Ostdeutsche Psychotherapeutenkammer Ostdeutscher Psychotherapeutentag 21. – 22.03.2014 Fachvortrag Dr. Paul Nilges 21.03.2014 Material zum „Bei Ihnen bin ich eigentlich falsch, ich habe richtige Schmerzen“ Psychotherapie bei Patienten mit somatischen Beschwerden Dr. Paul Nilges DRK-Schmerz-Zentrum Auf der Steig 16 55131 Mainz 06131-9880 [email protected] 19.03.2014 Besonderheiten in der therapeutischen Beziehung bei Patienten mit chronischen Schmerzen Therapeutische Beziehung: Empfindungen und Einstellungen zwischen Patient und Behandler Interesse, Ermutigung, Verständnis, Hoffnung wecken Zuhören, Erfahrung wertschätzen Inhalte/zentrale Variablen Empathie Arbeitsbündnis Zusammenarbeit Achtung/Wertschätzung nach Norcross, 2010 Ungünstige Voraussetzung: Psychotherapeuten fühlen sich in medizinischen Fragen unsicher Patienten fühlen sich beim Psychotherapeuten falsch DRK Schmerz-Zentrum Mainz Therapeutische Beziehung als Voraussetzung für Veränderung – nicht exklusiv aber zentral Kontext bei Patienten mit chronischen Schmerzen: viele Vorbehandler viele Vordiagnosen viele Misserfolge oft negative Erfahrungen in Beziehungen zu Hausarzt, Facharzt, Krankenhaus-/Reha-Arzt Physiotherapeut (Psychotherapeut) DRK Schmerz-Zentrum Mainz Was ist Schmerz? Schmerz ist eine Erfahrung, die mit akutem oder drohendem Gewebsschaden verbunden ist Schmerz als Warnsignal hat eine klare Ursache Bei Akutschmerz meist Schädigung von Außen, meist mechanische oder thermische Auslöser Nozizeption – Schmerz: Ein entscheidender Unterschied DRK Schmerz-Zentrum Mainz 1 19.03.2014 Nozizeption Nozizeption ist die Aktivität spezialisierter Nervenfasern bei mechanischen, chemischen, thermischen und elektrischen Reizen biologisch für unser Überleben wichtige Schutzfunktion, typisch für akuten Schmerz Information über (drohende) Schädigung Gleichsetzung von Nozizeption und Schmerz ist der häufigste Ausgangspunkt für Missverständnisse DRK Schmerz-Zentrum Mainz Erklärungsversuche bei „unklaren“ Schmerzen: • In „vorwissenschaftlichen“ Zeiten: Strafe Gottes, Buße, Prüfung etc. • Simulation oder Übertreibung als bewusste oder bewusstseinsnahe Einflüsse • Die „Psyche“ als „eigentliche“ Ursache DRK Schmerz-Zentrum Mainz Therapeutische Beziehung als Voraussetzung für Veränderung – nicht exklusiv aber zentral Empathie Arbeitsbündnis Zusammenarbeit Achtung/Wertschätzung DRK Schmerz-Zentrum Mainz 2 19.03.2014 Empathie Fähigkeit und Bereitschaft , die Gedanken, Gefühle und Schwierigkeiten der Patienten aus ihrer Perspektive zu verstehen (Carl Rogers) Verständnis muss kommuniziert werden Nicht die Absicht des Therapeuten zählt sondern die Wahrnehmung der Patienten Wie werden wir im „organisch“ dominierten Kontext zunächst wahrgenommen? Und wie nehmen wir selbst Schmerzereignisse wahr? DRK Schmerz-Zentrum Mainz Besonderheiten von Schmerz oft konstant aversiv symptomatisch, dadurch besonderer und doppelter Druck in Form von - hohem Leidensdruck auf Patientenseite - hohem Erfolgsdruck auf Behandlerseite subjektiv = nicht beweisbar, nicht widerlegbar (Problem für Patient und Diagnostiker) Schädigung (Befund) Schmerz angemessen – unangemessen ??? DRK Schmerz-Zentrum Mainz Besonderheiten von Schmerz oft konstant aversiv symptomatisch, dadurch besonderer und doppelter Druck in Form von - hohem Leidensdruck auf Patientenseite - hohem Erfolgsdruck auf Behandlerseite subjektiv = nicht beweisbar, nicht widerlegbar (Problem für Patient und Diagnostiker) starke negative Affekte (im Unterschied zu „anderen“ Sinneswahrnehmungen) DRK Schmerz-Zentrum Mainz 3 19.03.2014 Nozizeption Nozizeption ist die Aktivität spezialisierter Nervenfasern bei mechanischen, chemischen, thermischen und elektrischen Reizen biologisch für unser Überleben wichtige Schutzfunktion, typisch für akuten Schmerz Information über (drohende) Schädigung Bereits akuter Schmerz ist mit starken negativen Gefühlen gekoppelt, denn wir sollen Vermeiden lernen DRK Schmerz-Zentrum Mainz Das Schmerz-Netzwerk Sprenger, Valet & Tölle, 2007 Was ist Schmerz? Schmerz ist eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit akutem oder drohendem Gewebsschaden verbunden ist oder in Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird DRK Schmerz-Zentrum Mainz 4 19.03.2014 IST DER SCHMERZ MEHR SO HÄMMERND WIE BEI AC/DC ODER EHER KLOPFEND WIE BEI RAMMSTEIN ODER SO ENTNERVEND WIE BEI XAVIER NAIDOO DRK Schmerz-Zentrum Mainz Arbeitsbeziehung Empathie Arbeitsbeziehung Behandlungsziele Behandlungsschritte Verbundenheit (Interessiert nachfragen, Beschwerden akzeptieren, Patienten ermuntern, zu berichten…) DRK Schmerz-Zentrum Mainz Zusammenarbeit Empathie Arbeitsbündnis Zusammenarbeit Beruhigende Informationen geben Psychosoziale Aspekte aufgreifen Erklärungsmodell erweitern DRK Schmerz-Zentrum Mainz 5 19.03.2014 Achtung/Wertschätzung Empathie Arbeitsbündnis Zusammenarbeit Achtung/Wertschätzung der Patienten DRK Schmerz-Zentrum Mainz … was ist außer der Therapiebeziehung noch wichtig? Behandlung komorbider Psychischer Störungen Aus-/Weiterbildung in einem Psychotherapeutischen Verfahren Spezielle Schmerzpsychotherapie: Erweiterung unserer Perspektive um • schmerzspezifische Kognitionen, • Emotionen und Verhalten, • Behandlungserfahrungen und - erwartungen der Patienten Spezielle Schmerzpsychotherapie bedeutet eine Erweiterung unseres Arbeitsfeldes, keine Einengung Kooperationswissen und Kooperation mit anderen Fachgebieten ist Voraussetzung für die Behandlung von Patienten mit (chronischen) Schmerzen DRK Schmerz-Zentrum Mainz Grundlagen „Schmerz“ Zentrale Themen und Fragen: • Sind Schmerzen pathologisch ? • • • • • • Über 80% Lebenszeitprävalenz starker Rückenschmerzen über 80% unspezifische Rückenschmerzen über 90% primäre Kopfschmerzen ca. 15% chronische Schmerzen nach Knieprothesen nach 1 Jahr ca. 6% chronische Schmerzen nach Hüftprothesen nach 1 Jahr 60-80% Phantomschmerz nach Amputationen DRK Schmerz-Zentrum Mainz 6 19.03.2014 Fragen: • • Sind Schmerzen pathologisch ? Machen Schmerzen unglücklich und suizidal? DRK Schmerz-Zentrum Mainz Antworten: • • Schmerzen sind „normal“ Trotz Schmerzen ist die Lebenszufriedenheit der meisten Menschen hoch DRK Schmerz-Zentrum Mainz 7 19.03.2014 Fragen: • • • Sind Schmerzen pathologisch ? Machen Schmerzen unglücklich und suizidal ? Wie zuverlässig und valide ist somatische Diagnostik ? DRK Schmerz-Zentrum Mainz Voraussetzungen für diagnostische Verfahren Reliabilität: Genauigkeit/Zuverlässigkeit des Befundes Übereinstimmung verschiedener Untersucher Übereinstimmung bei Wiederholungsuntersuchung DRK Schmerz-Zentrum Mainz Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule (Beurteilerübereinstimmung, 6 Monate: Kappa) 1 Beurteilerübereinstimmung akzeptabel 0.8 0.6 0.4 0.2 0 12 9 14 -0.2 (nach: Coste et al., 1991) DRK Schmerz-Zentrum Mainz 8 19.03.2014 Voraussetzungen für diagnostische Verfahren Reliabilität: Genauigkeit/Zuverlässigkeit des Befundes Übereinstimmung verschiedener Untersucher Übereinstimmung bei Wiederholungsuntersuchung Validität: Bedeutung des Befundes für das Befinden Befund sollte spezifisch sein Befund sollte mit der Merkmalsausprägung korrelieren DRK Schmerz-Zentrum Mainz Kernspintomographie der LWS bei schmerzfreien Personen 100 Vorfall Protrusion 82 80 80 65 60 60 % 40 39 35 25 36 29 21 20 0 20-29 30-39 40-49 50-59 Alter >59 Jensen et al, 1994; NEJM DRK Schmerz-Zentrum Mainz Typische Schwierigkeit bei der Diagnostik chronischer Schmerzen: Somatische Diagnostik zielt üblicherweise auf die Entdeckung von Pathologie (Schädigungen/Erkrankungen) Für die häufigsten Schmerzformen (Rücken, Kopf, Gesicht) sind pathologische Veränderungen die Ausnahme: Über 80% „unspezifische“ Rückenschmerzen Über 90% primäre Kopfschmerz DRK Schmerz-Zentrum Mainz 9 19.03.2014 Antworten: • • • Schmerzen sind „normal“ Trotz Schmerzen ist die Lebenszufriedenheit der meisten Menschen hoch Die Bedeutung somatischen Faktoren als Ursache chronischer Rückenschmerzen wird überschätzt DRK Schmerz-Zentrum Mainz Fragen: • • • • Sind Schmerzen pathologisch ? Machen Schmerzen unglücklich ? Wie zuverlässig und valide ist somatische Diagnostik ? Welche Nebenwirkungen hat somatische Diagnostik? DRK Schmerz-Zentrum Mainz DRK Schmerz-Zentrum Mainz 10 19.03.2014 Antworten: • • • • Schmerzen sind „normal“ Trotz Schmerzen ist die Lebenszufriedenheit der meisten Menschen hoch Die Bedeutung somatischen Faktoren für Intensität und Konsequenzen chronischer Schmerzen wird überschätzt Abnormes Verhalten der Diagnostiker führt zu abnormen Krankheitsverhalten der Patienten (Nachemson) DRK Schmerz-Zentrum Mainz Alternative: Leitlinien für Diagnostik und Therapie (bei Rückenschmerzen) Anamnese und klinische Untersuchung sind entscheidend bei fehlenden Warnhinweisen keine Bildgebung (keine Überdiagnostik) Anregung zu Aktivität (Orientierung an VT-Prinzipien) Frühzeitige Kooperation mit andern Fachrichtungen (Psychotherapie, Physiotherapie) Beruhigende Information (Edukation, entkatastrophisieren) DRK Schmerz-Zentrum Mainz Schmerz und Psyche "Wir sollten allmählich daran denken, dass Patienten nicht nur eine Wirbelsäule sondern auch einen Kopf haben; und wir sollten anfangen, unseren eigenen zu gebrauchen." Alf Nachemson, Orthopäde Schmerz ist keine Einbahnstraße und keine passive Wahrnehmung sondern eine „aktive Leistung“ unseres ZNS (30-40% der Fasern im Rückenmark dienen der absteigenden Hemmung). DRK Schmerz-Zentrum Mainz 11 19.03.2014 Risikofaktoren für Schmerz und Behinderung: Ausgeprägte Ängste vor Schmerz und Bewegung Ungünstige Verhaltensmuster exzessive Schonung und/oder Durchhaltestrategien Ungünstige Krankheitskonzepte, Heilungserwartungen (oft iatrogen: „Nie mehr Rückenschmerz“) Emotionale Beeinträchtigungen und sozialer Rückzug anhaltende hohe Stressbelastung, Arbeitsplatzunzufriedenheit (Langzeitstudien belegen ein 10-fach erhöhtes Risiko!) DRK Schmerz-Zentrum Mainz Was ist Schmerz? Schmerz nicht ganz einfach Schmerz ist eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit akutem oder drohendem Gewebsschaden verbunden ist oder in Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird „offizielle“ Schmerzdefinition der IASP (International Association for the Study of Pain), 1986 Nozizeption ist keine Voraussetzung für Schmerz DRK Schmerz-Zentrum Mainz Computer Offene Injektion BUPRENORPHINE Schmerzreduktion offen verdeckt TRAMADOL offen verdeckt Verdeckte Injektion KETOROLAC offen verdeckt METAMIZOL offen verdeckt 0 Pharmakologischer Effekt -1 Pharmakologischer Effekt -2 Psychologischer Effekt Pharmakologischer Effekt Pharmakologischer Effekt Psychologischer Effekt Psychologischer Effekt Psychologischer Effekt -3 Benedetti et al (1995) Lancet 346: 1231 Amanzio et al. (2001) Pain 90:205-15 Colloca et al (2004) Lancet Neurol. 3: 679-684 Dank an Fabricio Benedetti ! 12 19.03.2014 Der Effekt wertschätzender und abwertender Kommunikation während der Anamnese von Pflegekräften mit Rückenschmerzen Wertschätzend: „Das ist sicher sehr schwer für Sie“! „Da müssen Sie eine Menge ertragen“ „Ja, das kann sehr nerven“ Körpersprache: Blickkontakt, bestätigendes Nicken, Lächeln Abwertend: „Hmmm, das klingt aber eigenartig“ „Das haben aber wenige Patienten“ „Sind Sie sicher, dass das wirklich so weh tut“ Körpersprache: kein Blickkontakt, ständig auf die Unterlagen schauen, distanziert DRK Schmerz-Zentrum Mainz Der Effekt wertschätzender und abwertender Kommunikation während der Anamnese von Pflegekräften mit Rückenschmerzen Wertschätzende Kommunikation Abwertende Kommunikation Traurigkeit Ð Ärger Ð - Frustration ÐÐÐ - Schmerz ÐÐÐ Ô - Patienten ernst zu nehmen ist ein entscheidender Teil der Therapie. DRK Schmerz-Zentrum Mainz Probleme der Integration von Schmerz in die Versorgung Bei Patienten mit chronischen Schmerzen sind Merkmale diverser Störungen subklinisch vorhanden (z.B. traurige Verstimmung, Furcht, Reizbarkeit, Schlafstörungen, dysfunktionale kognitive und/oder Verhaltensmuster) keine F-Störung und damit „eigentlich“ keine Indikation für Therapie F45.4 (somatoforme Störung) für einen Teil der Ptatienten zutreffend aber problematisch, ignoriert mögliche somatische Faktoren und Erkrankungen Seit 2009 durch Initiative der Deutschen Schmerzgesellschaften neu in der ICD 10GM: F45.41 DRK Schmerz-Zentrum Mainz 13 19.03.2014 Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren - ICD 10 GM 2009, Definition F45.41 Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen seit mindestens 6 Monaten bestehende Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben. Psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn. Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. DRK Schmerz-Zentrum Mainz Rückenschmerzpatienten der Tagesklinik DRK Schmerz-Zentrum Mainz Veränderung in der Chronifizierung IV III II I nach 12 Monaten Vor Aufnahme 108 14 69 52 42 11 20 115 29 I = gering, IV = hoch, 29 Patienten völlig schmerzfrei DRK Schmerz-Zentrum Mainz B.Nagel & J.Korb, 2009 Biopsychosoziales Schmerzkonzept Schmerz ist (unabhängig von der Lokalisation) keine einfache Wahrnehmung sondern eine • komplexe Erfahrung, die durch eine Fülle • psychosozialer Faktoren wie • Emotionen • sozialer und ökologischer Kontext • soziokultureller Hintergrund • Bedeutung der Schmerzen für die Person • Vermutungen, Überzeugungen und Erwartungen • sowie biologische Faktoren mehrfach determiniert wird. DRK Schmerz-Zentrum Mainz 14