49. Zeitforum

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49. ZEIT FORUM – 18.03.2013
Ist das noch normal? Wer definiert psychische Erkrankungen?
Frauke Hamann
Verehrte Podiumsgäste, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf Sie
hier heute Abend begrüßen zu einem Thema, das vom Leiden der Seele
spricht. Wen trifft dieses Leiden der Seele? Ja, kann es nicht jeden treffen? Wie
erkennen die Experten, wie erkennen wir eine Depression, Angst, Burnout,
Essstörungen, Zwang, Schizophrenie, Sucht und Abhängigkeit, psychische
Störungen bei Kindern? Und wie gehen wir damit um, wenn die Innenwelt zur
Realität wird?
Das ist eine Herausforderung nicht nur bei Angehörigen, bei Kollegen, in der
Familie, es ist auch eine Herausforderung unter persönlichen, finanziellen, unter
gesellschaftlichen Fragestellungen.
Wir hatten vor genau neun Monaten ein ZEIT FORUM Wissenschaft zu der
Frage: „Die Sehnsucht nach Glück, Maßstäbe für ein gelungenes Leben“. Mir
kommt es so vor, als sei das fest spiegelbildlich und es bestünde eine
Verwandtschaft zu der Frage: „Ist das noch normal?“ Denn wir leben in Zeiten
vielfältiger Glücksversprechen. Möglichst alles soll gelingen. Gutes
Funktionieren gehört dazu und ist fast Voraussetzung für Anerkennung und
Erfolg, wie ein Lebensraster. Unsere Leistungsgesellschaft bietet unheimlich
viele positive Schemata. Yes, we can. Initiative, Motivation, wie
selbstverständlich das ist.
Lassen Sie uns einmal zurückblicken. Robert Musil wohnt mit seiner Frau in
Wien. Er ist ein Mann mit sehr vielen Eigenschaften. Er ist gepflegt,
durchtrainiert. Eine Stunde pro Tag stemmt er Hanteln und macht Kniebeugen.
Er ist ungeheuer eitel, aber von ihm geht auch die ruhige Kraft der
Selbstdisziplinierung aus. Im März 1913 kommt er an deren Ende. Er hält seine
Arbeit als Bibliothekar zweiter Klasse an der Technischen Hochschule Wiens in
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ihrem Stumpfsinn nicht mehr aus. Er fühlt sich sehr klein und schwach und
gleichzeitig zu Höherem berufen, zu einem Jahrhundertroman. Aber er ist sich
nicht ganz sicher, ob das nur ein Zeichen dafür ist, dass er langsam, aber
sicher durchdreht, oder ob er seinen Dienst quittieren sollte.
Vielleicht haben Sie diesen Abschnitt in Florian Illies „1913. Der Sommer des
Jahrhunderts“ gelesen. Am 30. März bekommt Musil endlich einen Termin beim
Nervenarzt Dr. Otto Poetzl. Er wartet zwei Stunden. In den Tagen seines
zunehmenden Leidens tröstet ihn die Erinnerung an die Zeiten Dantes. In sein
Tagebuch notiert er: „Aber was 1913 zur Geisteskrankheit wird, kann 1300 eine
bloße Egozentrizität gewesen sein.“ Illies blickt auf 1913: hochnervöse Zeiten.
Doch was würde der Doktor sagen? Heute würde man es Burnout nennen.
Damals sagte man: Derselbe leidet an den Erscheinungen einer schweren
Herzneurose. Anfälle von Herzklopfen mit jagendem Puls,
Verdauungsstörungen, verbunden mit den entsprechenden psychischen
Erscheinungen, Depressionszuständen und mit hochgradiger körperlicher und
psychischer Ermüdbarkeit.
Das Beispiel Musil verweist auf die Zeitgebundenheit einer Diagnose. 1913
fasste man das zusammen unter dem Begriff Neurasthenie. Spötter sangen:
„Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie.“ Aber in der
Behördenwelt der kaiserlich-königlichen Monarchie war das Schlagwort ein
sofortiger Freistellungsgrund. So steht im amtsärztlichen Zeugnis: „Herr Dr. phil.
Ing. Robert Musil, Königlich-Kaiserlicher Bibliothekar Wien, zeigt erhebliche
Erscheinungen von Neurasthenie, infolge deren er berufsunfähig ist.“
Gleichzeitig mit der Beurlaubung schrieb Franz Blei nach Leipzig und erzählte
von dem großen famosen Roman, an dem Robert Musil arbeite. „Wenn dieser
einen bibliothekslosen Sommer habe, dann sei bald mit dem Abschluss zu
rechnen.“ – Hier kommt also die Produktivität ins Spiel, die Kreativität des
Autors Robert Musil. Die diagnostizierte Krankheit schafft Entlastung von der
ungeliebten Tätigkeit, so dass er zum Schreiben Raum hat.
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Robert Musil ist nicht schwerkrank, wird aber krank geschrieben, damit er nicht
in seiner Bibliothek an der Technischen Hochschule arbeiten muss, sondern
Zeit hat zu Schreiben. Am 28. Juli also schreibt Dr. Poetzl ein neues Gutachten
für Musil, der mit schwerer Neurasthenie seit einem halben Jahr in seiner
Behandlung ist. Er schreibt: „Der hohe Grad der immer noch bestehenden
nervösen Erschöpfung erfordert eine weit längere als die ursprünglich
angenommene Erholungsfrist. Es muss vom nervenärztlichen Standpunkt aus
heute unbedingt eine noch mindestens sechs Monate dauernde Sistierung der
Berufstätigkeit für den Patienten verlangt werden.“
Und so schreibt der Amtsarzt: „Musil leidet an allgemeiner Neurasthenie
schweren Grades unter Mitbeteiligung des Herzens.“ – „Neurasthenie unter
Mitbeteiligung des Herzens, schöner lässt sich das Leiden an der Moderne
nicht zusammenfassen“, so Florian Illies, „das Leiden der Seele interpretiert als
Leiden an der Gesellschaft und ihren Auswüchsen“.
Am 27. Dezember, wieder 1913, verlängert das Ministerium in Wien den
Krankheitsurlaub des an Neurasthenie erkrankten Bibliothekars zweiter Klasse
Robert Musil um weitere drei Monate. Er reist sofort nach Deutschland, um mit
seinem Verleger Samuel Fischer zu verhandeln. Wenig später wird er
Redakteur von dessen Zeitschrift „Neue Rundschau“. Auf seiner Zugreise von
Wien nach Berlin notiert er irritiert: „Auffallend in Deutschland, die große
Dunkelheit.“
Verehrte Podiumsgäste, lieber Uli Blumenthal, lieber Andras Sentker, 1913 ist
vorüber. Sicher bringen Sie nun Licht. Was ist noch normal 2013? Wer definiert
psychische Erkrankung? – Ich freue mich.
Moderation
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Mai wird die amerikanische
Psychiatriegesellschaft die fünfte Auflage eines Buches vorstellen, das als Bibel
der Psychiatrie gilt. Das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“,
kurz DSM, definiert die psychischen Störungen des Menschen. Im Vorfeld der
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Veröffentlichung der fünften Auflage ist unter den Experten ein Streit entbrannt.
Ist tatsächlich alles, was im Buche stehen soll, eine psychische Erkrankung?
Wann wird Trauer zur schweren Depression? Ist Heißhunger eine
behandlungsbedürftige Essstörung? Warum ist die Zahl der Kinder, bei denen
eine bipolare Störung diagnostiziert wurde, in den USA zwischen 1993 und
2004, also im Verlauf von etwas mehr als zehn Jahren, auf das
Vierhundertfache angewachsen? – Kurz: Was ist eigentlich normal? Und wer
sagt uns, was normal ist?
Darüber diskutieren Frau Prof. Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für
Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin, Prof. Dr. Karl
Lauterbach, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen
Bundestag, Michael Mary, Autor des Buches „Ab auf die Couch!: Wie
Psychotherapeuten immer neue Krankheiten erfinden und immer weniger Hilfe
leisten“, sowie Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, Institut für Klinische Psychologie
und Psychotherapie an der TU Dresden.
Herr Wittchen, immer wenn von Bibeln die Rede ist in irgendeinem Bereich,
muss man ja erstmal die skeptische Frage stellen: Was macht dieses Buch
eigentlich zur Bibel? Ist das eine richtige Zuschreibung? – Sie haben das DSM,
glaube ich, mal in einem Gespräch als „Mutterbuch“ bezeichnet. Erklären Sie
uns: Wie viel Biblisches ist dran am DSM-5?
Hans-Ulrich Wittchen
Also, ich glaube, es als Bibel zu bezeichnen, ist vielleicht nicht ganz richtig. Es
ist ein ernsthafter Versuch, in einem geordneten Prozess alle 10 bis 15 Jahre
mit allen Kollegen, Berufsgruppen und Beteiligten zu überlegen: Was muss
geändert werden? Was kann bleiben? Gibt es neue Erkenntnisse, die
Veränderungen möglich und notwendig machen? – Und wenn das so ist, geht
es darum, diese so lange von rechts nach links zu betrachten und zu überlegen,
auch in ihren Konsequenzen, bis es einen Konsens der Beteiligten gibt, dass
diese Veränderung gut ist. Insofern ist es nicht eine Person, die es schreibt. Es
ist eine Gruppe von Hunderten, von Tausenden beteiligten Wissenschaftlern,
ZEIT-Forum-Psychische-Erkrankungen.doc
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die in diesen Prozess über zehn Jahre eingebunden waren und sind. Und es ist
eben nicht eine Glaubenssache, sondern eher ein Produkt, ein nicht perfektes
Produkt, aber das bestmögliche Produkt, das Menschen, die sich systematisch
wissenschaftlich damit befasst haben, nach diesem langen Beratungsprozess
versucht haben niederzuschreiben.
Michael Mary
Das klingt jetzt aber doch ziemlich, als wären diese Leute alle interessenfrei.
Und das sind sie ja eben nicht. Das sind Leute, die im Grunde genommen über
ihre eigenen Verdienstmöglichkeiten abstimmen, weil in der Folge dann die
Diagnosen entstehen.
Ich will mal, um das grundsätzlich aus meiner Sicht zu sagen, ein paar Zeilen
aus der deutschen Psychotherapierichtlinie, die ja kaum einer kennt, bringen,
um zu zeigen, wo die Krux liegt:
„Psychotherapie als Behandlung seelischer Krankheiten im Sinne dieser
Richtlinie setzt voraus, dass das Krankheitsgeschehen als ein ursächlich
bestimmter Prozess verstanden wird, der mit wissenschaftlich begründeten
Methoden untersucht und in einem Theoriesystem mit einer Krankheitslehre
definitorisch erfasst wird.“
Das ist das, was passiert, wenn man die Psychotherapie ins Medizinsystem
einordnet. Dann wird plötzlich Psychisches wie Medizinisches behandelt. Und
dann gibt es plötzlich ursächliche Phänomene. Und Sie finden in der Psyche nix
Ursächliches. Sie finden in der Psyche nur Zusammenhänge. Sie können zwei
Kinder aus der gleichen Familie nehmen. Die reagieren auf die gleichen
Lebensbedingungen ganz unterschiedlich. Wo ist da die Ursache?
Nun wird aber so getan – und der Psychotherapie aufgezwungen –, dass sie
sich als Wissenschaft darstellen soll, was sie auch nicht sein kann.
Psychotherapeuten, man muss sich die Frage stellen, warum es die gibt. Die
gibt es seit unsere Gesellschaft so individualisiert ist, dass man eben nicht mehr
ZEIT-Forum-Psychische-Erkrankungen.doc
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klassifikatorisch vorgehen kann und dass es Spezialisten für den Umgang mit
den vagen Dingen, mit den unberechenbaren Dingen, mit den nicht
einzuordnenden Dingen geben muss. Und diese Spezialisten nennt man
Psychotherapeuten. Die werden jetzt gezwungen, sich als Wissenschaftler
darzustellen. Die werden gezwungen, Ursachen zu finden. Die müssen
Behandlungsschemata entwerfen. Die müssen so tun, als ob sie eine Diabetes
behandeln, wenn sie einen Menschen mit einem psychischen Problem
behandeln.
Ein letzter Satz noch dazu: Wenn man sich mal klarmacht, was ein psychisches
Problem heute ist, dann ist es in den meisten Fällen nicht ein Fall schwerer
seelischer Erkrankung. Aber in den allermeisten Fällen der Probleme geht es
um die Art und Weise, wie ein Mensch sich in seinem Leben neu orientiert. Man
kann heute nämlich nicht mehr auf die Eltern, Großeltern, auf die Lehrer, auf
irgendwelche Vorbilder hören. Man orientiert sich durch die Probleme, die man
bewältigt. Also, ein Problem ist ganz normal, auch ein schweres psychisches
Problem. Eine Krise, eine Lebenskrise darf auf keinen Fall per se als Krankheit
bezeichnet werden.
Moderation
Frau Heuser, kann man zwischen den beiden Positionen, die wir gleich zum
Anfang der Diskussion gehört haben, vermitteln? Oder haben sie jeweils ihre
Berechtigung?
Isabella Heuser
Ich erkenne im Moment keine zwei Positionen, sondern ich erkenne, eine Frage
wurde von Herrn Wittchen beantwortet. Und es gab eine Bemerkung, die sich
um die Psychotherapie dreht. Also, ich möchte nur noch mal darauf
zurückkommen, was Herr Wittchen sagte. Wie gesagt, DSM ist keine Bibel. Es
ist eine Richtlinie und es ist überhaupt nichts Besonderes im Bereich der
Medizin, dass Klassifikationssysteme immer wieder erneuert werden aufgrund
der dann vorliegenden neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse. Das hat man
in der Neurologie. Wenn Sie mal gucken, was die Epilepsieklassifikation, was
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die Migräneklassifikation angeht, auch bei den Lymphomen zum Beispiel in der
inneren Medizin, beim Bluthochdruck, da gibt es mittlerweile so viele
verschiedene Bluthochdrücke, das ist auch nicht eine sinnlose Ausweitung von
irgendwelchen Diagnosen, sondern es ist einfach eine bessere Beschreibung
von verschiedenen Zuständen, die gegebenenfalls behandlungsbedürftig sind.
Gegebenenfalls, nicht immer, weil sie eben gegebenenfalls zu einer erheblichen
Gesundheitsbeeinträchtigung oder Chronifizierung usw. dann irgendwann
beitragen.
Diese DSM-5 und die Vorstellung, dass das jetzt eine wahnsinnige Ausweitung
von Diagnosen wäre, wir wären dann alle krank, das ist natürlich einfach nicht
so.
Das andere ist: Wir reden von psychischen Erkrankungen, wir reden nicht von
Lebensproblemen, das ist was ganz anderes. Wir reden von psychischen
Erkrankungen, also von etwas, worunter ein Mensch auch leidet. Und da ist
natürlich – bei einigen Störungen wissen wir das – ein körperlicher Faktor die
Ursache dieser psychischen Störung. Zum Beispiel bestimmte
Hochdruckmedikamente, die es jetzt deshalb auf dem Markt gar nicht mehr gibt,
lösen eine schwere Depression aus. Bestimmte Medikamente, die wir heute
noch benutzen im Sinne von Provokationsmethoden, lösen Angstanfälle aus.
Natürlich hat das alles auch eine körperliche Grundlage – aber nicht nur. Wir
wissen, und das ist zum Beispiel in die Entwicklung des DSM-5 mit
eingeflossen – du weißt das sehr viel besser, weil du da mit beteiligt warst –
dass heute Umwelteinflüsse, Erfahrungen vor allem in früher Kindheit enorm
wichtig sind und unsere ganze psychische Gesundheit sozusagen prägen
können.
Und einen letzten Satz möchte ich noch sagen: Wenn wir mal nachdenken,
haben wir alle ungefähr fünf bis sechs Diagnosen in diesem Moment, wo wir
hier sitzen. Vielleicht kann ich das mal von mir sagen, ohne dass das in
irgendeiner Weise behandlungsbedürftig ist oder dass ich mich tatsächlich
therapiebedürftig fühlen würde: Ich habe zum Beispiel heute wegen einem
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Jetlag eine enorme Müdigkeit. Ich fühle mich müde. Ich fühle mich eher
schlapp. Ich habe leichtes Fieber, nicht schlimm, aber leicht. Und ich habe
einen konstanten Schmerz am linken Fuß, den ich aber nicht weiter beachte.
Das sind schon mal drei Diagnosen. Über andere möchte ich jetzt nicht
sprechen, aber das ist nicht weiter hinderlich. Und es gibt Untersuchungen,
dass man allen, vor allem denjenigen von uns, die die 50 überschritten haben,
fünf bis sechs Diagnosen geben kann. – So what?
Michael Mary
Das ist ja die Sache. Sie können inzwischen allen eine Diagnose geben.
Isabella Heuser
Aber Diagnose heißt ja nicht, und das ist das Wichtige, unnormal und es heißt
nicht behandlungsbedürftig. Wir müssen uns überlegen, was das für
Implikationen hat.
Michael Mary
Nein, man muss schon klar sein. Wer heute zum Psychotherapeuten in
Deutschland geht, braucht eine Krankheitsdiagnose. Sonst bezahlt die Kasse
nix.
Isabella Heuser
Aber das ist doch ein anderes Problem als die Konstruktion des DSM-5.
Darüber hatten wir doch geredet.
Michael Mary
Da ist ja die Ausweitung der Diagnosen. Und man stellt fest, dass inzwischen
angeblich 30 bis 50 % der Menschen, die zum Allgemeinmediziner gehen,
psychisch behandlungsbedürftig sind. Ich bringe Ihnen mal eine Definition eines
Psychiaters von heute aus der „Morgenpost“. Der sagt auf die Frage, was eine
Depression ist, ob man das klar erkennen könnte: „Da gibt es klare Kriterien wie
Antriebsminderung, Interessenverlust und Niedergeschlagenheit, die über
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mindestens zwei Wochen bestehen müssen.“ – Na ja, dann bin ich aber ständig
depressiv.
Nun stellen Sie sich mal vor, Ihr Partner verlässt Sie. Dann sind sie antriebslos,
interesseneingeschränkt und niedergeschlagen. Dann kriegen Sie auch schnell
eine Diagnose.
Wohin das führt, bringe ich Ihnen im nächsten Satz: In einem Buch,
geschrieben von drei Psychiatern, das heißt „Psychopharmakologischer
Leitfaden für Psychologen und Psychotherapeuten“, da steht der
bemerkenswerte Satz „Eine optimale Therapie ist heute bei den meisten
psychischen Störungen ohne Psychopharmaka nicht mehr vorstellbar.“
Da sehen Sie, wo Sie im nächsten Schritt hinkommen. Man wird Sie, wenn Sie
länger als 14 Tage depressiv sind, traurig oder sonst was, gleich in die
psychopharmakologische Behandlung mit einbeziehen. Da sehen wir den
Einfluss der Psychopharmaka-Industrie, der sich natürlich über die Gremien, die
den DSN und den ICD 10 beschließen, durchsetzt. Die meisten dieser Leute,
die in diesen Gremien sitzen, 60% sagt man, andere sagen 70%, sind auf den
Gehaltslisten der Pharmaindustrie, direkt oder indirekt.
Das ist nicht etwas, was ich sage. Das veröffentlichen die Institute selbst. Ich
werde nicht von der Pharmaindustrie bezahlt.
Isabella Heuser
Also Herr Mary, da möchte ich mich wirklich gegen verwehren. Es ist ein
beckmesserisches und immer wieder vorgebrachtes Argument, dass alle Leute,
die sich irgendwie um psychische Erkrankungen kümmern, …
Michael Mary
Hat keiner gesagt.
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Isabella Heuser
Doch! Das haben Sie gerade gesagt.
Michael Mary
Nein, ich habe gesagt: 60 bis 70% derjenigen, die in den Gremien sitzen,
kriegen Geld von der Pharmaindustrie.
Isabella Heuser
Das stimmt aber so nicht, das ist nicht wahr. Und bei dem DSM-5 ist es explizit
ausgeschlossen.
Moderation
Herr Wittchen als Autor, wer bezahlt Sie?
Hans-Ullrich Wittchen
Als Autor und Organisator dieses Prozesses über 25 Jahre hinweg, muss ich
zunächst mal sagen: Ich tue mich sehr schwer, mit Herrn Mary eine
gemeinsame Diskussionsbasis zu finden, wenn er der Meinung ist, das es keine
psychischen Störungen gibt.
Michael Mary
Hat doch keiner gesagt.
Hans-Ullrich Wittchen
Wir müssen auch definieren: Was ist eine behandelbare Störung?
Ich glaube, es ist klar, dass die Kriterien, die eine pharmakologische
Behandlung braucht, die eine psychoanalytische Behandlung braucht, die eine
verhaltenstherapeutische braucht, die Kinder und Jugendliche brauchen, Eltern
brauchen, ob pharmakologisch oder nicht, klare Kriterien brauchen: wann
interveniere ich mit welcher Methode. Jeder Betroffene hat ein Recht darauf zu
wissen: Was wird mit mir gemacht? Warum wird es gemacht? Was ist der
Name meines Leidens? Was kann ich erwarten? Kann das ausgeheilt werden
ZEIT-Forum-Psychische-Erkrankungen.doc
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oder nicht? Was muss ich akut tun, was muss ich in 10 Jahren deswegen noch
tun? Darauf haben die Betroffenen ein Recht.
Und die Kollegen haben in meinen Augen die Pflicht, sich einer
Ausübungskontrolle zu unterziehen. Denn natürlich ist das so, und Sie wissen
das als Psychotherapeut besser wie ich, dass viele der Psychotherapeuten, ich
sag das Mal, in der Dynamik ihres guten Lebens, danach entscheiden, was halt
gut in ihr Leben reinpasst. Viele Psychotherapeuten arbeiten nur noch fünf
Stunden, obwohl sie einen Ganztagsauftrag haben. Viele Psychotherapeuten
gehen nicht mehr der Weiterbildungspflicht nach. 50% der alten Therapeuten
haben das DSM-Buch noch nie in der Hand gehabt. Die können überhaupt
noch nicht mal definieren, was eine Angstneurose von einer Panikstörung
unterscheidet.
Michael Mary
Gerade hat in der Schweiz Ende 2012 ein großer Kongress von Psychiatern
und Psychologen stattgefunden mit dem Titel „Sollen wir auf den ICD-10 und
den DSM nicht einfach verzichten, ist das nicht besser?“ Man muss sich fragen,
wo kommt denn so was her? Es gibt riesige Petitionen von Fachleuten, die sich
gegen die Ausweitung der Diagnostik im DSM wehren, dass schon Kindern,
Säuglingen inzwischen, Diagnosen unterstellt werden, damit man sie behandeln
kann und dass der Arzt in den Vereinigten Staaten, der diese bipolare Störung
bei Kindern - in Deutschland wird diese Diagnose bei Kindern, soweit ich weiß,
ja noch nicht gestellt, aber in Amerika wird sie schon gestellt – dass der
anderthalb Millionen Dollar in den letzten Jahren von der
Psychopharmakaindustrie gewonnen hat.
Ich bin doch nicht er Einzige, der sowas sagt. Professor Hand, mit dem ich ein
Interview geführt habe, ein Verhaltenstherapeut aus Hamburg, sagt, dass der
Begriff der Panikstörung überhaupt erst in diese ganzen Manuale eingeführt
worden ist auf Einfluss der Pharmaindustrie, weil es sowas wie eine
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Panikstörung überhaupt nicht gibt. Panikstörung ist ein Sammelbegriff für
mindestens ein Dutzend verschiedener Störungen. Die werden jetzt unter
einem zusammengefasst. Und er sagt, es ist der Pharmaindustrie gelungen,
das in die Diagnosen zu kriegen, weil sie gesagt haben, wir haben gegen die
Panikstörung auch Medikamente, die wirken.
Isabella Heuser
Das ist schlicht und ergreifend falsch, Herr Mary!
Hans-Ullrich Wittchen
Herr Hand schreibt mit mir mehrere Bücher über die Panikstörung, ich kenne
ihn nun wirklich seit 20 Jahren!
Isabella Heuser
Genau. Das ist sogar seine Spezialität.
Moderator
Ich muss einmal den fachlichen Streit unterbrechen und den Politiker fragen.
Herr Lauterbach, Sie kennen das amerikanische Gesundheitssystem, in dessen
Kulturkreis dieses DSM geschrieben wird, über das wir jetzt gerade reden.
Solche Kategorisierungen, das Aufräumen eines Feldes psychischer
Störungen, ist das hilfreich, um zu sagen, wem auf welche Art und Weise
geholfen werden kann, um zu standardisieren: Jemand, der Hilfe braucht,
bekommt sie auch tatsächlich und zuverlässig, egal, ob er sich in den USA
befindet oder in Deutschland, egal ob in Berlin oder München? Und gibt es
Nachteile, die man sich damit einkauft?
Natürlich teilt man die Welt sozusagen in bestimmte Schubladen ein mit dieser
Klassifizierung, man errichtet gewisse Krankheitsbilder, die beim Individuum
vielleicht nur bedingt zutreffen – Klassifikation hilfreich oder eher gefährlich?
Karl Lauterbach
Ich habe ja fast 10 Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt und der Streit, den
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wir hier auf dem Podium sehen, der wird dort auch geführt. Das liegt daran,
dass die DSM-Klassifikation keine Klassifikation ist wie jede organische, wie
beispielsweise beim Bluthochdruck und dergleichen.
Isabella Heuser
Doch, doch, Migräne, Bluthochdruck.
Karl Lauterbach
Lassen Sie mich doch erst versuchen, den Unterschied zu erläutern, dann
erklären Sie mir, weshalb es falsch ist.
Isabella Heuser
Ok, gerne.
Karl Lauterbach
Der Unterschied, der vielleicht falsch ist, aber auf den man häufig hinweist, ist:
Wenn ich jetzt eine organische Diagnose bekomme, beispielsweise die Form
des Bluthochdrucks, isolierte Hypertonie, systolische Hypertonie oder
generalisierte Hypertonie oder diastolische Hypertonie, dann macht das für den
regulären Patienten nicht so viel aus im Selbstverständnis. Ich weiß, ich habe
Bluthochdruck und es ist eine Unterart davon. Aber wenn ich dachte, ich bin
normal, und jetzt habe ich plötzlich eine psychiatrische Erkrankung oder eine
Diagnose, dann macht das für mein Ich-Bild einen großen Unterschied. Und
das spielt schon eine Rolle.
Es spielt auch eine Rolle für die Vereinigten Staaten zum Beispiel. Was macht
der Arbeitsmarkt mit mir? Wie werde ich beispielsweise von anderen gesehen?
Wie werde ich beispielsweise von meiner Familie gesehen? Finde ich noch
einen Partner? Kaum jemand verschweigt eine Hypertonie. Es gibt aber viele
Leute, die verschweigen beispielsweise, dass sie eine bipolare Störung haben,
selbst dem Partner gegenüber. Darüber gibt es viel Studienmaterial. Von daher
gibt es auch die Position, dass diese Klassifikation in der Bedeutung von der
organischen Klassifikation abweicht.
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Es kommt dazu, dass es viel schwerer ist, die Klassifikation von den Einflüssen
zu trennen, die die Störungen oder was auch immer bedingen. Ich mach‘s mal
ganz simpel: Die Amerikaner leben in einer spezifischen Gesellschaft. Die
Klassifikation, die dann kommt, beschreibt Reaktionen auf diese Gesellschaft.
So ist ungefähr die Lage. Und diese Klassifikationen werden dann von der
ganzen Welt übernommen, es ist aber ganz unklar, ob die gleiche Störung in
dieser Form in einer anderen Gesellschaft überhaupt existiert.
Ich will jetzt nicht die Position vertreten, dass die Klassifikation in der Summe
mehr schadet als nutzt, das ist nicht meine Position. Ich will auch nicht
unterstellen, dass jeder, der an der Klassifikation mitarbeitet, in irgendeiner
Weise abhängig ist, und zwar durch sein Berufsbild usw. Mein einziger Punkt
ist, und ich könnte das fortführen, es gibt systematische, wichtige Unterschiede
zwischen dieser Klassifikation und organischen Klassifikationen. Daher müssen
wir mit dieser Klassifikation besonders vorsichtig umgehen.
Ich bringe ein einziges Beispiel, woran sich der Laie vorstellen kann, woran sich
das entscheiden kann:
In den Vereinigten Staaten spielt die Diskussion um Burn-Out eine viel
geringere Rolle als in Deutschland. In Deutschland ist Burn-Out ein sehr
wichtiges Thema, in den skandinavischen Ländern noch viel stärker. Das
erkennen wir zum jetzigen Zeitpunkt. Professor Berger aus Freiburg tut eine
Menge, um den Krankheitswert von bestimmten Burn-Out-Syndromen von der
Depression abzugrenzen, aber gleichzeitig den eigenständigen Wert zu
beschreiben.
In den Vereinigten Staaten ist das nicht so, daher ist Burn-Out in der jetzt zu
erwartenden DSM-5-Klassifikation keine Diagnose. Der Laie wird glauben, weil
wir ja jetzt viel über Burn-Out hören, ist das auf jeden Fall drin.
In Deutschland ist die generalisierte Angsterkrankung – das bedeutet: ich habe
drei Monate generalisiert das Gefühl, ich habe Angst - generalized anxiety
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disorder - das spielt bei uns keine so große Rolle aus verschiedenen Gründen,
ist aber in Amerika ein ganz großes Thema. Von daher ist das als Diagnose mit
drin, Burn-Out nicht.
Jetzt gibt es Leute, die unterstellen, auch in wissenschaftlichen Arbeiten - ich
bin da selbst eingelesener Verfolger der Debatte, mische mich aber nicht ein:
Hätte jetzt die Erstellung des Manuals federführend in Deutschland
stattgefunden, unter Beteiligung von Amerikanern, aber federführend von
Deutschland, dann wäre Burn-Out drin und die generalized anxiety disorder
wäre nicht drin.
Somit also betrachten diese Leute das als eine Art kulturellen Imperialismus
oder was auch immer. Ich schließe mich der Position übrigens nicht an. Wir
müssen vorsichtig mit solchen Manualen umgehen, und es gibt auch einiges,
was man kritisch dazu bemerken kann, aber ich halte diese allgemeine
Diskussion, brauchen wir so eine Klassifikation, ja oder nein?, für verfehlt. Da
bin ich Ihrer Meinung, es gibt keine Alternative. Weil, es gibt sehr schwere
Diagnosen, die ich ohne eine solche Klassifikation überhaupt nicht
standardisiert erfassen, geschweige denn behandeln könnte.
Isabella Heuser
Aber Herr Lauterbach, unser Selbstbild, so wie wir uns wahrnehmen, wird
natürlich zu ganz erheblichem Teil von dem zurück gespiegelt, was die
Gesellschaft glaubt, ist doch einfach eindeutig.
Und dann bitte noch eine Bemerkung zum Burn-Out: Die Deutsche Gesellschaft
für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, das
heißt, die große psychiatrische Bundesgesellschaft, hat eine klare Definition
bzw. Richtlinie zum Burn-Out-Begriff, das ist Herrn Bergers Privathobby
sozusagen, formuliert. Es ist ganz klar, dass Burn-Out keine eigenständige
Diagnose ist, das ist eine Depression, die anders getriggert ist als andere
Depressionen, aber es ist letztlich eine Depression.
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Michael Mary
Man muss doch mal ganz klar machen, dass …
Karl Lauterbach
Lassen Sie mich drauf antworten, ich bin ja angesprochen worden, wenn Sie
erlauben, danach können Sie wieder zitieren. Zunächst einmal, ich habe nicht
von der Stigmatisierung gesprochen. Das sehe ich so wie Sie. Dass die
Stigmatisierung stattfindet, ist zu beklagen.
Ich sprach davon, wenn ich eine Diagnose von einer bestimmten Form der
Hypertonie bekomme oder ich bekomme eine Diagnose, die die Frage betrifft,
bin ich psychisch normal oder nicht, dass das für mich einen Unterschied
macht. Ich streite nicht ab, das das zum Teil bedingt ist durch die Art und
Weise, wie wir auf psychisch Kranke schauen, da muss viel geändert werden,
aber ich habe bislang nur festgestellt, dass dem so ist.
Isabella Heuser
Aber deshalb können Sie den Fortschritt in Frage stellen. Das geht nicht, Herr
Lauterbach, Sie müssen auch mal Position beziehen, Sie können nicht immer
nur sagen, das ist meine Meinung oder Ja und doch nicht Ja, das geht natürlich
auch nicht.
Karl Lauterbach
Lassen Sie mich doch bitte ausreden. Streiten Sie mit Herrn Mary.
Isabella Heuser
Aber natürlich streite ich auch mit Ihnen.
Karl Lauterbach
Ich habe nur klargestellt – mir ging es um den Unterschied im Selbstbild. Was
das mit dem Fortschritt zu tun hat, ist eine andere Sache.
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Der zweite Punkt ist der: Ich habe keine Position, ob jetzt der Burn-Out als
Krankheit zu sehen ist oder nicht, ich bin kein Experte in diesem Fall. Ich habe
nicht praktiziert im Gegensatz zu Ihnen, ich gebe das hier zu, ich möchte mich
trotzdem ausredend an der Diskussion beteiligen dürfen.
Ich sage nur: Dass es wahrscheinlich einen Unterschied gemacht hätte, ob wir
hier in Deutschland das federführend gemacht hätten oder die Amerikaner.
Mehr wollte ich gar nicht sagen, ich will mich nicht einmischen in die Dinge, die
Sie hier besprochen haben.
Moderation
Ich möchte noch eine Frage an Herrn Wittchen stellen. Ich las, Sie haben in der
Vorbereitung dieser Auflage lange Videokonferenzen mit amerikanischen
Kollegen geführt, um sich abzustimmen. Es gibt ja einen entscheidenden
Gegensatz zwischen dem amerikanischen Markt und dem deutschen
Gesundheitsmarkt: In den USA dürfen Pharmafirmen auch für
verschreibungspflichtige Medikamente werben, und zwar auch im Fernsehen.
Das heißt, dort gibt es Spots, die sagen, wenn Sie die und die Symptome
haben, gehen Sie zum Arzt, wir haben was für Sie. Und mit dieser Diagnose
getriggert kommen die Patienten zum Arzt. Das erklärt u.a. den Verdacht, dass
vieles in der Arbeit an diesem DSM-Manual auch ganz stark Interessen der
Pharmaindustrie bedient.
Etwas anderes, was diesen Verdacht bedient, ist die Zahl, die ich vorhin in
meiner Anmoderation zitiert habe, nämlich dieser enorme Anstieg bei bipolaren
Störungen bei Kindern, das war ja Faktor 400. In dem Moment, wo die
Diagnose im DSM auftaucht, explodiert der Markt. Das wird jetzt, nach dem was
ich gelesen habe, im DSM-5 korrigiert, weil es eine neue Disorder gibt, nämlich
die disruptive mood disregulation disorder, die sozusagen einen Teil dieser
bipolaren Störungen neu klassifizieren und somit die Dynamik, die man da
erzeugt hat, wieder einfangen.
Es gibt doch ein ganz klares Zusammenspiel.
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Hans-Ullrich Wittchen
Was Sie da natürlich konstruieren, ist, ich sage das mal so, an der Grenze des
Infamen. Aber ich möchte trotzdem mal versuchen, darauf zu antworten.
Also, zunächst einmal, dass es grundsätzlich in dem Bereich der Behandlung,
wann immer es ein Markt ist, Interessen gibt, sollte jedem offensichtlich sein.
Der Psychotherapeut hat Interesse, sein Geld zu verdienen, die
Pharmaindustrie, die Gerätschaften, die man sozusagen zum Überleben
braucht, haben ihr Interesse, Ja.
Aber wie ist der Prozess von DSM? Ich glaube, Sie schlagen da jemand
Falschen. Zum einen gibt es keinen so rigorosen Auswahlprozess wie bei der
Wahl der Experten für DSM. Warum ist das so? Weil wir genau wissen, dass es
so Leute wie Sie und andere gibt, die die Vermutung haben, dass dahinter so
ein interessengeleiteter Prozess stehen könnte, und weil es natürlich so ist, das
diese Auswüchse, die Sie schildern, wie beispielsweise im Kinderbereich, dass
es dort eine Gruppe an der Harvard University gibt, die systematisch
angefangen hat, das Konzept der erwachsenen bipolaren Störung auf die
Kinder zu übertragen. Mit allen Konsequenzen, ohne dass zu dem Zeitpunkt
Evidenz da war.
Natürlich gibt es diese Auswüchse. Ist das die Schuld des Systems DSM?
Michael Mary
Aber ja.
Hans-Ullrich Wittchen
Ich möchte nochmal kurz dabei sagen: Warum hat sich denn jetzt der
Kriterienkatalog geändert? Warum haben wir uns nach jahrelangen Kämpfen,
Studien, bei denen dokumentiert wurde, wo dieser Missbrauch passiert, warum
wir die bipolare Störung nicht Kinder übertragen sollten, warum wir eine neue
Kategorie brauchen, für die es übrigens keine pharmakologische Behandlung
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gibt? Damit eben diese Box ADHD beispielsweise zusammen schrumpft, das
war ein wesentlicher Grund.
Nun bin ich übrigens, und das möchte ich Ihnen auch nochmal nahe bringen,
natürlich kein Spezialist für die 500 oder 600 Schubladen, die dort zu finden
sind. Ich kenne mich gut aus mit Angststress und Depressionen und den
Suchterkrankungen. Das macht so ungefähr die Hälfte aus. Ich würde mir nicht
anmaßen zu sagen, ob eine Störung im frühen Kindesalter von mir
diagnostiziert und behandelt werden kann. Das würde ich nicht tun. Da würde
ich ehrlich gestanden versuchen, mir ein Bild zu machen, indem ich mit
Kollegen darüber rede oder mich mit dem Stand der Wissenschaft und
Forschung beschäftige.
Deswegen werde ich auch keine Aussagen dazu machen, ob es nicht vielleicht
doch sinnvoll ist – das sage ich als Vater –, dass ich manchmal fachgerecht
beraten werde, wenn ich bei meinen kleinen Kindern, oder auch bei den
größeren, Auffälligkeiten sehe, die ich vielleicht unter pubertäre oder
Entwicklungsstörungen abhake, die aber möglicherweise andeuten, wie mir das
gerade in dem weiteren Freundeskreis passiert ist, dass dort eine Psychose
dräut, ja? Das möchte ich gerne wissen. Da möchte ich solide Grundlagen
haben. Da möchte ich auch wissen, was Hunderte von Experten dazu ermittelt
haben. Und dann möchte ich nachlesen können: Wir sind uns zwar unsicher,
aber nach Abwägen der Vor- und Nachteile haben wir uns entschieden, dass so
und so zu machen.
Michael Mary
Ach dieser Expertenmythos. Schauen wir doch nur mal in die Medizin.
Inzwischen geht man davon aus, dass 50 bis 60% der Knie- und
Rückenoperationen unnötig sind und nichts bringen. Das sind alles Experten,
die bestimmen, dass das operiert werden muss. Das sind Wissenschaftler,
Leiter von Krankenhäusern. Man muss doch klar sehen: Das ist ein
Interessenfeld.
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Ich habe bestimmt mit einem Dutzend Psychologen und Psychotherapeuten
über mein Buch diskutiert, denen das zum Lesen gegeben. Die haben mir
eigentlich alle gesagt: Ja, ja, wir sind auch genervt von dieser Diagnoseflut und
dem Gutachtenwahn. Aber kein Einziger wollte was ändern. Warum? Die haben
Wartelisten von einem halben Jahr. Das ist ihr Beruf, die sind versorgt. Das ist
das neue Beamtentum in dem Bereich.
Wogegen ich mich wehre, ist ja nicht, dass es Diagnosen für psychische
Erkrankungen gibt. Natürlich gibt es das. Aber die Ausweitung, ist das, was ich
die Eroberung des Graubereichs nenne.
Wir alle haben psychische Probleme und Lebenskrisen, weil wir uns darüber
unsere Richtung bestimmen, die das Leben nimmt. Aber inzwischen wird jede
dieser Krisen mit einer Ziffer belegt. Sonst werden Sie gar nicht behandelt,
sonst kriegen Sie überhaupt keinen Psychotherapeuten ohne diese Diagnose.
Wohin führt das dann? Wir haben ja jetzt noch eine Generation von älteren
Psychotherapeuten. Aber die jungen, die jetzt langsam von der Uni kommen
oder gerade gekommen sind, die sind schon viel mehr an der Theorie, an den
Erfordernissen des Gesetzes orientiert, und die behandeln Sie dann nach
Manual. Und dann kriegen Sie vorgeschrieben, wie bei einer Diabetes, Punkt
eins bis fünf.
Ich habe gerade ein Manual gelesen, dass über 16 Stunden eine Depression
behandelt. Das muss man sich mal reintun. Es gibt so viele Formen. Und
Psychotherapie ist ein Prozess zwischen zwei Menschen. Sie können ja nicht in
eine Psyche eingreifen, außer durch Medikamente oder einen Hammer oder
eine Operation. Sie können ja nur kommunikative Angebote machen. Und was
der Klient oder Patient daraus macht, wie er das deutet, wie er das aufnimmt,
das gilt es erst mal abzuwarten.
Das heißt, es ist ein zwischenmenschlicher Prozess. Und dieses Begleiten von
Menschen wird dann immer weiter zurück gefahren zu Gunsten des
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Behandelns von Menschen. Und wenn große Mengen, Riesenmengen von
Menschen plötzlich einen Burn-Out haben, dann sehe ich darin keine
psychische Erkrankung sondern ich sage mir, das ist der Aufstand der
Individuen gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Hans-Ullrich Wittchen
Aber da sind wir uns ja einig, das ist ein gesellschaftliches Phänomen.
Michael Mary
Nein, von Ihnen kriegt er eine Diagnose und ist krank. Und er muss behandelt
werden, er ist nicht so resilient wie andere. Sein Nachbar steckt das weg, er
nicht. Wenn man sieht, wie massenhaft diese Diagnosen zunehmen, dann kann
man eigentlich gar nicht anders, als zu sagen: Da müssen Interessen dahinter
stecken.
Hans-Ullrich Wittchen
Die Diagnosen nehmen doch nicht zu, weil wir das System haben. Das System
kennt diese Diagnose gar nicht. Ich darf Sie nochmal dran erinnern: Im DSM
gibt es diese Diagnose gar nicht. Sie können zu Recht sagen, wie Sie oder Herr
Lauterbach eben, die Ausweitung oder der liberale Gebrauch der Kriterien für
bipolare Störungen für ADHD ist nicht gerechtfertigt. Das ist ein Missbrauch oft
gewesen, bei Kindern beispielsweise. Ja, aber bei Burn-Out und dergleichen
geht’s nicht.
Ich darf Sie nochmal drauf hinweisen: Es ist nicht DSM, es ist das ICD-System,
das jeglichen Anlass, der einen Menschen dazu veranlasst, eine Einrichtung
aufzusuchen, in irgendeine Schublade zwingt. Wenn Sie als Therapeut
aufgesucht werden und da ist keine Depression, keine Angststörung, keine
Suchterkrankung, sondern ein lebenspraktisches Problem, das belastet, dann
müssen Sie auch den Mut haben, die so genannte Z-Codierung zu nehmen.
Das heißt es ist keine Krankheit, sondern eine Anlass bezogene Konsultation,
bei der Sie sich entscheiden, möglicherweise zu intervenieren oder nicht zu
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intervenieren. Aber Sie verlassen damit das Gebiet der regelhaften Behandlung
von Krankheitsbildern.
Isabella Heuser
Herr Mary, wir wollen das vielleicht auch mal von der Seite des Betroffenen
sehen und nicht nur von den Seiten des Behandlers, – von den Seiten des
Patienten, oder, wie Sie es nennen, Klienten.
Michael Mary
Von den Betroffenen.
Isabella Heuser
Genau. Das sind auch Betroffene. Wenn Sie jemanden haben, der ein
Lebensproblem hat, und der möchte dieses Lebensproblem in empathischer Art
und Weise mit einem Psychotherapeuten, mit Ihnen, besprechen, er möchte
Hilfe haben, dann soll er das bitte tun. Dann muss er, weil er ja keine Diagnose
hat, er hat ein Lebensproblem, dann muss er das selbst bezahlen. Das führt
natürlich dazu, dass viele sagen, ich will das aber nicht selbst bezahlen, ich
hätte gerne eine Diagnose, damit das die Krankenkasse bezahlt. So läuft das
durchaus.
Dann gibt es natürlich die Betroffenen, die haben eine psychische Erkrankung,
also nicht ein vorübergehendes Lebensproblem, wo sie Beratung und Hilfe
brauchen, die darüber hinaus geht, was gute Freunde zum Beispiel bereitstellen
können. Dann gehen die zu einem Behandler, zu einem Therapeuten.
Michael Mary
Und die Diagnosen werden dann so geschrieben, dass sie von der Kasse
akzeptiert werden. Und man kann immer eine Diagnose aus dem Hut zaubern.
Isabella Heuser
Ja, aber Diagnose bedeutet nicht automatisch Behandlung.
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Michael Mary
Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus der Praxis, aus Ihrer Praxis.
Isabella Heuser
Herr Mary, Sie sind wirklich nicht im täglichen Geschäft offensichtlich, was
psychische Diagnose betrifft. Herr Mary, nochmal: Diagnose bedeutet nicht
automatisch Behandlung. Das obliegt dem Patienten, der nachfragt, der sich
entscheidet. Nicht theoretisch, sondern ganz praktisch. Jeden Tag.
Michael Mary
Jetzt bin ich dran, passen Sie auf: Ich habe eine Oberärztin einer
psychosomatischen Klinik interviewt. Die hat mir gesagt: Ja, die meisten, die bei
uns sind, haben ganz normale Lebensprobleme, die bleiben so zwei bis vier
Wochen bei uns. Aber ich gebe Ihnen schon Recht, Herr Mary: Gestern hatte
ich einen Mann hier, dem gefiel es da gut. Es hat ihm offensichtlich auch gut
getan. Der wollte noch zwei Wochen länger bleiben. Dann habe ich ihm eben
die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ gegeben, sonst übernimmt das die
Kasse ja nicht.
So sieht es dann aus in der Praxis. Und jetzt sagen Sie mir nicht, dass diese
Oberärztin spinnt oder das ist nur eine oder die sieht das falsch. Sie müssen in
Deutschland leider Diagnosen und Ziffern mit Krankheitswert vergeben, um
Menschen durch psychische Probleme begleiten zu können.
Isabella Heuser
Ich frag mich, was das für ein Patient ist, der sich einfach eine Diagnose geben
lässt, das hat ja auch enorme Konsequenzen eventuell. Ganz merkwürdig.
Michael Mary
Der denkt an die Behandlung.
Isabella Heuser
Das habe ich nicht gesagt.
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Moderation
Noch einmal die Intervention in das Fachgespräch hinein:
Herr Lauterbach, wenn ich mir das anhöre, frage ich mich, wie man einen
solchen Bereich politisch sinnvoll regelt. Das Psychotherapeutengesetz hat den
Zugang für alle Patienten geöffnet, hat auch den Therapeuten bestimmte
Regeln, aber auch eine bestimmte Sicherheit gegeben. Kriterienkataloge, über
die wir hier diskutieren, versuchen internationale Standards zu setzen,
Vergleichbarkeiten herzustellen. Das scheint aber nicht auszureichen.
Karl Lauterbach
Ich versuche erst mal, die Antwort zu verbinden mit der Diskussion, die
stattgefunden hat, um eine Einschätzung zu geben.
Es ist in jedem Bereich der Medizin so, dass diejenigen, die an der Entwicklung
von Diagnosen oder Behandlungsbedürftigkeiten und dergleichen arbeiten,
auch im Prinzip indirekt über ihr eigenes Einkommen entscheiden und
Sponsoren haben. Das gilt für jeden Bereich. Das gilt für diesen Bereich
genauso, wie für die somatischen Bereiche.
Aber in der Summe ist es so, dass der Bereich der psychischen Störungen
besser beobachtet wird, womit ich bei Ihnen bin. Das wird hier genauer
beobachtet als in anderen Sektoren. Wenn ich zum Beispiel schaue, wie derzeit
im Bereich der Onkologie bestimmte behandlungsbedürftige Entitäten hin und
her verschoben werden mit sehr teuren Medikamenten, die direkt dahinter
hängen, wird das weniger in der Öffentlichkeit beobachtet als im DSMGeschäft, grob gesprochen. Von daher würde ich da versuchen, die Szene in
Schutz zu nehmen.
Das bedeutet nicht, dass damit jedes Problem gelöst ist. Ich bin auch der
Meinung, dass es ein viel größeres Problem gibt, als die Streitigkeiten über das,
was gesichert ist und wie zu behandeln ist.
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Unser Hauptproblem ist, dass viele Leute im Geschäft sind, die schlicht keine
blasse Ahnung haben. Das ist die Wahrheit.
Jetzt ist zum Beispiel im dem DSM entschieden worden, dass das Asperger
Syndrom, eine kindheitliche Störung, zusammengefügt wird in den Formenkreis
der Autismus-Störungen. Man kann unterschiedlicher Meinung sein, ob das
richtig ist oder falsch. Das ist etwas, wo ich mich gut auskenne. Aber in der
Summe ist es besser, dass man dort der einen oder anderen Meinung ist, kennt
aber die Studienlage, als dass man behandelt und über Jahre hinweg ein
Asperger- oder Autismus-Kind nicht erkennt und glaubt, es wäre irgendwie eine
familiendynamische Störung oder was.
Die Klassifikation hat auf jeden Fall aus meiner Sicht den Wert, dass wir uns mit
den Diagnosen, mit der Klassifikation, mit den Behandlungsmöglichkeiten, auch
mit den Studienergebnissen beschäftigen. So eine Klassifikation erlaubt ja auch
die Interpretation von Studien, das ist immer ein bisschen willkürlich, aber ich
kann die Leute nachher vergleichen, ich kann überhaupt zu einer Auswertung
kommen.
Ich glaube daher, dass der Vorzug der Klassifikation klar überwiegt und dass
wir in Deutschland eher das Problem haben, übrigens viel mehr als in Amerika,
dass viele Leute in der Behandlung sind, die schlicht keine blasse Ahnung
haben, wenn man ehrlich ist. Und die wehren sich dann oft gegen die
Klassifikation, weil etwas, womit ich mich nicht auskenne, mir natürlich zunächst
ein bisschen bedrohlicher vorkommt.
Ich bin selbst ein Freund der Psychotherapeuten, auch für die Öffnung und die
Gleichstellung der Abrechnung. Ich bin der Meinung, dass viele
psychotherapeutische Leistungen unterbezahlt sind usw., so dass ich nicht
eingegriffen hätte. Aber es gilt auch für einen großen Teil der
Psychotherapeuten, dass sie schlicht nicht im Saft sind. Und das halte ich für
viel schlimmer, als dass man sich über den DSM an der Grenze dessen, was
gesichert ist und woher das Geld kommt, streitet.
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Moderation
Herr Wittchen, ich bin in einer persönlichen Lebenskrise oder ich habe eine
psychologische Störung. Wo gehe ich hin? Zum Psychotherapeuten? Setze ich
auf meinen eigenen Körper, auf meine Resilienz oder mache ich einfach drei
gute Abende mit meinen Freunden und ein paar Flaschen Rotwein? Nach der
Diskussion heute: Wem kann ich eigentlich noch vertrauen?
Hans-Ullrich Wittchen
Das Problem wird sich von alleine lösen. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der
Suche, schnell einen Psychotherapeuten zu finden, bei dem Sie Ihr Leiden in
hinreichend ausführlicher Form so darstellen können, dass er eine
Entscheidung findet. Ich befürchte, wenn Sie wirklich leiden, wenn Sie eben
nicht mehr schlafen können, wenn die Probleme über Sie hineinbrechen, wenn
Sie sagen: Ich muss jetzt unbedingt was tun, dass Sie möglicherweise nur noch
Ihren Hausarzt haben, der Ihnen zuhört. Oder? In Berlin? Ein Psychiater?
Schnell?
Ich glaube, selbst trotz der guten Versorgung, hier ist leider das Problem, dass
wir – und das ist kein Wunder nach der kurzen Zeit der Entwicklung eines
solchen Systems – noch keine hinreichend klare Struktur für die Betroffenen
haben. Wann, wie, wo wende ich mich mit was hin? Wir wissen es vielleicht
auch noch gar nicht hinreichend gut.
Das hat nur sehr begrenzt etwas mit dem diagnostischen System zu tun. Sie
müssen sich immer mal klar machen, ungefähr die Hälfte aller
Niedergelassenen sind zu einer Zeit an der Universität und in ihrer Ausbildung
gewesen, wo es das gar nicht gab. Die haben noch das Klassische: Es gibt drei
Formen, Neurose, Psychose, Persönlichkeitsstörung. Und mehr brauchen auch
manche Therapeuten, ehrlich gestanden, nicht, weil sie zu gar nicht mehr, ich
sage das mal, fachlich oder auch wissenschaftlich ausgebildet und
entsprechend befähigt sind.
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Aber wie das in Zukunft aussieht, das ist wie in den Glasball gucken. Ich
wünschte mir, wir hätten eine klarere Struktur. Ich wünschte mir, dass
Menschen, die betroffen sind, sozusagen Modelle finden, wo sie sagen: Gut,
dann kann ich zum Hausarzt gehen und der kann schnell einen
Psychotherapeuten finden, wo ich dann ein klärendes Gespräch tun kann. Ich
finde auch schnell einen Psychiater. Aber, wie Sie wissen, komme ich aus
Dresden und mache viel für Ostsachsen, da habe ich einen einzigen Psychiater
für zigtausende Patienten. Wie soll das gehen?
Von daher sage ich, leider glaube ich, werden Sie, wenn Sie dieses Problem
haben, mehr oder minder auf Glück angewiesen sein. Es wird Zufall sein, wenn
Sie über irgendwelche Verbindungen irgendwo in das System Zugang finden.
Wenn es richtig brennt, funktioniert unser System richtig gut, Sie werden
sicherlich einen Platz in der Klinik kriegen, Sie werden eine Akut- und
Notfallbehandlung bekommen. Aber ich sag mal, eine frühzeitig, rechtzeitig
abgestimmte qualitativ hochwertige Behandlung ist leider, glaube ich, nicht der
Regelfall.
Moderation
Herr Mary, brauchen wir mehr Psychotherapeuten, um dann auf der Grundlage
auch zu erkennen, ob wir wirklich eine Nation sind, die immer häufiger auf der
Couch liegen muss? Oder würde uns der Zuwachs an Psychotherapeuten
zeigen, dass wir eigentlich relativ normal sind, jeder für sich eigentlich normal
ist?
Michael Mary
Ja, wir brauchen bestimmt mehr Psychotherapeuten. Aber wir brauchen nicht
Psychotherapeuten, die gezwungen werden, klassifizierend vorzugehen. Die
psychischen Probleme nehmen zu, weil wir in einer zunehmend
individualisierten Gesellschaft leben und weil jeder seinen Lebensweg immer
wieder selbst korrigieren muss. Man kann heute nicht mehr einer sein, man ist
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gezwungen, sozusagen viele Personen zu sein. Und die können sich
untereinander schwer verheddern. Man kann über sich selber stolpern heute.
Insofern ist die Begleitung von Menschen durch psychisch schwierige Lagen
eine ganz wichtige Angelegenheit, übrigens etwas, wo ich gar nichts gegen eine
Selbstbeteiligung habe.
Man muss sich aber auch anschauen, was hier passiert. In Deutschland gibt es
noch drei Methoden, die zugelassen sind. Die beharken sich hinter den
Kulissen gegenseitig. In Österreich haben sie 22 Methoden, die zuglassen sind.
Sind jetzt die Österreicher schlechter behandelt als die Deutschen? Laufen die
da alle ein bisschen verrückt durch die Gegend oder was muss man sich da
vorstellen? Das hier ist auch ein Kampf der Schulen untereinander. Die
Argumente, mit der die Gesprächstherapie aus dem Kassensystem
ausgeschlossen worden sind, waren die gleichen Argumente, mit denen sich
die Verhaltenstherapie da reingeschlichen hat.
Es geht nicht einfach nur noch um den Patienten, wie es hier immer so gesagt
wird. Aus meiner Sicht steht der Patient ganz hinten. Ich hätte kein Problem mit
einer Diagnose wie Lebenskrise, basta, fertig. Und da würde man
wahrscheinlich 60, 70, 80% der Menschen mit einordnen können. Dann sagt
man, dafür gibt es eine Zuzahlung, dann passen die auch selber schon drauf
auf, dass da nicht hundert Sitzungen draus werden.
Und für die schweren Störungen? Ich habe überhaupt nichts gegen diese
Klassifizierung, aber dagegen, dass man den Graubereich erobert, dass
plötzlich 20, 30% für krank erklärt werden. Das läuft ganz einfach: Ich hab’s
gesehen. Es gibt eine Studie, dass 800.000 Menschen in Deutschland
spielsüchtig sind. Dann geht die Kamera auf eine Gesundheits- oder
Landespolitikerin und die sagt: Was wir jetzt dringend brauchen, sind
Diagnosen und Behandlungssysteme. So löst die Politikerin ihr Problem, sich
als kompetent für die Volksgesundheit darzustellen.
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Irgendwer hat eine Studie gemacht und dann haben wir demnächst irgendwann
eine Diagnose. Gott sei Dank ist es ja aus dem DSM-5 rausgenommen worden,
aber es sollte ja auch die Diagnose des Risikos für Psychose rein. Das Risikofür-Psychose-Syndrom, das habe ich bestimmt.
Isabella Heuser
Nein, das haben Sie hoffentlich nicht, Herr Mary. Ich halte das für extrem
gefährlich, was Sie machen. Ich finde das wirklich ganz gefährlich. Und ich
finde es auch nicht adäquat. Aber damit verkauft sich Ihr Buch sicherlich
hervorragend, da bin ich mir auch sicher.
Wogegen ich mich vor allem wirklich wehren möchte, ist Ihre Haltung
gegenüber den Patienten. Es ist nicht so. Wenn Sie mit dem Patienten
empathisch, partnerschaftlich umgehen, dann ist das nicht irgendein Mensch,
dem Sie irgendwas überstülpen können, dem Sie eine Diagnose geben und
sofort eine Behandlung einleiten. Das wird immer noch der Patient entscheiden.
Und nochmal: Diagnose bedeutet nicht gleich Behandlung, überhaupt nicht.
Das hat erstmal gar nichts miteinander zu tun, sondern es ist einfach eine
Möglichkeit, dass sich Leute miteinander unterhalten können. Und wenn Sie mit
dem Patienten wirklich so umgehen, wie man mit einem Patienten umgehen
sollte …
Michael Mary
Haben Sie vielleicht ein idealisiertes Bild der Wirklichkeit in der
psychotherapeutischen Praxis?
Isabella Heuser
Es geht ja nicht nur um therapeutische Praxen, die Psychiater machen ja auch
Psychotherapie. So einfach kann man es sich nicht machen. Ich möchte schon,
einfach um auch die Angst zu nehmen, nicht sagen: Da kommt ein Behandler
und sagt, du hast das und das und jetzt musst du eine lange Behandlung
machen. Das ist doch Unsinn, das ist doch einfach Quatsch.
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Michael Mary
Es ist ganz klar, dass in der Psychotherapie der Fokus weggeht von der
Begleitung des Menschen hin zu einer technisierten Behandlungsform.
Hans-Ullrich Wittchen
Ich glaube, wir haben hier zwei sehr unterschiedliche Welt- und
Handlungsbilder. Sie haben offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen, dass
wir eine Wissenschaft über psychische Störungen haben, dass wir sehr viel
wissen, dass wir verstehen, dass wir vorhersagen können…
Michael Mary
Daran glaube ich noch nicht.
Hans-Ulrich Wittchen
… und dass die Diagnosen das Bindeglied sind zwischen dem, was wir tun, und
über was wir reden mit dem Patienten. Sie haben noch ein Verständnis, für das
ich übrigens auch relativ viel Sympathie habe, aber ich befürchte, das führt uns
ziemlich in die Irre.
Moderation
Herr Wittchen, wir müssen Schluss machen, die Zeit ist um, wir geben zurück
ins Funkhaus. Vielen Dank, dass Sie uns im Internet oder im Radio gehört
haben. Vielen Dank auch, dass Sie hier waren und der Diskussion gelauscht
haben. Vielen Dank und einen schönen Abend.
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