"Auf der Suche nach einer besseren Welt" (1) Soziologische ‚Modernisierungstheorien' im Lichte dreier Jahrhunderte Von Sabine A. Haring Vorbemerkung In der Soziologie ist der Begriff ‚Modernisierung' wie die Termini ‚Moderne', ‚Säkularisierung' oder in letzter Zeit auch ‚Globalisierung' einer der wichtigsten Schlüsselbegriffe der Disziplin, welcher in der Regel langfristige historischpolitische und sozio-ökonomische Transformationen beschreibt. Doch wurde die Modernisierungskategorie als Wortschöpfung der 50er Jahre von Beginn an nicht wertneutral, sondern mit ganz bestimmten Bedeutungsinhalten und impliziten – nicht selten politischen – Wertungen verwendet. Demgemäß diente der Begriff ‚Modernisierung' in wissenschaftlichen Analysen nicht nur der Beschreibung soziologisch relevanter Sachverhalte, sondern gleichsam der Bewertung derselben sowie der eindeutigen Zuordnung in traditionelle und moderne Gesellschaften. Letztgenannte wurden dabei zumeist als "fortschrittlichere", "zivilisiertere", ja "bessere" Lebensformen verstanden. Die Geschichte der Menschheit als lineares Fortschrittsmodell zu denken, begleitete soziologische Analysen der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, lange bevor diese Konzepte unter ‚Modernisierung' subsumiert wurden oder man von soziologischen Modernisierungstheorien sprach. So finden wir elementare Aspekte dieses Denkens bereits in den Werken von Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts, insbesondere in den Schriften von Turgot, Condorcet, Saint-Simon und Comte. Im Folgenden soll nun jener normative Gehalt soziologischer ‚Modernisierungskonzepte' hervorgehoben und "die Suche nach einer besseren Welt" seit dem 18. Jahrhundert anhand exemplarischer Vertreter der Disziplin nachgezeichnet werden. Die Fortschrittsoptimisten Seit der "Sattelzeit" wurde die Geschichte der Menschheit nicht länger in den kosmischen Kreislauf eingebunden oder theologisch im heilsgeschichtlichen Kontext von Schöpfung, Inkarnation und Wiederkunft Christi verankert, sondern als immanentes weltgeschichtliches Entwicklungsgeschehen, das zumeist als Geschichte kontinuierlichen Fortschritts gedeutet wurde, gedacht. (2) Als ein exemplarischer Vertreter dieses Denkens – auch wenn er sich in seiner Stellung zur christlichen Religion von anderen Fortschrittsoptimisten unterschied – verstand Anne Robert Jacques Turgot, (3) der insbesondere durch seine ökonomischen Studien sowie seine praktische Verwaltungstätigkeit, zuletzt als Finanzminister Ludwig XVI., bekannt wurde, den Fortschritt als durchgängiges Prinzip des gesamten Geschichtsverlaufs. Dabei sollte "alles, was Menschen hervorgebracht haben, von der Technik bis zur Wissenschaft, Kunst und Philosophie, von den sozialen Verhältnissen bis zu den staatlichen Institutionen [...] unter dem Titel Fortschritte des menschlichen Geistes zusammengefaßt werden" (4). Durchaus im Bewusstsein der Ungleichzeitigkeit der einzelnen Fortschritte postulierte Turgot, (5) angeregt durch die Studien von Fontenelle, Voltaire, Maupertuis und Montesquieu, eine "Gesamttheorie der sozialen Entwicklung": nämlich ein Konzept eines kontinuierlichen und epochenübergreifenden Fortschritts, welcher sich in immer gleichen Stadien vollziehe. Künste und Wissenschaften werden der Reihe nach entdeckt und vervollkommnen sich; abwechselnd in ihren Fortschritten gehemmt und beschleunigt, gehen sie von einem Himmelsstrich zum nächsten über. Eigennutz, Ehrgeiz und eitle Ruhmsucht ändern ständig das Bild der Welt und überschwemmen die Erde mit Blut. Inmitten ihrer Verwüstungen mildern sich die Sitten, der menschliche Geist wird aufgeklärter, und die isolierten Nationen nähern sich einander an. Schließlich verbinden Handel und Politik alle Erdteile wieder miteinander, und die Gesamtheit der menschlichen Gattung bewegt sich im Wechsel von Ruhe und Bewegung, von Gutem und Bösem, zwar langsam, aber stetig auf eine größere Vollkommenheit zu. (6) Im Politischen bedeute dies die Aufeinanderfolge von traditionellen Regierungsformen – Despotie, Monarchie, Aristokratie und schließlich Demokratie –, im Ökonomischen von der Wirtschaft der Jäger und Sammler bis zur Industriegesellschaft mit ihrer ausdifferenzierten Form der Arbeitsteilung. Im Bereich der Geschichte des Wissens wiederum zeige sich, so Turgot, eine Sukzession von Mythos-Philosophie-Wissenschaft; hier wurde bereits ansatzweise das Stufenschema des späteren Positivismus – das Dreistadiengesetz von Auguste Comte – angedeutet. Schließlich entspräche dem politischen, ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Wandel die Perfektionierung der menschlichen Verhaltensweisen und der Moral. Dabei diente Turgot die Historiographie nicht nur zur Beschreibung historischer Ereignisse und Prozesse und zu deren Einordnung in sein geschichtsphilosophisches Konzept, sondern zugleich als Richtschnur des politischen Handelns, als Norm und Orientierungshilfe: (7) In diesem Sinne erhält die Fortschrittstheorie selbst eine praktische Funktion: Indem sie die Möglichkeit oder gar die Wahrscheinlichkeit künftiger Fortschritte zu prognostizieren erlaubt, soll sie dazu beitragen, daß die Zeitgenossen und vor allem die gegenwärtige staatliche Leitung vom Fortschritt überzeugt sind und in dieser Weise auf die Geschichte praktisch einwirken. (8) Die politisch-moralphilosophische Intention Turgots wurde letztendlich geschichtsphilosophisch bestätigt und legitimiert, wobei, da die Harmonie der Interessen in der Gegenwart nicht gelingen konnte, er eine ‚bessere' Gesellschaft schließlich in der Zukunft verortete. (9) Doch bleibt bei aller vergleichenden Historie Europa der Maßstab: Die europäische Zivilisation wurde entweder als das anzustrebende Ziel oder zumindest als das unumgängliche Durchgangsstadium aller Geschichte betrachtet, (10) auch wenn bei Turgot Fortschrittsidee und Toleranzangebot durchaus miteinander einhergehen. Denn jeder Erkenntnisfortschritt könne schon durch den nächsten in Frage gestellt werden. (11) So symbolisiere die christliche Religion, welche für Turgot die Fortschritte nicht hemme, sondern diese begünstige, auch die ‚vollkommene Religion'. (12) Das Subjekt der Fortschrittsidee blieb hierbei "die gesamte Menschheit, die von dem europäischen Zentrum aus geeint und friedlich einer besseren Zukunft entgegengeführt werden sollte" (13). Während bei Turgot der christlichen Religion noch eine nicht unwesentliche Funktion bei der Entwicklung der Fortschritte zukam, betonte Condorcet, dessen Fortschrittstheorie "die Auffassung der Aufklärung geradezu in Reinform" symbolisiert, die Bedeutung des wissenschaftlichen Fortschritts als der Instanz der Aufklärung. Denn der Fortschritt des Wissens per se werde letztendlich auch die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse verbessern, ja diese vervollkommnen. (14) Dabei sei, wie Condorcet in seinem Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes formulierte, die Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung unabsehbar, wenn auch die Fortschritte schneller oder langsamer erfolgen könnten: "[...] doch niemals werden es Rückschritte sein, wenigstens solange die Erde ihren Platz im System des Universums behält." (15) Die vorangehenden Ausführungen zu den Fortschrittsoptimisten machen wohl zweierlei deutlich: zum einen, dass sich bereits jene Intellektuellen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in ihren geschichtsphilosophischen Entwürfen mit Aspekten des ‚Modernisierungsprozesses' beschäftigten, und zum anderen, dass ihre Analysen in einer Zeit, die von den Zeitgenossen als tiefgreifende Krise beschrieben wurde, wohl auch als "Suche nach einer besseren Welt" interpretiert werden können. Gemeinsam war dabei den Reformern von Turgot über Condorcet bis zu Comte die Überzeugung, dass der technisch-ökonomische Fortschritt letztendlich allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen werde; (16) ja dass der ‚Modernisierungsprozess' als Teil eines linearen, teleologischen Geschichtsmodells zu einem umfassenden Vervollkommnungsprozess führen werde. Soziologische Modernisierungsmodelle um 1900 Die Klassiker der Soziologie wie Ferdinand Tönnies, Max Weber und Émile Durkheim setzten mit ihren Analysen der modernen Welt die im Vorangehenden beschriebene Tradition fort, auch wenn der ursprünglich damit einhergehende Fortschrittsoptimismus weitgehend verloren ging. So weisen jene Modelle – nämlich die von Tönnies beschriebene Transformation von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, das von Weber entwickelte Rationalisierungsmodell oder der von Durkheim nachgezeichnete Wandel von der mechanischen zur organischen Solidarität – im Unterschied zu den Studien der Fortschrittsoptimisten auf die dem Modernisierungsprozess inhärenten negativen Folgen, insbesondere auf jene für das Individuum, hin. Die Thematisierung von Entwurzelung, Orientierungslosigkeit und Anomie in den Werken der oben genannten Autoren, aber auch von anderen wie beispielsweise von Georg Simmel, deutete bereits um 1900 die Kehrseite der ‚Erfolgsgeschichte' von Modernisierung an. (17) Diese für die Autoren um 1900 wohl charakteristische ‚Ambivalenz' in Bezug auf den Modernisierungsprozess soll im Folgenden an der Person Max Webers in exemplarischer Weise gezeigt werden. (18) Weber fasste jene politischen, rechtlichen und sozio-ökonomischen Wandlungsprozesse, die man heute in der Soziologie zumeist mit der Modernisierungskategorie beschreibt, unter dem Begriff "Rationalisierung" zusammen. Dabei meinte er einen "spezifisch gearteten ‚Rationalismus' der okzidentalen Kultur" (19), welcher sich in den Bereichen des Rechts, der Verwaltung, der Wissenschaft und in der Kunst manifestiere, beobachten zu können. (20) Zentrale Bedeutung für die Entwicklung der westlichen Gesellschaft komme in diesem Kontext der Rationalisierung der Ökonomie zu, nämlich der Entstehung ihrer spezifischen Wirtschaftsform, des modernen Kapitalismus, (21) dessen Genese und besondere Ausprägung Weber in fast all seinen Werken zu begründen versuchte; und zwar, indem er die Ursachen für ökonomische ‚Modernisierung' zunächst nicht in der Basis, sondern im Überbau, in spezifisch religiösen Wert- und Norm-vorstellungen, suchte, (22) auch wenn "die ‚protestantische Ethik' trotz all ihrer kausalen Bedeutung [...] für Weber nur ein Element eines komplexen Erklärungsschemas des modernen Kapitalismus" (23) bildete. Webers Beurteilung der okzidentalen Rationalisierung jedoch blieb durchaus ambivalent. Denn da die Religion die ,Modernisierung' der westlichen Welt mitermöglicht hatte, habe sie letztendlich ihre eigene Auflösung und in letzter Konsequenz die Entzauberung der Welt bewirkt: nämlich die zunehmende Bürokratisierung und Versachlichung der Beziehungen zwischen den Menschen. (24) Zwar werde in der Moderne der bürokratische Anstaltsstaat mit seinem Höchstmaß an Berechenbarkeit einerseits zu dem Hort formeller Rationalität, doch andererseits berge er gleichzeitig die Gefahr in sich, "ein technisch perfektes stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit einzurichten". Daher dürfe der Staat auch in der ‚modernisierten' Welt nicht darauf verzichten, die "Beherrschten wenigstens utilitaristisch zu beglücken". (25) Denn die Auflösung traditioneller Strukturen hätte zum einen mehr Freiheit, zum anderen jedoch auch Orientierungsverluste mit sich gebracht. Hier finden wir bei Weber bereits neben seiner Uniformierungsthese, an die später u. a. die Kritische Theorie anknüpfen sollte, (26) gleichsam jene ambivalente Beurteilung moderner Freiheit, die in der Soziologie bis zum heutigen Tage – man denke nur an die Kontroverse zwischen Liberalen und Kommunitariern – Thema zeitdiagnostischer Analysen ist. Denn in der Moderne sei der moralisch urteilende und handelnde Mensch nun gezwungen, sein moralisches Schicksal selbst zu wählen – dies könne er schließlich als Befreiung oder als Belastung empfinden. Den Fortschrittsoptimismus eines Turgot, Condorcet oder Comte vermag Weber im Bewusstsein der Modernisierungsverluste nicht zu teilen. Und die normative Beschreibung von ‚Modernisierung' als weltumspannender Entwicklung hin zu einer ‚besseren' Welt widerspricht zum einen Webers Analyse des Rationalisierungsprozesses, da er – unter Sichtbarmachen der für das Individuum negativen Konsequenzen – diesen ausschließlich in der westlichen Welt verortete und daraus eben nicht ein universell gültiges Gesetz der menschlichen Geschichte abzuleiten gedachte. (27) Zum anderen steht die Darstellung historischer Verläufe mit dem Zwecke, die Zukunft zu planen und nach ganz bestimmten Wert- und Normvorstellungen zu gestalten, diametral entgegengesetzt zu Webers Wissenschaftsauffassung, die er u. a. in den Aufsätzen Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis und Der Sinn der "Wertfreiheit" der Sozialwissenschaften verdeutlichte. (28) Modernisierungstheorien nach dem Zweiten Weltkrieg "Eine zweite einflußreiche Konjunktur von Modernisierungstheorien" begann mit den strukturfunktionalistischen Arbeiten von Talcott Parsons, die zunächst großen Einfluss auf die US-amerikanischen Sozialwissenschaften und später in abgeschwächter Form auch auf den europäischen Modernisierungsdiskurs hatten. (29) Ausgehend von einem evolutionären Modell, welches die soziale Evolution als Erweiterung der biologischen begreift und einen Prozess der zunehmenden Differenzierung sozialer Institutionen beschreibt, stellte Parsons moderne Industriegesellschaften – ganz in der Tradition des klassischen Evolutionsgedankens – an die Spitze der Entwicklung. Dabei verlangen, so Parsons, evolutionäre "Sprünge" Durchbrüche in vier Dimensionen: die Steigerung adaptiver Kapazitäten, die strukturelle Differenzierung, die Inklusion sozialer Gruppen und die Generalisierung von Werten. Eine besondere Stellung nehmen in seinen Analysen "evolutionäre Universalien" ein, zu denen er Sprache, Religion, Verwandtschaft und Technologien zählte, da diese derart grundlegende Aspekte jeder menschlichen Gesellschaft beträfen, so dass kein Prozess der sozialen Evolution ohne sie stattfinden könne. (30) In modernen Gesellschaften, welche durch die Herausbildung von bürokratischer Organisation, Märkten und Geld, durch universalistische Normen und demokratische Assoziation gekennzeichnet seien, bilde sich eine Bürgergemeinschaft als Trägerin des "institutionalisierten Individualismus", die in höchstem Maße inklusiv, strukturell differenziert, durch generelle Werte verbunden sowie durch eine hohe Anpassungsfähigkeit charakterisiert sei und letztendlich den Traditionalismus und die begrenzte Integrationskraft der Ständegesellschaft überwinde. (31) Diesem Verständnis von Modernisierung als einem Prozess, der in einem ganz bestimmten Rahmen, durch ganz bestimmte Stadien, verlaufe, lag die Annahme zugrunde, dass die soziale Wirklichkeit aus Phänomenen bestehe, die in eine bestimmte Rangfolge geordnet werden könnten, und dass sich demgemäß "niedrigere" Formen im Zuge dieses Prozesses zu "höheren" entwickelten.(32) Als Maßstab der menschlichen Entwicklung fungierte dabei nicht länger Europa, sondern zunehmend die Vereinigten Staaten, die nun zum Inbegriff der modernen Welt avancierten. Der Dichotomie von Tradition und Moderne verpflichtet, waren bestimmte Vertreter der Soziologie wie beispielsweise Daniel Lerner in den 50er und 60er Jahren davon überzeugt, dass sich Modernisierung nach amerikanischem Vorbild gleichsam als soziale ‚Gesetzmäßigkeit' auch auf die Länder der Dritten Welt übertragen lasse. Als ‚bessere' Gesellschaft wurde eindeutig die westliche, insbesondere die US-amerikanische verstanden, die es weltweit mit ‚missionarischem Eifer' durchzusetzen galt. Man sprach nicht von einer Form von Modernisierung unter vielen, sondern ausschließlich von der Modernisierung nach westlichem Vorbild, welche in den sozialwissenschaftlichen Diskussionen über sozialen Wandel als normative Grundlage diente. (33) Neben dem von zahlreichen Autoren – wie beispielsweise Adorno, Homans, Kluckhohn, Giddens sowie Dahrendorf – kritisierten Modell von Parsons zählen u. a. die historischsoziologischen Arbeiten von Reinhard Bendix und Barrington Moores Konzeption dreier möglicher politischer Wege in die Moderne zu bedeutenden Modernisierungskonzepten der Soziologie, die sich nun von einem universell gültigen Gesetz von Modernisierung distanzierten und demgemäß von mehreren Wegen in die Moderne ausgingen. Während man sich in den 70er Jahren in der soziologischen Theorie zunehmend, wohl durch den Einfluss kritischer, antitechnokratischer und antipositivistischer Strömungen und durch eine fachliche Differenzierung sowie durch eine Hinwendung zu empirischen Arbeiten mitbedingt, von makrosoziologischen Konzepten sozialen Wandels abgewendet hatte, gewann in den 80er und 90er Jahren die Frage nach langfristigen gesellschaftlichen Transformationen von Neuem an Bedeutung. In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Niklas Luhmann, Richard Münch, Jürgen Habermas und die im Anschluss kurz diskutierte von Ulrich Beck zu nennen, wobei diese Analysen zur Modernisierung vor allem im Hinblick auf die Bewertung der Errungenschaften und Konsequenzen dieses Prozesses einerseits und dessen Kontinuität bzw. Diskontinuität andererseits divergieren. (34) Modernisierungstheorie heute Viele Topoi klassischer Analysen der Moderne begleiten auch an der Wende ins 21. Jahrhundert die soziologische Gegenwartsdiagnostik. Man denke hier nur an Webers Uniformierungs- und Individualisierungsthese, die in mannigfaltigem Gewand u. a. bei Ulrich Beck wieder in Erscheinung tritt oder an Gehlens sowie Adornos Analysen intermediärer Instanzen, der Institutionen. Von einer universell gültigen Modernisierungskonzeption wie jener der Fortschrittsoptimisten oder jener von Parsons scheint man sich jedoch in den Wissenschaften deutlich entfernt zu haben. Man spricht von unterschiedlichen Typen der Modernisierung und auch nicht mehr von der Moderne, sondern im Plural von den Modernen. Doch wurde damit zugleich der normative Impetus zu Grabe getragen, wie man uns das zuweilen suggerieren möchte? Eine kurze Analyse von Ulrich Becks Konzept "reflexiver Modernisierung" soll diese Annahme zumindest in Frage stellen. Ulrich Becks Modell einer "reflexiven Modernisierung", welches sich, so Beck, von den "dominanten Theorien einfacher, klassischer, industriegesellschaftlicher Modernisierung", von jenen der Postmoderne, die sich von den "Prinzipien der Moderne" verabschiedet hätten, und von gegenmodernen Konzeptionen abgrenzen möchte, versteht gegenwärtige Transformationsprozesse als "Auflösung" und zugleich "Ablösung" industrieller Gesellschaftsformen durch andere Modernen. Denn Traditionen und Sicherheiten der Industriegesellschaft unterlägen selbst dem gesellschaftlichen Wandel, den Beck jedoch nicht durch Zweckrationalität, sondern durch nicht intendierte Nebenfolgen der "ersten Moderne" – durch Risiken, Gefahren, Individualisierung und Globalisierung – zu erklären versucht. (35) Dabei stellt er der "ersten Moderne" die Konzeption der "zweiten Moderne", die sich im Zuge "reflexiver Modernisierung" konstituiere, gegenüber: "Reflexive Modernisierung" meint, so Beck, die Selbsttransformation der Industriegesellschaft (was nicht identisch ist mit der Selbstreflexion dieser Selbsttransformation); also Auf- und Ablösung der ersten durch eine zweite Moderne, deren Konturen und Prinzipien es zu entdecken und zu gestalten gilt. Das heißt: Die großen Strukturen und Semantiken nationalstaatlicher Industriegesellschaften werden (z. B. durch Individualisierungs- und Globalisierungsprozesse) transformiert, verschoben, umgearbeitet, und zwar in einem radikalen Sinne; keineswegs – wie das Allerweltswort ‚reflexive' Modernisierung nahelegt – unbedingt bewußt und gewollt, sondern eher unreflektiert, ungewollt, eben mit der Kraft verdeckter (verdeckt gehaltener) ‚Nebenfolgen'. (36) Dabei könnten die Konsequenzen dieses Prozesses, nämlich Unsicherheit, Politisierung und das Ringen um (neue) Grenzen, zu neuen Leitprinzipien einer zweiten Moderne werden. Die bereits in den frühen soziologischen Theorien zur ‚Modernisierung' angesprochenen negativen Aspekte neuzeitlicher Transformationsprozesse werden nun bei Beck dahingehend ergänzt, dass nicht nur deren Konsequenzen für das Individuum wie zum Beispiel Gemeinschaftsverlust, Entfremdung und Desintegration deutlich gemacht werden, sondern auch die Folgen der Modernisierung für die Basisinstitutionen selbst Berücksichtigung finden; auch wenn Autoren wie zum Beispiel Arnold Gehlen (37) bereits in den 50er und 60er Jahren auf den Abbau von Institutionen und auf die daraus resultierenden Folgen für den einzelnen hingewiesen haben. Während Beck in der Risikogesellschaft von 1986 den zeitgenössischen politischen und sozioökonomischen Wandel als einen für das Individuum sowohl belastenden als auch befreienden Prozess begriff, wobei die Kritik an der modernen Welt ein starkes Gewicht einnahm, (38) scheint diese ambivalente Haltung, wie aus seiner regen Publikationstätigkeit der 90er Jahre ersichtlich wird, zunehmend in Zukunftsoptimismus umzuschlagen: "Er [Beck; Anm. d. Verf.] versucht sich – anders als noch in der Risikogesellschaft – mehr und mehr nicht nur in der Rolle des messerscharfen Diagnostikers, sondern auch in der des Prognostikers, ja Propheten, was eindeutig zu Lasten der analytischen Dimension seiner Texte geht." (39) In ähnlicher Art und Weise analysiert Johannes Weiß in der Soziologischen Revue das Becksche Schaffen der 90er Jahre, wenn er darauf hinweist, dass sich Beck nicht nur darum bemühe, die umfassenden Transformationen seit den 60er Jahren zu beschreiben, sondern in weiterer Folge auch darum, Handlungsanweisungen dafür zu geben, wie man mit der zweiten Moderne richtig umzugehen habe. (40) Mag man sich auch um 2000 von einer Theorie der Modernisierung, die universelle Gültigkeit beansprucht, verabschiedet haben, so zeigen die kurzen Ausführungen zu Ulrich Beck doch eines: Auch Becks Konzept "reflexiver Modernisierung" nimmt zunehmend – im Übrigen ganz in der Tradition der von ihm scharf kritisierten einfachen Modernisierungstheorien Marxscher oder auch Parsonscher Prägung – den Charakter einer politischen und sozialen Programmatik an, nämlich in dem Sinne, wie man – in der vorrangig auf die westliche Welt bezogenen "Zweiten Moderne" – auf die im Zuge "reflexiver Modernisierung" veränderten politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen ‚adäquat' reagieren sowie das damit einhergehende Mehr an Freiheit zur Gestaltung eines ‚besseren' Lebens nutzen könnte und letztendlich wohl auch, wie man es nutzen sollte. (1) Dieser Titel wurde in Anlehnung an Karl Poppers gleichnamiges Buch gewählt. Siehe: Karl R. POPPER, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, 7. Auflage, München 1994. (2) Vgl. Gottfried KÜENZLEN, Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994, 70 f. (3) Vgl. dazu Reinhart KOSELLECK, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg-München 1959, 116. (4) Johannes ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, in: Anne Robert Jacques TURGOT, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von Johannes ROHBECK, Lieselotte STEINBRÜGGE, Frankfurt/Main 1990, 11. (5) Vgl. zur Ungleichzeitigkeit von Geschichte Anne Robert Jacques TURGOT, Vortrag über die Vorteile, die die Entstehung des Christentums der Menschheit verschafft hat, in: TURGOT, Fortschritte, 142. (6) Anne Robert Jacques TURGOT, Philosophische Darstellung der allmählichen Fortschritte des menschlichen Geistes, in: TURGOT, Fortschritte, 140 f. (7) Vgl. ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 7-87, Zitat 18. (8) ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 85. (9) Vgl. ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 78. – Zum Verhältnis von Politik und Moral bei Turgot vgl. auch KOSELLECK, Kritik und Krise, 115-132. (10) Vgl. dazu Anne Robert Jacques TURGOT, Grundriß für zwei Abhandlungen über die Universalgeschichte, in: TURGOT, Fortschritte, 177. (11) Vgl. ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 13, 87. (12) Vgl. zur Beziehung zwischen Religion und Fortschritt bei Turgot insbesondere TURGOT, Vortrag, 128. (13) KOSELLECK, Kritik und Krise, 2. (14) Vgl. Evelyn GRÖBL-STEINBACH, Fortschrittsidee und rationale Weltgestaltung. Die kulturellen Voraussetzungen des Politischen in der Moderne, Frankfurt/Main-New York 1994, 228-232. (15) Vgl. CONDORCET, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von Wilhelm ALFF, Frankfurt/Main 1963, Zitat 29. (16) Vgl. ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 66 f. (17) Vgl. dazu u. a. Hans VAN DER LOO, Willem VAN REIJEN, Modernisierung. Projekt und Paradox, ²München 1997 (1992), 15-17. – Dieter RUCHT, Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich (Theorie und Gesellschaft 32), Frankfurt/Main-New York 1994, 33. (18) Vgl. hierzu Sabine A. HARING, "Modernisierungstheorien" in der Soziologie gestern und heute: Max Weber und Ulrich Beck im Vergleich, in: Sabine A. HARING, Katharina SCHERKE (Hg.), Analyse und Kritik der Modernisierung um 1900 und um 2000 (Studien zur Moderne 12), Wien 2000, 283-322. (19) Max WEBER, Vorbemerkung zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, in: Max WEBER, Soziologie – Universalgeschichtliche Analysen – Politik, hg. von Johannes WINCKELMANN, 6. Auflage, Stuttgart 1992, 351. (20) Vgl. WEBER, Vorbemerkung, 340-343. (21) Siehe WEBER, Vorbemerkung, 349. (22) Vgl. insbesondere Max WEBER, Die Protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes WINCKELMANN, Gütersloh 8. Auflage, 1991. – Max WEBER, Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: WEBER, Soziologie, 398-440. (23) Sandro SEGRE, Max Webers Theorie der kapitalistischen Entwicklung, in: Johannes WEISS (Hg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung. Frankfurt/Main 1989, 457. (24) Vgl. zur "Entzauberungs-Konzeption" auch die Ausführungen von Johannes Winckelmann in: Johannes WINCKELMANN, Die Herkunft von Max Webers "Entzauberungs"-Konzeption. Zugleich ein Beitrag zu der Frage, wie gut wir das Werk Max Webers kennen können, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32/1 (1980), 18. (25) Vgl. zu diesen Ausführungen Webers Wolfgang SCHLUCHTER, Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt/Main 1998, 239. (26) Vgl. zu den zeitdiagnostischen Analysen Adornos u. a. RUCHT, Modernisierung, 33 sowie insbesondere Christian THIES, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Reinbek bei Hamburg 1997. (27) Siehe insbesondere Max WEBER, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes WINCKELMANN, ³Tübingen 1968, 178. (28) Vgl. WEBER, Objektivität, 186-262. – Max WEBER, Der Sinn der "Wertfreiheit" der Sozialwissenschaften, in: WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 263-310. (29) Vgl. RUCHT, Modernisierung, 34. (30) Vgl. Talcott PARSONS, Evolutionäre Universalien der Gesellschaft, in: Wolfgang ZAPF (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, 4Königstein/Ts. 1979, 55-74. (31) Vgl. zu Parsons Ausführungen zur systematischen Analyse sozialer Systeme Talcott PARSONS, Das Problem des Strukturwandels: eine theoretische Skizze, in: ZAPF (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, 35-54. (32) Siehe VAN DER LOO, VAN REIJEN, Modernisierung, 19 f. (33) Vgl. zum Verhältnis zwischen politischen Verhältnissen und soziologischen Modernisierungsmodellen Sabine A. HARING, Katharina SCHERKE, Einleitung, in: HARING, SCHERKE (Hg.), Analyse und Kritik, 22-24. (34) Vgl. RUCHT, Modernisierung, 34, 38-41. – VAN DER LOO, VAN REIJEN, Modernisierung, 21. (35) Siehe Ulrich BECK, Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne, in: Ulrich BECK, Anthony GIDDENS, Scott LASH, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt/Main 1996, insbesondere 23 f, 38-40. (36) Vgl. BECK, Zeitalter, 22 f, 39 f. (37) Vgl. zu Gehlens Analyse der Institutionen u. a. THIES, Die Krise des Individuums, 135139. (38) Vgl. Ulrich BECK, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main 1986. (39) Markus SCHROER, Ulrich BECK, Elisabeth BECK-GERNSHEIM (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften (Rezension), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47/3 (1995), 563. (40) Vgl. Johannes WEISS, Die Zweite Moderne – eine neue Suhrkamp-Edition, in: Soziologische Revue 21 (1998), 417. zurück zur Startseite