Vollständige Studie

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Jan Böcken, Bernard Braun, Rüdiger Meierjürgen (Hrsg.)
Gesundheitsmonitor 2015
Bürgerorientierung im Gesundheitswesen
Kooperationsprojekt der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK
Gesundheit – ein käufliches Produkt?
­Meinungen und Erfahrungen der Bevölkerung
Bernard Braun, Gerd Marstedt
Ausgangslage
Seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten nehmen Mahnungen, sich
»gesund« zu verhalten, Anreize zu einer »gesunden Lebensweise«
und Versprechungen von erwünschten Wirkungen stetig zu und sind
mittlerweile unüberschaubar. In den Medien häufen sich Schlagzeilen über gewonnene oder auch verlorene Lebensjahre, über Lebensqualität als Folge allein des individuellen Risikoverhaltens.
Auf Pressemitteilungen der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung oder des Krebsforschungszentrums wird dabei ebenso
Bezug genommen wie auf wissenschaftliche Forschungsberichte.
Unlängst standen Ergebnisse der sogenannten EPIC-Studie (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition) im Fokus:
»Ungesunde Lebensweise kostet Männer 17 Jahre«, titelte die »Berliner Zeitung« (Harmsen 2014): »Kurz zusammengefasst sollte man:
nicht rauchen, nur in Maßen Alkohol trinken, wenig rotes Fleisch
essen und körperlich aktiv sein.« »Die Welt« (Meinert 2014) hatte dieselben Informationen, baute die Meldung aber positiver auf: »Wie Sie
bis zu 17 Jahre länger leben«.
Die Zeiten, da solche Verhaltenstipps direkt verschränkt waren
mit Forderungen zur finanziellen Sanktionierung von »Gesundheitssündern« (etwa Forum Gesundheitspolitik 2008) durch höhere Krankenkassenbeiträge, schienen in den letzten Jahren zwar überwunden;
doch nun meldete die »Süddeutsche Zeitung« im November 2014:
»Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe
künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und
Lebensstil. Kunden werden Gutscheine und Rabatte bei Prämien gewährt, wenn sie gesund leben. Dazu übermitteln sie der Generali
98
über eine App regelmäßig Daten zum Lebensstil. Das Kalkül dabei:
Wer gesund lebt, kostet die Krankenversicherer weniger Geld. Im Gegenzug erhalten willige Verbraucher Vergünstigungen« (Gröger
2014).
Eine gesunde Lebensweise im Sinne der traditionellen Risikofaktorentheorie (mit den zentralen Merkmalen Nichtrauchen, wenig Alkohol, gesunde Ernährung, viel körperliche Bewegung) als ganzheitliches Konzept, also unter Berücksichtigung aller Postulate und
nicht nur eines einzigen Merkmals, ist für die Bevölkerungsmehrheit derzeit gar nicht oder nur begrenzt umsetzbar – nach der zitierten EPIC-Studie schafften dies in einem etwa zehnjährigen Beobachtungszeitraum nur 21 Prozent der Männer und 39 Prozent der
Frauen. Gleichwohl oder vielleicht gerade deshalb haben Firmen der
Gesundheitswirtschaft seit einigen Jahren »Gesundheit« als zugkräftiges Label und Werbeversprechen für eine Vielzahl von Produkten entdeckt.
Der Ernährungssektor zeigte sich dabei besonders kreativ. Hersteller von Wohlfühljoghurts und Fitnessdrinks, Biomüsliriegeln und
Reformmargarinen, Vitaminpillen und Ballaststoffen überboten sich
zuletzt gegenseitig mit Gesundheits- und Fitnessverheißungen, in
TV-Werbespots wurde die Stärkung von Abwehrkräften versprochen
oder der Schutz vor Erkältungen, die Immunsystemstärkung oder
auch die Senkung des Cholesterinspiegels.
»Die gefährliche Illusion vom Essen, das gesund macht« (Dowideit 2011) bescherte Lebensmittelproduzenten indes kräftige Umsatzzahlen und Gewinne. So betrug der Umsatz von Functional Food
in Deutschland in den letzten Jahren nach diversen Schätzungen
(Fleige 2014) über fünf Milliarden Euro jährlich.
Angesichts dieser vielgestaltigen Entwicklung gewinnt die bereits
vor 25 Jahren in der Medizinsoziologie diskutierte (etwa Friedrich et
al. 1990) These, Gesundheit sei immer mehr eine Art gesellschaftlicher Zwang oder eine individuelle Verhaltensnorm und Pflicht zur
Selbstoptimierung, an empirischer Plausibilität und Evidenz.
Ob diese Entwicklung auch weiterhin anhält, bleibt abzuwarten.
Denn widersprüchliche Informationen in diesem Kontext erschweren eine zuverlässige Prognose. Einerseits dürfen Lebensmittelhersteller seit dem Jahr 2012 nur noch mit solchen gesundheitsbezogenen Angaben für ihre Produkte werben, die zuvor ein strenges
Zulassungsverfahren durchlaufen haben (Health-Claims-Verord99
nung, HCV) – aktuell gibt es etwa 250 solcher explizit erlaubten Angaben. Andererseits haben die Verbraucherzentralen unlängst bundesweit Lebensmittel mit Gesundheitsversprechen auf dem Etikett
untersucht. Ergebnis war: »Knapp die Hälfte (43 %) der 46 begutachteten Produkte wirbt mit Health Claims, die aus Sicht der Verbraucherzentralen nicht zugelassen sind« (VZBV 2015). Wie es scheint,
nutzen viele Hersteller Schlupflöcher der Verordnung, andere beachten die rechtlichen Vorgaben nicht oder interpretieren sie in ihrem
Sinn.
In einer früheren Befragung des Gesundheitsmonitors gab knapp
die Hälfte der Bevölkerung an, in den letzten zwölf Monaten auf eigene Kosten Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine oder Mineralien
gekauft zu haben (Koch und Waltering 2012). Jeder vierte deutsche
Internetnutzer verwendete nach einer Umfrage des IPSOS-Instituts
(2011) Functional-Food-Produkte sogar einmal wöchentlich oder öfter. Der Konsum von Vitaminpräparaten, Nahrungsergänzungsmitteln und Functional Food ist jedoch nicht der einzige Verhaltensbereich, der zunehmend mit dem Gesundheitsversprechen vermarktet
wird. Vor knapp zehn Jahren lieferte die Zeitschrift »Focus« umfangreiche Übersichten über den »Markt der Gesundheit« (Focus
2007), vor drei Jahren präsentierte die Managementzeitschrift »Reviermanager« (2012) eine zehn­teilige Serie mit dem Titel »Gesundheit als Konsumgut«. »Functional Food« und »Functional Clothing«,
»Gesundes Wohnen« und »Gesundheitstourismus« waren einige
der Kapitel, in denen über die Funktionalisierung des Gesundheitsbegriffs für die Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen
berichtet wurde.
Der folgende Beitrag soll einige Aspekte dieses vergleichsweise
neuen Trends etwas erhellen, allerdings aus der Verbraucher- und
Konsumentenperspektive. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob
sich der Konsum »gesunder« Lebensmittel oder die Nutzung gesundheits- und wellnessorientierter Freizeitangebote als konsistentes Syndrom von Verhaltenstendenzen und Überzeugungen charakterisieren lassen, das man als Gesundheitskonsumismus bezeichnen kann.
Es gilt auch zu analysieren, welche Motive dahinterstehen und bei
welchen Bevölkerungsgruppen man dieses Merkmal gehäuft findet.
Folgende Fragestellungen sind damit verbunden:
•• Wie verbreitet sind Verhaltensweisen, die sich als Merkmale von
Gesundheitskonsumismus interpretieren lassen, und aus wel100
••
••
chen Motiven heraus entstehen diese? Soll damit eine ungesunde
Lebensweise kompensiert werden oder stellt dies ganz im Gegenteil noch eine Steigerung gesundheitsbewussten Alltagsverhaltens dar?
Lässt sich bei einzelnen Bevölkerungsgruppen, definiert über sozialstatistische oder gesundheitliche Merkmale, eine überdurchschnittlich stark ausgeprägte gesundheitskonsumistische Orientierung finden? Sind chronisch Erkrankte hier häufiger zu finden
oder im Gegenteil kerngesunde Fitnessanhänger? Welche anderen Verhaltensmuster wie Risikoverhalten, Informationsinteressen zu Gesundheitsthemen, Inanspruchnahme medizinischer
Versorgung, Vertrauen in Ärzte und Medizin sind damit verknüpft?
Und schließlich: Welche subjektiven Konzepte herrschen in dieser Gruppe vor, welche Annahmen gibt es über relevante und eher
irrelevante Einflussfaktoren für die Gesundheit?
Empirische Basis der im Folgenden dargestellten Befunde sind Erhebungen des Gesundheitsmonitors mit repräsentativen Bevölkerungsstichproben aus den Jahren 2011 und 2014. Teilgenommen haben
­jeweils etwa 1.750 Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und
79 Jahren.
Mögliche Indikatoren gesundheitskonsumistischer Orientierung
Eine gesundheitskonsumistische Orientierung liegt nach unserer
Auffassung nicht bereits dann vor, wenn jemand zur Vorbeugung
oder bei leichteren Erkrankungen zu Mitteln greift, deren Wirksamkeit in wissenschaftlichen Studien bislang nicht belegt oder sogar widerlegt ist, wie Vitamin C bei Erkältung, »Umckaloabo« bei Atemwegsinfektionen oder Ginkgo zur Demenzprävention. Auch ist die
konsequente Anwendung einer gesunden Lebensweise (nicht rauchen, nur mäßig Alkohol, viel Sport und Bewegung, gesunde Ernährung) nicht in eins zu setzen mit unserem Konstrukt des Gesundheitskonsumismus. Dabei handelt es sich auch nicht um die mit dem
englischen Begriff des »consumerism« positiv assoziierte Unterstützung des Konsumenten bei Kaufentscheidungen durch Informationen oder Regulative.
101
Vielmehr sollten hier zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
•• Grundlegend ist zunächst der häufigere, nicht nur einmalige oder
auf Ausnahmesituationen beschränkte sowie breit gefächerte
(Motto »viel hilft viel«) Konsum von Produkten, die der Zielsetzung »Verbesserung oder Erhalt der Gesundheit« dienen,
•• und dass dies über (käufliche) Produkte erfolgt, die anders als die
meisten der verordnungspflichtigen Produkte explizit und plakativ mit dem Label Gesundheit vermarktet und beworben werden,
selbst wenn gesundheitliche Effekte unter anderem aus Rücksicht
auf gesetzliche Vorschriften wie der HCV nur indirekt behauptet
werden (etwa durch Prädikate wie »bekömmlich«, »Steigerung
des Wohlbefindens«, »zurück ins Leben«) oder die Behauptung
eines solchen Effekts sich in wissenschaftlichen Studien als unhaltbar oder fragwürdig herausgestellt hat.
Die Frage, ob diese Voraussetzungen hinreichend für die Charakterisierung von Gesundheitskonsumismus und vor allem auch valide
­erfassbar sind, stellt sich weniger bei der ersten als bei der zweiten
Voraussetzung. Da nur eine Minderheit der Bevölkerung wissenschaftliche Studien kennen beziehungsweise verstehen dürfte und
professionell erstellte Werbeversprechen dekodieren kann, gehört
fehlendes oder lückenhaftes gesundheitsbezogenes Wissen zu den
wesentlichen Bedingungen gesundheitskonsumistischen Verhaltens.
Gesundheitskonsumismus ist nach Annahme der Autoren auch
kein Verhaltensmodus (etwa wie beim Hochleistungssportler), der in
der Bevölkerung bei bestimmten Gruppen sehr intensiv ausgebildet ist
und bei vielen anderen Gruppen gar nicht. Zwar gibt es nach persönlicher Erfahrung durchaus auch idealtypische und konsequente Gesundheitskonsumisten; relevanter erscheint hier jedoch, dass Tendenzen zu
diesem Verhaltensmuster sich mehr oder weniger stark ausgeprägt bei
einem Großteil der Bevölkerung zeigen. Auch fällt eine eindeutige und
klare Charakterisierung bisweilen schwer, etwa wenn jemand sich gesund ernährt – nach Maßgabe der Deutschen Gesellschaft für Ernährung mit wenig rotem Fleisch, viel Obst und Gemüse, wenig Zucker
und Salz –, zusätzlich aber noch regelmäßig Probiotika, Vitaminpillen
oder Nahrungsergänzungsmittel zu sich nimmt.
Geht man zunächst einmal von den genannten Prämissen aus, dann
wird aus der Befragung deutlich (Abbildung 1), dass einzelne konsumismusverdächtige Verhaltensweisen recht unterschiedlich verbreitet sind.
102
Abbildung 1: Verbreitung ausgewählter, mit Gesundheitsmotiven
zusammenhängender Verhaltensweisen
Kauf spezieller
Nahrungsmittel
(z.B. Probiotika)
88
Nutzung gesundheitsoder wellnessorientierter
Freizeitangebote
69
Kauf von Nahrungsergänzungsmitteln,
Vitaminen, Mineralien
13
52
Kauf spezieller
rezeptfreier Arzneimittel
gelegentlich
8
52
20
40
60
7
29
40
39
0
6
30
58
Kauf von Sportartikeln,
-ausrüstung für
den eigenen Gebrauch
1
25
63
Besuch von Fitnesscentern, Aktivität
im Sportverein
nie
11
9
80
100
regelmäßig
n = 1.700 bis 1.710
Angaben in Prozent der Befragten
Am seltensten zu finden ist nach unseren Daten der Kauf spezieller
Nahrungsmittel wie Probiotika oder anderer Nahrungsmittel (Functional Food), die mit Zusätzen wie Mikroorganismen, Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen angereichert sind.
Insgesamt nur etwa zwölf Prozent der Bevölkerung kaufen diese
Produkte gelegentlich oder regelmäßig. Bei Nahrungsergänzungsmitteln als alleinigem Produkt (und nicht als Beimengung zu Lebensmitteln) liegt der Prozentanteil bereits deutlich höher. Mehr als jeder
103
dritte Befragte (37 %) kauft diese Artikel zumindest gelegentlich.
Knapp ein Drittel gibt an, sich zumindest gelegentlich Freizeitangebote zu gönnen, die wellness- oder gesundheitsorientiert sind. Der
höchste Prozentwert in diesem Kontext zeigt sich für den Kauf spezieller rezeptfreier Arzneimittel, der für fast die Hälfte beziehungsweise
fast zwei Drittel in der Bevölkerung zutrifft (rund 62 % gelegentlicher
oder regelmäßiger Erwerb). Allerdings bleiben Motive und Anlässe
dafür unklar: Der Kauf könnte aus einem durchaus sinnvollen Motiv
der Selbstmedikation erfolgen, um den Weg in die Arztpraxis und die
Verschreibung eines rezeptpflichtigen Medikaments zu vermeiden.
Abbildung 2: Motive für gesundheitsbezogene und selbst bezahlte
Verhaltensmuster
gesundheitliche Beschwerden lindern
67
gesund bleiben, Krankheiten verhüten
62
körperlich fit bleiben
49
mein Wohlbefinden steigern
39
geistig fit bleiben
24
meine Leistungsfähigkeit steigern
23
besser schlafen
oder abschalten können
15
möglichst lange leben
15
Spaß haben, guter Stimmung sein
15
gesundheitliche »Sünden«
ausgleichen
10
mit netten Menschen zusammen sein
8
besser aussehen
7
0
10
20
n = 1.563
Anteile der Antwortkategorie »trifft zu« in Prozent;
Mehrfachangaben möglich (maximal drei Antworten)
104
30
40
50
60
70
80
Daher werden auch die in der Befragung genannten Motive für diese
Verhaltensmuster betrachtet. Auf die Frage: »Was möchten Sie erreichen, wenn Sie Produkte oder Dienstleistungen für Ihre Gesundheit
in Anspruch nehmen und aus eigener Tasche bezahlen? Bitte nennen
Sie uns nur die drei wichtigsten Gründe« zeigt sich eine klare qualitative Hierarchie der Motive: Am häufigsten genannt (von 67 bzw.
62 %) werden zwei Ziele, bei denen es entweder um eine Linderung
vorhandener Gesundheitsbeschwerden oder eine Verhütung von Erkrankungen geht. Zwischen 15 und 49 Prozent der Nennungen betreffen den Erhalt oder die Verbesserung der eigenen unspezifischen
psychophysischen Voraussetzungen: körperliche und geistige Fitness, Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit, Schlaf. Den sehr langfristigen Effekt dieser Voraussetzungen, nämlich eine möglichst hohe Lebenserwartung, nennen nur etwa 15 Prozent. Am unteren Ende der
Häufigkeitsskala (7 bis 15 %) rangieren eher soziale als gesundheit­
liche Aspekte wie ein besseres Aussehen, Geselligkeit oder Spaß.
Eine Betrachtung möglicher Indikatoren für eine gesundheitskonsumistische Orientierung muss natürlich auch den persönlichen
Umgang mit Lebensmitteln einschließen. Wie wird die zu Anfang
des Beitrags beschriebene Funktionalisierung von Lebensmitteln unter dem Gesundheitsetikett von Verbrauchern erlebt? Dazu wurde
danach gefragt, ob man Werbebotschaften für Lebensmittel (wie­
»… stärkt das Immunsystem« oder »… senkt den Cholesterinspiegel«)
erstens gezielt sucht und beachtet, zweitens bevorzugt kauft und drittens für zutreffend hält.
Tabelle 1: Verhaltensweisen in Bezug auf Lebensmittel, die den Aspekt
der Gesundheitsförderlichkeit betonen
selten oder nie manchmal immer oder fast immer
gezieltes Suchen oder Beachten
gesundheitsförderlicher Lebensmittel
66
30
4
bevorzugter Kauf solcher Produkte
69
27
4
Einschätzung der Hersteller­
informationen als zutreffend
64
34
3
Angaben in Prozent der Befragten, n = 1.711 bis 1.713
Etwa zwei Drittel der Befragten zeigen eher skeptische Einstellungen. Umgekehrt zeigt sich ein dauerhaftes und konsistentes Verhal105
tensmuster, das auf gesundheitsförderliche Lebensmittel fixiert ist,
bei weniger als fünf Prozent der Bevölkerung (Tabelle 1). Unklar
bleibt, wie jene Gruppe von knapp einem Drittel der Bevölkerung einzuschätzen ist, die hier mit »manchmal« antwortet. Gilt diese Bewertung nur für bestimmte Lebenssituationen, etwa bei Gesundheitsbeschwerden oder »wenn man sich etwas Gutes tun möchte«, oder nur
für bestimmte Produkte? Und: Liegen hier Steigerungspotenziale
verborgen, die man in der Lebensmittelindustrie und den zugehörigen Werbeagenturen zukünftig zu erschließen versucht?
In jedem Fall festzuhalten ist, dass die nicht selten irreführenden
oder falschen Versprechungen der Lebensmittelindustrie bei jedem
dritten Verbraucher zumindest gelegentlich verfangen. Und wahrscheinlich ist dieser Anteil noch höher, wenn man nicht nur das Suchen und Finden expliziter Hinweise auf gesundheitliche Wirkungen
berücksichtigen würde, sondern auch die verhaltenswirksame Rezeption mittelbarer Hinweise auf Gesundheitsförderlichkeit. So hat eine
aktuelle experimentelle Studie (Zühlsdorf und Spiller 2014) unter anderem an der Wirkung des Bildes einer joggenden Frau nachgewiesen, dass auch »weitere Aufmachungselemente (etwa Produktname,
Bildelemente, unspezifische Angaben) dazu beitragen, dass ein Produkt als gesundheitsfördernd wahrgenommen wird« (ebd.: 20).
Hinzu kommt, dass ein missverständlicher optischer Eindruck von
»gesund« »nicht durch zutreffende Angaben auf der Rückseite ›geradegerückt werden‹« kann (ebd.: 29). Die gerade angesprochenen Steigerungspotenziale sind also längst Wirklichkeit geworden, wozu die
Göttinger Studie noch zahlreiche weitere Beispiele liefert.
Gesundheitskonsumismus – was verbirgt sich dahinter?
Eine standardisierte Befragung kann nur erste und keineswegs vollständige Tendenzen zu einer Einstellung und Verhaltensorientierung
erfassen, wie sie mit dem Konzept des Gesundheitskonsumismus beschrieben sind. Mit einigen bereits dargestellten Fragen wurde dazu
eine Skala konstruiert, wobei nur Aspekte des Verhaltens berücksichtigt wurden, keine Einstellungen oder Meinungen. Berücksichtigt
wurden erstens der Kauf spezieller Nahrungsmittel, zweitens von
Nahrungsergänzungsmitteln, drittens die Nutzung gesundheitsoder wellnessorientierter Freizeitangebote sowie viertens der Kauf
106
spezieller rezeptfreier Arzneimittel. Letzteres wurde nur dann einbezogen, wenn nicht die Linderung gesundheitlicher Beschwerden und
Selbstmedikation bei Erkrankung der Anlass waren, sondern andere
Gründe. Für die Antwort »gelegentlich« wurde ein Punkt vergeben,
für »regelmäßig« drei Punkte. Die Addition der Punkte ergab dann
den Gesamtwert für die Skala »gesundheitlicher Konsumismus«.
Im Ergebnis zeigt sich: Ein Anteil von rund 40 Prozent der Befragten gibt bei allen vier Indikatoren an, dass dies »niemals« auf sie zutrifft. Etwas weniger als 30 Prozent erreichen den Gesamtwert von
einem Punkt und etwa ein Drittel der Befragten kommt auf zwei oder
mehr Punkte. Diese letzte Gruppe wird bei den folgenden Analysen
genauer betrachtet. Zeigen sich die hier vorliegenden gesundheitskonsumistischen Tendenzen bei bestimmten Bevölkerungs­gruppen
(definiert über sozialstatistische Merkmale oder Morbiditätsaspekte)
häufiger?
Als Ergebnis einer bivariaten Analyse lässt sich zusammenfassen,
dass
•• gesundheitskonsumistische Verhaltenstendenzen deutlich häufiger zu finden sind bei Befragten mit höherer Schulbildung, höherem Einkommen und höherem sozioökonomischen Status – Indikatoren, die sehr hoch miteinander korrelieren. Um ein Beispiel
zu nennen: Einen hohen Konsumismusskalenwert erreichen
41 Prozent der Oberschicht-, aber nur 25 Prozent der Unterschichtangehörigen. Bei Schulbildung und Einkommen ist die Differenz
ähnlich groß.
•• Ein zweites hervorstechendes Merkmal ist die Intensität der Arztbesuche. Befragte mit einer hohen Anzahl an Facharztbesuchen weisen auch hohe Werte auf der Gesundheitskonsumismusskala auf:
38 Prozent derjenigen mit fünf oder mehr Besuchen in den letzten
zwölf Monaten weisen hohe Tendenzen zum Gesundheitskonsumismus auf; bei denjenigen mit keinem Facharztbesuch sind es
nur 25 Prozent. Ähnliche, wenngleich nicht ganz so große Differenzen zeigen sich für die Variable »Zahl der Hausarztbesuche«.
•• Diese unterschiedlich starke Inanspruchnahme von Ärzten ist
deshalb bemerkenswert, weil Indikatoren zur Morbidität dies
nicht erklären können. Einen hohen Wert auf der Konsumismusskala erreichen bei ausgezeichnetem oder sehr gutem Gesundheitszustand 31 Prozent, bei weniger gutem oder schlechtem
29 Prozent, bei chronisch Erkrankten 29 Prozent, bei nicht chro107
nisch Erkrankten 32 Prozent, bei Behinderten 32 Prozent, bei
Nichtbehinderten 31 Prozent.
Hier deutet sich an, dass Gesundheitskonsumismus nicht aus einem
höheren Grad gesundheitlicher Beeinträchtigungen resultiert beziehungsweise damit zusammenhängt, sondern einhergeht mit einer
größeren Besorgtheit um die eigene Gesundheit und niedrigerer
Symptomtoleranz. Unter Umständen liegt hier auch eine höhere
»Klagsamkeit« oder Besorgtheit vor, eine ängstlich-überbesorgte Einstellung gegenüber Krankheitsrisiken. Dies führt dann dazu, dass
sowohl der Gang in die ärztliche Sprechstunde als auch der Griff zur
Vitaminpille eher oder häufiger erfolgt als bei anderen.
Um eine fundiertere Einschätzung zu bekommen, mit welchen
soziodemographischen Merkmalen und Morbiditätsaspekten gesundheitskonsumistische Verhaltensorientierungen einhergehen,
wurde mit wesentlichen Indikatoren zusätzlich eine multivariate
Analyse (logistische Regression) durchgeführt. Zwar ist es auch auf
diese Weise nicht möglich, Kausalzusammenhänge nachzuweisen,
doch diese statistische Methode erlaubt es, simultan den Einfluss
mehrerer Variablen zu überprüfen und dabei auch verdeckte oder
sich überlappende Zusammenhänge zu erkennen.
Einbezogen in diese Analyse wurden die unabhängigen Variablen
Lebensalter, Geschlecht, soziale Schicht (als zusammenfassender
­Indikator aus Schulbildung, Einkommen und Stellung im Beruf),
­Erwerbsstatus, Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes, chronische Erkrankung, Vorliegen einer Behinderung, Zahl der Facharztbesuche und der Hausarztbesuche in den letzten zwölf Monaten.
•• Als Ergebnis zeigt sich zunächst wie schon bei den bivariaten
Analysen, dass sämtliche Indikatoren zum Gesundheitszustand
(Selbsteinschätzung, chronische Erkrankung, Behinderung) keinen signifikanten Einfluss auf das Vorliegen gesundheitskon­
sumistischer Tendenzen haben.
•• Einflussreich ist hingegen auch hier ein Merkmal medizinischer
Versorgung, nämlich die Zahl der Facharztbesuche in den letzten
zwölf Monaten. Das Odds-Ratio hierfür beträgt in der Gruppe mit
vielen Kontakten 1,88, p ≤ 0,001 (Vergleichsgruppe: 0 Facharztkontakte).
•• Weiterhin von Bedeutung sind das Lebensalter (Odds-Ratio für
Jüngere bis 39 Jahre: 1,51, p ≤ 0,01; Vergleichsgruppe: Ältere ab
108
60 Jahren) und die Schichtzugehörigkeit (Odds-Ratio für Oberschichtangehörige: 2,06, p ≤ 0,001; Vergleichsgruppe: Unterschichtangehörige). Für Angehörige der oberen Mittelschicht zeigen sich ähnliche Befunde nur geringfügig niedrigerer Odds-Ratios.
Zusammenfassend heißt dies, dass gesundheitskonsumistische Tendenzen sich typischerweise bei jüngeren Angehörigen der Oberschicht und der oberen Mittelschicht finden und dass in dieser
Gruppe auch häufige Kontakte zu Fachärzten charakteristisch sind,
obwohl akute oder chronische Gesundheitsbeschwerden nicht häufiger vorliegen als bei anderen. Eine bivariate Analyse liefert folgende
quantitativen Unterschiede: In der Gruppe älterer Unterschichtangehöriger weisen 25 Prozent hohe Werte auf der Gesundheitskonsumismusskala auf, bei jüngeren Oberschichtangehörigen sind dies 56 Prozent, also mehr als doppelt so viele.
Kompensation für gesundheitsriskantes Alltagsverhalten?
Wie sieht es nun mit dem gesundheitlichen Risikoverhalten aus: Ist
Gesundheitskonsumismus eine Orientierung, um eigene Verhaltensrisiken zu kompensieren? Oder zeigt sich genau umgekehrt, dass gesundheitlicher Konsumismus eine Steigerung oder zumindest Ergänzung eines gesundheitsbewussten Alltagsverhaltens ist? Tabelle 2
weist für einige zentrale Indikatoren des Gesundheitsverhaltens Unterschiede aus, die sich bei Befragten mit eher hohen und eher niedrigen Werten für Gesundheitskonsumismus zeigen.
Wie man sieht, fallen die Differenzen teils sehr deutlich, teils eher
moderat aus und bei einigen Aspekten zeigen sich keinerlei signifikante Differenzen. Deutliche Zusammenhänge zeigen sich zum einen, was Informationsinteressen und Wissensaspekte betrifft: bei der
Teilnahme an Gesundheitskursen und den Informationsinteressen
hinsichtlich Gesundheitsthemen.
Zum anderen sind präventive Aktivitäten oder Maßnahmen hervorzuheben, die in gewisser Weise eine Komplettierung von Nahrungsergänzungsmitteln, Probiotika und weiteren ähnlichen Mitteln
darstellen: die Teilnahme an Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen, die Nutzung homöopathischer Mittel zur Abwehrstärkung
109
Tabelle 2: Zusammenhänge zwischen Gesundheitskonsumismus und diversen
Indikatoren des Gesundheitsverhaltens
Anteil Befragter mit hohem Wert auf
der Gesundheitskonsumismus-Skala
Teilnahme an Gesundheitskursen
Selbsteinschätzung: Achten auf
Gesundheit
Informationsinteressen zu
Gesundheitsthemen
Rauchen
Signifikanz
ja: 48 %
nein: 27 %
***
eher stark: 40 %
eher wenig: 24 %
***
hoch: 38 %
niedrig: 21 %
***
Nichtraucher: 33 %
Raucher: 24 %
**
Sport und Bewegung
eher viel: 35 %
eher wenig: 27 %
***
gesunde Ernährung
eher gesund: 33 %
eher ungesund: 28 %
n. s.
Alkoholkonsum
eher selten: 32 %
eher häufig: 30 %
n. s.
Schlaf und Erholung
Bewertung des eigenen
Gesundheitsverhaltens
eher ausreichend: 31 % eher zu wenig: 34 %
n. s.
eher positiv: 33 %
eher negativ: 30 %
n. s.
Teilnahme an Vorsorge- und
Früherkennungsuntersuchungen
ja: 35 %
nein: 25 %
***
Nutzung homöopathischer Mittel
zur Abwehrstärkung
ja: 49 %
nein: 27 %
***
Nutzung von Massagen, KneippAnwendungen
ja: 40 %
nein: 27 %
***
n = 1.710; Signifikanzniveau: * p ≤ 0,05, ** p ≤ 0,01, *** p ≤ 0,001, n. s. = nicht signifikant
Lesebeispiel: In der Gruppe, die schon an Gesundheitskursen teilgenommen hat, haben 48 Prozent auch einen hohen Wert auf der Gesundheitskonsumismus-Skala. In der Gruppe ohne solche
Erfahrungen liegt dieser Anteil deutlich niedriger, nämlich bei 27 Prozent.
sowie die Nutzung von Massagen und Kneipp-Anwendungen. Von
den Personen, die an Präventionsmaßnahmen im Bereich von Ernährung, Alkoholkonsum, Schlaf und Erholung, Rauchen, Sport und Bewegung teilgenommen haben, ist der Anteil mit einem hohen Wert
auf der Gesundheitskonsumismus-Skala durchweg kleiner (bei Sport
und Bewegung mit 35 % bei viel und 27 % bei wenig Sport) als beispielsweise dann, wenn es um die Teilnahme an Gesundheitskursen
geht (48 und 27 %), oder die Zusammenhänge sind nicht signifikant.
Während sich für die Selbsteinschätzung, ob man auf die eigene
Gesundheit achtet, deutliche Zusammenhänge finden, unterscheidet
sich der Anteil von Personen mit hohem Gesundheitskonsumismus110
wert bei denjenigen, die ihren eigenen Gesundheitszustand – also im
weitesten Sinn den Outcome des Achtens auf Gesundheit – eher positiv oder negativ bewerten, auf relativ niedrigem Niveau kaum beziehungsweise haben diese Art von Selbstbewertung und Konsumismus
nichts miteinander zu tun.
Wie sind diese Befunde zu interpretieren? Gesundheitskonsumistische Verhaltensorientierungen sind offensichtlich nicht vom selbst
wahrgenommenen konkreten Risikoverhalten bestimmt, sondern
unabhängig davon: Man findet sie bei Rauchern ebenso wie bei Nichtrauchern, bei sportlichen wie bewegungsfaulen Personen. Und auch
das Schlaf- und Erholungsverhalten, der Ernährungsstil und Alkoholkonsum stellen keine signifikanten Triebkräfte für ein hohes oder
niedriges Niveau des Gesundheitskonsumismus dar.
Viel Gesundheitskonsumismus dient also nicht primär der Kompensation von riskanten Verhaltensgewohnheiten, sondern taucht
auch genauso häufig bei Personen auf, die sich ungesund ernähren
oder wenig bewegen. Und ebenso gilt umgekehrt: Gesundheitskonsumismus ist keine Komplettierung oder Ergänzung einer besonders
gesundheitsbewussten Lebensweise. Die sehr engen Zusammenhänge mit gesundheitsbezogenen Lern- und Wissensaspekten einerseits und die Nähe zu präventiven Verhaltensweisen andererseits
­deuten vielmehr an, dass hier ein vorrangig nicht verhaltens- und erfahrungsbasiertes, sondern vorrangig kognitiv vermitteltes Präventionsmotiv im Vordergrund steht und das Wissen über Gesundheit
und Gesundheitsrisiken von Bedeutung ist. Dies korrespondiert auch
mit der bereits genannten Tatsache, dass vor allem jüngere und eher
gesunde Angehörige der Mittel- und Oberschicht ausgeprägt gesundheitskonsumistisch orientiert sind.
Annahmen über relevante Einflussfaktoren für die Gesundheit
Die schon beschriebenen sehr geringen, teilweise fehlenden Zusammenhänge zwischen gesundheitskonsumistischer Orientierung und
gesundheitlichem Risikoverhalten (Tabelle 2) lassen noch offen, welche Verhaltensweisen denn nun stattdessen als gesundheitsförderlich
bewertet werden. Hierzu wurden bereits in der Befragung des Gesundheitsmonitors von 2011 insgesamt 14 Verhaltensmerkmale vorgegeben. Zu jeder Vorgabe sollte auf einer fünfstufigen Skala (von
111
»überhaupt nicht wichtig« bis »sehr wichtig«) eingestuft werden, für
wie wichtig man diese für die Gesundheit hält. Das zentrale Befragungsergebnis wurde seinerzeit von Koch und Waltering (2012) so
zusammengefasst: »Alle Faktoren wurden von der Mehrheit der Befragten als ›eher wichtig‹ oder ›sehr wichtig‹ beurteilt, der Anteil lag
je nach Aspekt zwischen 51 und 92 Prozent.«
In einer Sekundärauswertung dieser Daten wurde jetzt geprüft,
ob diese Bewertungen auch variieren, je nachdem wie stark die gesundheitskonsumistischen Tendenzen einer Person sind und wie
stark diese Orientierung mit der Bewertung der Gesundheitsrelevanz
einzelner Verhaltensweisen korreliert.
Dabei wird beispielsweise der Einflussfaktor »gute Informationen
zu Nutzen und Risiken von Untersuchungen und Therapien« von
66 Prozent der Befragten mit hohen Werten auf der Konsumismusskala als »eher wichtig« oder »sehr wichtig« bewertet. Bei niedrigen
Konsumismuswerten kommt diese Einschätzung nur von 53 Prozent
der Befragten. »Regelmäßige Arztbesuche« erscheinen für 61 Prozent der Gesundheitskonsumisten »eher wichtig« oder »sehr wichtig«, bei den übrigen Befragten sind dies lediglich 48 Prozent.
Diese Daten zeigen recht deutlich, worin sich Personen mit stark
gesundheitskonsumistischer Tendenz von anderen unterscheiden,
zumindest in Bezug auf ihre Laienvorstellungen hinsichtlich der positiven oder negativen Einflüsse auf die Gesundheit. Deutlich werden
eine sehr starke Wertschätzung medizinischen Wissens und eine eigene Kompetenz in medizinischen und gesundheitlichen Fragen. Im
Mittelfeld rangieren die gängigen Risikofaktoren im Bereich des individuellen Gesundheitsverhaltens: Ernährung, Schlaf, Bewegung,
Rauchen. Und ganz unten liegen die eher sozialen und beruflichen
Einflussfaktoren für das gesundheitliche Wohlergehen.
Zusammenfassung und gesundheitspolitische Diskussion
Wenn man den nicht nur gelegentlichen oder seltenen Konsum einer
Vielzahl spezieller Lebensmittel (Functional Food) oder Nahrungsergänzungsmittel, die Nutzung gesundheits- oder wellnessorientierter
Freizeitangebote und den Kauf spezieller rezeptfreier Arzneimittel
(ohne akute Erkrankungen oder Beschwerden) als Indikatoren gesundheitskonsumistischer Orientierung definiert, dann lässt sich
112
etwa ein Drittel unserer Befragten in diese Gruppe einordnen. Diese
Verhaltensorientierung, so zeigen die Analysen, ist weitgehend unabhängig vom alltäglichen Gesundheitsverhalten, sie findet sich bei
Rauchern ebenso wie bei Nichtrauchern, bei sportlichen wie bewegungsfaulen Personen. Auch Schlaf- und Erholungsverhalten, Ernährungsstil und Alkoholkonsum sind hier ohne Einfluss. Gesundheitskonsumismus dient also nicht primär der Kompensation riskanter
Gewohnheiten. Aber auch umgekehrt ist damit keine Ergänzung
oder Vervollkommnung einer besonders gesundheitsbewussten Lebensweise beschrieben.
Jüngere Angehörige der Oberschicht und der oberen Mittelschicht
finden sich in dieser Gruppe besonders oft. Zugleich sind häufige
Kontakte zu Fachärzten charakteristisch, obwohl nicht mehr akute
oder chronische Gesundheitsbeschwerden vorliegen als bei anderen.
Auch findet man eine sehr starke Wertschätzung der Medizin und
die eigene Laienkompetenz bei Fragen zu Prävention wie Kuration
wird betont.
Subjektiv relevant erscheinen Informationen zu Nutzen und Risiken von Untersuchungen und Therapiemethoden, regelmäßige Arztbesuche und die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen. Diese sehr
engen Zusammenhänge mit gesundheitsbezogenen Lern- und Wissensaspekten und die Nähe zu präventiven Verhaltensmerkmalen
deuten an, dass hier ein kognitiv vermitteltes und statusbetontes Präventionsmotiv eine Rolle spielt. Gesundheitskonsumismus ist insofern aber auch (wenngleich nicht allein) ein Verhaltensmerkmal, das
der sozialen Unterscheidung und Habitusdemonstration im Sinne
der von Bourdieu (1982) beschriebenen »feinen Unterschiede« dient.
Angehörige dieser Gruppe wollen sich selbst und ihrer sozialen Umgebung zeigen, dass sie über den Erhalt von Gesundheit sehr viel umfassender und fundierter Bescheid wissen als ihre Nachbarn, Freunde
oder Kollegen.
Gesundheitspolitisch problematisch sind solche Orientierungen
insofern, als für eine Vielzahl der erworbenen Produkte oder Dienstleistungen jegliche Evidenz für ihren gesundheitlichen Nutzen fehlt
und in manchen Fällen sogar ganz im Gegenteil schädliche, bisweilen sogar tödliche Effekte beobachtet worden sind (Bjelakovic et al.
2012).
Die Vitamin-D-Einnahme zur Risikosenkung der kardiovaskulären Morbidität, Magnesium zum Schutz vor Muskelkrämpfen älte113
rer Personen und Schwangerer, antioxidative Nahrungsergänzungsmittel als Schutz vor Krebs, Vitamin C zur generellen Prävention
von Erkältungen – dies sind nur einige wenige Beispiele (als Überblick: Forum Gesundheitspolitik o. J.) für falsche Versprechungen
mit gesundheitskonsumistischer Prägung. Zwar wurde mit der sogenannten Health-Claims-Verordnung der Europäischen Union der
Versuch unternommen, Verbraucher vor irreführenden, wissenschaftlich nicht belegten Werbebotschaften zu schützen, die gesundheitsfördernde oder krankheitsverhindernde Eigenschaften
von Lebensmitteln betonen. Wie eingangs des Beitrags angedeutet,
wird diese Verordnung jedoch nach einer Studie der Verbraucherzentralen von vielen Herstellern missachtet. Immer wieder kommt
es daher über unterschiedliche Gerichtsinstanzen und jahrelange
Zeiträume hinweg zu Prozessen, in denen weiterhin mit falschen
oder irreführenden gesundheitsbezogenen Versprechungen geworben wird und Konsumenten diesen qua Kaufentscheidung Glauben
schenken.
Eine frühere Befragung des Gesundheitsmonitors hat deutlich gemacht, dass Bemühungen um eine gesunde Lebensweise bislang nur
begrenzt erfolgreich sind, selbst wenn man jeweils nur einen einzelnen Aspekt betrachtet. Von Befragten mit den Verhaltensrisiken Rauchen, Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung, zu wenig Bewegung
schaffte es nur jeder Dritte oder Vierte, diese Laster dauerhaft aufzugeben (Marstedt und Rosenbrock 2009). »Es besteht also wohl eine
Kluft zwischen Risikowarnungen und Ratschlägen zu Änderungen
des Gesundheitsverhaltens einerseits und praktikablen Konzepten
und Informationen, wie dies zu bewerkstelligen ist, andererseits«,
fassen die Autoren ihre Befunde daher zusammen.
Unter diesen Voraussetzungen erscheinen Botschaften wie
»… stärkt das Immunsystem« oder »… senkt den Cholesterinspiegel« vielen Bürgern natürlich als segensreiche Argumente – nun
kann man die nicht nur in der Grillsaison wenig begeisternde Forderung nach »5 am Tag« (fünf Portionen Obst oder Gemüse täglich,
neuerdings werden »7 am Tag« als besser erachtet) mit dem Hintergedanken beiseiteschieben, man tue ja im Rahmen der Lebensmitteleinkäufe schon genug für eine gesunde Ernährung. Mit anderen
Worten und sehr vergröbert: Werbebotschaften, die gesundheitskonsumistische Tendenzen fördern oder verfestigen, konterkarieren
nachhaltig die Bemühungen verschiedenster Einrichtungen (von
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der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung über Selbsthilfeeinrichtungen und gemeinnützige Stiftungen bis hin zu Krankenkassen) zur Prävention und zum Abbau individueller Verhaltensrisiken.
Als erste Konsequenz hieraus ist natürlich ein noch entschiedener
zu handhabendes Verbot unbelegter Gesundheitsaussagen durch die
nach der Health-Claims-Verordnung zuständigen exekutiven und judikativen Akteure zu nennen und im selben Atemzug eine peniblere
Kontrolle dieser Vorgaben. Wenn – wie bereits eingangs dargestellt –
fast die Hälfte der vom VZBV kontrollierten Produkte beanstandet
wird, macht dies deutlich, wie wenig konsequent auf eine Einhaltung
der EU-Verordnung geachtet wird.
Darüber hinausgehend erscheinen jedoch die Maßnahmen und
gesetzlichen Vorgaben zur Information mündiger Bürger über sinnvolle und sinnlose, wenn nicht sogar riskante gesundheitliche Konsum­
ausgaben verbesserungswürdig. Schon die »Nationale Verzehrstudie« hatte massive Wissenslücken der Bevölkerung zum Thema
»Ernährung und Gesundheit« gezeigt. Und obwohl wissenschaftliche Studien mehrfach belegt haben, dass bei der Kennzeichnung von
Lebensmitteln eine Kombination von Ampelfarben und Text für Verbraucher am verständlichsten ist, um gesunde von weniger gesunden
Produkten (etwa zu salzhaltig, zu hoher Zuckergehalt) zu unterscheiden, wurde die Ampelkennzeichnung vom EU-Parlament abgelehnt.
»Doch nun hat sich die Lebensmittelindustrie durchgesetzt«, kommentierte »Spiegel online« (2010). »Die Lobbyvertreter der Branche
sind seit gut zwei Jahren aktiv, um die EU-Parlamentarier von ihren
eigenen Vorschlägen zu überzeugen. Dabei machten die Konzerne
immer wieder klar, dass sie eine Lebensmittel-Ampel ablehnen – nun
hatten sie Erfolg.«
Erst kürzlich hat jedoch eine Untersuchung deutlich gemacht, in
wie starkem Maße Verbraucher gesundheitsbezogene Aussagen (z. B.
»ohne Zuckerzusatz«, »ungesüßt«) auf Lebensmittelverpackungen
falsch interpretieren (»kalorienarm«, »geeignet für eine bewusste
ausgewogene Ernährung«) und wie wenig sie die meist klein gedruckten, umfangreichen Informationen auf der Rückseite von Produkten für ihre Kaufentscheidung berücksichtigen (VZBV 2015;
Zühlsdorf und Spiller 2014).
Zu bedenken ist in diesem Kontext aber auch, dass falsche gesundheitliche Versprechungen nicht nur im Lebensmittelsupermarkt
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lauern, sondern überall dort, wo Verbraucher, Versicherte und Konsumenten mit den Themen »Gesundheit« und »Krankheit« in Kontakt
kommen. Es wäre auch für Ärzteverbände durchaus ehrbar, das Verzeichnis Individueller Gesundheitsleistungen (IGeL) systematischer
nach medizinischen Leistungen und Produkten zu durchforsten, die
überwiegend gesundheitskonsumistische Orientierungen bedienen,
aber keinen oder nur in Ausnahmefällen einen nachweisbaren medizinischen Effekt zeigen. Zwar findet der mündige Patient im Internet
den »IGeL-Monitor«. Aber noch traut sich nur eine Minderheit von
etwa 30 Prozent der Patienten, in der ärztlichen Sprechstunde eine
vom Arzt direkt und persönlich empfohlene Leistung abzulehnen
(WIdO 2013).
Für den Erwerb von Gesundheitskompetenz folgt daraus, dass
große Teile der Bevölkerung ein gründlicheres und situationsadäquates Orientierungswissen für die Notwendigkeit, die Inanspruchnahme und den Nutzen gesundheitlicher beziehungsweise gesundheitsbezogener Leistungen benötigen. Dazu gehört, das anbieter- oder
angebotsinduzierte Paradigma beziehungsweise die Erwartungshaltung des »viel hilft viel« grundlegend zu erschüttern oder zu destruieren – und hinzuwechseln zu einem durch Konzepte wie »less is
more« (siehe auch die in der Fachzeitschrift »JAMA Internal Medicine« erschienenen 173 Beiträge, Stand 24.3.2015), »choosing wisely«
(ABIM) oder »watchful waiting« charakterisierten alternativen Paradigma.
Begleitet werden muss ein solcher Paradigmenwechsel mit sehr
viel mehr Informationsangeboten als derzeit verfügbar und mit Informationen, die für sehr unterschiedlich gebildete und auch in Gesundheitsfragen unterschiedlich vorgebildete Bürger verständlich
sind. Diskussionsbedürftig bleibt hier, ob man den als Tweet auf ihrem Twitter-Account oder ausführlicher in einem Beitrag für »Zeit
Online« im Januar 2015 verbreiteten Hilferuf der Kölner Gymnasiastin Naina (»Ich bin fast 18 und hab’ keine Ahnung von Steuern, Miete
oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtanalyse schreiben. In
vier Sprachen.«) um das Thema »Gesundheit« ergänzen und der
Schule noch ein Unterrichtspäckchen aufbürden sollte. Dass es an
fundierten Informationen zu diesem Thema mangelt, sodass Werbeversprechungen gefolgt wird, welche die Wirksamkeit gesundheitlicher ­Prävention konterkarieren, haben unsere Befragungsergebnisse
jedenfalls deutlich gezeigt.
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Literatur
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wisely.org/.
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