Somatoforme Beschwerden

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Hintergrundwissen:
Psychosomatik in der Allgemeinmedizin
Die folgenden Grundlagen dienen der Einarbeitung in das Thema und werden als
Lernstoff vorausgesetzt. Im Seminar sollen die genannten allgemeinärztlichen
Handlungsstrategien an konkreten Kasuistiken eingeübt und diskutiert werden.
Die Zusammenstellungen sind im wesentlichen folgenden Übersichtsarbeiten
entnommen, die wir zum eingehenderen Selbststudium empfehlen:

Hausärztliche Leitlinie Psychosomatische Medizin
der Leitliniengruppe Hessen

Somatoforme Störungen und Funktionsstörungen
Übersichtsarbeit im Dt. Ärzteblatt

AWMF-Leitlinie funktionelle Syndrome
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
1
Psychische Störungen in der Bevölkerung
Aktuelle repräsentative Erhebungen psychischer Störungen in der deutschen
Allgemeinbevölkerung ergaben folgendes Bild :








Innerhalb der letzten vier Wochen wies ca. jede fünfte Person eine psychische Störung auf.
Die 12-Monats-Prävalenz für eine psychische Störung lag bei etwa 33%.
Bezogen auf die Lebenszeitprävalenz berichtete nahezu jede zweite Person aktuell bzw.
zurückliegend von einer psychischen Störung (43%).
Die häufigsten psychischen Störungen sind Angststörungen (15%), affektive Störungen
(12%) und somatoforme Störungen (11%).
Die Komorbidität (≥ 2 psychische Störungen) lag bei 40%.
Der typische Beginn der Störung liegt zwischen dem 16. und 30. Lebensjahr.
Die Wahrscheinlichkeit innerhalb der letzten zwölf Monate eine affektive Störung,
Angststörung oder somatoforme Störung aufzuweisen, ist besonders hoch, wenn die Person
weiblich, unverheiratet, berentet oder arbeitslos ist sowie aus einer niedrigen sozialen
Schicht stammt.
Patienten mit somatoformen Störungen verursachen im ambulanten Bereich durchschnittlich
das 14-Fache der durchschnittlichen pro-Kopf-Ausgaben.
Das Krankheitsbild verläuft in der überwiegenden Zahl der Fälle chronisch mit gravierenden
Gesundheitseinschränkungen und führt zu einer erheblichen Beeinträchtigung familiärer und
sozialer Funktionen. Die Mehrheit der Patienten ist nach 3 Jahren ohne adäquate Therapie
berufsunfähig.
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
2
Somatoforme Beschwerden - Beispiele

Allgemeinsymptome

Thorakale Beschwerden

Abdominale Beschwerden

Nervensystem

Bewegungsapparat

Urogenitalsystem

Schmerzen
(c) LB AM Uni Wü
Abgeschlagenheit, Leistungsknick, außergewöhnliche Müdigkeit,
Schweißausbrüche, Hitzewallungen, Schlafstörungen, Essstörung,
Kreislaufbeschwerden, Konzentrationsstörung, Gedächtnisstörungen
Herzrasen oder -stolpern, Druckgefühl i. d. Herzgegend, Atmungsstörungen
z. B. Hyperventilieren, Globusgefühl, Dysphagie, retrosternale Schmerzen
Aerophagie, Meteorismus, Schluckauf, postprandiale dyspeptische
Beschwerden, Völlegefühl, vermehrtes Aufstoßen, Sodbrennen, Flatulenz,
Diarrhöen, häufiger Stuhldrang, Obstipation, Pruritus ani, Übelkeit,
Druckgefühl, Kribbeln im Bauch, Erbrechen, Appetitverlust,
Speisenunverträglichkeit, schlechter Geschmack im Mund oder stark
belegte Zunge, Mundtrockenheit, Zungenbrennen
Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen, Muskelschwäche,
Schwierigkeiten beim Schlucken oder Kloßgefühl, Flüsterstimme oder
Stimmverlust, Sinnestäuschungen, Verlust von Berührungs- oder
Schmerzempfindungen, unangenehme Kribbelempfindungen, D
Doppelbilder, Ohrgeräusche, Verlust des Hörvermögens, Krampfanfälle,
Gedächtnisverlust, Bewusstlosigkeit
Arthritische Beschwerden, WS-Syndrome, Verkrampfungen,
Verspannungen, Tics
Miktionsbeschwerden, häufiges Wasserlassen, Harnverhaltung, Schmerzen
beim Geschlechtsverkehr, Pruritus, funktionelle Sexualstörungen,
Dysmenorrhoe, Libidoverlus
unterschiedlichster Lokalisation
Psychosomatik & Suchtmedizin
3
Stressmodell zur Erklärung
psychovegetativer Beschwerden
Psyche und Körper sind untrennbar miteinander verbunden.
Anhaltende Bedrohung bzw. Defizite der Fähigkeiten zur Erfüllung der
Grundbedürfnisse führt allgemein zu einer Stressreaktion und geht zunächst mit
Ängsten und den begleitenden Symptomen gesteigerter Erregung einher.
Diese Bedrohungen und Defizite können real und/oder subjektiver Natur sein.
Bleiben sie bestehen, können langfristig psychosomatische Symptome auftreten.
Stress verursacht über endokrinologische Mechanismen Veränderungen im ZNS und
im ganzen Körper. Sind die Folgen von akutem Stress noch reversibel, schädigt
chronischer Stress den Organismus und produziert damit die verschiedensten
Symptome und Erkrankungen. Diese Symptome sind organisch, wenn auch nicht
durch eine organische Krankheit verursacht.
Die Patienten haben also weder »nichts« noch »nichts Organisches«. Die Ursache
der psychosomatischen Symptome und Erkrankungen ist chronischer Stress,
dem wiederum psychische Probleme zugrunde liegen.
Die Behandlung adressiert deshalb symptomatisch die körperlichen Veränderungen
mit allgemeiner Umstellung der Lebensführung (Sport und Entspannung) und
ggf. einer medikamentösen Therapie bei entsprechender Indikation.
Schwerpunkt der Behandlung muss aber die Beseitigung der verursachenden
psychischen Probleme mit Hilfe von psychotherapeutischen Strategien sein.
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
4
ICD - Kriterien
Somatoforme Störung F45

wiederholte Darbietung körperlicher Symptome, für die keine ausreichende somatische
Erklärung gefunden wurde

hartnäckige Forderung nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer
Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind

Patient widersetzt sich den Versuchen, die Möglichkeit einer psychischen Ursache zu
diskutieren, das zu erreichende Verständnis für die Verursachung der Symptome ist häufig für
Patient und Arzt enttäuschend.
Somatisierungsstörung F 45.0

multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die wenigstens
zwei Jahre bestehen
Somatoforme autonome Störung (Funktionelle Syndrome) F 45.3

Krankheitsbilder, die aus Störungen von Körperfunktionen resultieren, ohne Nachweis einer
organpathologischen Veränderung

teils objektivierbare, teils subjektive Symptome

betrifft vorwiegend vegetativ innervierte Bereiche

seelische Faktoren lösen diese Symptomatik aus und tragen zur Aufrechterhaltung bei
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
5
Hinweise auf vorwiegend psychosomatische
Beschwerden

vielfältige, diffuse, wechselnde Symptome

neurovegetativ vermittelte Symptomatik

bildhafte, emotional gefärbte Schilderung

Erwähnung auslösender Situationen

psychische Komorbidität (Sucht, Angst, Depression)

Auslösung emotionaler Reaktionen beim Arzt

Handlungsdruck auf Arzt und Angehörige

fehlende Korrelation zum klinischen Befund

ergebnislose redundante Vordiagnostik
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
6
Fragen zur psychosozialen Anamnese

Was halten Sie selbst für die Ursache Ihrer Beschwerden?
3



Welche Belastungen gibt es am Arbeitsplatz oder in der Familie?
3
Gab es in Ihrem Leben ein besonderes Ereignis, eine Veränderung in den letzten
Monaten?
3












Gibt es irgendetwas, was Sie besonders beschäftigt?
3
Machen Ihnen bestimmte Themen oder Menschen Ihrer Umgebung Sorgen?
3
Mit welcher Stimmung wachen Sie morgens auf? Was ändert sich im Laufe des Tages?
3
Können Sie gut ein- und durchschlafen?
3
Würden Sie sagen, dass Sie mit Ihrer Sexualität zufrieden sind?
3
Gibt es noch irgendetwas Wichtiges, das ich wissen sollte, um Ihnen helfen zu können?
5
Screeningfragen zur Erkennung von Angststörungen

Haben Sie sich in den vergangenen Wochen häufig nervös, ängstlich oder gereizt gefühlt?

Konnten Sie Ihre Sorgen oft nicht kontrollieren?

5
Screeningfragen zur Erkennung einer Depression

Haben Sie sich im vergangenen Monat oft niedergeschlagen oder hoffnungslos gefühlt?

Hatten Sie im letzten Monat häufig weniger Freude bei den Dingen, die Sie tun?
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
7
Was der Arzt NICHT tun sollte…
–
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–
–
–
–
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–
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–
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–
–
–
–
–
einseitig biomedizinisches oder psychologisierendes Vorgehen
fehlende Kooperation zwischen den Behandlern
organmedizinische Über- und Mehrfachdiagnostik als reine Ausschlussdiagnostik
Überschätzen unspezifischer somatischer Befunde
mangelnde Berücksichtigung psychosozialer Faktoren und psychischer Komorbidität
Übersehen sozialmedizinischer Aspekte (Krankengeld, Rentenbegehren)
verängstigende Befundmitteilung und „katastrophisierende“ ärztliche Beratung
fehlende („Sie haben nichts“) oder stigmatisierende („nur psychisch“) Diagnose
mangelnde Information und Aufklärung über das Krankheitsbild
ungenügende Einbeziehung des Patienten (seiner Ursachen- und Zielvorstellungen)
unstrukturiertes Vorgehen mit beschwerdegesteuerten oder notfallmäßigen Terminen
Förderung passiver Therapiekonzepte (physik. Maßnahmen, Injektionen, Operation)
Präferenz invasiver Therapien und/oder suchtfördernder Medikamente
lange, unreflektierte Krankschreibung
zu späte oder unzureichend vorbereitete Überweisung in die psychosoziale Medizin
ausbleibende Einleitung einer gegebenenfalls indizierten multimodalen Therapie
Medikamentenverordnung ohne Sichtung und Sortieren der laufenden Medikation
unkritische Verschreibung suchtfördernder Medikamente, vor allem Opioide oder Benzodiazepine
nichtindizierte Verordnung von Neuroleptika, zum Beispiel als „Wochen-/Aufbauspritze“
alleinige Psychopharmakotherapie ohne adäquate psychotherapeutische Behandlung
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
8
Allgemeinärztliche Behandlung


Regelmäßiger Ausdauersport zur Regulation der Stressreaktion und zur Senkung
der erhöhten Grundspannung
Regelmäßige aktive Entspannung inklusive Erlernen und Durchführen eines
speziellen Entspannungstrainings und einer generellen Veränderung der
Lebensführung zur Senkung der erhöhten Grundspannung

Verringerung äußerer Stressoren (wenn möglich)

Medikamentöse Behandlung, wenn indiziert

wiederholte Information über die Diagnose und mögliche vegetative
Pathomechanismen

Symptom-Kontext-Tagebuch

Training der Einsichtsfähigkeit in psychovegetative Zusammenhänge.
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
9
Somatisierung:
Handlungsempfehlungen zur Diagnostik








Hinreichend sicherer Ausschluss organischer Ursachen: nicht redundant, zeitlich gerafft
Erkennen und Benennen der Diagnose einer somatoformen Störung
Patienten mit einer somatoformen Störung können zusätzlich organisch krank sein;
deshalb muss im Verlauf ggf. auch an andere neue Erkrankungen gedacht werden
Anamnese erweitern: weitere aktuelle Beschwerden, bisheriger Verlauf der
Beschwerden und Behandlung, Erfragen von Hinweisen auf psychische
Beeinträchtigungen, aktuelle psychosoziale Belastungen und Auslösesituation,
störungsunterhaltende Faktoren, Orientierung über biografischen Werdegang
Erfragen der Ursachenüberzeugung des Patienten: gibt wichtigen Aufschluss über zu
erwartende Interaktionsprobleme
Beachtung nicht ausdrücklich geäußerter Behandlungsanliegen: ein körperliches
Beschwerde-Angebot kann “Eintrittskarte“ zur Erörterung anderer, z.B. psychosozialer
Anliegen sein
Die diagnostische Erfassung psychischer Faktoren sollte schon bei ersten Hinweisen
darauf, dass die Beschwerden nicht ausreichend organisch begründbar sind, erfolgen
und nicht erst nach Abschluss aller notwendigen organmedizinischen Untersuchungen
Mögliche sozialmedizinische Folgen der Körperbeschwerden (Beantragung einer Rente,
Sozialgerichtsverfahren etc.) müssen berücksichtigt werden.
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
10
Somatisierung:
Entlastung der Arzt-Patienten-Beziehung












Gelassene Haltung
sachliche, aber empathische, ernst nehmende Atmosphäre
Impuls zu raschem Handeln nicht nachgeben, nicht (mit-)agieren
Befragung dient dem besseren Verständnis, nicht der sofortigen Lösung
Druck des Patienten nicht übernehmen, Erwartungen relativieren
sich nicht von sozialen Problemen überschwemmen lassen
Klares Setting
klare zeitliche Begrenzung: zur Verfügung stehende Zeit vorher
ankündigen, Struktur der Befragung einhalten, einen Termin nicht
überlasten
Zeit lassen, das heißt, gegebenenfalls weitere Termine ausmachen
Gegenübertragung wahrnehmen
Beim Arzt entstehende Gefühle von Allmacht oder Hilflosigkeit durch
Idealisierung oder Ablehnung und Handlungsdruck des Patienten können
diagnostisch genützt werden
Erhalt einer tragfähigen Beziehung ist für langfristigen Erfolg wichtiger als
rasche Beschwerdelinderung
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
11
Hintergrundwissen:
Suchterkrankungen in der Allgemeinmedizin
Die folgenden Grundlagen dienen der Einarbeitung in das Thema und werden als Lernstoff
vorausgesetzt. Im Seminar sollen die genannten allgemeinärztlichen Handlungsstrategien an
konkreten Kasuistiken eingeübt und diskutiert werden.
Die Zusammenstellungen sind im wesentlichen folgenden Übersichtsarbeiten entnommen,
die wir zum eingehenderen Selbststudium empfehlen:







Suchtforschung auf neuen Wegen
Zusammenfassende Broschüre des Bundesforschungsministeriums zur Drogenabhängigkeit
Alkoholabhängigkeit
Suchtmedizinische Reihe der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen
Kurzintervention bei Menschen mit Alkoholproblemen
Leitfaden für Ärzte der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
Medikamente- Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit
Übersichtsarbeit der Bundesärztekammer
Verordnung von Benzodiazepinen
Leitfaden der Landesärztekammer Baden-Württemberg
Motivierende Gesprächsführung
Grundlagen zur Beratungsstrategie (Miller/Rolnick bzw Prochaska/diClemente)
Weitergehende Hintergrundinformationen zu neurobiologischen Mechanismen der Sucht:
Menschen, Biere und Neuronen (Jana Wrase, Charité)
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
12
Abhängigkeit
Diagnosekriterien stoffgebundener Abhängigkeit (WHO)
Mindestens 3 der folgenden Symptome in 12 Monaten:








starker Drang zum Konsum einer Substanz
verminderte Kontrollfähigkeit
eingeengtes Verhaltensmuster beim Konsum
Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Konsums
anhaltender Konsum trotz eingetretener schädlicher Folgen
Auftreten körperlicher Entzugssymptome
Toleranzbildung --> Dosissteigerung
Konsum mit dem Ziel der Minderung von Entzugssymptomen
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
13
Abhängigkeit: Merkmale süchtiger Personen
Gehäuft auftretende Persönlichkeitseigenschaften bei abhängig Erkrankten:

unzureichende Realitätsanpassung

Schwierigkeiten bei der Herstellung dauerhafter Beziehungen

geringes Selbstvertrauen

geringe Frustrationstoleranz

geringes Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen

Verlangen nach rascher Wunscherfüllung

Stimmungslabilität

ängstliche Neigung zu schuldhaften Erlebnisverarbeitungen, zum Agieren
der Konflikte und zu Selbstsabotage
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
14
Alkohol: Epidemiologie

Konsumenten, Mißbraucher, Abhängige
Kategorie
Männer
Frauen
Gesamt
Riskant
12,6 %
11,5 %
12,0 %
Schädlich
3,1%
1,3%
2,2%
Abhängigkeit Suchtsurvey
4,8% 2012 2,0%
Epidemiologischer
/ 18-64-Jährige =3,4%
52.010.517 Personen (Stat.
Bundesamt 2014)
Rauschtrinken
in den letzten 30 Tg.
(c) LB AM Uni Wü
46,7%
22,0%
35,6%
Psychosomatik & Suchtmedizin
15
Alkohol: Epidemiologie

Die direkten Kosten alkoholbezogener Krankheiten werden für das Jahr 2002 auf
insgesamt 24,4 Mrd. € geschätzt.
Diese Summe entspricht 1,16% des Bruttoinlandsproduktes. 69,8% der
Gesamtkosten wurden durch Männer verursacht.
Direkte Kosten
Mio € Indirekte Kosten
Mio €
Ambulante Behandlung
3817
Mortalität
Stationäre Behandlung
2424
Arbeitsunfähigkeit
2709
Nicht med. direkte Kosten
1377
Frühberentung
2272
Rehabilitation
(c) LB AM Uni Wü
10976
823
Psychosomatik & Suchtmedizin
16
Alkohol: Diagnostik
Klinische Zeichen, die auf ein Alkoholproblem hinweisen können, sind:

Foetor
3

Gerötete Konjunktiven und aufgedunsenes Gesicht, Teleangiektasien, Rhinophym
3

Typische Hautveränderungen (z.B. Gefäßspinnen, Palmarerythem, Geldscheinhaut)

Zittern der Hände (Tremor)

Vegetative Labilität, insbesondere erhöhte Schweißneigung (feuchte Hände)

Gangunsicherheit (etwas breitbeinig, tapsig)

Habitus („Bierbauch“, Kontrast zur Atrophie der Schulter und/oder Beinmuskulatur)

Magen-Darm-Störungen,insbesondere morgendlicher Brechreiz, Inappetenz

Erhöhte Reizbarkeit, verminderte Impulskontrolle und Stresstoleranz

Schlafstörungen, Konzentrationsmangel,Vergesslichkeit, Leistungseinbuße

Störungen der sexuellen Appetenz und Potenz
(c) LB AM Uni Wü
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17
Alkohol: Diagnostik
CAGE-Test

Cut down:

Annoyed:

Guilty:

Eye opener:
Hatten Sie jemals das Gefühl, dass Sie weniger
trinken sollten?
Hat es Sie belästigt oder gekränkt, wenn
jemand Ihr Trinken kritisiert hat?
Hatten Sie jemals Schuldgefühle wegen Ihres
Trinkens?
Trinken Sie jemals morgens, um sich zu
beruhigen oder in Gang zu kommen?
Die Wahrscheinlichkeit eines Alkoholmissbrauchs beträgt

62 Prozent bei einer,

89 Prozent bei zwei,

99 Prozent bei mehr als zwei bestätigten Aussagen
(c) LB AM Uni Wü
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18
Alkohol: Behandlungsziele
Hierarchie der Behandlungsziele

Sicherung möglichst gesunden Überlebens

Reduzierung des Suchtmittelkonsums

Aufbau suchtmittelfreier Phasen

Dauerhafte Abstinenz

Lebensgestaltung in Zufriedenheit


(c) LB AM Uni Wü
Wem es gelingt, weniger zu trinken, der wird

sich besser fühlen

mehr Energie haben

sein Gewicht reduzieren

besser schlafen

ein besseres Gedächtnis haben

keinen Kater mehr haben
besser arbeiten und sich besser konzentrieren können
zuhause und am Arbeitsplatz weniger Probleme haben
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19
Medikamentenabhängigkeit

1,4 - 1,9 Mio. Menschen in Deutschland weisen eine manifeste Abhängigkeit auf.
Weitere 1,7 Millionen müssen als mittel- bis hochgradig gefährdet eingestuft
werden, eine Medikamentenabhängigkeit zu entwickeln.

Frauen sind etwas doppelt so häufig betroffen als Männer.

Die Prävalenz einer Medikamentenabhängigkeit steigt ab dem 40. Lebensjahr.

Ab dem 60. Lebensjahr ist die Medikamentenabhängigkeit ein weit verbreitetes
Problem.

Psychovegetative Beschwerdebilder verleiten zu falschem
Verschreibungsverhalten. (Reparaturbedürfnis von Arzt und Patient)
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
20
Wirkstoffgruppen mit hohem Sucht- und
Missbrauchspotential

Barbiturate
Phenobarbital

Benzodiazepine
Alprazolam Bromazepam Brotizolam
Chlordiazepoxid Clobazam Clonazepam
Diazepam Dikaliumclorazepat Flunitrazepam
Flurazepam Loprazolam Lorazepam
Lormetazepam Medazepam Nitrazepam
Oxazepam Prazepam Temazepam Tetrazepam
Triazolam

Benzodiazepin-Analoga Zaleplon Zolpidem Zopiclon

Clomethiazol

Opiate und Opioide
Buprenorphin Codeinphosphat Fentanyl
Levomethadon Methadon Pethidin Tilidin
Tramadol

Mischanalgetika
Analgetika + Codein bzw. Coffein

Psychostimulantien
Amfepramon Amfetaminil Ephedrin Fenityllin
Methylphenidat Norpseudoephedrin Pemolin
Phenylpropanolamin Pseudoephedrin
(c) LB AM Uni Wü
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21
Wirkstoffgruppen mit hohem Sucht- und
Missbrauchspotential

Benzodiazepine

anxiolytisch, hypnotisch, muskelrelaxierend, antikonvulsiv, amnestisch

schnelle Toleranzentwicklung: low-dose - Abhängigkeit

Rebound bei abruptem Absetzen

Hypnotische Wirkung geht beim Dauergebrauch verloren; stattdessen
Zunahme von Angst und Depression; Gefühlsverflachung

Bei alten Menschen Gefahr der Wirkstoffkumulation durch verzögerten
Abbau: Bild der „Scheindemenz“

Flunitrazepam (Rohypnol)

Sonderstellung wegen schneller Anflutung und raschem Wirkeintritt:
Kombinationsdroge für Opiatabhängige

Benzodiazepin-Analoga (Zopiclon, Zolpidem)

sind den Benzodiazepinen bezüglich des Missbrauchs- und
Abhängigkeitsrisikos gleichgestellt!
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
22
Faustregel
Faustregel für die Verschreibung von Arzneimitteln mit Suchtpotential: die„4 K’s“




Klare Indikation
Korrekte Dosierung
Kurze Anwendung
Kein abruptes Absetzen (Ausnahme: Schmerzmittelabhängigkeit)
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
23
Phasen der Veränderungsbereitschaft






Absichtslosigkeit
Während das Alkoholproblem von außen erkannt werden kann, ist es dem Betroffenen selbst
nicht bewusst. Er denkt nicht über die Möglichkeiten einer Änderung nach. In dieser Phase sind
Informationen und Rückmeldungen sinnvoll, um das Problembewusstsein zu entwickeln.
Absichtsbildung
Ist dem Betroffenen das Problem bewusst, kann er in die Phase der Absichtsbildung eintreten.
Diese ist gekennzeichnet durch ambivalente Wünsche, das Verhalten zu ändern, aber auch, zu
bleiben, wie man ist. Aufgabe des Beraters ist, Anstöße in Richtung auf Veränderung zu geben.
Vorbereitung
Patienten setzen sich ernsthaft mit einer Veränderung auseinander. In dieser Zeit sollte der
Berater bestrebt sein, eine realistische Veränderungsstrategie mit dem Patienten zu entwickeln,
da ansonsten die Gefahr besteht, dass dieser in eine frühere Phase zurückfällt.
Aktion
Der Patient unternimmt konkrete Schritte der Veränderung, wie es im Rahmen eines
Beratungs- oder Behandlungsprozesses typisch ist.
Aufrechterhaltung
Während der Phase der Aufrechterhaltung besteht die Aufgabe des Patienten darin, die
erzielten Veränderungen zu festigen, sie als dauerhaftes Verhalten zu stabilisieren und einem
Rückfall vorzubeugen. Der Berater kann ihn durch positive Rückmeldung unterstützen.
Die einzelnen Phasen der Verhaltensänderung sind miteinander verwoben und nicht immer
scharf voneinander abzugrenzen. Wenn es zu Rückschlägen und zu Rückfällen kommt, wird der
Prozess der Verhaltensänderung in der Absichtsphase wieder aufgenommen.
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
24
Identifikation des Motivationsstadiums
(Prochaska und DiClemente 1983)

Es ist wichtig, dass der Arzt nicht „vorprescht“, sondern den
Patienten „da abholt, wo er steht“.
(c) LB AM Uni Wü
Psychosomatik & Suchtmedizin
25
Schritte ärztlicher Intervention





Absichtslosigkeit
Absichtsbildung
Vorbereitung
Aktion
Aufrechterhaltung
(c) LB AM Uni Wü





Beziehungsaufnahme
•
positives Klima aufbauen
•
Alkoholkonsum ansprechen
•
negative Etikettierung vermeiden
Diagnose
•
Konsum erfassen und einschätzen
•
Folgeschäden erkennen
•
psych. Komorbiditäten klären
Förderung der Änderungsbereitschaft
•
ärztliche Empfehlung geben
•
Diskrepanz erzeugen
•
eigene Ziele unterstützen
Förderung der Änderungskompetenz
•
erreichbare Ziele entwickeln
•
Verhaltensalternativen finden
•
soziale Ressourcen einbeziehen
Begleitung und Beobachtung
•
regelmäßigen Kontakt sichern
•
weiterführende Hilfen vermitteln
•
den Rückfall einkalkulieren
Psychosomatik & Suchtmedizin
26
Förderung der Veränderungsbereitschaft
„Menschen lassen sich in der Regel besser von jenen Gründen
überzeugen, die sie selbst entdeckt haben, als von solchen, die
anderen in den Sinn gekommen sind.“ (Blaise Pascal, 1660)
Motivierende Gesprächsführung (Miller, Rollnick)
als evidenzbasierte direktive Strategie zur Förderung der
Veränderungsbereitschaft




Empathie zeigen, indem die Situation aus der Sicht des Klienten betrachtet
und verstanden wird
Diskrepanz erzeugen: Wenn dem Klienten deutlich wird, dass sein
momentanes Verhalten im Widerspruch zu wichtigen Zielen und Vorstellungen
für seine Zukunft steht, kann dies die Veränderungsbereitschaft stärken
Widerstand umgehen: das Finden eigener Lösungswege unterstützen, neue
Sichtweisen anbieten statt Argumente des Widerstands wegzudiskutieren
Selbstwirksamkeit stärken, indem der Klient in der Annahme bestärkt wird,
Veränderungen erreichen zu können
(c) LB AM Uni Wü
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27
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