"Auf der Suche nach einer besseren Welt" (1)

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"Auf der Suche nach einer besseren Welt" (1)
Soziologische ‚Modernisierungstheorien' im Lichte dreier Jahrhunderte
Von Sabine A. Haring
Vorbemerkung
In der Soziologie ist der Begriff ‚Modernisierung' wie die Termini ‚Moderne',
‚Säkularisierung' oder in letzter Zeit auch ‚Globalisierung' einer der wichtigsten
Schlüsselbegriffe der Disziplin, welcher in der Regel langfristige historischpolitische und
sozio-ökonomische Transformationen beschreibt. Doch wurde die Modernisierungskategorie
als Wortschöpfung der 50er Jahre von Beginn an nicht wertneutral, sondern mit ganz
bestimmten Bedeutungsinhalten und impliziten – nicht selten politischen – Wertungen
verwendet. Demgemäß diente der Begriff ‚Modernisierung' in wissenschaftlichen Analysen
nicht nur der Beschreibung soziologisch relevanter Sachverhalte, sondern gleichsam der
Bewertung derselben sowie der eindeutigen Zuordnung in traditionelle und moderne
Gesellschaften. Letztgenannte wurden dabei zumeist als "fortschrittlichere", "zivilisiertere", ja
"bessere" Lebensformen verstanden.
Die Geschichte der Menschheit als lineares Fortschrittsmodell zu denken, begleitete
soziologische Analysen der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, lange bevor diese
Konzepte unter ‚Modernisierung' subsumiert wurden oder man von soziologischen
Modernisierungstheorien sprach. So finden wir elementare Aspekte dieses Denkens bereits in
den Werken von Intellektuellen des 18. und 19. Jahrhunderts, insbesondere in den Schriften
von Turgot, Condorcet, Saint-Simon und Comte. Im Folgenden soll nun jener normative
Gehalt soziologischer ‚Modernisierungskonzepte' hervorgehoben und "die Suche nach einer
besseren Welt" seit dem 18. Jahrhundert anhand exemplarischer Vertreter der Disziplin
nachgezeichnet werden.
Die Fortschrittsoptimisten
Seit der "Sattelzeit" wurde die Geschichte der Menschheit nicht länger in den kosmischen
Kreislauf eingebunden oder theologisch im heilsgeschichtlichen Kontext von Schöpfung,
Inkarnation und Wiederkunft Christi verankert, sondern als immanentes weltgeschichtliches
Entwicklungsgeschehen, das zumeist als Geschichte kontinuierlichen Fortschritts gedeutet
wurde, gedacht. (2)
Als ein exemplarischer Vertreter dieses Denkens – auch wenn er sich in seiner Stellung zur
christlichen Religion von anderen Fortschrittsoptimisten unterschied – verstand Anne Robert
Jacques Turgot, (3) der insbesondere durch seine ökonomischen Studien sowie seine
praktische Verwaltungstätigkeit, zuletzt als Finanzminister Ludwig XVI., bekannt wurde, den
Fortschritt als durchgängiges Prinzip des gesamten Geschichtsverlaufs. Dabei sollte "alles,
was Menschen hervorgebracht haben, von der Technik bis zur Wissenschaft, Kunst und
Philosophie, von den sozialen Verhältnissen bis zu den staatlichen Institutionen [...] unter dem
Titel Fortschritte des menschlichen Geistes zusammengefaßt werden" (4). Durchaus im
Bewusstsein der Ungleichzeitigkeit der einzelnen Fortschritte postulierte Turgot, (5) angeregt
durch die Studien von Fontenelle, Voltaire, Maupertuis und Montesquieu, eine
"Gesamttheorie der sozialen Entwicklung": nämlich ein Konzept eines kontinuierlichen und
epochenübergreifenden Fortschritts, welcher sich in immer gleichen Stadien vollziehe.
Künste und Wissenschaften werden der Reihe nach entdeckt und vervollkommnen sich;
abwechselnd in ihren Fortschritten gehemmt und beschleunigt, gehen sie von einem
Himmelsstrich zum nächsten über. Eigennutz, Ehrgeiz und eitle Ruhmsucht ändern ständig
das Bild der Welt und überschwemmen die Erde mit Blut. Inmitten ihrer Verwüstungen
mildern sich die Sitten, der menschliche Geist wird aufgeklärter, und die isolierten Nationen
nähern sich einander an. Schließlich verbinden Handel und Politik alle Erdteile wieder
miteinander, und die Gesamtheit der menschlichen Gattung bewegt sich im Wechsel von Ruhe
und Bewegung, von Gutem und Bösem, zwar langsam, aber stetig auf eine größere
Vollkommenheit zu. (6)
Im Politischen bedeute dies die Aufeinanderfolge von traditionellen Regierungsformen –
Despotie, Monarchie, Aristokratie und schließlich Demokratie –, im Ökonomischen von der
Wirtschaft der Jäger und Sammler bis zur Industriegesellschaft mit ihrer ausdifferenzierten
Form der Arbeitsteilung. Im Bereich der Geschichte des Wissens wiederum zeige sich, so
Turgot, eine Sukzession von Mythos-Philosophie-Wissenschaft; hier wurde bereits
ansatzweise das Stufenschema des späteren Positivismus – das Dreistadiengesetz von Auguste
Comte – angedeutet. Schließlich entspräche dem politischen, ökonomischen und
wissenschaftlich-technischen Wandel die Perfektionierung der menschlichen
Verhaltensweisen und der Moral. Dabei diente Turgot die Historiographie nicht nur zur
Beschreibung historischer Ereignisse und Prozesse und zu deren Einordnung in sein
geschichtsphilosophisches Konzept, sondern zugleich als Richtschnur des politischen
Handelns, als Norm und Orientierungshilfe: (7)
In diesem Sinne erhält die Fortschrittstheorie selbst eine praktische Funktion: Indem sie die
Möglichkeit oder gar die Wahrscheinlichkeit künftiger Fortschritte zu prognostizieren
erlaubt, soll sie dazu beitragen, daß die Zeitgenossen und vor allem die gegenwärtige
staatliche Leitung vom Fortschritt überzeugt sind und in dieser Weise auf die Geschichte
praktisch einwirken. (8)
Die politisch-moralphilosophische Intention Turgots wurde letztendlich
geschichtsphilosophisch bestätigt und legitimiert, wobei, da die Harmonie der Interessen in
der Gegenwart nicht gelingen konnte, er eine ‚bessere' Gesellschaft schließlich in der Zukunft
verortete. (9)
Doch bleibt bei aller vergleichenden Historie Europa der Maßstab: Die europäische
Zivilisation wurde entweder als das anzustrebende Ziel oder zumindest als das
unumgängliche Durchgangsstadium aller Geschichte betrachtet, (10) auch wenn bei Turgot
Fortschrittsidee und Toleranzangebot durchaus miteinander einhergehen. Denn jeder
Erkenntnisfortschritt könne schon durch den nächsten in Frage gestellt werden. (11) So
symbolisiere die christliche Religion, welche für Turgot die Fortschritte nicht hemme,
sondern diese begünstige, auch die ‚vollkommene Religion'. (12) Das Subjekt der
Fortschrittsidee blieb hierbei "die gesamte Menschheit, die von dem europäischen Zentrum
aus geeint und friedlich einer besseren Zukunft entgegengeführt werden sollte" (13).
Während bei Turgot der christlichen Religion noch eine nicht unwesentliche Funktion bei der
Entwicklung der Fortschritte zukam, betonte Condorcet, dessen Fortschrittstheorie "die
Auffassung der Aufklärung geradezu in Reinform" symbolisiert, die Bedeutung des
wissenschaftlichen Fortschritts als der Instanz der Aufklärung. Denn der Fortschritt des
Wissens per se werde letztendlich auch die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse
verbessern, ja diese vervollkommnen. (14) Dabei sei, wie Condorcet in seinem Entwurf einer
historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes formulierte, die Fähigkeit
des Menschen zur Vervollkommnung unabsehbar, wenn auch die Fortschritte schneller oder
langsamer erfolgen könnten: "[...] doch niemals werden es Rückschritte sein, wenigstens
solange die Erde ihren Platz im System des Universums behält." (15)
Die vorangehenden Ausführungen zu den Fortschrittsoptimisten machen wohl zweierlei
deutlich: zum einen, dass sich bereits jene Intellektuellen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts
in ihren geschichtsphilosophischen Entwürfen mit Aspekten des ‚Modernisierungsprozesses'
beschäftigten, und zum anderen, dass ihre Analysen in einer Zeit, die von den Zeitgenossen
als tiefgreifende Krise beschrieben wurde, wohl auch als "Suche nach einer besseren Welt"
interpretiert werden können. Gemeinsam war dabei den Reformern von Turgot über
Condorcet bis zu Comte die Überzeugung, dass der technisch-ökonomische Fortschritt
letztendlich allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen werde; (16) ja dass der
‚Modernisierungsprozess' als Teil eines linearen, teleologischen Geschichtsmodells zu einem
umfassenden Vervollkommnungsprozess führen werde.
Soziologische Modernisierungsmodelle um 1900
Die Klassiker der Soziologie wie Ferdinand Tönnies, Max Weber und Émile Durkheim
setzten mit ihren Analysen der modernen Welt die im Vorangehenden beschriebene Tradition
fort, auch wenn der ursprünglich damit einhergehende Fortschrittsoptimismus weitgehend
verloren ging. So weisen jene Modelle – nämlich die von Tönnies beschriebene
Transformation von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, das von Weber entwickelte
Rationalisierungsmodell oder der von Durkheim nachgezeichnete Wandel von der
mechanischen zur organischen Solidarität – im Unterschied zu den Studien der
Fortschrittsoptimisten auf die dem Modernisierungsprozess inhärenten negativen Folgen,
insbesondere auf jene für das Individuum, hin. Die Thematisierung von Entwurzelung,
Orientierungslosigkeit und Anomie in den Werken der oben genannten Autoren, aber auch
von anderen wie beispielsweise von Georg Simmel, deutete bereits um 1900 die Kehrseite der
‚Erfolgsgeschichte' von Modernisierung an. (17) Diese für die Autoren um 1900 wohl
charakteristische ‚Ambivalenz' in Bezug auf den Modernisierungsprozess soll im Folgenden
an der Person Max Webers in exemplarischer Weise gezeigt werden. (18) Weber fasste jene
politischen, rechtlichen und sozio-ökonomischen Wandlungsprozesse, die man heute in der
Soziologie zumeist mit der Modernisierungskategorie beschreibt, unter dem Begriff
"Rationalisierung" zusammen. Dabei meinte er einen "spezifisch gearteten ‚Rationalismus'
der okzidentalen Kultur" (19), welcher sich in den Bereichen des Rechts, der Verwaltung, der
Wissenschaft und in der Kunst manifestiere, beobachten zu können. (20) Zentrale Bedeutung
für die Entwicklung der westlichen Gesellschaft komme in diesem Kontext der
Rationalisierung der Ökonomie zu, nämlich der Entstehung ihrer spezifischen
Wirtschaftsform, des modernen Kapitalismus, (21) dessen Genese und besondere Ausprägung
Weber in fast all seinen Werken zu begründen versuchte; und zwar, indem er die Ursachen für
ökonomische ‚Modernisierung' zunächst nicht in der Basis, sondern im Überbau, in spezifisch
religiösen Wert- und Norm-vorstellungen, suchte, (22) auch wenn "die ‚protestantische Ethik'
trotz all ihrer kausalen Bedeutung [...] für Weber nur ein Element eines komplexen
Erklärungsschemas des modernen Kapitalismus" (23) bildete.
Webers Beurteilung der okzidentalen Rationalisierung jedoch blieb durchaus ambivalent.
Denn da die Religion die ,Modernisierung' der westlichen Welt mitermöglicht hatte, habe sie
letztendlich ihre eigene Auflösung und in letzter Konsequenz die Entzauberung der Welt
bewirkt: nämlich die zunehmende Bürokratisierung und Versachlichung der Beziehungen
zwischen den Menschen. (24) Zwar werde in der Moderne der bürokratische Anstaltsstaat mit
seinem Höchstmaß an Berechenbarkeit einerseits zu dem Hort formeller Rationalität, doch
andererseits berge er gleichzeitig die Gefahr in sich, "ein technisch perfektes stahlhartes
Gehäuse der Hörigkeit einzurichten". Daher dürfe der Staat auch in der ‚modernisierten' Welt
nicht darauf verzichten, die "Beherrschten wenigstens utilitaristisch zu beglücken". (25) Denn
die Auflösung traditioneller Strukturen hätte zum einen mehr Freiheit, zum anderen jedoch
auch Orientierungsverluste mit sich gebracht.
Hier finden wir bei Weber bereits neben seiner Uniformierungsthese, an die später u. a. die
Kritische Theorie anknüpfen sollte, (26) gleichsam jene ambivalente Beurteilung moderner
Freiheit, die in der Soziologie bis zum heutigen Tage – man denke nur an die Kontroverse
zwischen Liberalen und Kommunitariern – Thema zeitdiagnostischer Analysen ist. Denn in
der Moderne sei der moralisch urteilende und handelnde Mensch nun gezwungen, sein
moralisches Schicksal selbst zu wählen – dies könne er schließlich als Befreiung oder als
Belastung empfinden. Den Fortschrittsoptimismus eines Turgot, Condorcet oder Comte
vermag Weber im Bewusstsein der Modernisierungsverluste nicht zu teilen. Und die
normative Beschreibung von ‚Modernisierung' als weltumspannender Entwicklung hin zu
einer ‚besseren' Welt widerspricht zum einen Webers Analyse des Rationalisierungsprozesses,
da er – unter Sichtbarmachen der für das Individuum negativen Konsequenzen – diesen
ausschließlich in der westlichen Welt verortete und daraus eben nicht ein universell gültiges
Gesetz der menschlichen Geschichte abzuleiten gedachte. (27) Zum anderen steht die
Darstellung historischer Verläufe mit dem Zwecke, die Zukunft zu planen und nach ganz
bestimmten Wert- und Normvorstellungen zu gestalten, diametral entgegengesetzt zu Webers
Wissenschaftsauffassung, die er u. a. in den Aufsätzen Die "Objektivität"
sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis und Der Sinn der "Wertfreiheit" der
Sozialwissenschaften verdeutlichte. (28)
Modernisierungstheorien nach dem Zweiten Weltkrieg
"Eine zweite einflußreiche Konjunktur von Modernisierungstheorien" begann mit den
strukturfunktionalistischen Arbeiten von Talcott Parsons, die zunächst großen Einfluss auf die
US-amerikanischen Sozialwissenschaften und später in abgeschwächter Form auch auf den
europäischen Modernisierungsdiskurs hatten. (29) Ausgehend von einem evolutionären
Modell, welches die soziale Evolution als Erweiterung der biologischen begreift und einen
Prozess der zunehmenden Differenzierung sozialer Institutionen beschreibt, stellte Parsons
moderne Industriegesellschaften – ganz in der Tradition des klassischen Evolutionsgedankens
– an die Spitze der Entwicklung. Dabei verlangen, so Parsons, evolutionäre "Sprünge"
Durchbrüche in vier Dimensionen: die Steigerung adaptiver Kapazitäten, die strukturelle
Differenzierung, die Inklusion sozialer Gruppen und die Generalisierung von Werten. Eine
besondere Stellung nehmen in seinen Analysen "evolutionäre Universalien" ein, zu denen er
Sprache, Religion, Verwandtschaft und Technologien zählte, da diese derart grundlegende
Aspekte jeder menschlichen Gesellschaft beträfen, so dass kein Prozess der sozialen
Evolution ohne sie stattfinden könne. (30) In modernen Gesellschaften, welche durch die
Herausbildung von bürokratischer Organisation, Märkten und Geld, durch universalistische
Normen und demokratische Assoziation gekennzeichnet seien, bilde sich eine
Bürgergemeinschaft als Trägerin des "institutionalisierten Individualismus", die in höchstem
Maße inklusiv, strukturell differenziert, durch generelle Werte verbunden sowie durch eine
hohe Anpassungsfähigkeit charakterisiert sei und letztendlich den Traditionalismus und die
begrenzte Integrationskraft der Ständegesellschaft überwinde. (31) Diesem Verständnis von
Modernisierung als einem Prozess, der in einem ganz bestimmten Rahmen, durch ganz
bestimmte Stadien, verlaufe, lag die Annahme zugrunde, dass die soziale Wirklichkeit aus
Phänomenen bestehe, die in eine bestimmte Rangfolge geordnet werden könnten, und dass
sich demgemäß "niedrigere" Formen im Zuge dieses Prozesses zu "höheren"
entwickelten.(32)
Als Maßstab der menschlichen Entwicklung fungierte dabei nicht länger Europa, sondern
zunehmend die Vereinigten Staaten, die nun zum Inbegriff der modernen Welt avancierten.
Der Dichotomie von Tradition und Moderne verpflichtet, waren bestimmte Vertreter der
Soziologie wie beispielsweise Daniel Lerner in den 50er und 60er Jahren davon überzeugt,
dass sich Modernisierung nach amerikanischem Vorbild gleichsam als soziale
‚Gesetzmäßigkeit' auch auf die Länder der Dritten Welt übertragen lasse. Als ‚bessere'
Gesellschaft wurde eindeutig die westliche, insbesondere die US-amerikanische verstanden,
die es weltweit mit ‚missionarischem Eifer' durchzusetzen galt. Man sprach nicht von einer
Form von Modernisierung unter vielen, sondern ausschließlich von der Modernisierung nach
westlichem Vorbild, welche in den sozialwissenschaftlichen Diskussionen über sozialen
Wandel als normative Grundlage diente. (33)
Neben dem von zahlreichen Autoren – wie beispielsweise Adorno, Homans, Kluckhohn,
Giddens sowie Dahrendorf – kritisierten Modell von Parsons zählen u. a. die historischsoziologischen Arbeiten von Reinhard Bendix und Barrington Moores Konzeption dreier
möglicher politischer Wege in die Moderne zu bedeutenden Modernisierungskonzepten der
Soziologie, die sich nun von einem universell gültigen Gesetz von Modernisierung
distanzierten und demgemäß von mehreren Wegen in die Moderne ausgingen. Während man
sich in den 70er Jahren in der soziologischen Theorie zunehmend, wohl durch den Einfluss
kritischer, antitechnokratischer und antipositivistischer Strömungen und durch eine fachliche
Differenzierung sowie durch eine Hinwendung zu empirischen Arbeiten mitbedingt, von
makrosoziologischen Konzepten sozialen Wandels abgewendet hatte, gewann in den 80er und
90er Jahren die Frage nach langfristigen gesellschaftlichen Transformationen von Neuem an
Bedeutung. In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen von Niklas Luhmann, Richard
Münch, Jürgen Habermas und die im Anschluss kurz diskutierte von Ulrich Beck zu nennen,
wobei diese Analysen zur Modernisierung vor allem im Hinblick auf die Bewertung der
Errungenschaften und Konsequenzen dieses Prozesses einerseits und dessen Kontinuität bzw.
Diskontinuität andererseits divergieren. (34)
Modernisierungstheorie heute
Viele Topoi klassischer Analysen der Moderne begleiten auch an der Wende ins 21.
Jahrhundert die soziologische Gegenwartsdiagnostik. Man denke hier nur an Webers
Uniformierungs- und Individualisierungsthese, die in mannigfaltigem Gewand u. a. bei Ulrich
Beck wieder in Erscheinung tritt oder an Gehlens sowie Adornos Analysen intermediärer
Instanzen, der Institutionen. Von einer universell gültigen Modernisierungskonzeption wie
jener der Fortschrittsoptimisten oder jener von Parsons scheint man sich jedoch in den
Wissenschaften deutlich entfernt zu haben. Man spricht von unterschiedlichen Typen der
Modernisierung und auch nicht mehr von der Moderne, sondern im Plural von den Modernen.
Doch wurde damit zugleich der normative Impetus zu Grabe getragen, wie man uns das
zuweilen suggerieren möchte? Eine kurze Analyse von Ulrich Becks Konzept "reflexiver
Modernisierung" soll diese Annahme zumindest in Frage stellen.
Ulrich Becks Modell einer "reflexiven Modernisierung", welches sich, so Beck, von den
"dominanten Theorien einfacher, klassischer, industriegesellschaftlicher Modernisierung",
von jenen der Postmoderne, die sich von den "Prinzipien der Moderne" verabschiedet hätten,
und von gegenmodernen Konzeptionen abgrenzen möchte, versteht gegenwärtige
Transformationsprozesse als "Auflösung" und zugleich "Ablösung" industrieller
Gesellschaftsformen durch andere Modernen. Denn Traditionen und Sicherheiten der
Industriegesellschaft unterlägen selbst dem gesellschaftlichen Wandel, den Beck jedoch nicht
durch Zweckrationalität, sondern durch nicht intendierte Nebenfolgen der "ersten Moderne" –
durch Risiken, Gefahren, Individualisierung und Globalisierung – zu erklären versucht. (35)
Dabei stellt er der "ersten Moderne" die Konzeption der "zweiten Moderne", die sich im Zuge
"reflexiver Modernisierung" konstituiere, gegenüber: "Reflexive Modernisierung" meint, so
Beck, die
Selbsttransformation der Industriegesellschaft (was nicht identisch ist mit der Selbstreflexion
dieser Selbsttransformation); also Auf- und Ablösung der ersten durch eine zweite Moderne,
deren Konturen und Prinzipien es zu entdecken und zu gestalten gilt. Das heißt: Die großen
Strukturen und Semantiken nationalstaatlicher Industriegesellschaften werden (z. B. durch
Individualisierungs- und Globalisierungsprozesse) transformiert, verschoben, umgearbeitet,
und zwar in einem radikalen Sinne; keineswegs – wie das Allerweltswort ‚reflexive'
Modernisierung nahelegt – unbedingt bewußt und gewollt, sondern eher unreflektiert,
ungewollt, eben mit der Kraft verdeckter (verdeckt gehaltener) ‚Nebenfolgen'. (36)
Dabei könnten die Konsequenzen dieses Prozesses, nämlich Unsicherheit, Politisierung und
das Ringen um (neue) Grenzen, zu neuen Leitprinzipien einer zweiten Moderne werden. Die
bereits in den frühen soziologischen Theorien zur ‚Modernisierung' angesprochenen
negativen Aspekte neuzeitlicher Transformationsprozesse werden nun bei Beck dahingehend
ergänzt, dass nicht nur deren Konsequenzen für das Individuum wie zum Beispiel
Gemeinschaftsverlust, Entfremdung und Desintegration deutlich gemacht werden, sondern
auch die Folgen der Modernisierung für die Basisinstitutionen selbst Berücksichtigung finden;
auch wenn Autoren wie zum Beispiel Arnold Gehlen (37) bereits in den 50er und 60er Jahren
auf den Abbau von Institutionen und auf die daraus resultierenden Folgen für den einzelnen
hingewiesen haben.
Während Beck in der Risikogesellschaft von 1986 den zeitgenössischen politischen und sozioökonomischen Wandel als einen für das Individuum sowohl belastenden als auch befreienden
Prozess begriff, wobei die Kritik an der modernen Welt ein starkes Gewicht einnahm, (38)
scheint diese ambivalente Haltung, wie aus seiner regen Publikationstätigkeit der 90er Jahre
ersichtlich wird, zunehmend in Zukunftsoptimismus umzuschlagen: "Er [Beck; Anm. d.
Verf.] versucht sich – anders als noch in der Risikogesellschaft – mehr und mehr nicht nur in
der Rolle des messerscharfen Diagnostikers, sondern auch in der des Prognostikers, ja
Propheten, was eindeutig zu Lasten der analytischen Dimension seiner Texte geht." (39)
In ähnlicher Art und Weise analysiert Johannes Weiß in der Soziologischen Revue das
Becksche Schaffen der 90er Jahre, wenn er darauf hinweist, dass sich Beck nicht nur darum
bemühe, die umfassenden Transformationen seit den 60er Jahren zu beschreiben, sondern in
weiterer Folge auch darum, Handlungsanweisungen dafür zu geben, wie man mit der zweiten
Moderne richtig umzugehen habe. (40)
Mag man sich auch um 2000 von einer Theorie der Modernisierung, die universelle Gültigkeit
beansprucht, verabschiedet haben, so zeigen die kurzen Ausführungen zu Ulrich Beck doch
eines: Auch Becks Konzept "reflexiver Modernisierung" nimmt zunehmend – im Übrigen
ganz in der Tradition der von ihm scharf kritisierten einfachen Modernisierungstheorien
Marxscher oder auch Parsonscher Prägung – den Charakter einer politischen und sozialen
Programmatik an, nämlich in dem Sinne, wie man – in der vorrangig auf die westliche Welt
bezogenen "Zweiten Moderne" – auf die im Zuge "reflexiver Modernisierung" veränderten
politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen ‚adäquat' reagieren sowie das
damit einhergehende Mehr an Freiheit zur Gestaltung eines ‚besseren' Lebens nutzen könnte
und letztendlich wohl auch, wie man es nutzen sollte.
(1) Dieser Titel wurde in Anlehnung an Karl Poppers gleichnamiges Buch gewählt. Siehe:
Karl R. POPPER, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig
Jahren, 7. Auflage, München 1994.
(2) Vgl. Gottfried KÜENZLEN, Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der
Moderne, München 1994, 70 f.
(3) Vgl. dazu Reinhart KOSELLECK, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der
bürgerlichen Welt, Freiburg-München 1959, 116.
(4) Johannes ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, in: Anne Robert Jacques
TURGOT, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von Johannes ROHBECK,
Lieselotte STEINBRÜGGE, Frankfurt/Main 1990, 11.
(5) Vgl. zur Ungleichzeitigkeit von Geschichte Anne Robert Jacques TURGOT, Vortrag über
die Vorteile, die die Entstehung des Christentums der Menschheit verschafft hat, in:
TURGOT, Fortschritte, 142.
(6) Anne Robert Jacques TURGOT, Philosophische Darstellung der allmählichen Fortschritte
des menschlichen Geistes, in: TURGOT, Fortschritte, 140 f.
(7) Vgl. ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 7-87, Zitat 18.
(8) ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 85.
(9) Vgl. ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 78. – Zum Verhältnis von Politik und
Moral bei Turgot vgl. auch KOSELLECK, Kritik und Krise, 115-132.
(10) Vgl. dazu Anne Robert Jacques TURGOT, Grundriß für zwei Abhandlungen über die
Universalgeschichte, in: TURGOT, Fortschritte, 177.
(11) Vgl. ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 13, 87.
(12) Vgl. zur Beziehung zwischen Religion und Fortschritt bei Turgot insbesondere
TURGOT, Vortrag, 128.
(13) KOSELLECK, Kritik und Krise, 2.
(14) Vgl. Evelyn GRÖBL-STEINBACH, Fortschrittsidee und rationale Weltgestaltung. Die
kulturellen Voraussetzungen des Politischen in der Moderne, Frankfurt/Main-New York
1994, 228-232.
(15) Vgl. CONDORCET, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des
menschlichen Geistes, hg. von Wilhelm ALFF, Frankfurt/Main 1963, Zitat 29.
(16) Vgl. ROHBECK, Turgot als Geschichtsphilosoph, 66 f.
(17) Vgl. dazu u. a. Hans VAN DER LOO, Willem VAN REIJEN, Modernisierung. Projekt
und Paradox, ²München 1997 (1992), 15-17. – Dieter RUCHT, Modernisierung und neue
soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich (Theorie und
Gesellschaft 32), Frankfurt/Main-New York 1994, 33.
(18) Vgl. hierzu Sabine A. HARING, "Modernisierungstheorien" in der Soziologie gestern
und heute: Max Weber und Ulrich Beck im Vergleich, in: Sabine A. HARING, Katharina
SCHERKE (Hg.), Analyse und Kritik der Modernisierung um 1900 und um 2000 (Studien zur
Moderne 12), Wien 2000, 283-322.
(19) Max WEBER, Vorbemerkung zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie,
in: Max WEBER, Soziologie – Universalgeschichtliche Analysen – Politik, hg. von Johannes
WINCKELMANN, 6. Auflage, Stuttgart 1992, 351.
(20) Vgl. WEBER, Vorbemerkung, 340-343.
(21) Siehe WEBER, Vorbemerkung, 349.
(22) Vgl. insbesondere Max WEBER, Die Protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung,
hg. von Johannes WINCKELMANN, Gütersloh 8. Auflage, 1991. – Max WEBER, Einleitung
in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: WEBER, Soziologie, 398-440.
(23) Sandro SEGRE, Max Webers Theorie der kapitalistischen Entwicklung, in: Johannes
WEISS (Hg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung. Frankfurt/Main 1989,
457.
(24) Vgl. zur "Entzauberungs-Konzeption" auch die Ausführungen von Johannes
Winckelmann in: Johannes WINCKELMANN, Die Herkunft von Max Webers
"Entzauberungs"-Konzeption. Zugleich ein Beitrag zu der Frage, wie gut wir das Werk Max
Webers kennen können, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32/1
(1980), 18.
(25) Vgl. zu diesen Ausführungen Webers Wolfgang SCHLUCHTER, Die Entstehung des
modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des
Okzidents, Frankfurt/Main 1998, 239.
(26) Vgl. zu den zeitdiagnostischen Analysen Adornos u. a. RUCHT, Modernisierung, 33
sowie insbesondere Christian THIES, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei
Adorno und Gehlen, Reinbek bei Hamburg 1997.
(27) Siehe insbesondere Max WEBER, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und
sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre,
hg. v. Johannes WINCKELMANN, ³Tübingen 1968, 178.
(28) Vgl. WEBER, Objektivität, 186-262. – Max WEBER, Der Sinn der "Wertfreiheit" der
Sozialwissenschaften, in: WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 263-310.
(29) Vgl. RUCHT, Modernisierung, 34.
(30) Vgl. Talcott PARSONS, Evolutionäre Universalien der Gesellschaft, in: Wolfgang ZAPF
(Hg.), Theorien des sozialen Wandels, 4Königstein/Ts. 1979, 55-74.
(31) Vgl. zu Parsons Ausführungen zur systematischen Analyse sozialer Systeme Talcott
PARSONS, Das Problem des Strukturwandels: eine theoretische Skizze, in: ZAPF (Hg.),
Theorien des sozialen Wandels, 35-54.
(32) Siehe VAN DER LOO, VAN REIJEN, Modernisierung, 19 f.
(33) Vgl. zum Verhältnis zwischen politischen Verhältnissen und soziologischen
Modernisierungsmodellen Sabine A. HARING, Katharina SCHERKE, Einleitung, in:
HARING, SCHERKE (Hg.), Analyse und Kritik, 22-24.
(34) Vgl. RUCHT, Modernisierung, 34, 38-41. – VAN DER LOO, VAN REIJEN,
Modernisierung, 21.
(35) Siehe Ulrich BECK, Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne,
in: Ulrich BECK, Anthony GIDDENS, Scott LASH, Reflexive Modernisierung. Eine
Kontroverse, Frankfurt/Main 1996, insbesondere 23 f, 38-40.
(36) Vgl. BECK, Zeitalter, 22 f, 39 f.
(37) Vgl. zu Gehlens Analyse der Institutionen u. a. THIES, Die Krise des Individuums, 135139.
(38) Vgl. Ulrich BECK, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,
Frankfurt/Main 1986.
(39) Markus SCHROER, Ulrich BECK, Elisabeth BECK-GERNSHEIM (Hg.), Riskante
Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften (Rezension), in: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie 47/3 (1995), 563.
(40) Vgl. Johannes WEISS, Die Zweite Moderne – eine neue Suhrkamp-Edition, in:
Soziologische Revue 21 (1998), 417.
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