedicata alla volontà introduce il tema della motivazione, poiché quest’ultima ne rappresenta la condizione essenziale. Anche in questo caso ho scelto di avvicinarmi alla concezione husserliana attraverso il confronto con le analisi pfänderiane, le quali hanno assunto, per Husserl, il ruolo di imprescindibile punto di partenza e di costante riferimento, in particolare per quell’indagine che mette a tema il rapporto tra causalità naturale e legalità motivazionale. Prima di entrare nel merito delle analisi pfänderiane e husserliane ho premesso una breve introduzione al concetto di motivazione. Il termine “motivazione” si trovava, infatti, già da tempo al centro del dibattito filosofico grazie alle riflessioni di Dilthey, 838 839 Ivi, pp. 132-133. Ivi, p. 104. 223 Zusammenfassung auf Italienisch Simmel, Lipps, ossia di tutti coloro che, sebbene con metodi e intenti differenti, avevano voluto individuare la specificità delle connessioni della sfera spirituale rispetto alla causalità meccanica della natura descritta dalle scienze naturali. Motive und Motivation di Pfänder è interamente dedicato, appunto, al tema della motivazione. Egli riserva il termine “motivazione” ad una classe molto limitata di fenomeni psichici. Secondo il filosofo si può parlare di nesso motivazionale solo quando sono contemporaneamente presenti i seguenti elementi: 1) la causazione fenomenica dell’ascolto interiore delle esigenze; 2) la ricezione dell’esigenza, il suo riconoscimento e l’approvazione; 3) il compimento dell’atto del volere e il suo appoggio sul fondamento. 840 La precisione con cui Pfänder descrive le condizioni del nesso motivazionale rispecchiano effettivamente l’uso quotidiano del termine “motivazione”: noi parliamo di motivo o di motivazione riferendoci al “perché” di una nostra azione volontaria, di una nostra decisione, di una scelta pienamente nostra. La descrizione pfänderiana, tuttavia, può sembrare da subito una griglia troppo stretta: secondo Edith Stein per esempio «la motivazione in senso pregnante, che viene analizzata da Pfänder, non deve limitarsi all’autentico atto del volere, ma deve estendersi all’intera sfera degli atti volontari»841. Quella che la Stein definisce “l’intera sfera degli atti volontari” corrisponde a quella che Pfänder aveva identificato con la sfera del “volere in senso largo”, vale a dire l’insieme delle tendenze, delle pulsioni. In quest’ultima dimensione, secondo Pfänder, non vige la legalità motivazionale poiché questo dominio non ha a che vedere con quello della presa di posizione attiva: le tendenze agiscono, per Pfänder, con il dinamismo di una «costrizione della natura»842 («Naturzwang») e non, invece, secondo i liberi nessi della motivazione spirituale. L’esito a cui perviene Motive und Motivation, che pure aveva come scopo l’individuazione di quella legalità spirituale che svincolasse il soggetto dai meccanismi della causalità naturale, si struttura paradossalmente come un esito dualistico: l’essere umano ne emerge come un essere la cui vita si svolge parallelamente organizzata 840 Pfänder, Motivi e Motivazione, pp. 24-25. Stein, Edith: Psicologia e scienze dello spirito. Contributi per una fondazione filosofica, tr. it. di A. M. Pezzella, Città nuova, Roma 1996, p. 92 (Beiträge zur philosophischen. Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften, Max Niemeyer, Tübingen 1970). 842 Pfänder, Motivi e Motivazione, p. 28. 841 224 Zusammenfassung auf Italienisch secondo due dimensioni differenti, una volontaria e libera – dove vige la legalità motivazionale –, l’altra pulsionale – dove gli istinti tentano di dominare meccanicamente l’io. A questo punto, lo sviluppo husserliano del tema della motivazione può stagliarsi in tutta la sua originalità. Vediamo, appunto, come – in una famosa nota al testo di Idee I – Husserl possa affermare che questo fondamentale concetto fenomenologico della motivazione, che mi risultò nelle Ricerche logiche dalla delimitazione della sfera puramente fenomenologica (in contrapposizione al concetto della causalità relativa alla sfera della realtà trascendente), è una generalizzazione di quel concetto di motivazione secondo cui possiamo dire, per esempio del volere uno scopo, che esso motiva il volerne i mezzi. Del resto il concetto di motivazione subisce, per motivi essenziali, diversi mutamenti, ma gli equivoci che essi suscitano diventano innocui e appaiono addirittura necessari nella misura in cui le situazioni fenomenologiche siano chiarite. 843 Mentre il significato che Pfänder attribuiva alla parola “motivazione” poteva, tutto sommato, trovare un facile consenso poiché corrispondente all’accezione con la quale di solito usiamo tale termine, le riflessioni husserliane sembrano a questo proposito quasi anti-intuitive. Nella fenomenologia di Husserl la motivazione assume un significato centrale proprio perché essa non riguarda più soltanto uno specifico ambito di fenomeni (vale a dire quelli volontari o più in generale pratici), bensì diventa la struttura dell’esperienza stessa, colta in qualsiasi suo aspetto. L’esperienza è per Husserl un sistema motivazionale in quanto concepita come un sistema di connessioni e rimandi di senso. Se prendiamo, per esempio, un atto percettivo ci rendiamo presto conto del fatto che i lati percepiti “motivano” la co-percezione dei lati non direttamente percepiti; o ancora, nell’atto del giudizio è la premessa A a motivare la conclusione B, e così via. A questo punto si impone un importante quesito: se l’intero regno dell’esperienza si rivela come motivazionale, – vale a dire strutturato in una trama di rimandi significativi che motivano ciò che accadrà in virtù dell’appena stato – non significa, forse, che ci 843 Husserl, Edmund: Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro primo, Introduzione generale alla fenomenologia pura, tr. it. di V. Costa, Einaudi, Torino 2002, p. 117 (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Bd. III/1, a cura di K. Schuhmann, Martinus Nijhoff, Den Haag 1976). 225 Zusammenfassung auf Italienisch stiamo avvicinando a una concezione in cui l’esperienza potrebbe perdere ogni carattere evenemenziale? Husserl risponde chiaramente a questa obiezione nelle pagine del secondo volume delle Idee: «Quando diciamo che ogni vissuto di un atto è motivato e sta in un intreccio di motivazioni, ciò non implica che ogni prendere di mira sia tale “in conseguenza di”; [...] così quando nel cielo notturno vedo improvvisamente brillare un meteorite, o quando sento d’un tratto schioccare un colpo di frusta»844. Il contenuto dell’esperienza quindi possiede e mantiene il carattere dell’accadere, dell’avvenimento; ciononostante non potremmo parlare a pieno titolo di “esperienza” se tale accadere non fosse anch’esso sin da subito inserito nella legalità apriorica della motivazione. I dati dell’esperienza, per quanto imprevisti ed imprevedibili, non si rivelano mai, infatti, come del tutto caotici. In riferimento agli esempi da lui stesso portati, Husserl aggiunge: «Eppure, anche qui si può dimostrare una specie di motivazione, che è inclusa nella forma della coscienza interna del tempo. Questa forma è qualcosa di assolutamente stabile: è la forma soggettiva dell’adesso, del prima, ecc. A questo non posso cambiare nulla» 845. L’insistenza con cui Husserl sottolinea il carattere motivazionale dell’esperienza ha come scopo principale quello di far risaltare la strutturale Verständlichkeit dell’esperienza e della vita dello spirito: tutto in quest’ultima è motivato, in quanto tutto ha un senso, tutto ha una genesi. Non si tratta però di una genesi meccanica, bensì di senso, di comprensibilità. Dopo aver messo a fuoco l’ampiezza dell’ambito della motivazione, che per Husserl abbraccia l’esperienza stessa, torno a concentrarmi sulla dimensione pratica e volitiva, la quale chiarificherà la decisività di quanto abbiamo detto sinora. Husserl infatti individua due generi di motivazione: quella attivo-razionale e quella passivoirrazionale. Il primo genere focalizza quella che normalmente viene indicata come motivazione e che già Pfänder aveva con precisione messo in luce. Il secondo ambito, invece, arriva a includere nel cerchio della motivazione persino la vita pulsionale e passiva dell’io. Mentre per Pfänder la zona oscura dell’ego, il dominio delle pulsioni, delle tendenze, opera alla stregua di una Naturzwang, per Husserl, invece, anche in 844 Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo, Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 230. 845 Ibidem. 226 Zusammenfassung auf Italienisch queste dimensioni vige la legalità motivazionale. Sebbene Husserl non manchi di ribadire la profonda differenza tra il livello attivo e quello passivo della vita dell’io, è utile notare come egli sottolinei contemporaneamente che tale differenza non è sancita dalla presenza di due ordini causali diversi (quello motivazionale e quello meccaniconaturale), bensì da due modalità diverse di connessione motivazionale. Come è possibile, tuttavia, parlare di motivazione dove l’io non prende alcuna decisione? Una dimensione passiva, dove la motivazione agisse senza il coinvolgimento dell’io, rappresenterebbe una sfera soggettiva in cui l’io non potrebbe possedere alcuna capacità decisionale, in quanto sottomesso a forze che tentano di dominarlo. Per illustrare la risposta husserliana a questi quesiti, non si può prescindere dalla presenza all’interno della vita egologica passiva di due componenti: gli istinti e le associazioni. Per quanto riguarda il primo di questi due aspetti, gli istinti, Husserl afferma che una pulsione o un vissuto di questo genere viene «motivato da uno sfondo oscuro, ha “motivi psichici”, che si possono interrogare: come mi è venuta in mente questa cosa – che cosa mi ha portato a ciò? Che queste domande siano possibili è un fatto che caratterizza qualsiasi motivazione in generale»846. La possibilità tipicamente spirituale di prendere coscienza ed eventualmente di sospendere una pulsione, si mostrano agli occhi di Husserl nel loro valore di indici di una possibile comprensibilità e di un indiscusso senso che attraversa la tensione pulsionale stessa. É possibile giungere a questa conclusione anche attraverso un procedimento inverso: quando infatti io, secondo volontà e coscienza, prendo una decisione razionalmente motivata, non posso negare che, sicuramente, i motivi che mi hanno portato a ciò sono in gran parte quelli di cui sono cosciente. É altrettanto vero, però, che l’interesse che mi conduce nella tal direzione e la passione con cui mi accingo all’azione, sono allo stesso tempo motivati da desideri o tensioni che, pur essendo passivi e inconsci, si mostrano anch’essi come carichi di senso, direzionati più o meno confusamente ad uno scopo. Le associazioni involontarie costituiscono l’altro grande ambito della motivazione passiva. Mentre la psicologia tradizionale ha visto spesso nell’associazione una mera forma di causalità obbiettiva, per Husserl essa costituisce un modo dell’intenzionalità. 846 Ivi, p. 226. 227 Zusammenfassung auf Italienisch L’esperienza per Husserl è un intrecciarsi di nessi associativi, una catena inesauribile, una trama di nessi perennemente intrecciati. Le nostre giornate sono ricchissime di esempi di associazioni che operano passivamente: «Durante una conversazione ci viene in mente uno splendido paesaggio marino. Se riflettiamo sui motivi per cui ci è venuto in mente allora troviamo, per esempio, che una piega della conversazione ce ne ricorda immediatamente una simile formulata l’estate scorsa al mare, in una festa»847. Nella prospettiva di Pfänder queste associazioni non hanno nulla a che vedere con la motivazione, poiché, all’interno di questa dimensione sono del tutto assenti sia il geistiger Schlag che l’ascolto interiore delle esigenze. Husserl stesso, d’altronde, è ben consapevole di proporre un’accezione impropria del termine usandolo tanto per la sfera attiva quanto per quella passiva. Ciò che, tuttavia, per Husserl rimane come obiettivo è la possibilità di sottolineare degli strutturali intrecci di senso che operano a qualsiasi livello della vita dell’io, anche in quello meramente associativo: Il fatto che “a” mi ricorda “b”, che una cartolina del duomo di Berlino mi ricorda il castello di Berlino, non è un saltare semplicemente meccanico da un elemento vissuto a quello precedente, ma un elemento è carico di un’intenzionalità che rinvia all’altro elemento, e, senza qualcosa di simile, non capiremmo alcun segno né alcuna parola del discorso e così via. Dico “non capiremmo”. Di fatto, senza qualcosa di questo genere, non capiremmo proprio nulla, perché solo grazie alla coscienza c’è qualcosa da capire. 848 Il misconoscimento pfänderiano della legalità di senso in opera nella dimensione passiva nasconde in sé lo stesso errore del naturalismo psicologistico, perché le leggi associative vengono ad assumere lo stesso statuto e dinamismo delle leggi meccaniche della fisica. La concezione husserliana, quindi, supera quel dualismo di fondo che avevamo rilevato nelle posizioni di Pfänder: attività e passività non appartengono più a due mondi separati e retti da ordinamenti causali differenti, bensì si riscoprono come due livelli diversi dell’unica vita dell’io, interamente attraversata da connessioni di senso e 847 Husserl, Edmund: Lezioni sulla sintesi passiva, Guerini, Milano 1993, p. 173 (Analysen zur passiven Synthsis, Bd. XI, a cura di M. Fleischer, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966). 848 Husserl, Edmund: Introduzione all’etica, Laterza, Bari 2009, p. 176 (Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, Bd. XXXVII, a cura di H. Peucker, Martinus Nijhoff, Den Haag 2004). 228 Zusammenfassung auf Italienisch comprensibilità. Tra questi due strati non c’è alcuna cesura, ma un graduale emergere esplicito della ragione; proprio per questo Husserl può affermare: «Die passive Motivation ist der Mutterboden der Vernunft»849 («La motivazione passiva è il terreno fertile della ragione»). 849 Husserl, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, cit., p. 332. 229 Zusammenfassung auf Italienisch Secondo capitolo Il ruolo delle sedimentazioni passive e delle abitudini trascendentali nella costituzione dell’io 1. Introduzione: l’enigma dell’inconscio L’indagine che viene condotta nel secondo capitolo trova il suo nucleo nella dimensione inconscia della vita dell’io. Il tema dell’inconscio sembra da parte sua sottrarsi a un’analisi descrittiva; ma nonostante questa apparenza, Husserl non si esime dall’affrontarne lo studio, secondo quella che definisce una «fenomenologia di questo cosiddetto inconscio»850. L’indagine husserliana circa questa sfera del vivere, tuttavia, non mira alle strutture empiriche o psicologiche, bensì a quelle trascendentali della soggettività, accessibili grazie alla via genetica che la riduzione fenomenologica apre. L’analisi intenzionale infatti ricostruisce da un punto di vista genetico la costituzione dell’io e i suoi strati che passivamente si costruiscono ed operano. Al fine di valorizzare la peculiarità dell’approccio fenomenologico alla dimensione inconscia, un confronto con la psicanalisi freudiana, che metta in luce i punti di contatto e allo stesso tempo le profonde differenze tra i due metodi, si rivela illuminante e fecondo. Non è inutile porre qui alcune domande, che tendono il filo rosso del presente percorso: quale effetto gli istinti e le associazioni passive sortiscono sulle azioni pratiche e sulle decisioni? In che senso è possibile parlare di inconscio da un punto di vista fenomenologico? Come è possibile parlare di abitudini trascendentali, quando la categoria di abitudine di per sé sembra riguardare solo la dimensione empirica dell’esistere? Per rispondere a queste domande è innanzitutto necessario comprendere la dinamica trascendentale della coscienza del tempo: il flusso temporale rappresenta da una parte la condizione di possibilità di qualsiasi costituzione, dall’altra la legalità che regola l’inabissarsi progressivo dei vissuti nel «regno delle cose dimenticate e apparentemente ridotte ad un nulla» 851. 850 851 Husserl, Lezioni sulla sintesi passiva, cit., p. 211. Ivi, pp. 120-121. 230 Zusammenfassung auf Italienisch 2. Il fenomeno di decorso e l’orizzonte infinito della coscienza interna del tempo Come è stato mostrato nel primo capitolo, l’esperienza si costituisce nell’intreccio motivazionale attivo e passivo di connessioni di senso e di orizzonti di attesa. Per questa ragione, senza la sintesi passiva dell’associazione non vi sarebbe esperienza. La sintesi motivazionale più originaria è quella della coscienza interna del tempo, ossia «la sintesi che di continuo si realizza nella coscienza originaria del tempo»852, la quale consiste in «un ambito formale universale, in una forma costituita sinteticamente, cui devono partecipare tutte le altre possibili sintesi»853 . Nelle Lezioni sulla coscienza interna del tempo Husserl opera una puntualizzazione: un’analisi fenomenologica della temporalità implica innanzitutto una «messa fuori causa del tempo obbiettivo»854 , detto anche «tempo cosmico»855. L’epoché fenomenologica rende quindi possibile l’accesso alla vita intenzionale trascendentale e il recupero dell’esperienza vivente ed originaria della temporalità. La riduzione è la condizione di un superamento del pregiudizio obbiettivistico secondo cui il flusso temporale sarebbe una somma o successione di istanti puntuali, e perciò sarebbe sottoposto costantemente a una misurabilità obbiettiva. Questo pregiudizio trova una rappresentazione simbolica nell’immagine della linea del tempo; immagine che, se osservata da un punto di vista fenomenologico, si svela artificiosa costruzione, poiché l’esperienza originaria della temporalità è piuttosto un «flusso costante»856, una «continuità di mutamenti incessanti la quale forma un’unità indivisibile, non divisibile in tratti che possano stare a sé»857. Argomenta Husserl in Filosofia prima: L’orizzonte di coscienza, con le sue implicazioni intenzionali [...] non abbraccia soltanto il mondo circostante del presente [...]. Al presente vivente-fluente stesso appartiene 852 Ivi, p. 177. Ivi, p. 178. 854 Husserl, Edmund: Per la fenomenologia della coscienza interna del tempo (1893-1917), tr. it. di Alfredo Marini, Franco Angeli, Milano 1981, p. 44 (Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917), Bd. X, a cura di R. Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966). 855 Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro primo, Introduzione generale alla fenomenologia pura, cit., p. 202. 856 Husserl, Per la fenomenologia della coscienza interna del tempo (1893-1917), cit., p. 60. 857 Ivi, p. 63. 853 231 Zusammenfassung auf Italienisch costantemente un ambito di passato immediatamente cosciente, cosciente nel riecheggiare immediato della percezione che si è inabissata. Allo stesso modo, vi appartiene anche un ambito di futuro immediato, cosciente come qualcosa che sta per accadere, a cui il percepire fluente, per così dire, corre incontro. 858 Ho scelto di prendere in esame ciascuno dei tre momenti costitutivi del flusso temporale. Il primo di essi è l’impressione originaria (Urimpression), ossia il presente vivente, il «punto-limite perennemente sfuggente tra passato e futuro»859. Il presente è quindi un momento in costante fluire, che incessantemente trascolora nell’appenapassato, e quindi nel secondo dei tre momenti del flusso: la ritenzione (Retention). È detta anche ricordo primario, per distinguerla dalla rimemorazione (che invece costituisce il ricordo secondario). La ritenzione viene da Husserl paragonata a una «coda di cometa»860 che accompagna ogni presente vivente. La ritenzione assume, all’interno di questa trattazione, un ruolo fondamentale, in quanto il fluire ritenzionale di ogni presente è la dinamica che ne struttura l’inevitabile trapassare nella dimensione del passato, e quindi nella dimensione della dimenticanza, dell’inconscio. Il terzo momento della coscienza interna del tempo è invece la protensione (Protension), cioè il secondo lato dell’orizzonte di ogni presente vivente. È il lato del futuro, dell’attesa: la protensione rappresenta il carattere di costante predelineazione che appartiene a ogni istante della vita dell’io, e allo stesso tempo, l’orizzonte di aperta possibilità che ogni atto dell’io inaugura. 858 Husserl, Edmund: Filosofia prima. Teoria della riduzione fenomenologica, tr. it. di A. Staiti, Rubbettino editore, Soveria Mannelli, 2007, pp. 149-150 (Erste Philosophie (1923-1924). Zweiter Teil: Theorie der Phänomenologischen Reduktion, Bd. VIII, a cura di R. Boehm, Martinus Nijhoff, Den Haag, 1959). 859 Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905-1920, Bd. XIII, a cura di I. Kern, Martinus Nijhoff, Den Haag 1973, p. 162. 860 Husserl, Per la fenomenologia della coscienza interna del tempo (1893-1917), cit., p. 67. 232 Zusammenfassung auf Italienisch 3. L’inconscio come «regno delle cose dimenticate e apparentemente ridotte ad un nulla» 3.1 Le sedimentazioni di atti non più attuali È stato rilevato che il flusso temporale è la condizione trascendentale del progressivo inabissarsi di ogni vissuto attuale, e che la «ritenzione ininterrottamente co-fungente» incarna il «luogo originario di questa operazione»861. «Le ritenzioni che si fanno avanti originariamente restano non intuitive e si inabissano nell’orizzonte generale della dimenticanza, di ciò che è ormai privo di differenze e, per così dire, di vita, a meno che non abbia luogo un ridestamento associativo»862. Per quanto i vissuti trascorsi si inabissino sempre più in questo livello-zero dell’esperienza, ciò non comporta necessariamente che essi non esercitino alcuna affezione: si tratta piuttosto di una modificazione graduale della forza affettiva che finisce nell’inavvertibilità. Ciò che non è pressoché più avvertibile, tuttavia, non è da considerarsi un nulla, poiché continua a permanere nella catena ritenzionale. Niente infatti va perso nella dimenticanza assoluta, niente va perso senza che lasci una traccia; scrive a questo proposito Husserl: «Ogni precedente momento di veglia, che ora viene ricordato, viene ricordato come contenente in sé il ricordo del momento immediatamente precedente [...] L’oggi ha in sé il ricordo di ieri, lo ieri del giorno precedente e così via»863. Il passato che via via si inabissa possiede quindi un ruolo fondamentale nella costituzione dell’adesso presente. Date tali premesse, secondo Husserl, la fenomenologia dell’inconscio ha il compito di «irradiare luce fenomenologica in questa notte», ossia di portare allo scoperto la storia di sedimentazioni che, sulla scorta di quello che egli definisce il «destino della coscienza»864, mano a mano si inabissano perdendo progressivamente forza affettiva senza tuttavia perdere mai una potenziale forza motivazionale. Un’osservazione fenomenologica della vita dell’io mostra che in ogni istante esso è sottoposto a una pluralità di stimoli affettivi che lo motivano contemporaneamente. Solo alcuni di essi, 861 Husserl, Lezioni sulla sintesi passiva, cit., p. 39. Ivi, p. 125. 863 Husserl, Edmund: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916-1937), Bd. XXXIX, a cura di R. Sowa, Martinus Nijhoff, Den Haag 2008, p. 587. 864 Husserl, Lezioni sulla sintesi passiva, cit., p. 74. 862 233 Zusammenfassung auf Italienisch però, si trovano in primo piano (Vordergrund), vale a dire sono vissuti coscientemente dall’io: una larga parte di stimoli colpisce invece l’io a partire dallo sfondo (Hintergrund) della vita di coscienza. Proprio questo sfondo è indicato da Husserl come l’inconscio: un «grado zero della vivacità coscienziale», che tuttavia «non è affatto un nulla. Esso è un nulla soltanto rispetto alla forza affettiva e quindi rispetto a quelle operazioni che presuppongono un’affettività che abbia un valore positivo (sopra il punto zero)»865. Ciò che progressivamente si inabissa nello sfondo della memoria rappresenta ciò che per Husserl è la passività secondaria, ossia ciò che, nonostante sia sprofondato nelle sfere inconsce dell’io, «porta sempre con sé il marchio della sua origine»866 e continua a esercitare una forza motivazionale. Ancora una volta, pertanto, risulta fallace una rappresentazione della vita dell’io come una serie di vissuti puntuali. L’io è piuttosto come un iceberg: la punta di ciò che momentaneamente si trova in primo piano racchiude tutta la profondità di quanto apparentemente è andato perduto; le sedimentazioni, le pulsioni inconsce, rimangono sotto la superficie. Non è un caso che alla domanda “Chi sei tu?” sia impossibile rispondere senza riferirsi alla propria storia, a ciò che progressivamente s’è andato costituendo e che ora continua a vivere in noi come acquisizione permanente, pur non potendo certo questa risposta esaurire la ricchezza e l’unicità del proprio io. 3.2 L’operatività di ciò che è nascosto Quanto era già emerso nel primo capitolo a proposito della natura motivazionale della passività rivendica ora, nell’indagine sul concetto fenomenologico di inconscio, la sua centralità. In un testo del 1934, Husserl scrive che si può definire «inconscia l’attività che si è sedimentata e il suo costante co-fungere nei ridestamenti, nella continua associazione e quindi nell’abitualità che intrinsecamente vi appartiene e che è costante e costantemente si modifica»867. Sussiste quindi un co-fungere dell’inconscio, 865 Ivi, p. 225. Husserl, Edmund: Lezioni sulla sintesi attiva, tr. it. di L. Pastore, Mimesis, Milano 2007, p. 92 (Aktive Synthesen: aus der Vorlesung ‘Transzendentale Logik’ 1920/21, Bd. XXXI, a cura di R. Breeur, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2000). 867 Husserl, Edmund: Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926-1935), Bd. XXXIV, a cura di S. Luft, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2000, p. 472. 866 234 Zusammenfassung auf Italienisch una sua operatività, che si manifesta nella sintesi associativa e nella costante presenza delle abitualità. Il manoscritto E III 10, risalente al 1930, è un documento che in questa prospettiva riveste una notevole importanza. Husserl vi appunta: «Problema dell’”affetto messo tra parentesi” come “malattia dell’anima”: un’abituale insoddisfazione che non è un niente, anche quando non ci si pensa»868 ; e ancora si domanda: «Come può venir cancellata una pulsione originaria, una pulsione sessuale – Ascesi? Ogni validità nascosta co-funge associativamente (Freud)»869 . Quest’ultimo passaggio (uno dei rari luoghi in cui Husserl fa esplicito riferimento a Freud) mostra con chiarezza il punto che maggiormente qui ci interessa. Per l’autore ciò che non viene (o non viene più) vissuto coscientemente dall’io, è impossibile che venga del tutto eliminato: nell’inconscio esso continua a rimanere valido e quindi a esercitare un’influenza. Aggiunge di seguito: «Ignorare o voler ignorare. Ma così l’affetto viene semplicemente nascosto, sospinto in basso e dunque lì operativo come tutto ciò che viene nascosto e sospinto in basso»870. Ciò che è nascosto continua a sussistere e ad esercitare una pressione sull’io, in quanto – come sottolinea Husserl nei corsi sull’etica – «niente può andare perso. [...] Ciò che è nascosto non è un nulla e ciò che è inibito non è una potenzialità verbale ma reale, e una volta che torna in vigore si può comprendere che essa non era mai morta, piuttosto era solo una vita dormiente» 871. 3.3 Husserl e Freud: due prospettive sull’inconscio La fenomenologia husserliana e la psicanalisi freudiana percorrono due strade che, pur nelle fondamentali diversità, trovano dei punti di contatto, e ciò rende interessante e fecondo un paragone tra le loro posizioni; un paragone che permette l’emergere e la chiarificazione di quale sia la peculiarità dell’approccio fenomenologico alla sfera inconscia della vita dell’io. Innanzitutto va notato che, per quanto i percorsi formativi di Freud e Husserl abbiano una radice comune (entrambi hanno infatti seguito a Vienna i corsi di Franz Brentano), essi presentano profonde differenze sin dall’origine. Il metodo 868 E III 10, 1-2. E III 10, VI. 870 E III 10, 2. 871 Husserl, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, cit., p. 327. 869 235 Zusammenfassung auf Italienisch freudiano è infatti innanzitutto clinico, e solo in seconda battuta assume quella configurazione teoretica che man mano va sviluppandosi fino alle riflessioni metapsicologiche dell’ultimo periodo. Lo scopo che muove Freud nelle sue ricerche è principalmente di carattere medico: come si evince chiaramente dai suoi studi sull’isteria, l’obiettivo è comprendere ciò che si nasconde dietro ai disturbi e alle patologie psichiche. In Husserl un simile retroterra manca completamente in quanto la sua ricerca rimane di carattere trascendentale, e non psicologico. Va inoltre precisato che Husserl e Freud, per quanto siano contemporanei, non hanno mai avuto né un rapporto diretto né un’influenza reciproca: rarissimi sono i luoghi dell’opera husserliana in cui viene fatto riferimento esplicito al metodo psicanalitico freudiano. È tuttavia possibile individuare alcuni punti di contatto tra la fenomenologia dell’inconscio e la psicoanalisi. La prima convergenza ha a che fare direttamente con quanto è stato già affermato circa il carattere motivazionale della dimensione passiva della vita dell’io. Nel manoscritto E III 10 infatti Husserl nota che «tutto ciò che è nascosto, ogni validità nascosta co-funge associativamente e appercettivamente, cosa che rende possibile e presuppone il metodo freudiano»872. La condizione di possibilità stessa della psicoanalisi è la scoperta che tutte le manifestazioni della vita dell’io, persino quelle apparentemente più insignificanti o irrazionali, nascondono dietro di sé dei motivi, ossia sono motivate. Il metodo freudiano si fonda infatti su una precisa convinzione: alla domanda che indaga la ragione per cui una paziente isterica manifesti determinati sintomi, o per cui io stanotte abbia fatto un certo sogno, secondo Freud, corrisponde sempre una risposta significativa, ossia una risposta di senso. Scrive Freud nella Psicopatologia della vita quotidiana circa il consueto fenomeno della dimenticanza dei nomi: «Ora, io presumo che questo spostamento (Verschiebung) non dipenda da un arbitrio psichico, ma obbedisca a leggi ben determinate e calcolabili. In altre parole, presumo che il nome o i nomi di sostituzione stiano col nome cercato in un nesso tale che si possa scoprirlo e che, scoperto, faccia anche luce sul fenomeno stesso della dimenticanza» 873. Un celebre passaggio del secondo volume delle Idee mostra una 872 E III 10, 3. Freud, Sigmund: Psicopatologia della vita quotidiana, tr. it. di C. L. Musatti, Boringhieri, Torino 1965, pp. 3-4 (Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: GW 4, Frankfurt a. M. 1941). 873 236 Zusammenfassung auf Italienisch chiara affinità con questo principio di fondo, ma allo stesso tempo marca una distanza sostanziale con la posizione psicanalitica freudiana. Scrive Husserl: In questo contesto il singolo vissuto è allora motivato da uno sfondo oscuro, ha “motivi psichici”, che si possono interrogare: come mi è venuta in mente questa cosa – che cosa mi ha portato a ciò? Che queste domande siano possibili è un fatto che caratterizza qualsiasi motivazione in generale. I motivi sono spesso nascosti in profondità, ma possono venir portati in luce attraverso la “psicoanalisi”. [...] Nella maggior parte dei casi però la motivazione è realmente presente nella coscienza, ma non riesce ad assumere un rilievo, non viene notato, è inavvertita (“inconscia”). 874 In questo passaggio emerge chiaramente come anche secondo Husserl ogni vissuto psichico sia motivato e come ogni motivo, per quanto nascosto, possa essere ricostruito e compreso nel suo senso e nei suoi rimandi di significato. Tuttavia queste parole segnano allo stesso tempo la distanza incolmabile tra i due metodi: mentre per Husserl il vero protagonista della vita psichica è la coscienza, per Freud è invece l’inconscio, che rappresenta l’altro dalla coscienza. Husserl conclude il passaggio di Idee II accostando come sinonimi i termini “inconscio” ed “inavvertito”: ciò che Husserl indica come l’inconscio (Unbewusste) si avvicina maggiormente a ciò che Freud indica come il termine preconscio (Vorbewusste), vale a dire ciò che per diverse ragioni (lontananza nel tempo, rimozione, inibizione etc.) è momentaneamente nascosto nella dimensione dell’inavvertito. L’inconscio freudiano nel senso proprio del termine è, invece, ciò che non può mai, per nessuna ragione, divenire cosciente. Tale inaccessibilità dell’inconscio è ciò che l’approccio fenomenologico esclude. Per Husserl si può infatti parlare di inconscio solo a partire da ciò che la vita di coscienza ci mostra: l’inconscio ha strutturalmente a che fare con la coscienza e si trova in una linea di continuità con essa. Eugen Fink, nell’appendice al § 46 della Crisi, espone in modo chiaro questa posizione fenomenologica rispetto al concetto di inconscio. Egli sottolinea: «i problemi che si presentano sotto il titolo di “inconscio” devono essere innanzitutto compresi nel loro peculiare carattere problematico, e devono essere esposti metodicamente, in modo 874 Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo, Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 226. 237 Zusammenfassung auf Italienisch esauriente, secondo la precedente analitica della “coscienzialità” (Bewusstheit)» 875. Scopo di Fink è criticare «le mitiche “teorie”, abbozzate sullo sfondo di un’opaca empiria, sull’essenza propria della vita», poiché esse si fondano su un’«ingenuità filosofica di principio»: si tratta nientemeno che di «un’omissione. Si crede di sapere già che cosa sia il “conscio”, la coscienza, e ci si sottrae al compito di tematizzare progressivamente quel concetto, rispetto al quale qualsiasi scienza dell’inconscio deve delimitare il proprio tema, il concetto appunto di coscienza»876. Pur sintetico, il confronto tra le posizioni di Husserl e Freud è in grado di rilevare il tratto peculiare della concezione fenomenologica dell’inconscio. Mediante l’accostamento alla teoria del padre della psicoanalisi, si evince come l’approccio fenomenologico prospetti la costante possibilità di riattivare e ricomprendere le validità che progressivamente si sono inabissate. 3.4 La possibilità del ridestamento (Weckung) «Per ogni coscienza vaga io posso ricercare come dovrebbe apparire il suo oggetto»877: la possibilità di interrogare se stessa e ogni proprio vissuto appartiene strutturalmente alla soggettività trascendentale e costituisce il presupposto del rifiuto di concepire la dimensione passiva della vita di coscienza come un regno inaccessibile. Husserl sottolinea a più riprese che il processo di sedimentazione è un processo progressivo e che quindi in ciò che viene definito inconscio vi è una gradualità, una sempre maggior lontananza dalla vivacità coscienziale. A questo proposito Husserl compie la distinzione tra ricordi vicini (Naherinnerung) e ricordi lontani (Fernerinnerung), ossia tra ricordi che sono ancora – per così dire – nella scia ritenzionale, e ricordi che invece fanno riferimento a un passato ormai lontano nel tempo: per questi ultimi il termine Wiedererinnerung non è appropriato, in quanto non 875 Fink, Eugen: Appendice di Fink sul problema dell’inconscio, in: Husserl, Edmund: La crisi delle scienze europee e la fenomenologia trascendentale, tr. it. di E. Filippini, Il Saggiatore, Milano 2002, p. 498 (Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Bd. VI, a cura di W. Biemel, Martinus Nijhoff, Den Haag 1959). 876 Ivi, pp. 499-500. 877 Husserl, Edmund: Meditazioni cartesiane e i discorsi parigini, tr. it. di F. Costa, Bompiani, Milano 2002, p. 19 (Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Bd. I, a cura di S. Strasser, Martinus Nijhoff, Den Haag 1950). 238 Zusammenfassung auf Italienisch raggiungibili tramite una semplice presentificazione memorativa, bensì solo attraverso il recupero di nessi associativi ridestanti. Condizione di possibilità per il ridestamento è la sintesi associativa. Quest’ultima è strutturata, come è stato già ampiamente mostrato nel corso del presente lavoro, secondo una legalità motivazionale. È infatti sempre un nesso associativo («la relazione di somiglianza tra il ridestante e il ridestato»878) a motivare il ridestamento e a rendere quindi possibile il recupero di ciò che sembrava essere andato perduto. 4. Le opinioni intenzionali permanenti e le abitualità trascendentali Quanto sinora è stato oggetto dell’analisi, ha introdotto un punto che necessita ora di un’attenzione maggiore: si tratta della storia (Geschichte) dell’io, presa in considerazione da un punto di vista trascendentale. Nelle sue lezioni sulla sintesi passiva, Husserl afferma: la coscienza è un divenire incessante in quanto è una costituzione incessante di obiettività nel progressus incessante della successione dei livelli. È una storia [Geschichte] mai interrotta. E la storia è una costituzione stratificata di formazioni di senso sempre più alte dominata da una teleologia immanente. 879 Ciò che ora bisogna indagare da un punto di vista genetico è il carattere trascendentale di questo progressivo costituirsi della soggettività. Un testo particolarmente rilevante a questo proposito è il § 29 del secondo volume delle Idee, intitolato Costituzione di unità nell’ambito della sfera immanente. Le opinioni intenzionali [Meinungen] permanenti come sedimentazioni nell’io puro. Le pagine di questo paragrafo offrono infatti la possibilità di comprendere come, per Husserl, la dinamica del progressivo sedimentarsi dei vissuti di coscienza non abbia un carattere empirico o psicologico, bensì trascendentale. Più particolarmente, Husserl segnala in queste pagine l’esistenza di una «legge eidetica propria dell’io puro», la quale stabilisce che 878 879 Husserl, Lezioni sulla sintesi passiva, cit., p. 175. Ivi, p. 286. 239 Zusammenfassung auf Italienisch ogni “opinione intenzionale” è una instaurazione, che rimane proprietà del soggetto fin tanto che non gli si presentino motivazioni che esigono un “cambiamento” della presa di posizione, una rinuncia alla vecchia opinione, oppure l’abbandono parziale di alcune sue componenti, una modificazione nell’insieme. Ogni opinione intenzionale di un unico e medesimo io rimane necessariamente nella catena delle rimemorazioni fin tanto che non viene cancellata in virtù di certi motivi. 880 Le opinioni intenzionali permanenti sono dunque formazioni di unità che si costituiscono nel flusso monadico della coscienza e che «si possono chiamare “abituali”», sebbene «l’habitus di cui si parla non inerisce all’io empirico ma all’io puro»881. La dinamica che questa legge individua è quella per cui, «a priori, io sono lo stesso io, nella misura in cui, nelle mie prese di posizioni, sono necessariamente conseguente e in un senso determinato; ogni “nuova” presa di posizione fonda un’”opinione intenzionale” permanente». Ogni presa di posizione fonda perciò nell’io qualcosa di stabile, di permanente, o meglio: qualcosa che tende a permanere finché nuovi motivi non insorgano provocando un mutamento della precedente presa di posizione e quindi dell’io stesso. Nel mutare delle prese di posizione io «continuo a essere lo stesso, ma sono lo stesso all’interno di un mutevole flusso di vissuti in cui, spesso, si costituiscono nuovi motivi»882 . Tale «consequenzialità dell’io»883 è ciò che ne determina il progressivo formarsi dell’identità. Come Husserl infatti esplicita, «un io statico e permanente non potrebbe costituirsi se non si costituisse uno statico e permanente flusso di vissuti, se quindi le unità originariamente costituite dei vissuti non potessero venir riprese [...] e se non esistesse la possibilità di portare ciò che è oscuro alla chiarezza» 884. Se, come queste pagine di Ideen II indicano, tale legalità dinamica ha a che fare con il formarsi di un habitus che non riguarda la mera vita empirica e fattuale dell’io bensì quella trascendentale, sorge un interrogativo: in che senso è possibile parlare di “abitualità trascendentali”? Il § 32 delle Meditazioni cartesiane – dal titolo L’io come 880 Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo, Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 117. 881 Ivi, p. 116. 882 Ivi, p. 117. 883 Ibidem. 884 Ibidem. 240 Zusammenfassung auf Italienisch sostrato di abitualità – offre un importante contributo a riguardo. Qui infatti Husserl chiarisce che «questo io-centro non è un vuoto polo di identità (e tanto meno lo è qualunque oggetto) ma esso, in virtù della conformità a regole della genesi trascendentale, per ogni atto che emana da sé, ottiene un nuovo senso oggettivo, una nuova proprietà stabile»885. Ogni presa di posizione dell’io reca quindi in sé una sorta di retroazione, poiché non solo determina la relativa azione, ma determina anche un cambiamento permanente nell’io: l’identità dell’io si costituisce progressivamente, e tale costituzione può venir ricostruita geneticamente. Si comprende quindi in che senso Husserl possa definire trascendentali le abitualità, le quali di per sé sembrerebbero appartenere alla sfera della contingenza empirica: esistono abitualità trascendentali in quanto la loro fondazione originaria inaugura ogni volta un nuovo orizzonte trascendentale nell’esperienza dell’io. La categoria di “abitualità trascendentale” getta una nuova luce sul concetto di io puro husserliano, in quanto esso si presenta ora come la condizione di possibilità dello sviluppo e della storia dell’io personale. La storia dell’io acquista così un valore trascendentale, poiché ogni nuova presa di posizione apre un campo di possibilità esperienziale che può mutare solo all’insorgere di nuovi motivi e di conseguenti nuove prese di posizione dell’io. 5. La costituzione del carattere permanente e della personalità Dal momento che «l’io reale include l’io puro quale statuto nucleare appercettivo»886 , la legalità della genesi trascendentale dell’io puro rappresenta la condizione di possibilità della costituzione dello stile personale di ogni individuo e del suo carattere. Ogni presa di posizione, ogni decisione volontaria, ogni motivazione inconscia che influenzi l’io possiedono un carattere auto-determinante, ossia un progressivo determinarsi dell’identità personale di ciascuno. Sostiene Husserl che «l’io, mentre ora vuole in un certo modo, con ciò fonda un atteggiamento volontario, un 885 Husserl, Meditazioni cartesiane e i discorsi parigini, cit., p.92 (traduzione leggermente modificata). Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo, Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 115. 886 241 Zusammenfassung auf Italienisch volere abituale e permanente, e perlomeno in generale, “rimane” nel suo volere. E così esso viene compreso»887. Di nuovo si assiste al riproporsi di quel principio fenomenologico che era stato delineato a proposito del sedimentarsi ritenzionale dei vissuti, cioé il principio in base al quale niente nella vita dell’io va perso: ogni presa di posizione e ogni atteggiamento volitivo tendono a permanere e così formano l’io e la sua personalità. La vita di coscienza è quindi per Husserl una vita che progressivamente viene plasmata dalle proprie prese di posizione e dalla conseguente instaurazione di validità permanenti. 887 Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921-1928, Bd. XIV, a cura di I. Kern, Martinus Nijhoff, Den Haag 1973, pp. 168-169. 242 Zusammenfassung auf Italienisch Terzo capitolo L’orizzonte etico della concezione husserliana dell’io: il volontario divenire-Io 1. Introduzione: il problema etico come nucleo della fenomenologia di Husserl Quanto è stato messo in rilievo circa la tensione volitiva che accompagna ogni atto dell’io e il carattere motivazionale che abbraccia sia il livello passivo che quello attivo ci spinge ora a scoprire le conseguenze etiche implicate in una simile concezione. É necessario sin da subito sottolineare che l’etica non si configura come una sezione a sé stante nel quadro della filosofia di Husserl, bensì come una dimensione o una tensione che accompagna costantemente le analisi teoretiche. Proprio per questa ragione non è facile ricostruire un quadro esaustivo dell’etica husserliana. Essa non si limita alle riflessioni raccolte nelle lezioni sull’etica del 1908-1914 e del 1920-24 (rispettivamente raccolte nel XXVIII e nel XXXVII volume dell’Husserliana888 ) o agli articoli sul rinnovamento scritti da Husserl per la rivista giapponese Kaizo889. Una costante preoccupazione etica attraversa come un filo rosso l’intera opera husserliana. La fenomenologia sorge infatti a partire da una vera e propria decisione personale motivata da ragioni di carattere profondamente etico. Come Husserl sottolinea nelle Meditazioni cartesiane, «chiunque vuole diventare seriamente filosofo deve una volta nella sua vita ritrarsi in se stesso e cercare dentro di sé di distruggere tutte le scienze ritenute fino allora valide e di ricostruirle. La filosofia, la sagesse, è una questione tutta personale del filosofo» e viene inaugurata dalla «decisione che sola mi può portare al divenire filosofico»890. Il soggetto viene spinto verso una tale decisione dalla perenne delusione che egli sperimenta di fronte al venir meno o alla svalutazione di ogni bene o valore in 888 Entrambi questi testi sono stati parzialmente tradotti in italiano e pubblicati: Husserl, Lineamenti di etica formale, cit.; Husserl, Introduzione all’etica, cit. 889 Husserl, Edmund: Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Bd. XXVII, a cura di T. Nenon e H. R. Sepp, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 1989 (tr. it. parziale di C. Sinigaglia, L’idea di Europa, Cortina, Milano 1999). 890 Husserl, Meditazioni cartesiane e i discorsi parigini, cit., p. 38. 243 Zusammenfassung auf Italienisch cui aveva riposto un’aspettativa. La decisione propria del fenomenologo di “tornare alle cose stesse” e quindi al contempo di “tornare a sé” sorge, perciò, a partire da una motivazione profondamente esistenziale: Vivere come Io consapevole – scrive Husserl – desto nel suo particolare mondo circostante, non significa soltanto vivere in un modo qualsiasi, bensì è voler vivere con il proposito di riuscire. Per questo motivo l’essere umano nell’accumularsi di insuccessi dice: “Così non si va avanti” e, viceversa, quello che riesce a realizzare i propri obiettivi, alla domanda: “Come va?”, risponde semplicemente con le parole: “Si va avanti”. 891 L’insopportabilità di una simile situazione motiva il desiderio di un cambiamento radicale: La motivazione che proviene da tali svalutazioni penose e delusioni è quella che [...] motiva il bisogno di tale critica e, pertanto, l’aspirazione specifica alla verità [...]. [S]ussistono qui possibilità essenziali per una motivazione, possibilità che sfociano in un’aspirazione universale a una vita perfetta in genere, nel senso cioè di una vita che sia pienamente giustificata in tutte le sue attività e che garantisca una soddisfazione pura e persistente. 892 Condizione di possibilità dell’aspirazione etica dell’esistenza è la dimensione dell’Ich kann, che abbraccia ogni atto volontario o pulsionale dell’io: solo in quanto il nucleo di ogni atto è essenzialmente caratterizzato da una libera possibilità893 è legittimo parlare di un possibile rinnovamento etico. 2. L’implicazione etica della legalità motivazionale Il primo passo da compiere ora è quello di comprendere le implicazioni etiche inscritte nei risultati teoretici che sono emersi nel cammino sinora percorso. Le analisi 891 Husserl, Edmund: La storia della filosofia e la sua finalità, tr. it. parziale di N. Ghigi, Città nuova, Roma 2004, p. 87 (Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachless 1934-1937, Bd. XXXIX, a cura di R. N. Smid, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London 1993). 892 Husserl, L’idea di Europa, cit., pp. 36-37. 893 Scrive Husserl a riguardo: «Mentre [l’uomo] si immedesima nelle possibilità [...] egli si libera dalla spinta e dalla violenza delle singole attualità, dagli stimoli pulsionali delle realtà esperite, delle possibilità singole, reali, che attraverso un’ipotesi anticipante premono l’una contro l’altra e litigano per forza di stimolazione. Negli ambiti di libere possibilità e nel gioco costruttivo delle infinità, egli tronca l’attualità e diventa colui che liberamente sceglie; egli sceglie non solo tra singolarità date bensì egli si connette all’universo delle possibilità che può praticamente venire in considerazione» (Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Bd. XXVII, cit., p. 100). 244 Zusammenfassung auf Italienisch del primo capitolo hanno messo in luce la dimensione della volontà e in particolare il carattere di autodeterminazione che caratterizza ogni fiat, sia esso esplicito o inavvertito. L’io è allo stesso tempo soggetto e oggetto di ogni volere, e viene perciò plasmato da ogni presa di posizione. Nel secondo capitolo, invece, è stata posta al centro dell’attenzione la dinamica di costante sedimentazione dei vissuti e il ruolo trascendentale giocato dalle abitualità nella costituzione dell’io e della sua personalità. Il presupposto teoretico di questi risultati è stato il riconoscimento della motivazione come legalità essenziale dell’intera vita dell’io, sia nelle sue dimensioni attive che in quelle passive o involontarie. Ogni presa di posizione volontaria viene motivata e, a sua volta, motiva una nuova e permanente proprietà dell’io: ciò rappresenta una legge trascendentale della costituzione dell’io e allo stesso tempo la condizione di possibilità per la costituzione dello stile etico di ogni persona. Scrive infatti Husserl: Ogni esplicazione di una volontà e allo stesso modo, in massimo grado, di un atto [...] è una modificazione del mio Io, che non si deve in alcun modo intendere come una tabula rasa in cui i vissuti attuali si iscrivono per poi risparire; [...] io rimango qui lo stesso Io che persiste secondo la modalità specificatamente tipica delle trasformazioni egologiche. [...] Di volta in volta, io ho le mie validità permanenti.894 L’identità dell’io e la sua personalità etica non sono il semplice risultato della somma delle sue capacità, delle sue doti, bensì si costruiscono progressivamente sulla base di convinzioni fino a quel momento valide, e sulla base del sorgere di nuovi motivi che di volta in volta conducono l’io a ulteriori prese di posizione. Ogni nuova decisione volontaria non è indipendente bensì strettamente legata alla catena delle precedenti opinioni intenzionali permanenti: «Io dipendo da certi motivi, riprendendo una vecchia decisione io dipendo dalle precedenti decisioni, io sono quello che sono ora in quanto determinato dal mio essere precedente (dall’essere del mio decidermi)»895 . Tale dipendenza dell’io dai suoi precedenti vissuti non implica in nessun modo una concezione deterministica dello sviluppo della personalità; secondo Husserl, infatti, l’io in ogni istante è libero di prendere posizioni totalmente imprevedibili rispetto alle 894 Husserl, La storia della filosofia e la sua finalità, cit., p. 71. Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo, Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 324. 895 245 Zusammenfassung auf Italienisch esperienze antecedenti. É d’altra parte innegabile che ciascun io possieda nel decidere un proprio stile abituale. Come Husserl a questo proposito sottolinea, «in quanto soggetto di prese di posizione e di convinzioni abituali io ho il mio stile induttivamente attivo che mi porterà a un’autoappercezione corrispondente, e così anche un altro potrebbe enunciare induttivamente come potrebbero delinearsi le mie prese di posizione»896. La propria storia e il proprio stile abituale influenzano costantemente ogni nuovo passo. Nel corso della vita si costituisce la personalità etica sulla base dell’educazione ricevuta, dell’istruzione, degli avvenimenti dolorosi o lieti, ma soprattutto sulla base della libera e personale presa di posizione con cui l’io di volta in volta risponde a tali accadimenti897. Una responsabilità etica grava su ogni singola decisione: Quali motivazioni agiscono in quest’occasione, che ruolo gioca soprattutto questo meraviglioso fenomeno dell’autodeterminazione, nel quale l’Io, per così dire, non rilascia da sé ingenuamente, come accade di solito, un atto, mediante il quale agisce poi razionalmente, bensì pone volontariamente se stesso come Io, e precisamente come Io che d’ora in poi vuole solo il Bene, ed eventualmente si “rinnova” appieno “nell’interiorità”, o perlomeno si decide a voler diventare un nuovo Io? 898 Il meraviglioso fenomeno dell’autodeterminazione rappresenta il nucleo delle riflessioni etiche di Husserl. Nel primo capitolo era emersa la distinzione tra motivazioni attive/razionali e motivazioni passive/irrazionali: se entrambe concorrono alla costituzione della personalità, è al contempo importante sottolineare che sono le prime a giocare un ruolo decisivo in ambito etico, in quanto l’etica ha direttamente a 896 Ibidem. «Questo: “io non posso prendere una certa decisione, non posso per esempio decidermi a commettere un assassinio”, “non posso fare una cosa del genere”, definisce come io sono (eventualmente com’ero prima, come presuntivamente sarò in futuro); tutti i motivi che possono essere determinanti di un assassinio non sono per me motivi efficaci. La possibilità dell’assassinio è una possibilità pratica in quanto io, posto che lo volessi, potrei realizzarlo. Qualsiasi azione volontaria si rifà a un àmbito pratico, e perciò anche questa.» (Ibidem). 898 Husserl, Introduzione all’etica, cit., p. 162. 897 246 Zusammenfassung auf Italienisch che fare con la libertà e la capacità decisionale dell’io. Il concetto di persona è così per Husserl strettamente legato alla categoria di responsabilità899: La psiche non è un piano, davanti al quale l’Io sta come un musicista che volesse provare a se stesso la propria bravura, facendo scorrere in certo modo meccanicamente gli atti vitali come meravigliosi suoni melodici [...] l’Io morale, al contrario, l’Io della costante e ininterrotta autoeducazione, e l’Io che vuole migliorarsi, trasformarsi (se stesso come Io) a tal punto che, in quanto Io etico, può essere eo ipso solo un Io che-vuole-il-bene.900 La sorgente di un’autentica vita etica consiste per Husserl in una costante decisione volontaria che implica sì una presa di posizione ma, al contempo, come sua conseguenza, conduce alla costituzione di un Habitus morale permanente. 3. La prima etica di Husserl: il parallelismo tra logica formale ed etica formale L’etica assume, nel corso dell’opera di Husserl, forme molto diverse. Sebbene nell’ambito del presente lavoro non sia possibile trattare in modo esauriente la problematica dello sviluppo dell’etica husserliana, una sua comprensione sintetica può offrire un notevole contributo all’individuazione del filo rosso che attraversa l’intera ricerca del filosofo. Ullrich Melle901 propone come valido spartiacque per distinguere le 899 La centralità della responsabilità nella definizione di persona viene sottolineata a più riprese anche da Edith Stein e da Max Scheler. Edith Stein sottolinea infatti che «quando vediamo una pianta o un animale “atrofizzati”, nei quali, cioè, le capacità specifiche non si sono sviluppate, diamo la responsabilità di ciò a condizioni di vita sfavorevoli, semmai alla persona che li ha posti in simili condizioni inadeguate. Anche nell’essere umano prendiamo in considerazione fattori simili, ma in più consideriamo lui stesso responsabile di ciò che egli è diventato» (Edith Stein, La struttura della persona umana, tr. it. di M. D’Ambra, Città Nuova Editrice, Roma 2000, p. 123; Der Aufbau der menschlichen Person, Herder, Freiburg im Br./Basel/Wien 1994). Lo stesso vale per Scheler, il quale mette in evidenza come l’imputabilità di un’azione possa venir meno in determinate circostanze come la malattia mentale, motivo per cui «nelle analisi psichiatriche d’un carattere colpito da malattia si dovrebbe pertanto evitare nel modo più rigoroso di usare espressioni di biasimo o di lode». Tuttavia «la malattia psichica, pur rendendo nulla l’”imputabilità” delle azioni alla persona, non elimina affatto la “responsabilità” della persona: la responsabilità è eideticamente inscindibile dall’essere della persona» (Scheler, Max: Il Formalismo nell’etica e l’etica materiale dei valori. Nuovo tentativo di fondazione di un personalismo etico, tr. it. di G. Carosello, Edizioni S. Paolo, Cinisello Balsamo 1996, p. 595; Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethisches Personalismus, in Gesammelte Werke, Band II, Franke Verlag, Bern 1966). 900 Husserl, Introduzione all’etica, cit., p. 159. 901 Cfr. Melle, Ullrich: The Development of Husserl’s Ethics, in: Études phénoménologiques, 13/14, Leuven 1991, pp. 115-135; Melle, Ullrich: From Reason to Love, in: Drummond, John; Embree, Lester (a cura di): Phenomenological Approaches to Moral Philosophy. A Handbook, Dordrecht 2002, pp. 229-248. 247 Zusammenfassung auf Italienisch due grandi fasi della riflessione etica del nostro filosofo la prima guerra mondiale. Pur non volendo tracciare una netta linea di demarcazione tra un’etica prebellica e un’etica postbellica902, egli intende segnalare un evidente mutamento nelle riflessioni etiche husserliane. Il punto di riferimento di Husserl nei suoi primi corsi sull’etica è senza dubbio Brentano ed in particolare la sua opera Sull’origine della conoscenza morale903, che Husserl definisce un «geniale scritto che ha dato l’avvio ai miei tentativi di redigere un’assiologia formale»; «proprio in Brentano», infatti, si trovano «quei fruttuosi germogli che chiedono di essere ulteriormente sviluppati»904. Ciò che Husserl innanzitutto condivide è lo scopo che Brentano si era prefissato: una lotta contro lo scetticismo e il relativismo etico attraverso l’istituzione di un’«etica scientificamente fondata»905 vale a dire attraverso l’individuazione di leggi morali di carattere formale, apriorico e quindi non empirico906. Husserl, tuttavia, compie un passo in più rispetto a Brentano e arriva fino ad identificare l’origine di ogni relativismo etico nella psicologizzazione dei principi morali, analogamente a quanto aveva già sostenuto nelle Ricerche Logiche rispetto allo psicologismo in campo logico. Questo è l’intuizione che guida Husserl a partire dal 1902 fino al 1914: la possibilità di fondare scientificamente 902 La cosiddetta etica pre-guerra raccoglie le lezioni sull’etica del 1897, 1902, 1908/09 e 1911, pubblicate nel XXVIII volume dell’Husserliana, mentre quella successiva al conflitto mondiale comprende le lezioni su Fichte del 1917/18 (Cfr. Husserl, Edmund: Fichte e l’ideale di umanità, tr. it. di F. Rocci, Ets, Pisa 2006; Aufsätze und Vorträge 1911-1921, Bd. XXV, a cura di Th. Nenon e H. R. Sepp, Martinus Nijhoff, Dordrecht 1987, pp. 267-293), quelle sull’etica dei semestri estivi 1920/24, raccolte nel XXXVII volume dell’Husserliana, gli articoli sul rinnovamento che Husserl ha scritto nel 1923/24 per la rivista giapponese Kaizo (Cfr. Husserl, L’idea di Europa, cit.), oltre a ulteriori passaggi sparsi in altri tesi, come per esempio alcune riflessioni di Filosofia prima (Husserl, Filosofia prima, cit.) o dei volumi che raccolgono i materiali sull’intersoggettività (Cfr. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905-1920, Bd. XIII, cit.; Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921-1928, Bd. XIV, cit.; Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935, Bd. XV, a cura di I. Kern, Martinus Nijhoff, Den Haag 1973). 903 Brentano, Franz: Sull’origine della conoscenza morale, tr. it. parziale di A. Bausola, La Scuola, Brescia 1966 (Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Leipzig 1921; ed. orig.: Duncker & Humblot, Leipzig 1889). 904 Husserl, Lineamenti di etica formale, cit., p. 106. 905 Brentano, Sull’origine della conoscenza morale, cit., p. 100. 906 Le leggi che Brentano intende individuare ed esporre sono per lui «comandi nel senso in cui si parla, per i nostri giudizi e le nostre deduzioni, di comandi della logica […]. I comandi della logica sono regole del giudizio naturalmente valide, tali cioè che ci si deve attenere ad esse perché il giudizio fatto in conformità di queste regole è sicuro, quello che da esse si allontana è soggetto ad errore; si tratta dunque di una naturale superiorità del processo del pensiero conforme alla regola rispetto a quello irregolare. Anche per la moralità si dovrà trattare dunque di una simile superiorità naturale e di una regola che ne costituisca il fondamento, non del comando di una volontà estranea» (Ivi, p. 16). 248 Zusammenfassung auf Italienisch un’etica solo sulla base di un’analogia con la logica e con gli atti del giudizio. Per sconfiggere lo scetticismo è necessario costruire un’etica formale; ma, se la confutazione dello scetticismo teoretico ha alle spalle secoli di storia del pensiero, non così stanno le cose per quanto riguarda l’etica: «Aristotele – scrive Husserl – fu il padre della logica, poiché è stato propriamente il creatore dell’analitica logica, di ciò che chiamiamo logica formale […]. Con l’Etica Nicomachea, per quante cose belle quest’opera possa offrirci, non è divenuto nel medesimo senso il padre dell’etica»907. Il primo passo è quindi innanzitutto riconoscere l’analogia tra scetticismo logico ed etico e, di conseguenza, ammettere che così come vi sono regole pure della logica, così devono esistere parallelamente anche regole etiche puramente formali. Non è certo possibile in questo luogo entrare nel merito dei comandi etici formali che Husserl delinea ed espone nei primi corsi sull’etica. Al contempo è necessario mettere a fuoco quale sia il nucleo delle diverse leggi etiche: la determinazione formale della corretta volizione, che coincide con l’imperativo categorico di Brentano “Fai il meglio tra ciò che è conseguibile!”. Il presupposto fondamentale che guida Husserl nell’enucleare le leggi etiche formali è quello che lui chiama “l’apriori della motivazione”: «in ogni sfera sussistono connessioni della motivazione: il valutare fondamentale motiva la valutazione dei valori dedotti. […] Possiamo parlare in questo caso di leggi della conseguenza: sono leggi della motivazione razionale e la parola motivo è sempre di casa»908. Come stiamo per mostrare nel prosieguo del lavoro, la discussione etica postbellica non avrà più come oggetto i principi formali dell’etica. L’esigenza che ha spinto Husserl a proseguire il tentativo brentaniano di costruzione di un’etica formale è, tuttavia, la medesima che lo animerà negli anni successivi: superare il relativismo e lo scetticismo. Per Husserl lo scetticismo comporta infatti «il crollo della fede nella “ragione”» e «se l’uomo smarrisce questa fede ciò non significa altro che questo: egli perde la fede “in se stesso”, nel vero essere che gli è proprio, un vero essere che egli non ha già da sempre, 907 908 Husserl, Lineamenti di etica formale, cit., p. 106. Ivi, p. 88. 249 Zusammenfassung auf Italienisch con l’“evidenza” dell’io sono, un vero essere che egli ha e può avere soltanto lottando per la sua verità, lottando per rendere vero se stesso»909. 4. L’etica del dopoguerra: rinnovamento e responsabilità La drammaticità del primo conflitto mondiale910 obbliga Husserl a porsi interrogativi di carattere etico che rispondano all’estremo bisogno di rinnovamento che l’Europa intera sta mostrando. Fino al 1917, come testimoniano in modo esemplare le lezioni su Fichte tenute in quell’anno presso l’università di Friburgo, Husserl non solo non condanna la guerra, ma intravvede in essa l’occasione per un rinnovamento culturale europeo911. Sarà tuttavia l’esperienza della delusione e del dramma della guerra a farlo ricredere: la rinascita della nazione tedesca e più in generale dell’umanità non possono essere il risultato di un conflitto ma di una faticosa opera di rinnovamento personale che nasca dalla decisione volontaria di ciascuno, investendo quindi l’intera collettività912 . Con il crollo delle speranze belliche rinasce in Husserl la fede nella possibilità di costruire un’etica universalmente valida, chiarificatrice del senso e dello scopo della vita umana. L’istanza che lo anima è la medesima con cui fino al 1914 si era adoperato per la costruzione dell’etica formale; tuttavia, dopo la guerra, l’orizzonte delle sue domande si amplia fino a porre un interrogativo diretto circa il destino dell’intera umanità europea. 909 Husserl, La crisi delle scienze europee e la fenomenologia della trascendentale, cit., p. 42. La guerra ha segnato tragicamente la vita di Husserl: il figlio minore, Wolfgang, morì in battaglia e il maggiore, Gerard, rimase gravemente ferito. Perse la vita, inoltre, Adolf Reinach, uno dei collaboratori più stretti di Husserl (Cfr. Orth, Ernst Wolfgang: Interkulturalität und Inter-Intentionalität. Zu Husserls Ethos der Erneuerung in seinen japanischen Kaizo-Artikeln, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993), p. 341). 911 «E poi ora è venuta questa guerra, questo destino per la nostra nazione tedesca, alto e gravoso aldilà di ogni comprensione. Che evento eccezionale! Viene fondata la prima organizzazione di popoli, estesa a quasi tutta la terra, ma a quale scopo? Per nessun altro, se non per annientare la Germania, per privare il popolo tedesco di una vita, un agire e un operare produttivi. In tutta la storia è mai stato inflitto a un popolo destino più alto, e insieme una prova più ardua? È un’epoca di rinnovamento di tutte le fonti ideali di energia, che un tempo furono attinte nel proprio popolo e dai principi profondi della sua anima, e che già in passato avevano dato prova della loro forza salvatrice» (Husserl, Fichte e l’ideale di umanità, p. 49). 912 Negli articoli del 1923/24 Husserl esplicita il senso di fallimento provato dinnanzi agli effetti della guerra: «Rinnovamento è l’appello generale nel nostro tormentato presente, e nell’intero ambito della cultura europea. La guerra, che dal 1914 l’ha devastata e che dal 1918 non ha fatto che sostituire i mezzi della coercizione militare con quelli più “raffinati” della tortura psicologica e dell’indigenza economica, non meno depravanti dal punto di vista morale, ha rivelato l’intima non verità e insensatezza di tale cultura» (Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 3). 910 250 Zusammenfassung auf Italienisch Rinnovare se stessi coincide per Husserl con il prendere coscienza della propria natura razionale, ossia del telos inscritto in ogni atto egologico. L’esperienza della delusione di fronte alla caducità dei beni o quella di una costante insoddisfazione motivano tale presa di coscienza. Come scrive Husserl nella Crisi, nella contesa tra una vita inferiore e superiore di valore, l’io viene a trovarsi sempre di nuovo nella situazione di dover prendere coscienza, e nella forma della più profonda insoddisfazione, dal fatto di perseguire ciò che in definitiva gli ripugna, un modo di vivere e di compiere degli sforzi che lo porta ad essere in lotta con se stesso (in termini di sentimento: che lo fa sprofondare nell’infelicità). 913 Una tale lotta caratterizza quindi l’esistenza umana, la quale viene da Husserl paragonata a un sentiero («Wanderweg»914) ove tuttavia la meta non è sin da subito conosciuta chiaramente. Come mostra chiaramente l’esperienza del bambino, il telos del vivere si disvela progressivamente: è necessario del tempo perché egli comprenda il senso e il fine degli oggetti e delle situazioni in cui si trova immerso915. La soggettività vive una costante tensione teleologica e, abbracciando ogni singolo scopo particolare, tende a un telos ultimo di perfezione. Nelle lezioni su Fichte, Husserl sottolinea come questa tensione alla perfezione sia il marchio dell’umanità, la peculiarità che distingue l’uomo da ogni altro essere vivente916 : «Ogni vita è anelito, è impulso al soddisfacimento. Questo impulso passa attraverso ogni nostro soddisfacimento ancora incompleto; il fine ideale è dunque sempre il soddisfacimento puro e completo, in una parola la beatitudine (Seligkeit)»917. Il telos della propria umanità, allora, necessita di essere riconosciuto in modo autocosciente per poter divenire scopo consapevole dell’azione e della vita stessa. Ciò 913 Husserl, La crisi delle scienze europee e la fenomenologia trascendentale, cit., p. 510. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935, Bd. XV, cit., p. 419. 915 Husserl stesso propone l’esempio del bambino per chiarire il progressivo svelarsi dell’orizzonte teleologico dell’esperienza (Cfr. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935, Bd. XV, cit., p. 420). 916 «Anche l’animale ha scopi, scopi persino relativamente permanenti e, in modo corrispondente, permanenti realizzazioni di scopi, ma solo l’uomo – l’essenza razionale – ha la cultura. Solo il tendere (Streben) dell’uomo si pone sotto l’egida di idee coscientemente direttrici di scopi e ha di conseguenza orizzonti infiniti, solo l’uomo tende, agisce, opera, realizza opere durature che soddisfano scopi duraturi che superino i giorni e le ore» (Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Bd. XXVII, cit. p. 100). 917 Husserl, Fichte e l’ideale di umanità, cit., p. 76. 914 251 Zusammenfassung auf Italienisch non vuol dire che sia l’atto volontario stesso a istituire lo scopo, in quanto tale telos è inscritto nell’essenza stessa dell’umanità razionale ed è in cammino – come Husserl indica con la già citata espressione di Triebintentionalität – sin dalle sfere passive e pulsionali del vivere: «Questo processo teleologico, il processo d’essere dell’intersoggettività trascendentale, porta in sé una “volontà di vita” universale, inizialmente oscura nel singolo soggetto, o meglio una “volontà tesa verso il vero essere” (forse potremmo dire che la rispettiva volontà nella sua forma patente ha un “orizzonte di volontà” latente)»918 . La “volontà di vita” latente indica quel sottofondo pulsionale che accompagna ogni istante della vita dell’io e che può passare dallo stato di latenza a quello di patenza grazie a una presa di posizione volontaria e razionale dell’io. Il momento inaugurale della decisione volontaria etica viene da Husserl spesso descritto nei termini della scoperta di una vera e propria vocazione (Berufung), ossia della propria personale chiamata a vivere tesi verso il telos della ragione, a seguire liberamente la voce che risuona dalla sua ragion pratica: “Agisci secondo la tua destinazione!”. Questa vita nella libertà etica non può mai avere fine, come la vera filosofia insegna; si dispiega in un’infinità di compiti nella forma di un agire che li adempie all’infinito. E in questo l’uomo autentico trova la sua beatitudine (Seligkeit), è la beatitudine dell’autonomia morale nella liberazione da ogni schiavitù sensibile. 919 Percepire questa voce interiore è ciò che dà l’avvio al rinnovamento di sé. L’imperativo categorico che Husserl, sulla scia di Brentano, aveva formulato nei suoi primi corsi sull’etica diventa ora il contenuto della vocazione di ogni uomo: Quel che qui conta, però, è che io dica a me stesso, che io riconosca, che io fondi una volontà normativa universale, che innalzi una volta per tutte dinanzi a me questo imperativo categorico: d’ora in avanti e senza oscillare compi il meglio, sempre il tuo meglio, afferralo in una conoscenza conforme a norma, desidera il meglio in una volontà consapevolmente normativa.920 L’urgente necessità di un rinnovamento etico conduce Husserl a individuare e a descrivere quell’unica forma di vita che incarna l’ideale etico: la filosofia. 918 Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935, Bd. XV, cit., p. 378. 919 Husserl, Fichte e l’ideale di umanità, cit., p. 68. 920 Husserl, Introduzione all’etica, cit., p. 248. 252 Zusammenfassung auf Italienisch 5. La fenomenologia come decisione etica suprema 5.1 L’epoché etica universale La riduzione fenomenologica non è agli occhi di Husserl semplicemente il metodo teoretico che inaugura l’analisi fenomenologica, bensì un atto profondamente etico. L’epoché è per Husserl la decisione volontaria suprema che incarna il culmine dell’esercizio umano della libertà. Scrive infatti in Filosofia prima: La riflessione si realizza, originariamente, nella volontà. Il soggetto, in quanto si determina come soggetto filosofico, prende, infatti, una decisione di volontà che investe la sua intera vita conoscitiva futura. [...] Egli [...] di proposito, determina sé stesso come un soggetto che, ininterrottamente, vuole soltanto una conoscenza assolutamente giustificata, sistematica e universale, cioè una filosofia.921 É un «amore per il sapere»922 a motivare una simile presa di posizione: Originariamente il motivo della possibile presa di coscienza si trova nell’esperienza precedente e, più spesso, spiacevole che abbiamo fatto con l’assunzione passiva di quella mancanza di chiarificazione, avvenuta nel corso naturale del processo di formazione della tradizione e, inoltre, con la trasformazione di significato che, in questi casi, porta con sé il dominio passivo di una trasmissione associativa che si propaga in via analogica. 923 Secondo Husserl, esiste inoltre la possibilità di realizzare una vera e propria “epoché etica universale”, vale a dire un’«epoché universale riguardo a tutte le validità [...] che deve essere realizzata partendo dalle fonti della verità e della autenticità, ovvero volendo dare forma ad una vita nuova e vera»: essa «trapassa in una determinazione universale complessiva della volontà, ma che rappresenta già, per se stessa, una determinazione universale della volontà»924. Questa epoché etica ha come scopo la determinazione complessiva della volontà, ossia la decisione di volgere il proprio futuro agire volontario all’autenticità. Essa stessa, però, è anche il primo e fondamentale atto di volontà votato alla verità e non può essere uguagliata alla riduzione trascendentale; la 921 Husserl, Filosofia prima, cit., p. 9. Ivi, p. 13. 923 Husserl, La storia della filosofia e la sua finalità, cit., p. 77. 924 Husserl, Filosofia prima, cit., pp. 199-200. 922 253 Zusammenfassung auf Italienisch prima, infatti, non sospende la validità del mondo ambiente per giungere alla vita fluente dell’io puro. Perché, allora, Husserl decide di chiamarla comunque epoché? Prendendo in esame i numerosi passaggi dei suoi testi in cui egli si sofferma sulla necessità di un rinnovamento della condotta pratica del soggetto, quello che possiamo dedurre è che questa “critica universale e plasmazione di sé” abbia la stessa pretesa di universalità dell’epoché trascendentale: così come la riduzione trascendentale sospende tutte le validità mondane e psicologiche per giungere al darsi delle strutture universali dell’io puro, allo stesso modo il soggetto etico «abbraccia con lo sguardo la propria vita»925 per scoprire le strutture della vita autenticamente etica, prendendo le distanze dal coinvolgimento emotivo con cui vive e ha vissuto tutte le circostanze della sua esistenza. Inoltre l’epoché etica – come quella trascendentale – inoltre si fonda sulla possibilità dell’autoriflessione. L’io può prendere le distanze dal mondo per tornare su di sé e mettere a fuoco le strutture egologiche dei propri atti e il proprio personale orizzonte di vita. «Il detto delfico “gnōthi seauton” [conosci te stesso] ha ottenuto un significato nuovo. La scienza positiva è scienza nell’abbandono del mondo. Si deve prima perdere il mondo mediante l’epoché per riottenerlo poi con l’autoriflessione universale»926. Così come il motto delfico esortava a realizzare un passo definitivo ed in un certo senso irreversibile nella consapevolezza di sé, allo stesso modo l’epoché etica universale dà l’avvio ad un cammino radicalmente nuovo e rappresenta così la condizione di possibilità del sorgere della vera umanità. 5.2 La radicale decisione del fenomenologo: la vita come vocazione assoluta Il concetto di teleologia personale come vocazione è uno dei cardini della concezione etica husserliana. La vocazione è l’attuazione e il compimento dell’aspirazione personale: «All’essenza della vita umana – scrive Husserl – appartiene […] lo svolgersi costantemente nella forma dell’aspirazione»927, in quanto, a partire dalla tensione teleologica che anima istante per istante la vita dell’io, il soggetto vive costantemente 925 Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 31. Husserl, Meditazioni cartesiane e i discorsi parigini, cit., pp. 171-172. 927 Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 30. 926 254 Zusammenfassung auf Italienisch «nella lotta per una vita “piena di valore”»928. A partire da questa constatazione Husserl vuole delineare le diverse modalità in cui il soggetto personale può rispondere alla vocazione etica, le «forme di vita specificamente umane o i tipi personali d’uomo a priori diversi che ci sollevano alla forma più alta di valore dell’uomo etico e in essa culminano»929. Questo itinerario attraverso i diversi “tipi personali” sottende come presupposto fondamentale la possibilità dell’esercizio dell’epoché etica: ciascun individuo, per la possibilità di autoriflessione e di libera autoformazione che gli appartiene strutturalmente, «abbraccia con lo sguardo la propria vita e, in quanto libero, aspira consapevolmente, e nelle diverse modalità possibili, a dare alla propria vita la forma di una vita soddisfacente, “felice”»930. Le diverse forme di vita, i diversi mestieri, presi in esame da Husserl corrispondono dunque ai diversi esiti a cui può giungere l’umano esercizio della libera volontà, a seconda della classe di valori o beni che ciascuno identifica come il bene supremo per sé. Può trattarsi della ricchezza, della gloria personale, del possesso avido di beni materiali o così via931 . All’interno dell’infinita varietà di forme possibili di vita, ciò che Husserl intende sottolineare è proprio il caso particolare di una «vita di vocazione [Berufsleben] nella sua accezione più alta e pregnante»932, come quella dell’artista, dello scienziato o dell’uomo di stato. Ma nemmeno questa “vita di vocazione” è considerata da Husserl una vita etica autentica: «Le forme di vita basate sull’autoregolazione universale […] abbracciano sì l’intera vita, ma non in modo da regolare, determinandola, ogni azione, e da conferire a ognuna di queste una forma normativa che possieda la propria fonte originaria nella volontà generale che stabilisce la regola»933 . Perché si possa parlare di valore etico assoluto è necessario un esercizio incessante e radicale dell’autocoscienza e dell’autodeterminazione volontaria, e l’unica forma di vita in grado di incarnare tale 928 Ivi, p. 31. Ivi, p. 32. 930 Ivi, p. 31. 931 In Filosofia prima Husserl osserva: «Ovunque il discorso verta sulla professione, in senso comune o più elevato, troviamo sempre tratti generali che ricorrono allo stesso modo e che si collegano nell’unità di una forma spirituale generale. Per esempio, chi si decide per la professione del commerciante, cercando di farla rendere il più possibile, quanto a ricchezza, potere e considerazione, si decide anche, interiormente – e in questo diversamente dal filosofo –, nella forma dell’“una volta per tutte”» (Husserl, Filosofia prima, cit., p. 16). 932 Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 34. 933 Ivi, p. 35. 929 255 Zusammenfassung auf Italienisch ideale è quella del filosofo. La peculiarità della vita filosofica rispetto a ogni altra si mostra già nel suo inizio, in quanto nel caso dell’artista, per esempio, «l’amore e la personale decisione di vita possono svilupparsi inosservati […]. In qualcuno può destarsi già precocemente, già negli anni della giovinezza, un amore puro per l’arte […] diventando così, inavvertitamente, professione, senza che abbia avuto luogo una decisione, per così dire, solenne»934 . Mentre nel caso della professione di filosofo non può accadere nulla di simile, in quanto «egli necessita di una decisione autentica che lo istituisca, in primo luogo e originariamente, come filosofo. Ha bisogno di un’istituzione originaria, che è un’autocreazione originaria. Nessuno può “andare a finire” a caso nella filosofia»935. Il fiat volontario che inaugura la filosofia costituisce un passo totalmente autocosciente e proprio per questa ragione la filosofia rappresenta l’unica forma di vita che possiede un’autentica coscienza etica della responsabilità. Il filosofo è colui che impegna se stesso e l’intera sua esistenza in un compito infinito: filosofo è solo chi si vota alla filosofia, così come artista è solo chi vota interamente se stesso all’arte. Interessarsi di filosofia, riflettere occasionalmente su questioni relative alla verità e persino lavorarvi continuativamente, non significa ancora essere filosofo […]. Ciò che in questi casi manca è il radicalismo di una volontà rivolta a ciò che è ultimo, il cui sguardo si dirige verso l’infinità dell’idea pura e vero le infinità di un intero mondo di idee. 936 Condizione di possibilità di una vera realizzazione di sé è un esercizio di autoriflessione talmente radicale da arrivare a costituire una vita di «panmetodismo», vale a dire una «vita vissuta nella costante autoelevazione»937. 6. Considerazioni conclusive: il primato della volontà «L’essere-Io è un costante divenire-Io. Sono soggetti, giacchè si sviluppano continuamente»938. In quest’affermazione è racchiuso un nucleo essenziale dell’etica 934 Husserl, Filosofia prima, cit., pp. 23-24. Ivi, p. 24. 936 Ivi, p. 21. 937 Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 46. 938 Husserl, Introduzione all’etica, cit., p. 102. 935 256 Zusammenfassung auf Italienisch husserliana, in quanto per Husserl ogni persona sviluppa se stessa e scopre la propria essenza nel corso di uno sviluppo costante che matura nel cammino dell’esistenza. La persona «può avere capacità latenti che non si sono ancora manifestate. […] Un uomo non si “conosce”, non “sa” che cos’è; impara a conoscersi»939. Qual è il motore di questo dinamismo? Quale facoltà umana presiede il costante “divenire-io”? Senza dubbio la volontà: essa è per Husserl la forza, l’energia vitale che muove ogni atto dell’io e che, liberandolo attraverso la libera presa di posizione dalla prigonia dell’istintualità, gli permette di scoprire e realizzare la propria vocazione alla razionalità, ossia il telos dell’umanità. L’etica husserliana, in virtù della fiducia assoluta nella forza autodeterminante della volontà, viene a configurarsi come un razionalismo ottimistico. Husserl è consapevole dell’intrinseca imperfezione di ogni umano tentativo di realizzazione del bene, in quanto «la mera volontà di diventare perfetti non crea di colpo la perfezione, la cui realizzazione è legata alla forma necessaria di una “lotta senza fine”, ma anche di un rafforzamento nella lotta. Vi è sempre la possibilità essenziale che l’uomo cada in una vita mondana “peccaminosa”»940 . L’«uomo paradisiaco», cioè l’uomo totalmente innocente, è per Husserl solo «un caso limite ideale tratto da un’infinità di altre possibilità simili, e comunque tale da non poterlo assolutamente considerare come l’ideale di perfezione, e meno che mai come l’ideale pratico»941 . L’uomo vive una lotta constante contro gli istinti per poter riaffermare la propria razionalità, ma vi è un’inesorabilità nell’affermarsi positivo dell’ideale teleologico dell’umanità, in quanto – come la figura del filosofo mostra in modo peculiare – l’io è sempre in possesso del possibile esercizio razionale dell’autoconsapevolezza e dell’autodeterminazione. 939 Husserl, Idee per una fenomenologia pura e per una filosofia fenomenologica. Libro secondo, Ricerche fenomenologiche sopra la costituzione, cit., p. 253. 940 Husserl, L’idea di Europa, cit., p. 45. 941 Ivi, p. 41. 257 Literaturverzeichnis Husserl Im Text wurden folgende Kürzungen verwendet: Hua = Husserliana – Gesammelte Werke; Dok. = Husserliana – Dokumente; Mat. = Husserliana – Materialien. Bandanzahl wird in römischen Ziffern angegeben. A) HUSSERL, Edmund: Gesammelte Werke, Husserliana, Martinus Nijhoff, Den Haag 1950 ff.; ab 1987ff. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht/Boston/London; ab 2006ff. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht. I: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Stephan Strasser (Hrsg.), 2. Aufl., 1963. III/1: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Karl Schuhmann (Hrsg.), 1967. IV: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchung zur Konstitution, Marly Biemel (Hrsg.), 1953. VI: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einführung in die phänomenologische Philosophie, Walter Biemel (Hrsg.), 1954. VIII: Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion, Rudolf Boehm (Hrsg.), 1959. 258 Literaturverzeichnis IX: Phänomenologische Psychologie, Walter Biemel (Hrsg.), 1962. X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917), Rudolf Boehm (Hrsg.), 1966. XI: Analysen zur passiven Synthesis, Margot Fleischer (Hrsg.), 1966. XIII: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Erster Teil: 1905-1920, Iso Kern (Hrsg.), 1973. XIV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Zweiter Teil: 1921-1928, Iso Kern (Hrsg.), 1973. XV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil: 1929-1935, Iso Kern (Hrsg.), 1973. XVI: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Ulrich Claesges (Hrsg.), 1973. XVIII: Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, Elmar Holenstein (Hrsg.), 1957. XIX/1: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Erster Teil, Ursula Panzer (Hrsg.), 1984. XIX/2: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil, Ursula Panzer (Hrsg.), 1984. XXV: Aufsätze und Vorträge (1911-1921), Thomas Nenon und Hans Reiner Sepp (Hrsg.), 1987. 259 Literaturverzeichnis XXVII: Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Thomas Nenon und Hans Reiner Sepp (Hrsg.), 1989. XXVIII: Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908-1914), Ullrich Melle (Hrsg.), 1988. XXIX: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband: Text aus dem Nachlaß 1934-1937, R. N. Smid (Hrsg.), 1993. XXX: Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie. Vorlesungen Wintersemester 1917/18. Mit ergänzenden Texten aus der ersten Fassung von 1910/11, Ursula Panzer (Hrsg.), 1996. XXXI: Aktive Synthesen: Aus der Vorlesung Transzendentale Logik 1920/21. Ergänzungsband zu Analysen zur passiven Synthesis, Roland Breeur (Hrsg.), 2000. XXXII: Natur und Geist. Vorlesungen 1927, Michael Weiler (Hrsg.), 2001. XXXIV: Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926-35), Sebastian Luft (Hrsg.), 2002. XXXVII: Einleitung in die Ethik. 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