masterarbeit / master`s thesis

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MASTERARBEIT / MASTER’S THESIS
Titel der Masterarbeit / Title of the Master‘s Thesis
„Flüchtlinge“ auf der Bühne.
Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen in der Inszenierung
von Nicolas Stemann und Michael Thalheimer
verfasst von / submitted by
Kerstin Bertsch, BA
angestrebter akademischer Grad / in partial fulfilment of the requirements for the degree of
Master of Arts (MA)
Wien, 2016 / Vienna 2016
Studienkennzahl lt. Studienblatt /
degree programme code as it appears on
the student record sheet:
A 066 582
Studienrichtung lt. Studienblatt /
degree programme as it appears on
the student record sheet:
Masterstudium
Theater-, Film- und Medientheorie
Betreut von / Supervisor:
ao. Univ.-Prof. Dr. Monika Meister
DANKSAGUNG
Ich danke meiner Betreuerin Ao. Univ.-Prof. Dr. Monika Meister sehr für ihre
Unterstützung und kontinuierlichen Ermunterungen.
Eine inszenierungsanalytische Arbeit ist auch auf die Materialien der Theaterhäuser
angewiesen; Konstanze Schäfer, Angelika Loidolt als auch Andreas Bloch vom
Burgtheater und Nicolas Stemann, Christine Ratka und Inga Segelmann vom Thalia
Theater haben mir dankenswerterweise ihre Materialien (auch unpublizierte) zur
Verfügung gestellt.
An dieser Stelle möchte ich mich auch bei der Stadt Wien (MA7-Kultur) bedanken,
namentlich bei Herrn Univ.-Prof. Dr. Hubert Ch. Ehalt und Heidi Kadensky, die mittels
eines Stipendiums das Verfassen dieser Masterarbeit förderten.
Neben inhaltlichem Input und fruchtbaren Diskussionen möchte ich meiner ehemaligen
Studienkollegin Sandra Folie für ihr präzises Lektorat danken.
Zuletzt möchte ich meinen Eltern einen Dank aussprechen, denn sie standen und stehen
ganz hinter mir. Auch beim Verfassen dieser Arbeit waren sie mir eine große Stütze und
halfen über Zeiten des Zweifelns mit vielen Gesprächen hinweg.
Inhaltsverzeichnis
1 EINLEITUNG ................................................................................................................ 1 1.1 Forschungsstand und -­‐literatur ................................................................................ 4 1.2 Arbeitsmaterialien und Vorgehensweise .............................................................. 9 2 Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek ..................................................... 12 2.1 Titel .................................................................................................................................. 12 2.2 Bilder ............................................................................................................................... 13 2.3 Textentstehung und Kontext .................................................................................. 16 2.3.1 Appendix ................................................................................................................................... 19 2.3.2 Coda ............................................................................................................................................ 21 2.4 Begriffsklärung: Schutzbefohlene / Asylsuchende / Flüchtlinge ............... 23 2.5 Quellen und Bezüge – Intertexte ............................................................................ 25 2.6 Politische Resonanz und Revision ........................................................................ 27 3 Elfriede Jelinek „[...] will kein Theater“ ........................................................... 30 3.1 Jelineks Theaterbegriff ............................................................................................. 31 3.1.1 „Für diejenigen sprechen, für die kein anderer spricht“ ..................................... 33 3.1.2 Das politische Schreiben von Elfriede Jelinek .......................................................... 33 3.1.3 Theater und Politik .............................................................................................................. 35 3.2 Jelineks Sprache .......................................................................................................... 38 3.3 Die Arbeitstechnik der Autorin .............................................................................. 40 3.4 Regisseure als Ko-­‐Autoren ...................................................................................... 41 3.5 Wer (re-­‐)präsentiert wen in welchem Kontext? .............................................. 44 3.6 Das kollektive Subjekt – der Chor ......................................................................... 47 3.6.1 Sprecherinstanzen – wer spricht? ................................................................................. 50 4 ANALYSE ..................................................................................................................... 53 4.1 Material .......................................................................................................................... 55 4.2 Methode ......................................................................................................................... 56 5 Uraufführung in Deutschland ............................................................................ 59 5.1 Ästhetische Verfahren ............................................................................................... 61 5.1.1 Regiekonzept .......................................................................................................................... 62 5.1.2 Bühnenbild .............................................................................................................................. 64 5.1.3 Kostüm ...................................................................................................................................... 65 5.1.4 Musik ......................................................................................................................................... 67 5.1.5 Pöseldorf und Netrebko .................................................................................................... 67 5.1.6 Rassismen auf der Bühne ................................................................................................. 69 5.1.7 Chor der „Flüchtlinge“ – Statements ............................................................................ 71 5.1.8 Politischer Aktivismus ....................................................................................................... 73 5.2 FAZIT ................................................................................................................................ 74 6 „Heimholung“ nach Wien .................................................................................... 75 6.1 Ästhetische Verfahren ............................................................................................... 77 6.1.1 Regiekonzept .......................................................................................................................... 78 6.1.2 Bühnengestaltung ................................................................................................................ 80 6.1.3 Kostüm ...................................................................................................................................... 82 6.1.4 Musik ......................................................................................................................................... 83 6.1.5 Netrebko .................................................................................................................................. 83 6.1.6 Chor der „Flüchtlinge“ ........................................................................................................ 84 6.1.7 Politische Dimension .......................................................................................................... 85 6.2 FAZIT ................................................................................................................................ 87 7 Conclusio und Ausblick ........................................................................................ 89 8 Bibliographie ........................................................................................................... 94 8.1 Primärliteratur ............................................................................................................ 94 8.2 Sekundärliteratur ....................................................................................................... 95 8.2.1 Print ........................................................................................................................................... 95 8.2.2 Online ..................................................................................................................................... 101 9 Abbildungsverzeichnis ....................................................................................... 107 10 Abstract Deutsch .................................................................................................. 111 11 Abstract English .................................................................................................... 112 1
EINLEITUNG
„Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2004 wird der
österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek verliehen
für den musikalischen Fluß von Stimmen und
Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit
einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und
zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen.“1
Die Pressemitteilung der Schwedischen Akademie anlässlich der LiteraturnobelpreisVerleihung 2004 an Elfriede Jelinek beschreibt in aller Kürze die sprachlichen
Stärken und das vehemente Einmischen der Autorin in zeitnahe politische
Auswüchse. In ihrem Theatertext Die Schutzbefohlenen nimmt Jelinek Europa
wortgewaltig in die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen. Sie gibt in
‚musikalischem Fluß’ ihre Stimme den Flüchtlingen, unterbricht das litaneihafte2
Flehen und Klagen mit Gegenstimmen aus dem Volk und der Politik und führt die
Macht der Medien und Klischees anhand von pointierten Intertexten aus der
zynischen Zuwanderungsbroschüre des österreichischen Innenministeriums vor. Der
Text orientiert sich an dem antiken Drama Die Schutzflehenden von Aischylos und
verknüpft gekonnt philosophische Motive von Heidegger in der Rede des
„Flüchtlingsklagechor, der die «Festung Europa» aus dem Blickwinkel ihrer
Ausgegrenzten“3 wiedergibt. Die Literatin hält in ihrem jüngsten Theaterstück mit
analytischem Blick und virtuoser Sprache der Gesellschaft einen Spiegel vor;
hinsichtlich der europäischen Flüchtlingspolitik und den dadurch kommunizierten
‚Werten’ „[r]edet sich «der Westen» in Elfriede Jelineks «Schutzbefohlenen» um
Kopf und (Klischee-)Kragen“4. Die Medienlandschaft der letzten Jahre ist geprägt
von Berichten zur Asylproblematik in Europa.
Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat das Versagen der
europäischen Asylpolitik zum Anlass genommen, um in Die Schutzbefohlenen auf
die Missstände im Umgang mit Menschen auf der Flucht hinzuweisen.
1
Nobelprize.org Offizielle Homepage. Pressemitteilung (07.10.2004)
http://www.nobelprize.org/nobel_plrizes/literature/laureates/2004/press-d.html Letzter Besuch:
07.12.2015.
2
„Litaneihaftes Klagen“ bedeutet, es wird immer wieder monotonartig hervorgebracht.
In Zusammenhang mit Die Schutzbefohlenen geht Bärbel Lücke diesem Aspekt des Jelinek-Textes in
ihrem Aufsatz Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo). Zu Elfriede
Jelineks Stück Die Schutzbefohlenen nach.
3
Wahl, Christine: Die Welt und ihre dramatische Haltigkeit. In: Theater Heute Magazin. Mai 2015. S.
46-49, hier S. 48.
4
Ebd.
1
Der Jelinek-Text entfacht sein Feuer am österreichischen tagespolitischen Geschehen
und die Autorin gibt „[...] in einem flammenden Plädoyer gegen Ignoranz,
unterlassene Hilfeleistung und das Schicksal Tausender inmitten eines Staatenbunds,
der nicht nur Träger des Friedensnobelpreises ist, sondern auch alles in seiner Macht
stehende dafür tut, die Mauern der Festung Europa zu verstärken“5 den Menschen
auf der Flucht eine Stimme. Jelineks Theatertext Die Schutzbefohlenen fungiert
aufgrund der gesellschaftspolitischen Aktualität als Stück des Augenblicks, sind
doch gerade die darin behandelten Themen Flucht und Asyl „zu umkämpften
gesellschaftspolitischen Konfliktfeldern geworden“6.
Zunächst werden aufgrund der großen Bandbreite an Forschungsarbeiten zu Elfriede
Jelineks Schaffen die theaterwissenschaftlichen Eckpfeiler abgesteckt und die für
diese Arbeit relevante fächerübergreifende Forschung erläutert sowie in Bezug zur
Thematik gesetzt.
Im zweiten Kapitel werden der Entstehungsprozess und der gesellschaftspolitische
Kontext des Theaterstücks, die Textänderungen durch Jelinek sowie die
Texterweiterungen besprochen. Die Themen Flucht und Emigration hat die Autorin
im Text anhand konkreter Fälle erarbeitet. Sie nimmt Bezug auf die Proteste der
verzweifelten Flüchtlinge vor und in der Votivkirche im Dezember 2012 in Wien
und auf die täglichen Flüchtlingsdramen in Europa. Mit „Wortrhythmen in
blitzhaften Bezugnahmen zueinander“
7
verarbeitet die Autorin die Realität
ästhetisch, ergreift dabei Partei, klagt an und gibt Menschen auf der Flucht eine
Stimme. Ihren Theatertext hat Jelinek mit Form und Motiven des antiken Dramas
Die Schutzflehenden von Aischylos – das lässt bereits der Titel des Stücks erkennen
– sowie mit existenzphilosophischen Motiven verschränkt.
Der Fokus des dritten Kapitels liegt auf Jelineks Theaterverständnis, der Verbindung
von Theater und Politik und ihrer Arbeitstechnik in Bezug auf das Theater; weiters
auf ihrem politischen Schreiben und dem Verhältnis von Theater und Wirklichkeit in
ihren Texten.
5
Franke, Oliver: Zeugenschaft im Theater – Die Praxis des Bezeugens im Gegenwartstheater.
http://theatertreffen-blog.de/tt15/zeugenschaft-theater-2/ Letzter Besuch: 02.12.2015.
6
Dahlvik, Julia; Reinprecht, Christoph: Asyl als Widerspruch – vom Menschenrecht zum
Auserwählten? In: Janke, Pia (Hg.): JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum
2014-2015. Praesens Verlag. Wien: 2015. S. 43-54, hier S. 43.
7
Haß, Ulrike: Theaterästhetik. In: Janke, Pia (Hrsg.): Jelinek-Handbuch. Verlag J. B. Metzler.
Stuttgart/Weimar: 2013. S. 62-68, hier S. 62.
2
Anhand
der
Schutzbefohlenen lässt
sich
eine
Problematik,
die
in
den
Fachzeitschriften der letzten Jahre immer wieder aufkommt, hingegen in einer
theoretischen Aufarbeitung noch vergleichsweise wenig präsent ist, diskutieren: Wer
spricht? Welche SprecherInneninstanzen gibt es? Und wer (re-)präsentiert am
Theater wann wen in welchem Kontext? sind die zentralen Forschungsfragen, denen
in dieser Masterarbeit nachgegangen wird. Anhand einer punktuellen Analyse von
zwei
ausgewählten
Inszenierungen
soll
eine
theaterwissenschaftliche
Auseinandersetzung mit den konkreten ästhetischen Verfahren und Mitteln der
szenischen Umsetzung für das Medium Theater untersucht werden.
Zum einen wird in Kapitel fünf die Uraufführung durch Jelinek-Kenner Nicolas
Stemann mit einem Flüchtlingschor auf der Bühne analysiert. Stemann lässt neben
SchauspielerInnen des Thalia-Theaters auch „echte Flüchtlinge“ auf der Bühne zu
Wort kommen, im Chor sprechen, einzeln das Wort erheben oder gemeinsam singen.
Im sechsten Kapitel folgt dann die Analyse der Inszenierung des Regisseurs Michael
Thalheimer, der bei der Aufführung des Stücks in Wien pragmatisch mit
Burgschauspielern am Chorischen arbeitet und die „echten Flüchtlinge“ außen vor
lässt, denn sie kommen nicht zu Wort. Thalheimer nimmt den Jelinek-Text beim
geschriebenen Wort.
Anhand
von
Jelineks
Theaterbegriff,
ihrem
politischen
Schreiben,
der
Textentstehung und einer punktuellen Inszenierungsanalyse von zwei sehr
unterschiedlichen Regiearbeiten der Schutzbefohlenen wird in dieser Masterarbeit
ausgearbeitet, inwiefern man Realität künstlerisch auf die Bühne bringen kann. Am
Beispiel von Jelineks Theatertext Die Schutzbefohlenen kann ein Diskurs zur (Re-)
Präsentation am Theater geführt werden. Der Text wird von einem ‚Wir’ eröffnet,
einem kollektiven Subjekt, das auf der Bühne sowohl bei Stemann als auch bei
Thalheimer (jedoch in sehr unterschiedlicher Weise) als Chor auftritt und ein
handelndes Kollektiv verkörpert.
Ziel dieser Arbeit ist es, die Widersprüchlichkeit zwischen Lebenswirklichkeit und
der ästhetischen Umsetzung im Medium Theater zu beleuchten.
3
1.1
Forschungsstand und -literatur
In Anbetracht der vor allem seit der Nobelpreisverleihung 2004 großen Zahl an
Veröffentlichungen, die vom Elfriede Jelinek-Forschungszentrum gesammelt
werden, kann heute 8 sehr wohl von einer fachübergreifenden Jelinek-Forschung
gesprochen werden. Auffallend ist, dass einerseits die Publikationen vorwiegend von
Forscherinnen angeführt sind und andererseits – im Vergleich zu anderen
deutschsprachigen Schriftstellerinnen – die Zahl der Publikationen und Symposien
zu Jelinek deutlich höher ist.9 Nachfolgend soll eine kurze Verortung der JelinekForschung in der theaterwissenschaftlichen Disziplin erfolgen, wobei auch
Eckpunkte
aus
anderen
Fachbereichen
(bspw.
Politik-,
Sozial-
und
Migrationsforschung) vorwiegend aus der literaturwissenschaftlichen Forschung
kompakt in Bezug zum Projekt erläutert werden.
Sammelbände, wie ICH WILL KEIN THEATER von Pia Janke aus dem Jahr 2007
oder das 2008 erschienene Werk Elfriede Jelinek – Stücke für oder gegen das
Theater von Inge Arteel und Heidy Margrit Müller geben Einblicke in den
Forschungsstand, so unter anderem in Resultate der Symposien zu Jelineks
Theaterarbeit (Schaffen für das Theater); insbesondere wird auf intermediale Bezüge
und die internationale Rezeption eingegangen.
Auch die mediale Präsenz von Elfriede Jelinek hat Einzug in die Forschung gehalten,
was nicht weiter verwundert, stehen doch ihrer „[...] Anerkennung, die sich in der
öffentlichen Wahrnehmung ihrer Bücher, der zahlreichen Inszenierungen ihrer
Stücke und der Preisverleihung bis zum Literaturnobelpreis 2004 zeigt, [...]
aggressive mediale Reaktionen gegenüber“10. Die Person Elfriede Jelinek stützt bis
zur Verleihung des Nobelpreises im Jahr 2004 selbst diese mediale Präsenz mit
diversen Reden, Interviews, Fotografien und Porträts. Die Nestbeschmutzerin, ein
umfassendes Werk von Pia Janke (2002), schafft ein ausführliches Bild der
öffentlichen Präsenz von Elfriede Jelinek. Nach der Nobelpreisverleihung war
Jelinek in den Medien omnipräsent und vermied daraufhin öffentliche Auftritte,
nahm aber auf ihrer Homepage weiterhin Stellung zum gesellschaftspolitischen
8
Marlies Janz hat im Jahr 1995 in der Vorbemerkung ihrer Monographie Elfriede Jelinek noch das
Gegenteil festgestellt. Vgl. Janz, Marlies: Elfriede Jelinek. Verlag. J. B. Metzler. Stuttgart/Weimar:
1995. VII.
9
Vgl. Gürtler, Christa: Forschung. In: Janke, Pia [Hrsg.]: Jelinek-Handbuch. Verlag J. B. Metzler.
Stuttgart/Weimar: 2013. S. 356-366, hier S. 356.
10
Ebd. S. 363f.
4
Geschehen in Österreich und Europa und klinkt sich bis heute mit Leserbriefen und
Stellungnahmen in politische Debatten ein.11 Auch Die Schutzbefohlenen basieren
auf gesellschaftspolitischem Nährboden hinsichtlich der Flüchtlingsdebatte in
Europa, ausgehend von einem österreichischen Ereignis vor der Votivkirche hat
Elfriede Jelinek eine Klageschrift verfasst, die in einem großen europaweiten
politischen Zusammenhang steht und eine konkrete zeithistorische Situation
beschreibt.
Die literaturwissenschaftliche Forschung positioniert sich erstmals zu Beginn der
1970er und 1980er Jahre hinsichtlich einer Jelinek-Forschung; schwerpunktmäßig
werden die Themen Feminismus, Frauenliteratur und weibliche Ästhetik sowie
poststrukturalistische und postmoderne Schreibweisen der Schriftstellerin untersucht.
Seit jeher polarisiert das Schaffen Jelineks und bricht die gängigen Muster der
sogenannten „Frauenliteratur“ der 1970er und der Avantgarde auf. Die ästhetischen
Verfahrensweisen der Dekonstruktion, wobei unterschieden wird zwischen „der
Analyse von spezifischen Überschreibungen Jelineks von literarischen Texten sowie
medialen Diskursen und Vergleichsstudien zu anderen AutorInnen“12, beschäftigt die
literaturwissenschaftliche Forschung seit den 1980er Jahren.
Zentral ist auch die Forschungsarbeit zu Jelineks intertextuellen Bezügen zu anderen
AutorInnen, „die von den griechischen Dramatikern bis zu den wichtigen
Philosophen der Gegenwart reichen“
Forschungszweig
der
13
Jelinek-Forschung
, ergeben einen weiteren großen
sowohl
im
literatur-
als
auch
theaterwissenschaftlichen Fachbereich. Auch in den Schutzbefohlenen arbeitet die
Literatin mit ausgewiesenen Intertexten.
In Kombination mit Jelineks intertextueller und intermedialer Schreibweise wird
auch in der Forschung von Marlies Janz die Mythendestruktion der Autorin
berücksichtigt. Sie setzt sich in der Monographie Elfriede Jelinek (1995) mit der
Ästhetik der Schriftstellerin hinsichtlich ihres intertextuellen Verfahrens auseinander,
sieht diese „als grundlegend für Jelineks Schreiben [...] und [kombiniert] dieses
häufig mit einer sprachkritischen Analyse von Jelineks intertextueller und
intermedialer Schreibweise.“14 Janz deutet das ästhetische Verfahren Jelineks als
intertextuell, da es sich auf fingierte kulturelle Modelle stützt und diese als Mythen,
11
Vgl. Ebd. S. 364.
Ebd. S. 362.
13
Ebd.
14
Ebd. S. 356.
12
5
„d. h. als Ideologisierungen von sozialen und sexuellen Machtstrukturen,
destruiert.“ 15 Bereits in den 1980er Jahren setzte sich die Forschung mit der
Theaterästhetik Elfriede Jelineks auseinander und berücksichtigte hierbei vor allem
ihre essayistischen Texte Ich möchte seicht sein (1986) und Ich schlage sozusagen
mit der Axt drein (1984), in denen sich Jelinek programmatisch zu ihrem
Theaterschaffen äußert. In dem Band Gegen den schönen Schein, erschienen 1990
und herausgegeben von Christa Gürtler, finden sich Beiträge zur Prosa Jelineks, zu
ihrer Theaterästhetik, die in der Postdramatik anzusiedeln ist, und auch zur medialen
Selbstinszenierung der Autorin.16
Seit den 1990er Jahren fokussiert die Jelinek-Forschung vermehrt die Theaterstücke
der Schriftstellerin, wobei die Schwerpunkte der Analysen auf ihrer Ästhetik und den
konkreten Inszenierungen liegen und die literaturwissenschaftlichen Beiträge
methodisch verstärkt „(...) von psychoanalytischen, poststrukturalistischen und
dekonstruktivistischen Ansätzen bestimmt [sind]“17. Im Online-Magazin des TextemVerlages findet sich ein Beitrag unter dem Titel „Aischylos, Aufklärung und
Asylproteste in Österreich (und anderswo). Zu Elfriede Jelineks Stück Die
Schutzbefohlenen“
von
Bärbel
Lücke
–
der
sich
in
ihre
zahlreichen
Veröffentlichungen zu Elfriede Jelinek einreiht und den jüngsten Theatertext der
Literatin behandelt – , worin sich die promovierte Germanistin einmal mehr mit
Jelineks Dekonstruktion in ihrem Werk und in ihrer Sprache (hier insbesondere mit
den Schutzbefohlenen und den Menschenrechten) auseinandersetzt. Nach Bärbel
Lücke
„entzündet“
sich
Jelineks
dekonstruktivistische
und
parodistische
„vielschichtige postavantgardistische Kunst [...] am sogenannten Tagespolitischen“18
und ‚entlarvt’ Menschenrechtsverletzungen mit Hintergrundwissen und Intertexten:
„[...]interessant ist [...]: Die Sprache selbst sprengt die nationalen Grenzen und stellt nicht
allein Österreich, sondern das neoliberale Europa an den Pranger.“19
Das Arbeitsbuch stets das Ihre. Elfriede Jelinek (1998) von Brigitte Landes vereint
essayistische und literarische Texte zum Theaterschaffen der Schriftstellerin, verfasst
von RegisseurInnen, DramaturgInnen, AutorInnen und WissenschaftlerInnen. In der
15
Ebd. S. 357.
Vgl. Ebd.
17
Ebd.
18
Lücke, Bärbel: Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo). Zu Elfriede
Jelineks Stück Die Schutzbefohlenen. In: Textem – Texte und Rezensionen.
http://www.textem.de/index.php?id=2519 Letzter Besuch: 17.11.2015.
19
Ebd.
16
6
Studie Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens von Evelyn Annuß (2008) werden
Jelineks Theaterstücke „als dekonstruktive Fortschrift der Brecht’schen Lehrstücke
[analysiert] und [...] in der sprechenden Instanz die politische Sprengkraft ihrer Texte
[ausgemacht].20 Diese ‚politische Sprengkraft’ ist auch ihrem jüngsten Theatertext
Die Schutzbefohlenen eingeschrieben und wird in dieser Arbeit in Bezug auf die
Repräsentationsdebatte besprochen, wobei nach dem „wer spricht?“ die Verortung
der SprecherInneninstanzen bei den Schutzbefohlenen naheliegt. Jelinek eröffnet
ihren Theatertext mit einem sprechenden „Wir“ und die Leser merken deutlich, dass
hier ein Chor von Flüchtlingen spricht, dem Jelinek ihre Stimme leiht, aus dem aber
auch einzelne Instanzen ausbrechen.
Im Jahr 2004 wurde das Elfriede Jelinek-Forschungszentrum als Verein gegründet,
der als international vernetzte Forschungsstelle fungiert und das Schaffen der
einzigen österreichischen Nobelpreisträgerin sowie Kontexte und Rezeption ihres
Werks
dokumentiert.
Durch
das
umfassende
Archiv,
die
laufenden
Forschungsprojekte und schließlich als Forum des wissenschaftlichen Austausches
ermöglicht
das
Elfriede
Jelinek-Forschungszentrum
eine
fundierte
Auseinandersetzung mit der Autorin und ihren Werken; es werden laufend
Symposien und Diskussionen veranstaltet und Forschungsbeiträge publiziert.21 Seit
2011 erarbeitet das Elfriede Jelinek-Forschungszentrum in Zusammenarbeit mit
internationalen WissenschaftlerInnen in lexikonartigen Beiträgen eine umfassende
Gesamtdarstellung von Jelineks Leben, ihren Werken und ihrer Wirkung. Das
Jelinek-Handbuch, das in der Reihe „Personenhandbücher“ des Metzler Verlags im
Herbst 2013 erschienen ist, versammelt biographische Daten, künstlerische
Kontexte, das politische und feministische Engagement von Elfriede Jelinek wie
auch ihre Schreibverfahren. In dem kompakten Nachschlagewerk werden Jelineks
narrative Strategien und ihre Theaterästhetik ebenso beleuchtet wie auch in ihren
Werken verankerte, wichtige Themen und Diskurse.
Die Forschungsplattform Elfriede Jelinek unter der Leitung von Pia Janke wurde im
Juni 2013 in Kooperation mit dem Elfriede Jelinek- Forschungszentrum an der
Universität Wien mit „(...) einem international vernetzten, interdisziplinären
20
Gürtler: Forschung. S. 358.
Vgl. Elfriede Jelinek- Forschungszentrum http://www.elfriede-jelinek-forschungszentrum.com
Letzter Zugriff: 29.10.2015.
21
7
Forschungsschwerpunkt zu Elfriede Jelinek“22 gegründet. Basierend auf dem Werk
von Elfriede Jelinek werden fächerübergreifende Forschungsdiskussionen „(...) zu
wichtigen ästhetischen Fragen und virulenten Themen unserer Zeit ermöglicht, die
mit Hilfe neuer Medien, in Form von Tagungen und Publikationen auch in die
Öffentlichkeit wirken“23.
Die jüngste Publikation der Forschungsplattform Elfriede Jelinek ist das neue
JELINEK[JAHR]BUCH 2014-2015, das mit einem Gespräch mit Ute Nyssen, der
Theaterverlegerin, Lektorin und Agentin von Elfriede Jelinek eröffnet und die
jüngsten Theatertexte darunter Die Schutzbefohlenen behandelt – u.a. ist ein
Interview
mit
Schutzbefohlenen
dem
am
Regisseur
Wiener
Michael
Burgtheater)
Thalheimer
(Inszenierung
abgedruckt,
sowie
Die
weitere
Auseinandersetzungen mit dem Stück und der Thematik „Asyl und Menschenrecht“.
Dieses materialreiche Buch fügt sich in eine bereits große Reihe an
Veröffentlichungen des Jelinek-Forschungszentrums ein. In dem im Oktober 2015
erschienenen Werk JELINEK[JAHR]BUCH 2014-2015 findet sich ein Beitrag von
Luigi Reitani, „’Daß uns Recht geschieht, darum beten wir’ Elfriede Jelineks Die
Schutzbefohlenen“, weiters ein Gespräch von Björn Hayer mit dem Regisseur
Michael Thalheimer unter dem Titel „Die Farben eines schwarzen Bildes – Zur
österreichischen Erstaufführung von Die Schutzbefohlenen am Burgtheater“ wie auch
eine Analyse zu den Kontexten aus soziologischer Perspektive unter dem Titel „Asyl
als Widerspruch – vom Menschenrecht zum Auserwählten“ von Julia Dahlcik und
Christoph Reinprecht. Diese vorliegenden Beiträge regen zu einer konkreteren und
ausführlicheren Beschäftigung insbesondere mit der Thematik an.
Am 19. Oktober 2015 fand im Rahmen der Präsentation des JELINEK[JAHR]BUCH
2014-2015 eine Diskussionsveranstaltung am Institut für Theater-, Film- und
Medienwissenschaft statt, in der sich der Chefdramaturg des Burgtheaters Klaus
Missbach, die Regisseurin Tina Leisch, der Migrationsforscher Christoph
Reinprecht,
die
Literaturwissenschaftlerin
Christine
Ivanovic
und
die
Studienrichtungsvertreterin Catherine Hofbauer unter der Moderation von Silke
Felber einerseits mit dem Übersetzungsprojekt „Die, should sea be fallen“ sowie
einer Performance des Textes von Flüchtlingen aus Traiskirchen und der
22
Forschungsplattform Elfriede Jelinek. https://fpjelinek.univie.ac.at/home/ Letzter Zugriff:
29.10.2015.
23
Ebd.
8
Burgtheater-Inszenierung auseinandersetzten.24 Es wurde auch allgemein zu Jelineks
Flüchtlingsdrama Die Schutzbefohlenen diskutiert, das im Angesicht der jüngsten
Ereignisse in Europa und vor der Insel Lesbos (das griechische Pendant zur
italienischen Insel Lampedusa) brisanter denn je ist. Die Autorin veröffentlichte auf
ihrer Homepage unter der prägenden Wirkung der aktuellen Geschehnissen an den
Grenzen zwei Fortsetzungen zu ihrem Bühnenessay Die Schutzbefohlenen.
Seit 18. September 2015 ist ein Appendix auf ihrer Homepage zu finden; diesem hat
sie nur wenige Tage später, am 29. September 2015, eine Coda hinzugefügt
(abermals überarbeitet von der Autorin am 7. Oktober 2015).
Zu Die Schutzbefohlenen gibt es aufgrund der Aktualität des Theatertextes – Elfriede
Jelinek hat diesen erstmals am 14. Juli 2013 auf ihrer Homepage veröffentlicht und
nach dem tragischen Schiffsunglück vor Lampedusa Anfang November desselben
Jahres erweitert sowie zuletzt am 29. September 2015 überarbeitet – nur vereinzelt
bereits publizierte Sekundärliteratur. Dankenswerterweise hat Silke Felber ihr Paper
„Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen“, einen
kurzen, aber doch für diese Arbeit sehr richtungsweisenden Beitrag zur Verortung
der SprecherInneninstanzen, zur Verfügung gestellt. Er wird in Jelineks Räume,
herausgegeben von Monika Szczepaniak und Agnieszka Jezierska, erscheinen und
befindet sich gerade in Druck.
1.2
Arbeitsmaterialien und Vorgehensweise
Sowohl das Wiener Burgtheater als auch das Thalia Theater Hamburg haben für
diese Masterarbeit dankenswerterweise einen Videomitschnitt der Aufführungen, die
Premieren-Spielfassungen, ihren Pressespiegel und das Programmheft zur Verfügung
gestellt. Primärliteratur ist Elfriede Jelineks Bühnenessay Die Schutzbefohlenen,
wobei auch weitere Texte von Jelinek miteinbezogen werden.
Der Regisseur Nicolas Stemann wurde mit seiner Inszenierung der Schutzbefohlenen
zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen. Das „Theatertreffen-Magazin“ beinhaltet
einige interessante Beiträge zu Die Schutzbefohlenen und reißt Fragen nach den
24
Vgl. Forschungsplattform Elfriede Jelinek. PRÄSENTATION UND DISKUSSION „Die
Schutzbefohlenen“ im Kontext der Refugee-Bewegung.
https://fpjelinek.univie.ac.at/veranstaltungen/diskussion-die-schutzbefohlenen-2015/ Letzter Zugriff:
30.10.2015.
9
Möglichkeiten der Kunst, dem „Spiel mit und ohne Grenzen“25 und dem Kern des
Forschungsschwerpunktes der vorliegenden Arbeit auf: „Wer kann hier für wen
sprechen? Wie kann man wen spielen, wie das Problem in seiner ganzen
Grauenhaftigkeit auch nur annähernd adäquat erfassen, geschweige denn lösen?“26
Begleitend zum Festival in Berlin gibt es seit 2014 den TT-Blog als eine Art Labor
für Jetztzeitbetrachtung – sozusagen eine „unabhängige, kritische Membran des
Theatertreffens“
27
mit zahlreichen Interviews und Beiträgen zu einzelnen
Schwerpunkten. Vorrangiges Ziel ist es, Fragen aufzuwerfen und einen Dialog
herzustellen. Der Blog wird ebenfalls für diese Untersuchung herangezogen.
Aufgrund der Aktualität des Jelinek-Texts ist noch kaum Sekundärliteratur
erschienen, die sich spezifisch mit dem Stück Die Schutzbefohlenen und dessen
Umsetzung auf der Bühne auseinandersetzt, jedoch sind zahlreiche unterschiedliche
Publikationen zu den Theatertexten von Elfriede Jelinek vorhanden, die für die
nachstehende Arbeit ebenfalls anregend sind und auch auf das Stück Die
Schutzbefohlenen zutreffen.
Der hier gewählte Zugang zur Thematik soll zeitgenössische Diskurse aufgreifen und
in Relation zur Theaterpraxis stellen. Das postdramatische Theater nach Hans-Thies
Lehmann wird in neuen Zusammenhängen gesehen und Fragen nach den Grenzen
des Theaters sollen anhand eines fokussierten auch aktuellen Themas erörtert
werden. Rhizom-artig sollen die Zusammenhänge von Krise, Politik, Gesellschaft
und Kunst erörtert und im Kontext gegenwärtiger Theaterästhetik analysiert werden.
„Kunst kann in der Krise zur Unruhestifterin und politischen Agitatorin werden. [...] Gemeint
ist ein politisches Theater nicht im Sinne eines polarisierenden Einmischens in die
Tagespolitik, sondern im Sinne einer Politik der Wahrnehmung, die vertraute Seh- und
Deutungsmuster durchbricht, um neue Perspektiven zu öffnen. Politisch im Sinne eines
Theaters, das stets die kritische Reflexion der eigenen Bedingungen von Produktion,
Rezeption und künstlerischer Praxis herausfordert und als durchlässiges System die
Wechselbeziehungen zu Gesellschaft, Künsten und Wissenschaften sucht.“28
Da Kunst immer auch – direkt oder indirekt – aktuelle Konflikte behandelt, auf
Missstände aufmerksam macht und sich in unserer unmittelbaren Lebensgegenwart
25
Laudenbach, Peter: Spiel mit und ohne Grenzen. In: Berliner Festspiele (Hrsg.): Theatertreffen
Magazin. Berlin: April 2015. S. 14-17, hier S. 14.
26
Burckhardt, Barbara: Die Schutzbefohlenen. In: Berliner Festspiele (Hrsg.): Theatertreffen
Magazin. Berlin: April 2015. S. 20-21, hier S. 20.
27
Praetorius, Bianca: Theatertreffen-Blog. In: Berliner Festspiele (Hrsg.): Theatertreffen Magazin.
Berlin: April 2015. S. 76-77, hier S. 77.
28
Richter, Daniel: Verästelungs-Zusammenhang. In: Berliner Festspiele (Hrsg.): Theatertreffen
Magazin. Berlin: April 2015. S. 78-79, hier S. 78.
10
bewegt, ist sie politisch. Doch die Frage nach der Positionierung der Kunst
hinsichtlich des gegenwärtigen Zeitgeschehens bleibt.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit zwei unterschiedlichen theatralen Umsetzungen
von Elfriede Jelineks Bühnenessay Die Schutzbefohlenen und versucht zudem,
Jelineks politische Schreibtechnik für das Theater zu beleuchten wie auch die von
der Autorin gezogene Konsequenz, „ihre Theatertexte nicht als unantastbare
Kunstwerke zu begreifen, sondern als Sprachmaterial eines Theaterabends, bei dem
der Regisseur die Rolle des Ko-Autors übernimmt, der den Text durchaus in seinem
eigenen Sinne fortschreiben und überschreiben soll.“29
Anhand der Inszenierungsanalysen von Jelineks Theaterstück Die Schutzbefohlenen
– zum einen der Urinszenierung des Jelinek-Regisseurs Nicolas Stemann mit
Flüchtlingen auf der Bühne und zum anderen die Aufführung des Stücks in Wien am
Burgtheater in der ersten Jelinek-Inszenierung von Michael Thalheimer – sollen die
unterschiedlichen Herangehensweisen der Ko-Autoren aufzeigen. Jedoch wird in
dieser Arbeit keinesfalls ein Vergleich angestrebt, was in künstlerischen Prozessen
und im Umgang mit Jelineks Textflächen 30 fatal wäre, gibt die Autorin den
Regisseuren doch freie Hand im Umgang mit ihren Texten und sieht die theatrale
Umsetzung als eigenes Kunstwerk. Es soll folglich eine Gegenüberstellung erfolgen,
die
die
unterschiedlichen
Inszenierungsarbeiten
beleuchtet
und
Deutungsmöglichkeiten für die Bühne beschreibt. Anhand punktuell ausgewählter
Motive, sowie einer Analyse von Bühnenbild und Musik wird die Methode der
Regisseure im Umgang mit Jelineks Textfläche erörtert und in Bezug zum
Forschungsschwerpunkt dieser Arbeit gestellt, spielt nicht zuletzt der Chor eine
wichtige Rolle für die Erarbeitung der Repräsentationsthematik im Theater und die
Frage nach dem „wer spricht?“.
29
Schmidt, Christopher: Die Zerstückten. Der Theaterautor zwischen Götterfunken und Live-Chat.
Süddeutsche Zeitung. 22.6.2007.
30
Das Konzept der Textflächen hat Elfriede Jelinek selbst entwickelt. In ihren jüngeren Theatertexten
ist die Abkehr von allgemeinen dramatischen Struktur deutlich erkennbar; es gibt kaum eine
Gliederung des Textes und auch auf die Figurenbenennung verzichtet Jelinek. Bereits in ihrem
theatertheoretischen Essay Ich möchte seicht sein (1983) postuliert sie ihre eigenen formalen
Vorstellungen eines Dramentextes. Aus historischem Material und anhand von Intertexten sowie
Medienzitaten und allenfalls auch aus dem eigenen Schreiben baut sich die Essenz ihrer Sprache auf
und es bleibt ein verwobenes Textgeflecht. Den gesellschaftspolitischen, medial aufbereiteten
Diskursen gibt Jelinek in ihren Textflächen Stimmen, und dadurch entsteht nicht zuletzt häufig ein
Moment des Chorischen.
11
2
Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek
Den Text Die Schutzbefohlenen hat Elfriede Jelinek am 14. Juni 2013 erstmals auf
ihrer Homepage unter der Rubrik „Theater“ veröffentlicht. Impulsgeber für den Text
war Nicolas Stemann
31
, der in den letzten Jahren eng mit der Autorin
zusammengearbeitet und bereits einige ihrer Theatertexte auf der Bühne inszeniert
hat. Elfriede Jelinek greift in ihrer Textfläche das Zusammentreffen von Menschen
auf der Flucht vor der Votivkirche in Wien auf und nimmt Bezug auf aktuelle
gesellschaftspolitische Ereignisse in Österreich und Europa wie beispielsweise die
Auflösung der Bewegung der Schutzsuchenden und das Schiffsunglück vor der Insel
Lampedusa im Herbst 2013.
2.1
Titel
Elfriede Jelinek verwebt in Die Schutzbefohlenen aktuelle Flüchtlingsschicksale mit
der Form und Motiven aus der über 2000 Jahre alten griechischen Tragödie Die
Schutzflehenden (griech. Hiketides) von Aischylos. Bereits im Titel lässt die
österreichische Schriftstellerin eine Verbindung zum antiken Drama erkennen und
dieser „[v]ersteht sich also [...] als eine pointierte Inversion der griechischen
Tragödie (um den Schutz wird nicht mehr gefleht, denn die Flüchtlingen [sic!] sind
vielmehr dazu befohlen worden) [...]“32.
Anstelle die Flüchtlinge in der Rolle der demütigen BittstellerInnen zu sehen,
verweist Jelinek auf deren Recht auf Schutz. Bei dem Wort „Schutzbefohlene“
handelt es sich um ein substantiviertes Adjektiv, das heute in der Rechtssprache
verwendet wird und allgemein noch in der gehobenen Sprache zu finden ist, jedoch
als veraltet gilt. Per Definition sind „Schutzbefohlene“ Personen, die dem Schutz
anderer Personen anbefohlen, also anvertraut, sind.33 Durch den bestimmten Artikel
und die Kürze wirkt der Titel sehr prägnant und zugleich totalisierend.
31
Vgl. Mitschnitt: Diskussionsveranstaltung zu Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen am 22.
Oktober 2015, organisiert von der Forschungsplattform Elfriede Jelinek: Texte – Kontexte –
Rezeption der Universität Wien und dem Elfriede Jelinek-Forschungszentrum.
https://www.youtube.com/watch?v=j8jTsULi59c Letzter Besuch: 11.12.2015.
32
Reitani, Luigi: „Daß uns Recht geschieht, darum bitten wir“ Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen.
In: Janke, Pia (Hg.): JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek Forschungszentrum 2014-2015.
Praesens Verlag. Wien: 2015. S. 55-71, hier S. 61.
33
Vgl. Definition Schutzbefohlene. In: Universal Lexikon:
http://universal_lexikon.deacademic.com/120150/Schutzbefohlene Letzter Besuch: 22.11.2015.
12
Es entsteht der Eindruck, dass die Erfassung des Begriffes in seiner Ganzheit
Gegenstand des Textes ist.
2.2
Bilder
Jelinek veröffentlicht mit ihrem Theatertext Die Schutzbefohlenen fünf Bilder auf
ihrer Website, die die Textfläche unterbrechen und eine eigene Atmosphäre
erzeugen. Es ist ungewöhnlich, das einem Theatertext Bilder hinzugefügt
beziehungsweise in den Fließtext eingefügt werden, aber wir sprechen bei Jelinek
auch nicht mehr von einem klassischen Text fürs Theater 34 . In ihren jüngeren
Arbeiten fürs Theater, die die Autorin auf ihrer Homepage veröffentlicht, sind immer
wieder eingefügte Bilder zu finden. Die Bilder beziehen sich auf und unterlaufen
ihren Text gleichzeitig, erzeugen damit ein gewisses Spannungsverhältnis und sind
möglicherweise im Fall der Schutzbefohlenen Imitation oder Korrektur der
Medienberichterstattung.
Nach Georges Didi-Hubermann beziehen Bilder ‚Position’, fordern zu etwas auf und
ordnen
sich
in
die
Gegenwart
mit
Blick
auf
die
Zukunft
ein.
Der
Kulturwissenschaftler verweist in seinem Buch Wenn die Bilder Position beziehen
auf die ästhetische Praxis der Montage: eine Konfrontation der Bilder mit Text (oder
doch umgekehrt: des Textes mit Bildern), um Stellung zu beziehen, als Statement zu
fungieren
oder
Textinhalte
zu
veranschaulichen.
35
Jelineks
Text
Die
Schutzbefohlenen fungiert als entlarvende Montage und fungiert in seiner subtilen
Form als Kritik derselben. Die Autorin gibt sich den Massen der Berichterstattung
hin und arbeitet ihr Schaffen an dem Einfluss der Medien ab, indem sie deren
Darstellungsmacht mit ihrem literarischen und postdramatischen Werk konfrontiert
und die kollektiven Bilder aufgreift und dekonstruiert. Diese ästhetische
Arbeitsweise mit den ‚entlarvenden’ Bildern ist nicht neu36. Jan Süselbeck stellt in
seinem Beitrag „Montagen gegen den Bilder-Terror“ fest, dass „[d]ie Frage, wie die
Literatur auf diese mediale Übermacht visueller Alltags-‚Bombardements‘, die durch
das Internet seit mindestens 15 Jahren stetig an Geschwindigkeit und Intensität
34
Darauf wird im nachfolgenden Kapitel zu Jelineks Theaterbegriff, ihrem Schreiben und ihrer
Arbeitsweise näher eingegangen.
35
Vgl. Didi-Huberman, Georges: Wenn Bilder Position beziehen. Fink Verlag. Paderborn: 2011.
36
Georges Didi-Hubermann stellt fest, dass bereits Karl Kraus in den 1920er Jahren die falsche
Gedankenlenkung durch die Medien aufzunehmen und neu zu montieren versucht hat. Vgl. ebd.
13
gewonnen haben, überhaupt noch produktiv reagieren kann, [...] Wissenschaftler
verschiedenster geisteswissenschaftlicher Disziplinen [beschäftigt].“37
Im Jelinek[Jahr]Buch 2011 merkt Bazon Brock in seinem Beitrag „Bilderkriege“
den pausenlosen ‚Musik- und Bildterror’ an, der die Gesellschaft zudröhnt.38
Mit ihren Texten, die Jelinek auf ihrer Homepage veröffentlicht, versucht die
Literatin andauernd den Medienberichten aber auch –bildern entgegenzuarbeiten. In
der kritischen Reflexion der Autorin lässt sich ihre politische Idee erkennen, indem
Jelinek ihre Gedanken zu brisanten gesellschaftspolitischen Themen über ihre
Sprache vermittelt.
Gleich unter dem Titel findet sich eine Tuschezeichnung, die den Text ‚eröffnet’.
Darauf zu sehen ist eine Darstellung von Menschen (Sklaven) auf der Flucht vor der
Ostküste von Maryland (USA), die die ‚Underground Railroad’, ein informelles,
lokales Netzwerk in den Städten von Virginia nach Kanada, nutzten. Elfriede Jelinek
gibt dieses Bild an den Beginn ihrer Textfläche Die Schutzbefohlenen und stellt
somit einen Bezug zu früheren Flüchtlingsbewegungen und die Solidarisierung mit
den Menschen auf der Flucht her. Denn die ‚Underground Railroad’ war ein
informelles Netzwerk bestehend aus Gegnern der Sklaverei, das den Menschen auf
der Flucht aus den Südstaaten der USA ins sichere Kanada half.39
Abb. 1: Abbildung flüchtiger Sklaven
Abb. 2: Schutzbefohlene
37
Süselbeck, Jan: Montagen gegen den Bilder-Terror. Ein kleiner Streifzug durch die Geschichte
künstlerischer und wissenschaftlicher Kritik an der Macht audiovisueller Kriegspropaganda: Bertolt
Brecht, Elfriede Jelinek, Gerhard Paul. In:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15976 Letzter Besuch: 01.12.2015.
38
Vgl. Brock, Bazon: Bilderkriege. In: Janke, Pia (Hg.): JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede JelinekForschungszentrum 2011. Praesens Verlag. Wien: 2011.
39
Dieses Bild wurde in dem 1872 erschienen Buch Underground Railroad Records von William Still
publiziert. Das 2015 erschienene Werk Gateway to freedom – The Hidden History of the
Underground Railroad by Eric Foner wird ebenfalls mit diesem Bild rezensiert. Vgl.
https://archive.org/stream/undergroundrailr00stil#page/102/mode/2up (Seite 102) und
http://www.nytimes.com/2015/02/01/books/review/gateway-to-freedom-by-eric-foner.html?_r=0
Letzter Besuch: 16.11.2015.
14
Ihre Textfläche wird erstmals unterbrochen mit einem Bild einer kleinen Gruppe von
Flüchtlingen, die mit Kindern zu Fuß unterwegs ist. Zwei Bilder beziehen sich direkt
auf den österreichischen Vorfall vor und in der Votivkirche, der Jelinek in erster
Linie „als realpolitische Basis für ihre neue Theaterarbeit diente“.40
Abb. 3: Pressekonferenz
Abb. 4: Ansprache eines Geistlichen
Die Bilder wurden während der Besetzung der Votivkirche aufgenommen und zeigen
zum einen eine Pressekonferenz der Asylwerber, die gegen die österreichische
Asylpolitik mit der Besetzung der Kirche und Hungerstreiks protestierten, und zum
anderen
eine
Ansprache
des
Geistlichen
Kardinal
Schönborn
vor
den
Protestierenden, die auf dem „kalten Kirchenboden“41 sitzen.
Abb. 5: Schutzbefohlene auf einem übervollen Boot
40
Felber, Silke: Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen. In:
Jezierska, Agnieszka; Szczepaniak, Monika (Hg.): Jelineks Räume. Warschau/Wien: Praesens (in
Druck).
41
Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen. www.elfriedejelinek.com datiert mit 14.6.2013 / 8.11.2013
/ 14.11.2014 (=Elfriede Jelinek Homepage, Rubrik: Theater) Letzter Besuch: 13.11.2015.
15
Das Ende ihres Textnetzes Die Schutzbefohlenen schließt Elfriede Jelinek auf der
Website ebenfalls mit einem Bild ab: ein mit Schutzsuchenden voll besetztes kleines
Boot, auf dem Meer treibend; doch es ist ein weißes Tau zu erkennen, das eine Küste
in der Nähe und deren Ankunft vermuten lässt.
2.3
Textentstehung und Kontext
Den Theatertext verfasst Elfriede Jelinek in Form einer Klageschrift aus der
Perspektive eines Flüchtlings-Wir – bereits im Titel ist von einer Gruppe von
Schutzbefohlenen die Rede.
Im Frühjahr 2013 schreibt Jelinek „ihren wütend in der Wir-Form Partei
ergreifenden Text“
42
als unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse vor der
Votivkirche in Wien – wo Asylsuchende einen Kampf um Anerkennung und gegen
Abschiebung führten – sowie auf die katastrophale Situation an den europäischen
Außengrenzen.
„Mit scharfer Polemik attackiert sie die unmenschliche Asylpolitik wohlhabender
europäischer Länder [...] und gibt den Geschichten der Asylsuchenden polyphone Stimmen
und eine analytische Perspektive. In der Abschiebung Hilfe suchender Menschen, in der
Tragödie vor Lampedusa zeigt sich der Zynismus und die Bigotterie Europas im Umgang mit
Menschenrechten, die nie für alle gelten, sondern nur für die, die es sich leisten können, an
Europa teilzunehmen.“43
Unmittelbarer Anlass waren die Geschehnisse in Österreich, wo eine Gruppe von
Asylsuchenden das Aufnahmelager Traiskirchen verlassen hatte und einen
Protestzug nach Wien unternahm. Zunächst schlugen sie ein Camp im SigmundFreud-Park auf. Ihre Forderungen waren eine menschenwürdige Unterkunft und
Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zum Bildungssystem. In Jelineks Textfläche finden
sich punktuell immer wieder Bezüge zu in den Medien aufbereiteten und in
öffentlichen Debatten geführten Themen (– nicht zuletzt durch die bereits
verhandelten beigefügten Bilder).
„Aus unseren anspruchslosen Augen werden wir sanftmütig schauen und um eine Decke und
etwas zu essen bitten, sehen Sie, werden Sie Stellvertreter von Stellvertretern, die aber auch
42
Burckhardt, Barbara: „Die Heimholung“. In: Theater Heute Magazin. Mai 2015. S. 26-27, hier S.
26.
43
Thalia Theater: Spielplan – Repertoire. Die Schutzbefohlenen http://www.thaliatheater.de/de/spielplan/repertoire/die-schutzbefohlenen/ Letzter Besuch: 22.11.2015.
16
alle nicht hier stehen, die vertreten sich woanders, sagen: Ihre Augen sind ja gar nicht
anspruchslos, auch wenn Sie das behaupten, sie stellen ja doch Ansprüche! Heute wollen Sie
Decken, Wasser und Essen, was werden Sie morgen verlangen? Unsere Frauen, unsere
Kinder, unsere Berufe, unsere Häuser, unsere Wohnungen? Was werden Sie morgen
verlangen.“44
Nach der polizeilichen Räumung am 28. Dezember 2012 fanden einige Flüchtlinge
Schutz in der Votivkirche, wo sie sogleich in einen Hungerstreik traten. Im März
2013 beendeten die Flüchtlinge die Besetzung der Kirche und ihren Hungerstreik
und zogen in ein ehemaliges Servitenkloster im neunten Wiener Gemeindebezirk.
„Die spektakuläre Besetzung der Kirche und die Forderungen der Flüchtlinge wurden zu
einem politischen und medialen Fall, der die österreichische Öffentlichkeit polarisierte.
Zugleich wurde klar, dass die Wiener Ereignisse eigentlich nur eine Manifestation der
eigentlichen und dramatischen Situation der Migranten aus konfliktbetroffenen Ländern
darstellen.“45
In den Schutzbefohlenen finden sich Bezüge zu diesen Ereignissen, so spricht
Elfriede Jelinek z.B. vom „kalten Kirchenboden“46 oder vom „Bagger“47, der das
Protestcamp räumt und ihre „geschenkten Habseligkeiten“48 entfernt.
„Und wenn wir weg sind, können Sie sich noch einmal freuen und immer wieder freuen, daß
wir weg sind, daß Sie diesen Konflikt gewaltfrei gelöst haben, denn eine andre Gewalt hat
ihn in Ihrem Namen gelöst, das wollen Sie aber nicht zugeben. Wir würden das gern selber
übernehmen, doch es gibt hier immer, wirklich immer, einen Stellvertreter, der die Arbeit
macht, die Rechte anderer einzutreten, diesen gespendeten Tisch mit den Plastiktassen
zusammenzuhauen, die Campingstühle, auch gespendet, zusammenzutreten, unsere
Habseligkeiten, die wenigen, die gar nicht unsre sind, zu zertrampeln und wegzuschaffen, das
macht der Bagger, der hilft Ihnen, und auch wenn der nicht lebt: Das ist gelebte Zivilcourage
[...]“49
Im Kontrast zu den geschilderten Protesten der Flüchtlinge schildert Jelinek die
schnellen Einbürgerungen der berühmten russische Opernsängerin Anna Netrebko
und der Tochter des ehemaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, Tatjana
Borissowana Jumaschewa. Es ist eine Spur Sarkasmus und bitterer Spott aus dem
Text herauszulesen, wenn die Rede auf wohlhabende Blitz-Eingebürgerte, wie
Jelzins Tochter oder die Opernsängerin, kommt. Das sind Gegenbeispiele der
österreichischen Immigrantenpolitik. Die genannten Personen bekamen mittels
44
Jelinek: Die Schutzbefohlenen.
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 55f.
46
Jelinek: Die Schutzbefohlenen.
47
Ebd.
48
Ebd.
49
Ebd.
45
17
Blitzeinbürgerung ohne vorhandene Deutschkenntnisse dafür aber gegen Geld oder
Stimme die österreichische Staatsbürgerschaft.
Möglich waren diese beiden schnellen und problemlosen „Blitzeinbürgerungen“
durch die direkte Intervention der österreichischen Regierung, obwohl sowohl Frau
Netrebko als auch Jelzins Tochter weder über einen Hauptwohnsitz in Österreich
noch über einen sonstigen engen Bezug zum Land verfügten.
Öffentlich bekannt wurde die Einbürgerung von Tatjana Borissowana Jumaschewa,
die bereits 2009 erfolgte, erst durch einen Bericht des österreichischen
Wochenmagazins News50 im Jahr 2013 – genau zu der Zeit, als auch die Proteste der
Refugees in Wien stattfanden. „War der Grund für die Verleihung der
Staatsbürgerschaft
an
die
Sopranistin
Netrebko
schon
ein
fragwürdiger
Prestigebegriff, der mit dem verklärenden Bild Österreichs als Land der Musik
zusammenhing, so standen hinter der Einbürgerung der Tochter Jelzins obskure
Macht- und Geldinteressen“51, die Jelinek in ihrem Textnetz Die Schutzbefohlenen
wortwörtlich zu dekonstruieren weiß:
„Die Tatsache, dass die Regeln der Einbürgerung nicht für alle gleich sind und dass dabei
Geld, Prestige und Politik eine wesentliche Rolle spielen, wird von der Autorin durch viele
Anspielungen auf diese Umstände mit gnadenlosem Sarkasmus angeprangert.“52
Dass der vom damaligen Industriellen und späteren Politiker Frank Stronach geführte
Magma-Konzern sich für die schnelle Einbürgerung der ganzen Familie Jumaschewa
(neben Frau Tatjana auch ihr Mann sowie deren gemeinsame Tochter) einsetzte, hing
eng mit einem geplanten Geschäft mit einer russischen Bank zusammen.53
„Unsere Existenz ist unser Zahlungsmittel, ein andres haben wir nicht, kurz und klar, wir
haben nichts, wir haben unsere Existenz als Zahlungsmittel, aber wir sind nicht der
Zahlungsmittelpunkt, nein, sind wir nicht, der ist die Frau Jumaschewa, hier steht ihr Name,
ich hoffe, richtig geschrieben, des Jelzins Tochter, eine Tochter, ja, eine Tochter, eine BlitzEingebürgerte, die hatte es, die hatte die Zahlungen leisten können, die hat sich Zahlungen
leisten können, und wenn nicht sie, dann jemand andrer für sie, es muß immer gezahlt
werden, um die Einzigartigkeit eines Menschen zu respektieren und anzuerkennen, dafür ist
gezahlt worden, [...] um das auszurechnen, muß einer zahlen, um ein Opel-Werk mit der
russischen Bank zusammenzustellen, um Autos zusammenzustellen, muß gezahlt werden,
und dann noch einmal gezahlt, wenn jemand das Auto dann kauft.“54
50
vgl. Pichler, Petra (Ö1): Blitzeinbürgerung von Jelzins Tochter. http://oe1.orf.at/artikel/338229
(24.04.2013). Letzter Besuch: 14.11.2015.
51
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 58.
52
Ebd.
53
Vgl. Ebd.
54
Jelinek: Die Schutzbefohlenen.
18
Die Politik interveniert, wo ein ökonomischer Nutzen greifbar ist, und Elfriede
Jelinek deckt dieses Vorgehen mittels stigmatisierenden Deutungsmustern (würdig
vs. unwürdig) auf.
„Oder die andre, allen Fremden widmen wir sie, allen gönnen wir sie wohlbedacht.
Lorbeergeschmückt ist sie, keine Frucht teilt sie, keine Furcht: Für einen abgerundeten
Klangkörper wie den dieser anderen Tochter braucht es viele Stimmen, aber nur eine Summe,
und die wurde wiederum beglichen mit ihrer Stimme; wir wollen doch alle miteinander
harmonisch klingen, ja, alle, nicht wahr, und dafür brauchen wir nicht nur unsere Stimmen,
die wir sowieso nicht haben, sondern die Stimme dieser zweiten Tochter, ja, genau die, die
von weither kommt [...] bloß eingebürgert die Frau, ja, die schon, die Russin ungebührlich
eingebürgert, wenn auch nicht gebührenfrei [...]“55
Die Rede ist hier von der Sängerin Anna Netrebko, für die eine Einbürgerung in die
Festung Österreich kein Problem war.
2.3.1
Appendix
Am 18. September 2015 veröffentlicht Jelinek auf ihrer Homepage einen Appendix
und ergänzt somit ihren Theatertext Die Schutzbefohlenen mit einem notwendigen
Nachtrag, indem sie mit kritischem Blick auf die mediale Berichterstattung und den
öffentlichen Diskurs um gesellschaftspolitische Konfliktfelder wie Flucht und
Migration, Asylrecht, Grenzschließungen und Zäune – zur aktuellen Thematik
rundum die Schutzsuchenden in Europa – Stellung nimmt:
„Was Sie nicht fassen können, das fassen dann wir. Ein Zaun ist schließlich auch eine Art
Einfassung. [...] Was überhaupt noch glaubhaft ist, das wird später enthüllt werden, morgen,
wenn wir die neuen Vorschriften kennen.“56
Angesichts der Ereignisse in Europa und der medialen Präsenz, sowie dem
politischen Ausschlachten der Thematik rund um die Menschen auf der Flucht, hat
Jelinek auch in diesen Text sechs Bilder eingefügt: Flüchtlinge in Ungarn hinter dem
Stacheldrahtzaun, auf der Autobahn oder im Auffanglager Röszke.
55
Ebd.
Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen, Appendix. www.elfriedejelinek.com datiert mit 18.09.2015
(=Elfriede Jelinek Homepage, Rubrik: Theater). Letzter Besuch: 10.11.2015.
56
19
Abb. 6: Flüchtlinge in Rözske
Abb. 7: Syrische Flüchtlinge in Edirne
Unter den Appendix hängt sie eine Handyaufnahme des Auffanglagers Röszke vom
11. September 2015 an. Im Appendix spricht Jelinek beispielsweise die Schließung
der ungarischen Grenzen mit Grenzzäunen, die sanitären Zustände in den Lagern,
gesperrte Autobahnen und den stockenden Zugverkehr an. Jelinek widmet sich „[...]
mit spürbarer Wut und immer wieder durchscheinender Ohnmacht dem
Flüchtlingsstrom über den Landweg [...]“. 57 Die intertextuelle Bezugnahme der
Autorin ist wie schon bei ihrem Theatertext Die Schutzbefohlenen zu erkennen und
am Ende des Textes findet sich auch hier der Hinweis: „Das Übliche, wie vorhin.
Dazu noch eine Prise Freud. Na, den haben wir noch gebraucht!“.58 Sprachlich
unterscheidet sich der Appendix von dem Theatertext Die Schutzbefohlenen. Es gibt
hier nur mehr vereinzelt „[...] eine führende, mächtige Stimme, als Ich- oder
Kollektivstimme [...] der Flehenden, der Schutzflehenden und Bittenden“59.
„Die Festung Europa bröckelt, aber sie hält stand. In Ungarn stehen Stacheldrahtzäune,
Kroatien macht die Grenzen dicht, der Zugverkehr zwischen Wien und München ist immer
wieder unterbrochen, und die deutschen Asylgesetze wurden ruckzuck verschärft. Elfriede
Jelinek, die mit «Die Schutzbefohlenen» das europäische Drama beschrieben hat, bringt ihren
Text mit einem «Appendix» auf den neuesten Stand.“60
Das „Theater Heute“-Magazin hat die Textergänzung von Jelinek aufgegriffen und
den Appendix unter dem Titel „FESTUNG EUROPA“ als „ein notwendiger Nachtrag
zum Flüchtlingsdrama“ 61 in ihrer Novemberausgabe unkommentiert komplett
abgedruckt.
57
wien.orf.at: Jelinek erweitert Flüchtlingswerk mit Texten http://wien.orf.at/news/stories/2734387/
Letzter Zugriff: 04.10.2015.
58
Jelinek: Die Schutzbefohlenen, Appendix.
59
Lücke: Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo).
60
Theater Heute Magazin. November 2015. S. 34.
61
Ebd. S. 2.
20
2.3.2
Coda
„Da zittert was, das Boot, es zittert, das ist doch Zittern, oder?, nein, dafür gibt es noch ein
andres Wort, nein, das paßt mir auch nicht, es wackelt, das Boot, es schwankt, wahrscheinlich
weil Hermes und Athene nicht als Pinne im Kompaß eingebaut sind, zwischen ihnen zittert
was, das Boot zittert vor Angst, nein, es schaukelt, weil diese Leute nicht ruhig sitzen können;
kein Mann hält die Segel, Segel hat es keine, die wären aber praktisch, es hat noch Luft, das
Boot, es wird sie auch brauchen, da ist noch Luft drinnen, aber nicht mehr lang.“62
Mit diesen Worten eröffnet Elfriede Jelinek die Coda zu den Schutzbefohlenen, die
sich seit dem 29. September 2015 – also zeitgleich mit dem letzten Update des
Theatertextes Die Schutzbefohlenen – auf der Website der Autorin in der Rubrik
„Aktuelles“ (wie auch in der Rubrik „Theater“ als Zusatz zum Theatertext) befindet.
Eine Überarbeitung der Coda nimmt die Autorin nur wenige Tage später vor und
veröffentlicht die zweite Version am 7. Oktober 2015 auf der Homepage. Auch in
der Coda arbeitet Jelinek mit Intertexten und verweist am Ende des Textes dezidiert
auf die von ihr verwendeten Quellen:
„Nur ein paar Splitter, wirklich nicht mehr, aus:
Ezra Pound, Die Cantos (übers. von Eva Hesse und Manfred Pfister)
Euripides: Iphigenie in Aulis
Homer: Odyssee
Dank auch an Philip Hagmann und dem Deutschen Theater Göttingen und an Wikipedia mit
den vielen Autos!“63
Mit drei Bildern unterteilt Elfriede Jelinek auch diese Textfläche, bezieht ‚Position’
und setzt sie als Statement den geschriebenen Worten entgegen.
Das erste Bild im wurde auch im Standard (Montag, 13. April 2015 auf Seite 19
unter dem Titel „Flüchtlinge: Europa muss helfen“) – die Fotokredits liegen laut
Standard bei AP / Massimo Sestini – abgedruckt.
Das dritte Bild im Textzusatz Coda zeigt ein kleines Schlauchboot, wobei nicht zu
erkennen ist, ob es ausläuft oder ankommt, einer der Flüchtlinge steht im knietiefen
Wasser und alle tragen Schwimmwesten.
62
Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen, Coda. www.elfriedejelinek.com datiert mit 29.9.2015 /
7.10.2015 (=Elfriede Jelinek Homepage, Rubrik: Theater). Letzter Besuch: 10.11.2015
63
Ebd.
21
Abb. 8: Bootsflüchtlinge im Mittelmeer
Abb. 9: Kleines Boot mit Flüchtlingen
Das zweite Bild im Textzusatz ist ein Bild einer Odysee-Landschaft von römischen
Meistern bereits 125 v. Chr. entstanden; hier stellt Jelinek einen Bezug zu ihrem
genannten Intertext von Homer her.
In der Coda greift Jelinek abermals gesellschaftspolitische Ereignisse rund um die
Flüchtlingsthematik in Europa und die verschärfte Situation der letzten Monate auf.
In ihrem jüngsten Text webt die Schriftstellerin auch Motive aus Euripides’
„Iphigenie in Aulis“ und Homers „Odyssee“ ein und setzt als Schauplatz des Textes
das Meer ein, auf dem man sich als LeserIn auf einem übervollen, schwankenden
Boot befindet. ‚Unser’ Schicksal wird bereits am Beginn des Textes von der Autorin
vorangestellt: „Da ist noch Luft nach oben, aber nicht mehr lang. Dann geht’s nach
unten, dann nehmen wir ein Bad.“64 In den letzten Zeilen wird deutlich, dass noch
nicht alles gesagt ist, dass „immer etwas gesagt werden kann“ und Jelinek resigniert
mit den Worten: „[dann] kann ich genausogut aufhören.“65
Abb. 10: römische Meister 125 v. Chr.
64
65
Ebd.
Ebd.
22
2.4
Begriffsklärung: Schutzbefohlene / Asylsuchende / Flüchtlinge
Die Schutzbefohlenen sind Titel und Thema des von Elfriede Jelinek verfassten und
zunächst am 14. Juni 2013 auf der Website der Autorin veröffentlichten
Theatertextes, der aus einer langen (Klage-) Rede besteht und den die Autorin nach
den Ereignissen im Mittelmeer66 im November desselben Jahres überarbeitet und mit
einem Appendix und einer Coda erweitert hat.
Die Schutzbefohlenen als Sujet des Textes werden gleich eingangs eingeführt. „Die
Rede beginnt in der ersten Person Plural [«Wir leben»] und das Subjekt des ersten
Satzes lässt sich eindeutig als eine Gruppe von Flüchtlingen [«wir flohen»]
identifizieren, die nun in einem fremden Land leben [...]“67.
Am 28. Juli 1951 wurde von der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definiert, dass
eine Person als Flüchtling anerkannt wird,
„[...] die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in
dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität,
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen
Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes
nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin
zurückkehren kann.“68
Daraus ergeben sich fünf Unterscheidungen in Bezug auf den Flüchtlingsbegriff,
wobei die Gründe, weshalb Menschen ihr Heimatland verlassen und eine Flucht auf
sich nehmen, sehr unterschiedlich sind. Personen, die aus den oben genannten
Gründen in ihrer Heimat verfolgt werden, wird in Österreich Asyl gewährt. In der
Realität gibt es noch bedeutend mehr Gründe für eine Flucht, die von der GFK
tatsächlich nicht erfasst sind und dennoch eine Gefahr für Leib und Leben darstellen,
so werden Flüchtlinge aufgrund von Umweltkatastrophen und Armut nicht in der
Definition der GFK berücksichtigt.69
66
vgl. Cáceres, Javier: EU-Kommission und Länder streiten über Seenotrettung. Brüssel. 18.10.2013.
In: Süddeutsche Zeitung http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-fluechtlingsdrama-von-lampedusaeu-kommission-und-laender-streiten-ueber-seenotrettun-1.1798388 Letzter Besuch: 12.11.2015.
67
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 60.
68
The UN Refugee Agency: Wer ist ein Flüchtling? http://www.unhcr.at/mandat/questions-undanswers/fluechtlinge.html Letzter Besuch: 29.01.2016.
69
Vgl.: Asyl Österreich. http://www.menschen-leben.at/asyl/asyl-in-osterreich/ Letzter Besuch:
16.09.2015
23
Wichtig ist die Trennung von MigrantInnen und AsylwerberInnen, die gerade in der
aktuellen medialen Berichterstattung und damit in weiten Teilen der Bevölkerung
kaum vorgenommen wird, was meist den/die Asylsuchende/n zu Lasten fällt, da ein
falsches Bild ihrer Fluchtgründe entsteht.
„Der Anteil der Flüchtlinge und Asylsuchenden ist mit drei Prozent der kleinste aller
Migrationsbewegungen, [...] [diese] Daten [unterstreichen] den Widerspruch zwischen dem
weltweit insgesamt geringen Anteil an Asylsuchenden und Flüchtlingen einerseits und der
medial aufbereiteten moralischen Panikmache andererseits.“70
Menschen, die sich auf der Flucht befinden, müssen aufgrund von Gefahr von Leib
und Leben ihr Heimatland verlassen und fallen daher in die Definition „Flüchtling“
der GFK. MigrantInnen hingegen wollen freiwillig ihr Land verlassen, meist aus
wirtschaftlichen Motiven.
Migration
„ist
jede
Ortsveränderung
von
Personen,
der
Wechsel
der
Gruppenzugehörigkeit und der auf Dauer angelegte Wechsel in eine andere
Gesellschaft oder eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen.“71
„Es handelt sich um einen Wechsel des räumlichen und sozialen Bezugssystems verbunden
mit Langfristigkeit und Dauerhaftigkeit. Werden dabei internationale Grenzen überschritten,
erfolgt auch ein Wechsel des rechtlichen, institutionellen und politischen Bezugssystems.“72
Die Problematik, dass in den aktuellen medialen Berichterstattungen nicht immer
eindeutig zwischen Migration und Flucht unterschieden wird, erarbeitet Elfriede
Jelinek in ihrem Text Die Schutzbefohlenen:
„Den Herrn in diesem Land und den Stellvertretern der Herren in diesem Land und den
Stellvertretern der Stellvertreter der Herren in diesem Land würden wir, wir dürfen ja nicht,
aber wir würden, würden wir, wies Fremdlingen ziemt, verständig unsere blutschuldlose
Flucht erzählen, bereitwillig jedem erzählen, er müßte ein Stellvertreter gar nicht sein, wir
würden das machen, Ehrenwort, wir erzählen es jedem, wir erzählen es allen, die es hören
wollen, aber es will ja keiner, nicht einmal ein Stellvertreter eines Stellvertreters will es
hören, niemand, aber wir würden es erzählen, wir würden über unsere Flucht ohne Schuld,
unsre schuldlose Flucht, die Sie ja immer als Flucht vor Schulden darstellen, die Flucht von
Schuldlosen also erzählen, in unserer Stimme wird nichts Freches sein, nichts Falsches, wir
werden ruhig und freundlich und gelassen und verständig sein, aber verstehen werden Sie uns
nicht, wie auch, wenn Sie es gar nicht hören wollen?“73
70
Dahlvik; Reinprecht: Asyl als Widerspruch – vom Menschenrecht zum Auserwählten?, S. 47
Treibel, Annette: Migration in modernen Gesellschaften. Weinheim 2003, S. 21. In:
http://www.menschen-leben.at/asyl/asyl-in-osterreich/ Letzter Besuch: 16.09.2015
72
Perchinig, Bernhard: Migration, Migrationstheorie, Migrationspolitik in Europa. S. 6 ff. In:
http://www.menschen-leben.at/asyl/asyl-in-osterreich/ Letzter Besuch: 16.09.2015
73
Jelinek: Die Schutzbefohlenen.
71
24
Anhand dieses Ausschnitts aus dem Bühnenessay erkennt man die zentrale Absicht
von Elfriede Jelinek, ihre Methode: „Der Redeschwall bringt das Verdrängte,
Vergessene hervor, das die Autorin fixiert. Das Ausgelassene wird derart erst
sichtbar, durch das ständige Beharren auf dem Nicht-Ausgelassenen. [...] Die
Maßlosigkeit ist sozusagen Methode.“74 Jelinek wird nicht müde auf Missstände in
der Gesellschaft hinzuweisen, mit ihren Texten Aufklärung zu schaffen und der
medialen Berichterstattung sowie ‚Panikmache’ entgegenzuwirken.
2.5
Quellen und Bezüge – Intertexte
„Und wenn Elfriede Jelinek die antiken «Schutzflehenden» des Aischylos zu den
gegenwärtigen «Schutzbefohlenen» macht, schwingen natürlich ähnlich zentrale
(welthistorische wie asylrechtsgeschichtliche) Lektürevoraussetzungen mit.“75
Elfriede Jelinek verschränkt den Text mit Motiven und der Form des antiken Dramas
Die Schutzflehenden (griech. Hiketides) von Aischylos und gibt diese Quelle auch
dezidiert am Ende ihres Theatertextes an. Es verweist Luigi Reitani darauf, dass die
„intertextuelle Bezugnahme auf die Tragödie Aischylos [...] den tagespolitischen
Ereignissen einen mythischen Rahmen gibt.“76 Neben der Feststellung, dass „Texte
als Collagen [...] [als] ein künstlerisches ‚Markenzeichen’ Jelineks [...]“77 gelten,
beschreibt Bärbel Lücke, dass ein Bezug zu den ‚alten Texten’ sowohl ‚formal’ als
auch ‚thematisch’ besteht und dass Jelinek „im Zeitgenössischen das uralte
Menschheitsdrama von Flucht und Abweisung, Ausweisung“78 anzusiedeln weiß.
Silke Felber recherchierte in ihrem Paper „Verortungen des Marginalisierten in
Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen“ ausführlich den Kontext zu Aischylos’
Hiketiden. Sie stellt die „Ursprünge des Staats- und Fremdenrechts“ – auf das sich
Jelinek indirekt bezieht – dar und verweist auf das heutige europäische
Fremdenrecht, an welchem die Autorin in ihrer Textfläche Kritik übt.79
74
Meister, Monika: „Theater müßte eine Art Verweigerung sein“. Zur Dramaturgie Elfriede Jelineks.
In: Lartillot, Francoise; Hornig, Dieter (Hrsg.): Jelinek, eine Wiederholung. Zu den Theaterstücken In
den Alpen und Das Werk. Peter Lang Verlag. Bern: 2009. S. 55-71, hier S. 68.
75
Wahl: Die Welt und ihre dramatische Haltigkeit, S. 48.
76
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 66.
77
Lücke: Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo).
78
Ebd.
79
Vgl. Felber: Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (in Druck).
25
Elfriede Jelinek arbeitet mit weiteren ausgewiesenen Intertexten; so nimmt sie
einerseits Bezug auf die Broschüre „Zusammenleben in Österreich. Werte, die uns
verbinden“ des Bundesministeriums für Inneres, Staatssekretariat für Integration und
baut andererseits Verknüpfungen mit Ovids Metamorphosen (expliziter Hinweis am
Ende des Textes) in den Schutzbefohlenen ein. Der Professor für Neuere Deutsche
Literatur Luigi Reitani erläutert in seinem Beitrag „Daß uns Recht geschieht, darum
beten wir“ die Funktionen der einzelnen Intertexte und erkennt in den Zitaten aus der
Broschüre „Zusammenleben in Österreich“ die Konfrontation des „kollektiven
Subjekt[s]“80 der Schutzsuchenden mit „einer österreichischen (und europäischen)
Integrationspolitik“81, wobei es vorwiegend um die „vermeintlichen Werte“82 des
Westens geht. Weiters beschreibt Reitani, dass die in der Broschüre geschilderten
Grundsätze
von
Jelinek
mittels
„abstrakter
Begriffe
personifiziert
oder
verdinglicht“83 werden und die Autorin sie somit „als Phrasen entlarvt, die mit der
Wirklichkeit der Asylwerber im krassen Widerspruch stehen“84.
Wesentlich
komplexer
erscheinen
die
intertextuellen
Bezüge
zu
Ovids
Metamorphosen und jene zu Heidegger. Bärbel Lücke analysiert in ihrem Beitrag
„Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo)“ die
verworrenen Strukturen des Mythos der Jungfrau Europa, der sich mit dem Mythos
der Io verstrickt:
„Verschränkt bilden beiden Mythen ein identitätsstiftendes Narrativ, das Jelinek aktiviert, um
einerseits sarkastisch die Situation jener berühmten Frauen darzustellen, die rasch zur
österreichischen Staatsbürgerschaft gekommen sind (wobei hier Zeus nicht als Stier, sondern
als mächtiger Millionär erscheint), und andererseits den Unterschied zur Situation der
Asylwerber zu markieren.“85
Luigi Reitani erläutert in seinem oben genannten Aufsatz in wenigen Sätzen die
„angewandte intertextuelle Strategie im Fall der Metamorphosen“86 wie folgt:
„Hinterfragt wird somit das mythische Kulturgut der Tradition: Die Entstehung Europas als
Liebesakt von Zeus, die Völkerwanderung als Schicksal, das von den Göttern bestimmt wird.
Die Flussrede des Chors verwechselt bewusst die Grundelemente der Mythen und macht sie
undurchsichtig.“87
80
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 66.
Ebd.
82
Ebd.
83
Ebd. S. 67.
84
Ebd.
85
Ebd. S. 68.
86
Ebd.
87
Ebd.
81
26
Schließlich finden sich auch Verschränkungen mit existenzphilosophischen Motiven
Heideggers, ohne hier jedoch einen bestimmten Text anzugeben („Und eine Prise
Heidegger, die muß sein, denn ich kann es nicht allein.“ 88). In Bezug auf das
Heideggersche Denken beschreibt Luigi Reitani – wie auch Silke Felber – die
„Bestimmung des menschlichen Daseins“89, wonach ein Dasein allein und isoliert
unmöglich ist, denn „die Möglichkeit des Selbstseins gründet seiner [Anmk. d. Verf.:
gemeint ist hier Heidegger] Auffassung nach im Mitdasein“.90 Gleich am Anfang der
Textfläche lehnt Jelinek sich mit der Ich-Stimme im Flüchtlingschor an Heideggers
Dasein an: „ich bin jetzt da [...] Ich bin da, und was machen Sie jetzt mit mir? Ich bin
da, was machen Sie jetzt mit mir?“91
Elfriede Jelinek arbeitet anhand formaler Grundstrukturen der antiken Tragödie
(bspw. Chor) zeitgeschichtliches Geschehen in neu-gewonnener Form auf und webt
existenzphilosophische Ansätze in ihr Textnetz ein, verweist explizit auf
Bezugsquellen und wendet sich gerade durch diese Technik von der dramatischen
Form ab und hin zu einem Theater der Dekonstruktion, lässt jedoch eine Ästhetik des
Dramas weiterwirken.
2.6
Politische Resonanz und Revision
Die Geschehnisse in Wien und in Österreich waren nur eine Manifestation der
prekären Situation in Europa hinsichtlich der Flüchtlingsbewegungen. In ihrem Stück
verweist Jelinek auf eine konkrete historische Situation und reagiert darauf. Von
Beginn an fanden Die Schutzbefohlenen große politische Resonanz, so wurde noch
am 21. September 2013 eine Lesung der Textfläche in Hamburg in der St.-PauliKirche vom Thalia Theater veranstaltet; es lasen gemeinsam professionelle
SchauspielerInnen und afrikanische Flüchtlinge.92
Auch an den häufigen Überarbeitungen des Textes nach der Erstveröffentlichung im
Netz und nicht zuletzt an den jüngsten Textzusätzen Appendix und Coda wird
88
Jelinek: Die Schutzbefohlenen.
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 69.
90
Felber: Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (in Druck).
91
Jelinek: Die Schutzbefohlenen.
92
Vgl. Video der Urlesung in Hamburg von Schauspielern des Thalia Theaters gemeinsam mit
Flüchtlingen https://www.youtube.com/results?search_query=urlesung+schutzbefohlenen und Thalia
Theater – Spielplan-Archiv „Die Schutzbefohlenen“ http://www.thaliatheater.de/de/extra/archiv/lesung-elfriede-jelinek-die-schutzbefohlenen/ Letzter Besuch: 17.11.2015.
89
27
deutlich „[i]nwieweit die Autorin auf die politischen Ereignisse reagiert hat, [das] ist
auch am Revisionsprozess des Stückes erkennbar [...]“93.
Die erste Erweiterung des Theatertextes veröffentlichte die Autorin am 8. November
2013. Diese entstand nicht nur aufgrund der Auflösung der Protestbewegung in der
Votivkirche, sondern – und vor allem – nach den Geschehnissen vor der Insel
Lampedusa am 3. Oktober 2013 mit hunderten Toten, deren Bilder sich in unser
kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. Auch Luigi Reitani weißt darauf hin, dass
Jelinek eine Überarbeitung ihres Textes vornahm, nachdem „[d]iese Katastrophe
einen tiefen Eindruck in der europäischen Öffentlichkeit [hinterließ] und eine
vehemente Diskussion über die Flüchtlingspolitik der Union (und des italienischen
Staates) aus[rief].“94
Die Schutzbefohlenen gelangten am 12. September 2014 in der Regie von Nicolas
Stemann am Thalia Theater in Hamburg zur Uraufführung; nachdem das Stück
bereits im Mai in dieser Inszenierung im Rahmen der Theaterfestivals in Mannheim
und Amsterdam gespielt wurde.
Die dritte Textversion folgte am 14. November 2014 auf Jelineks Homepage und
wurde mit „einem seitenlangen Abschnitt ergänzt, der sich sarkastisch auf die neue
Mission «Triton» der Europäischen Union bezieht, welche ab 1. November 2014
deren Außengrenzen kontrollieren und vor illegaler Migration schützen soll.“95
Die „politische Brisanz des Textes“96 war Anstoß für weitere Aufführungen, die
zeitnah in Freiburg (Regie Michael Simon, Premiere am 28. November) und Bremen
(Regie Mirko Borscht, Premiere am 8. März 2015) stattfanden.97
Zur Aufführung des Stücks der österreichischen Schriftstellerin in Wien kam es am
28. März 2015 in der Regie von Michael Thalheimer am Burgtheater, das in
unmittelbarer Nähe zur Votivkirche liegt, wo die Proteste von Asylwerbern im Jahr
2012 Ausgangspunkt für die Textfläche waren.
Die letzte Textfassung stammt vom 29. September 2015 und wurde folglich von
Elfriede Jelinek nach der Uraufführung des Stücks und der „Heimholung“98 ans
Burgtheater noch einmal ausgebaut.
93
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 60.
Ebd.
95
Ebd.
96
Ebd. S. 58.
97
Ebd.
98
Barbara Burckhardt hat diese Bezeichnung für die Inszenierung von Michael Thalheimer am
Wiener Burgtheater in ihrem „Theater Heute“-Magazinbeitrag vom Mai 2015 gewählt. Dabei bezieht
sie sich auf die Nähe des Burgtheaters zum Ausgangsort des Jelinek-Textes: die Votivkirche. Diese
94
28
„Der konkrete Fall der Wiener Asylwerber steht nur am Anfang einer komplexen Reflexion
über die Figur des Flüchtlings in der europäischen Gesellschaft, die zu einer Reflexion über die
Menschenrechte,99 ja sogar zu ontologischen Problemen führt.“100
Nach Luigi Reitani verdeutlichen die Überarbeitungen des Textes die Absicht der
Autorin „[...] den unmittelbaren Anlass ihres Schreibens (den Protest in Wien) in
einen viel größeren politischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu
stellen.“101 Entwickelt Elfriede Jelinek doch gerade aus dem fundamentalen Material
alter Texte in Bezug auf zeitnahe Ereignisse brisante kontemporäre Inhalte.
wird von Olaf Altmann in Form eines riesigen schwarzen „Kirchenschiffs“ und einem hellbeleuchteten Kreuz im Bühnenhintergrund auch auf die Bühne des Burgtheaters geholt.
99
Dieser Aspekt wird sowohl von Silke Felber (die sich auf Agamben bezieht), als auch von Bärbel
Lücke in ihrer analytischen Interpretation des Stückes hervorgehoben. Vgl.: Felber, Silke: „dentro,
fuori, dentro fuori, perché no, è bello che ci sia un po’ di cambiamenteo“. Fenomeni di inclusione ed
esclusione nell’opera „Die Schutzbefohlenen“ di Elfriede Jelinek, und Lücke, Bärbel: Aischylos,
Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo). Zu Elfriede Jelineks Stück „Die
Schutzbefohlenen“. http://www.textem.de/index.php?id=2519 (13.2.2015). Fußnote übernommen.
100
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 60.
101
Ebd.
29
3
Elfriede Jelinek „[...] will kein Theater“
Elfriede Jelinek genießt in ihrem Heimatland einen geteilten Ruf, wird sie doch als
‚Nestbeschmutzerin’ geschimpft oder als ‚Störenfriedin’ wahrgenommen, die mit
ihrem literarischen Schaffen und dem gleichzeitigen Drang zur Stellungnahme als
Autorin im deutschsprachigen Raum eine unverwechselbare Position einnimmt.102
Die 1946 in Mürzzuschlag (Steiermark) geborene Schriftstellerin, deren Wurzeln tief
in der österreichischen Literatur verankert sind, „[...] polarisiert mit ihren
Theatertexten und Theateransichten“.103
Nach ihren frühen Theaterstücken, die noch eine durchgängige Dialogstruktur hatten
(z.B. Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der
Gesellschaften, 1977), kehrte Elfriede Jelinek sich in ihrem Theaterschaffen nach
und nach von traditionellen dramatischen Strukturen – wie Einheit der Handlung, des
Ortes und der Zeit nach der aristotelischen Poetik – ab. Seit den 1990er Jahren findet
sich in ihren Theatertexten keine Figurenrede mehr, weder auf Rollen aufgeteilte
SprecherInneninstanzen noch zwischenmenschliche Dialoge, die eine Handlung
suggerieren. Jelinek ersetzt die dramatische Dialogstruktur durch „Sprachflächen“104.
In ihren Texten für das Theater fielen fixierte Rollen weg und die kommunikative
Struktur wandelte sich von Dialogen hin zu Monologblöcken. Nun lassen Jelineks
Theatertexte die Frage offen, inwiefern diese dramatisch sind, lehnen sie sich doch
gegen die dramatische Tradition auf. Jelineks Theaterästhetik begreift das Drama
nicht als Repräsentation von Welt und Mimesis von Handlung, vielmehr stellt sich
die Autorin gegen die klassische Figurenrede bzw. den Dialog und formuliert die
Forderung: „Ich will kein Theater“105.
102
Vgl. Heimböckel, Dieter: „dem gesunden humor mit terror begegnen“. Zur DeZentrierungsdramaturgie Elfriede Jelineks. In: Bloch, Natalie; Heimböckel, Dieter (Hg.): Elfriede
Jelinek. Begegnungen im Grenzgebiet. Wissenschaftlicher Verlag. Trier: 2014. S. 7-26, hier S. 8f.
103
Jung, Danielle: „Ich will kein Theater!“ Stimmen zu Elfriede Jelineks postdramatischen Texten. In:
Bloch, Natalie; Heimböckel, Dieter (Hg.): Elfriede Jelinek. Begegnungen im Grenzgebiet.
Wissenschaftlicher Verlag. Trier: 2014. S. 87-98, hier S. 87.
104
Dabei handelt es sich um einen Begriff, der die Textur der Jelinekschen Texte beschreiben soll, die
sich einer psychologischen Tiefenstruktur entziehen und in denen die dramatische Figurenrede einer
polyphonen Stimmenfläche Platz macht. Vgl. Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein.
www.elfriedejelinek.com (=Elfriede Jelinek Homepage, Rubrik: zum Theater) datiert mit 1997.
(Hinweis: in Theater Heute Jahrbuch 1983, S. 102) Letzter Besuch: 28.09.2015.
105
Jelinek: Ich möchte seicht sein.
30
3.1
Jelineks Theaterbegriff
Elfriede Jelinek nimmt Abstand von der Auffassung, dass Theater ein Modell des
Realen sei. Die Textgebilde der Autorin regen einen ausgedehnten Theater- wie auch
Textbegriff an. Deutlich richtet sich ihr Theaterbegriff gegen die Tradition der
Repräsentation, was die Schriftstellerin mit programmatischen Äußerungen zu ihren
Theatertexten, wie in ihrem theatertheoretischen Essay Ich möchte seicht sein,
erörtert: „Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken.
Ich weiß auch nicht, aber ich will keinen sakralen Geschmack von göttlichem zum
Leben Erwecken auf der Bühne haben.“106
Mit seinem gleichnamigen Buch führte Hans-Thies Lehmann den Begriff
Postdramatisches Theater im Jahr 1999 in die Theaterwissenschaften ein. Er
formuliert darin eine neue Tendenz des zeitgenössischen Theaters, bei der die
Aufführung
selbst
im
Mittelpunkt
steht
und
die
Auffassung,
dass
die
Theateraufführung dem Text diene, verabschiedet wurde. Durch den Verzicht auf
eine strukturierte Handlung, psychologische Charaktere und einen offenkundigen
Fabelverlauf will das postdramatische Theater einen Zustand erzeugen, der selbst
wirklich ist; ganz im Gegensatz zum Repräsentationstheater, das auf die Darstellung
einer zweiten Welt, die eine andere Wirklichkeit zeigt, baut und von der Lesbarkeit
und Kommunizierbarkeit der dargestellten Bilder und Geschichten lebt, wobei
aktuelle Themen unter herrschenden Normen und Sichtweisen erörtert werden.107
Ihre Theaterstücke beabsichtigen keine Illusionsbildung oder Repräsentation der
Welt. Das Theater fand in der literarischen Arbeit von Elfriede Jelinek folglich eine
neue, ‚postdramatische’ Form, ihre Texte treten stets gesellschafts-, ideologie- bzw.
politikkritisch in den Vordergrund und reagieren konsequent auf gesellschaftlich
brisante Themen. Die Stilmittel des postdramatischen Theaters wie das Fehlen von
Individualitätskonzepten, Handlungsverläufen und konsistenter Figurenentwicklung
sind Jelineks Texten für das Theater eingeschrieben. Der postdramatische
Theatertext schafft eine neue „Kultur des Lesens und Zuschauens“108 und fordert die
106
Ebd.
Vgl. Bloch, Natalie: »ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!« In: Ernst, Thomas;
Gozalbez Cantó, Patricia; Richter, Sebastian; Sennewald, Nadja; Tieke, Julia (Hg.): SUBversionen.
Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart. [transcript]. Bielefeld: 2008. S. 165-182,
hier S. 165.
108
Jirku, Brigitte: Wer spricht? Textform und Textanalyse. In: Forschungsprojekt „Sinn egal. Körper
zwecklos“ Postdramatik - Reflexion & Revision. Forschungsplattform Elfriede Jelinek.
https://fpjelinek.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/proj_ejfz/PDF-Downloads/Jirku.pdf Letzter
Besuch: 26.11.2015. S. 1.
107
31
Institution Theater heraus, ihre Aufgaben neu zu definieren, denn „[o]hne Text
kommt auch das postdramatische Theater nicht aus, wobei sich die Materialität und
Medialität, nicht nur des Textes, sondern auch der Aufführung, verändert haben“109.
„Wer kennt schon die Welt so gut, daß er sie abbilden könnte? Ich jedenfalls nicht. Sie aber
auch nicht. Sie glauben es vielleicht, aber Sie kennen sie nicht. [...] Warum sollte also das
Theater es versuchen, das gar nichts kennt, sondern nur aus dem schöpft, was die Zuschauer
zu kennen glauben? [...] Funktioniert Theater überhaupt erst, wenn man alles losläßt,
vielleicht sogar wegwirft, sich selbst und das, was man sieht? [...] Die an uns mühsam
festgebundene Wirklichkeit, die uns nicht leiden kann, denn sie hat uns auf dem Buckel und
wir sie, und wir mögen sie meist auch nicht, aus demselben Grund [...] wir werden sie nicht
los. [...] Aber wir können sie vielleicht, im Wissen, daß wir sie nicht loswerden, auf die
Bühnenfiguren werfen [...].“110
Jelineks Stücke „[...] sprengen [...] nicht nur die Theater-Konvention, sondern stellen
in äußerst subversiver Art eine mögliche künstlerische Aussagekraft des Theaters
und die Sinnhaftigkeit performativer Akte überhaupt in Frage.“111 Das Theater von
Elfriede Jelinek versucht „[...] durch den Schock, durch die Suspension alltäglicher
Erklärungsmuster den Reizschutz der Erinnerung, die Deckgeschichten des
Alltagsbewusstseins zu durchbrechen“112 und die Jelinekschen Theatertexte, „[...] die
mit konventionellen Strukturen radikal brechen, zielen häufig auf eine solche
Unterbrechung des Regelhaften, [...] um einen politischen Gegenwartsbefund zu
liefern.“113 Der Regisseur und Jelinek-Experte Nicolas Stemann äußert sich zu den
postdramatischen Theatertexten von Elfriede Jelinek und stellt fest: „Keine andere
lebende Autorin hat das moderne Theater so intelligent durchdrungen und zu sich
selbst geführt wie sie [...]“114.
109
Ebd.
Jelinek, Elfriede: Theatergraben. www.elfriedejelinek.com datiert mit 08.05.2005 (=Elfriede
Jelinek Homepage, Rubrik: zum Theater). Letzter Besuch: 10.11.2015.
111
Colin, Nicole: Tod des Autors oder Tod dem Theater? Elfriede Jelineks heimlicher Dialog mit der
Bühne. In: Bloch, Natalie; Heimböckel, Dieter (Hg.): Elfriede Jelinek. Begegnungen im Grenzgebiet.
Wissenschaftlicher Verlag. Trier: 2014. S. 27-38, hier S. 32f.
112
Schößler, Franziska: Augen-Blicke. Erinnerungen, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger
Jahre. Gunter Narr Verlag. Rübingen: 2004. S. 28.
113
Bloch: »ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!«, S. 170f.
114
Stemann, Nicolas: „Das Theater handelt in Notwehr, also ist alles erlaubt!“. Ein Interview, in:
Gutjahr, Ortrud (Hrsg.): Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek, Würzburg: 2007. S. 123-142, hier
S. 140.
110
32
3.1.1
„Für diejenigen sprechen, für die kein anderer spricht“
Schon vor ihrer Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis setzte sich Elfriede
Jelinek mit ihrer Person und in ihren Texten für ihre politischen Anliegen ein. Neben
dem Kampf gegen Rechtsextremismus und wachsende Fremdenfeindlichkeit
engagiert sie sich früh für Minderheiten und von der Gesellschaft Ausgeschlossene.
So verfasste sie bereits im Jahr 1994 eine Stellungnahme zur Asyl- und
Aufenthaltsgesetzgebung in Österreich, in der sie emphatisch „die Verpflichtungen,
sich als KünstlerIn für andere zu exponieren und für die, die keine Stimme haben, zu
sprechen“115 formulierte:
„Wenn wir Künstlerinnen und Künstler in unseren Arbeiten die Moral vergessen, die
Verpflichtung, die wir den Fremden gegenüber haben, die sich zu uns geflüchtet haben, dann
wird sich unser scharfer Blick letztlich trüben und wir werden überhaupt nichts mehr sagen
können, was wahr wäre. [...] Es ist unsere Aufgabe, für diejenigen zu sprechen, für die kein
anderer spricht. Denn auch unsere künstlerischen Werke werden uns nicht retten, wenn wir
uns abschließen gegen diejenigen, die sich aus ihrer Bedrohung heraus zu uns gerettet
haben.“116
Als Schriftstellerin ergreift Jelinek konsequent das Wort für die Schwächeren, die
selbst keine Stimme haben oder nicht zu Wort kommen können (z.B. MigrantInnen,
AsylantInnen, Frauen). Als Person der Öffentlichkeit scheut sich die Autorin nicht
vor einer entschiedenen politischen Meinung und wird nicht müde, diese auch mit
den vorhandenen Mitteln zu verbreiten. In den Schutzbefohlenen wie auch in
vorhergehenden Theaterstücken intendiert Elfriede Jelinek eindeutig „für diejenigen
zu sprechen, für die kein anderer spricht“117.
3.1.2
Das politische Schreiben von Elfriede Jelinek
Jelineks politisches Schreiben folgt immer auch ihrem eigenen Anspruch, mit ihren
Texten Aufklärung zu schaffen. Sie äußert sich wiederholt sowohl direkt in
Interviews, bei Demonstrationen oder Kundgebungen (in den Jahren nach dem
Nobelpreis weniger) als auch in ihren Texten öffentlich (z. B. auf ihrer Homepage)
115
Janke, Pia; Kaplan, Stefanie: Politisches und feministisches Engagement. In: Janke, Pia [Hrsg.]:
Jelinek-Handbuch. Verlag J. B. Metzler. Stuttgart/Weimar: 2013. S. 9-20, hier S. 9.
116
Jelinek, Elfriede: Stellungnahme zur Asyl- und Aufenthaltsgesetzgebung in Österreich. In:
Broschüre zum Trauermarsch zum Asyl- und Aufenthaltsgesetz. 1994.
117
Ebd.
33
zu politischen und gemeinschaftlichen Problemen und nutzt auch das Theater als
politisches Medium118.
„Keine Kunst lebt so sehr vom unmittelbaren Austausch wie das Theater: Der Theaterabend
steht und fällt mit der Interaktion zwischen Bühne und Publikum. Anders als Literatur,
Bildende Kunst und Film ist Theater eine Kunst, die jeden Abend neu mit allen Menschen im
Raum entsteht. Man könnte Theater also auch zur kollektivsten aller Künste deklarieren. Ganz
sicher jedenfalls ist das Theater ein Raum, der Debatten anstoßen, prägen und befeuern
kann.“119
Dafür erntete die Autorin von Beginn an Kritik. Sie wurde bald „für bürgerliche
Kreise, für die FPÖ und für die Kronen Zeitung zum Feindbild“120. In Jelineks
öffentlichem Engagement zeigt sich ihr politischer Protest, in dem sie sich neben
ihren Werken auch auf Demonstrationen und Kundgebungen, in zahlreichen
Interviews und Reden gegen Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung äußert
und dabei auch massiver Hetze ausgesetzt ist. In Österreich ist Elfriede Jelinek bei
einigen ihrer Landsleute als ‚Nestbeschmutzerin’ verrufen.121 Die Autorin war nach
der Nobelpreisverleihung in den Medien omnipräsent und hat sich in der
darauffolgenden Zeit fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, äußerte
sich aber auf ihrer Homepage weiterhin zu politischen Debatten. Intervenierte die
Schriftstellerin in den Jahren vor dem Nobelpreis, indem sie selbst auf die Straße
ging und sich für ihre Anliegen einsetzte, Reden auf Demonstrationen hielt und ihre
Texte in Zeitungen veröffentlichte, so zieht sie seither eine „virtuelle“ Präsenz vor.
„Auch wenn sich die Formen der ‚Interventionen’ in den letzten Jahren geändert haben und
die eigene Wirkungsmächtigkeit mit Skepsis betrachtet wird, setzt sich Jelinek auch
weiterhin politisch gegen das ein, was sie als Missstand empfindet, und unterstützt das, was
sie als wichtig oder schützenswert erachtet.“122
Jelineks Texte sind insofern politisch, da sie einerseits auf aktuelle Themen (wie bei
den Schutzbefohlenen die Flüchtlingskrise in Europa mit dem Anlass der Besetzung
der Votivkirche in Wien und hunderter Toter im Mittelmeer) eingeht, andererseits in
ihrer speziellen Sprache eine besondere Form findet und neue Wege geht.
118
Vgl. Jelinek, Elfriede: „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“. In: TheaterZeitSchrift 7/1984, S.
14-16.
119
Büdenhölzer, Yvonne; Oberender, Thomas: Vorwort. In: Berliner Festspiele (Hrsg.): Theatertreffen
Magazin. Berlin: April 2015. S. 6.
120
Janke, Kaplan: Politisches und feministisches Engagement, S. 9.
121
Vgl. Forschungsplattform Elfriede Jelinek: Texte - Kontexte – Rezeption. TABU: Bruch.
Überschreitungen von Künstlerinnen. http://jelinektabu.univie.ac.at/politik/protest/ Letzter Zugriff:
24.9.2015.
122
Janke, Kaplan: Politisches und feministisches Engagement, S. 19.
34
Durch ihre konsequente Resonanz auf gesellschaftlich brisante Inhalte schreibt sie
ihrer Arbeit einen hohen Bildungswert ein – um mit ihrem Werk umgehen zu
können, bedarf es einer intensiven Auseinandersetzung mit den darin behandelten
Themen. Dies gilt nicht nur für die Inszenierungsarbeit der Regisseure. Ihre Texte
sind
immer
wieder
ein
Versuch,
den
Medienbildern
und
-berichten
entgegenzuwirken; in einer kritischen Reflexion verfolgt sie dabei eine humane
politische Idee, indem sie ihre Gedanken zu den brisanten Themen über ihre Sprache
weitergibt.
„Was die Medien dabei aus tagesaktueller Notwendigkeit ebenso behände aufgreifen, wie sie
es unvermittelt wieder dem Orkus gestriger Belanglosigkeiten überantworten, gerät bei
Elfriede Jelinek zur auf Dauer gestellten Bestandsaufnahme einer aus den Fugen geratenen
bzw. beschädigten Welt.“123
Sie gibt sich sprachlichen Experimenten und neuen ästhetischen Formen hin, hält
aber an politischen Inhalten fest. In letzter Zeit lässt sich auch erkennen, dass sich die
Schriftstellerin Jelinek anstelle der Aufarbeitung nationalsozialistischer Ereignisse
vermehrt auf aktuelle politische Geschehnisse und deren mediale Darbietung
konzentriert. Die politische Aktualität von Jelineks Bühnenstücken ist neben der
montiert-collagierten Form und ihrer zitierten Sprache eine Besonderheit und nicht
typisch für das Medium Theater.
3.1.3
Theater und Politik
„Das Versagen diplomatischer Strategien und die Ohnmacht internationalen Rechts haben ein
Unbehagen gegenüber der Gestaltungskraft von Politik heraufbeschworen, an deren Stelle
sich eine Lücke im System geöffnet hat. Aus dieser Krise kann die Kunst ihre schöpferische
Kraft beziehen, indem sie die Leerstelle okkupiert und zum utopischen Raum erklärt, über
globale Zusammenhänge im internationalen Kontext zu reflektieren und neue Entwürfe von
Gemeinschaft zu erproben. Kunst kann in der Krise zur Unruhestifterin und politischen
Agitatorin werden.“124
Im gegenwärtigen Theater ist ein wachsendes politisches Bewusstsein zu
beobachten, wobei „[...] ein politisches Theater nicht im Sinne eines polarisierenden
Einmischens in die Tagespolitik, sondern im Sinne eines utopischen Denkens fern
123
124
Heimböckel: „dem gesunden humor mit terror begegnen“, S. 10.
Richter: Verästelungszusammenhang, S. 78.
35
der Realität des Alltags“125 zu verstehen ist. Elfriede Jelinek setzt sich in ihren
Theatertexten aufs Schärfste mit der globalisierten Welt auseinander, wobei sie sich
nicht davor scheut, begleitend zu ihren Stücken zum öffentlich geführten politischen
Diskurs Stellung zu beziehen und in Interviews Rede und Antwort zu stehen.
„Politisch im Sinne einer Politik der Wahrnehmung, die vertraute Seh- und Deutungsmuster
durchbricht, um neue Perspektiven zu öffnen. Politisch im Sinne eines Theaters, das stets die
kritische Reflexion der eigenen Bedingungen von Produktion, Rezeption und künstlerischer
Praxis herausfordert und als durchlässiges System die Wechselbeziehungen zu Gesellschaft,
Künsten und Wissenschaften sucht.“126
Die Dramaturgin Stefanie Carp stellt fest: „Sie hat sich in die Öffentlichkeit ihres
Landes eingemischt bei gleichzeitiger Zurückgezogenheit. [...] Ihre Wirkung ist
extrem: Vulgäre Wut oder Hochachtung.“127 Schöne Worte zur Verknüpfung von
Theater und Politik fand Prof. Monika Grütters, Staatsministerin bei der
Bundeskanzlerin Angela Merkel, im Grußwort zum Begleitheft des Berliner
Theatertreffens 2015:
„Spielerisch Konflikte, Leiden und Leidenschaften zu erleben oder politische, soziale und
moralische Fragen zu verhandeln, kann nicht nur eine für die Beteiligten wie ihr Publikum
gleichermaßen selig machende Kunst sein, sondern auch eine Anregung zum Nachdenken,
zum Austausch und zur öffentlichen Debatte. In diesem Sinne trägt eine vielfältige
Theaterlandschaft auch zu einer lebendigen Demokratie bei.“128
Dass Elfriede Jelineks Bühnenstück Die Schutzbefohlenen „[...] nicht nur auf
formaler Ebene Grenzen sprengend [...]“ ist, sondern auch „[...] Klage [erhebt] gegen
ein neoliberales Europa, in dem der Begriff «Integration» regelrecht zum
Euphemismus zu verkommen scheint“129, ist an der politischen Brisanz der Thematik
auszumachen; der Theatertext fungiert als Stück des Augenblicks. Anlässlich des
Theatertreffens 2015 in Berlin wurde Nicolas Stemanns Die SchutzbefohlenenInszenierung eingeladen, was die ‚Verästelung’ von Theater und Politik aufzeigt.
In dem Text „[...] verhandelt die Autorin [...] Asylrechtsmissstände, Ein- und
Ausschlussmechanismen im Kontext der Migration sowie das xenophobische
125
Ebd.
Ebd.
127
Carp, Stefanie: Die Entweihung der heiligen Zonen. Aktualisierte Rede zur Verleihung des
Heinrich-Heine-Preises an Elfriede Jelinek im Jahr 2002. In: Carp, Stefanie: Berlin Zürich Hamburg.
Texte zu Theater und Gesellschaft. Verlag Theater der Zeit. Berlin: 2007. S. 33-41, hier S. 34.
128
Gütters, Monika: Grußworte. In: Berliner Festspiele (Hrsg.): Theatertreffen Magazin. Berlin: April
2015. S. 8.
129
Felber: Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (in Druck).
126
36
Sprechen darüber.“ 130
Barbara Burckhardt, Mitglied der Jury des Berliner
Theatertreffens, stellte Anfang Februar 2015 die Inszenierung mit folgenden Worten
vor:
„Das ist eine Inszenierung, die führt uns sehr in die Gegenwart, in die Politik der Gegenwart,
in unsere eigene Gegenwart, es geht um die Flüchtlinge [...] [Jelinek schrieb] einen sehr
wütenden, starken Text in der Wir-Form, in der diese Flüchtlinge um Sichtbarkeit kämpfen
und die auch behaupten.“131
Am 16. Dezember 2014 fand im Thalia Theater in Hamburg eine Podiumsdiskussion
zum Thema „Was darf die Kunst? Was darf die Gesellschaft?“
132
statt.
Ausschlaggebend für die Diskussion war die Anzeige gegen die Kampnagel-Chefin
Amelie Deuflhard seitens der Alternative für Deutschland (AfD, eine deutsche
Partei), weil sie Refugees in einer Kunstinstallation „überwintern“ ließ. Sieghard
Wilm, der Pfarrer der St. Pauli Kirche, äußerte sich in diesem Gespräch wie folgt zur
Thematik: „Die Kunst muss Wunden offenhalten, das ist sie der Gesellschaft
schuldig.“ 133 Das zeitgenössische Theater kann als Ort, an dem eine kollektive
Auseinandersetzung gesucht und ein politischer Widerstand deutlich wird,
verstanden werden, da es auf die Grenzverschiebung zwischen Bild und Wirklichkeit
und zwischen Politik und Ästhetik hinweist. Die politische Schriftstellerin Jelinek
nutzt das Theater und den Text als „Sprachrohr“134 und verbreitet damit sowohl ihre
persönliche als auch eine öffentlich-medial vertretene Meinung zu gegenwärtigen
Ereignissen und zur Vergangenheit. Jelinek glaubt „[...] an das Theater als ein
politisches Medium [...]“ 135 . Die Autorin arbeitet mediale und gesellschaftliche
Diskurse in montageartigen Sätzen in ihre Arbeit ein und gibt ihrem Werk dadurch
einmal mehr eine politische Note. In den Schutzbefohlenen schiebt Jelinek
130
Forschungsplattform Elfriede Jelinek. PRÄSENTATION UND DISKUSSION „Die
Schutzbefohlenen“ im Kontext der Refugee-Bewegung. Letzter Besuch 24.09.2015.
https://fpjelinek.univie.ac.at/veranstaltungen/diskussion-die-schutzbefohlenen-2015/
131
Burckhardt, Barbara: über Die Schutzbefohlenen. Theatertreffen 2015 - Die Jury spricht. Die
Juroren des Theatertreffens stellen die eingeladenen Inszenierungen vor.
http://blog.berlinerfestspiele.de/theatertreffen-2015-die-jury-spricht/ Letzter Besuch: 17.06.2015.
132
mit dem Intendanten Joachim Lux und dem Regisseur Nicolas Stemann sowie mit Amelie
Deuflhard von Kampnagel und dem Pfarrer der St. Pauli Kirche Sieghard Wilm (in der Kirche fand
eine Urlesung von Jelineks Text Die Schutzbefohlenen statt - ein gemeinsames Projekt des Thalia
Theaters in Kooperation mit der St. Pauli Kirche und den dort beherbergten 80 Flüchtlingen) als auch
mit Dirk Nockemann von der AfD Hamburg.
133
Podiumsdiskussion am Thalia Theater „Was darf die Kunst? Was darf die Gesellschaft?“
https://www.youtube.com/watch?v=xHKyuw7ttYM (Minute 37). Letzter Besuch: 26.07.2015.
134
Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Das politische Schreiben. Essay: zu Theatertexten (Theater der Zeit:
Recherchen 12), Berlin: 2002. S. 162.
135
Jelinek: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein.
37
verschiedene Zeitebenen ineinander, indem sie Aischylos’ Die Schutzflehenden mit
der Flüchtlingssituation in Europa und den gesellschaftspolitischen Ereignissen in
Österreich überblendet, wodurch die Autorin in den Schutzbefohlenen die Gegenwart
in ihrer historischen Dimension sichtbar macht und gleichzeitig einer politischen
Aussage unterordnet.
3.2
Jelineks Sprache
Die Jelineksche Dramatik wurzelt in der Tradition der Wiener Gruppe, vor allem ihre
ästhetische Methode der Sprachartistik zeigt die Zugehörigkeit der Autorin, wobei
Jelinek selbst die Nähe zur Wiener Gruppe in vielen Gesprächen betont und sich in
einer „[...] dezidiert österreichische[n] Tradition der Avantgarde, die ihrerseits tief in
der Denkgeschichte dieses Landes verwurzelt ist [...]“ 136 sieht. Sehr deutlich
formuliert Monika Meister auch Jelineks Schreiben für das Theater und die
Wichtigkeit der Sprache: „Jelinek will ein Theater der Wiederholung des
Immergleichen, keine Variation. Dieser insistierende Gestus bestimmt das Material.
Es geht Jelinek um die Überführung des Denkens in Sprechen.“137 Die politischen
Thematiken werden über ihre Sprache und Sprechweisen (z.B. Chorisches Sprechen)
sichtbar.
„Die Theatertexte Jelineks sind bestimmt von einem radikal gegenwärtigen Zugriff. Die
Sprache ist aufs Äußerste zugespitzt; sie trifft die Dinge, Figuren, Zustände und Verhältnisse
in ihrer augenscheinlichen (übertriebenen) Verfasstheit und analysiert sie zugleich in ihrer
gesellschaftlichen Konstruiertheit.“138
Die Dramaturgin Stefanie Carp sieht in ihrem Text „Die Entweihung der heiligen
Zonen“ die Sprachkünstlerin mit poetischem Ausdruck an der Seite Thomas
Bernhards und beschreibt ihre Sprache wie folgt:
„Elfriede Jelinek hat eine neue Sprache erfunden, die schwierig ist und anstößig ist. Sie ist
keine Geschichtenerzählerin, sie ist eine experimentelle Autorin; eine sprachobsessive
österreichische Autorin in der Tradition der Autoren und Dichter der Wiener Gruppe, aus der
auch Thomas Bernhard kommt.“139
136
Meister: „Theater müßte eine Art Verweigerung sein“, S. 65.
Ebd. S. 66.
138
Meister, Monika: Bezüge zur Theatertradition. In: Janke, Pia [Hrsg.]: Jelinek-Handbuch. Verlag J.
B. Metzler. Stuttgart/Weimar: 2013. S. 68-73, hier S. 68.
139
Carp: Die Entweihung der heiligen Zonen, S. 33.
137
38
Carp stellt zudem die Frage nach der Sprache der Opfer außerhalb des Zitats und
versucht Antwort zu geben:
„Elfriede Jelinek fiktionalisiert die Auflösung von eigenem in fremdbestimmtes Sprechen.
Sie löst auch ein Autorinnen-Sprechen auf. Es ist, als sollten die Amalgame der affirmativen
Diskurse, denen sie ja ihre Kritik immer mit einschreibt, etwas verstecken, die Sprache der
Autorin schützen oder verdecken, als würde sie sich unterordnen müssen.“140
Ihr Schreiben hat die Autorin den Dimensionen des fortdauernden globalen
Datenstroms angepasst. Sie ahmt diese „Sprachflut“ gewissermaßen nach. Wie ein
Richterhammer hämmern ihre Gedanken zu brisanten Themen unaufhörlich auf die
Gesellschaft ein. „Jelineks Sprache ist maschinell, ist eine Art Maschinensprache.
Das heißt: das Schreiben selbst wird als Technik gehandhabt, [...] ihre Texte sind als
mediatisierte Literatur zu bezeichnen.“141 Am Theater sehen sich die Regisseure mit
der schwierigen Aufgabe konfrontiert, dieses Sprachmaterial auf die Bühne zu
bringen. Dabei setzt sich die Autorin in ihren Texten immer mit unterschiedlichsten
Genres auseinander und verwendet die unterschiedlichen Medien, wie das Internet,
das ihr das liebste Medium geworden ist; denn „Elfriede Jelinek reagiert unmittelbar
und schnell auf große Unglücksfälle mit hoch elaborierten Texten. Sie stellt sie ins
Netz als Teil der öffentlichen Debatte [...]“142. Bärbel Lücke geht zu Beginn ihrer
Studie „Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo). Zu
Elfriede Jelineks Stück Die Schutzbefohlenen“ auf das ‚collagenartige’ Schreiben der
Autorin ein; besonders interessant ist laut ihr
„[...] die Tatsache, dass alle Informationen, alle Zusammenhänge, alle thematischen
Verflechtungen und Vernetzungen den Text als Gewebe ausmachen, bei dem das aus der
Sprache Herausmodellierte zum Modell selbst, zum Paradigma für alltägliche
Menschenrechtsverletzungen in Europa wird [...].“143
Jelinek lässt keine individuellen SprecherInnen mehr erkennen und durch die
Textblöcke (die nur durch wenige Absätzen oder Bilder unterteilt werden) entsteht
der Eindruck von Sprachkörpern in ihren Arbeiten für das Theater.
Das
bereits
erläuterte
unterschiedlichster
montageartige
Diskurspartikel,
Zitate
Schreiben
und
der
Autorin
Sprechweisen
lässt
mittels
keinen
Rückschluss auf ein sprechendes Subjekt mehr zu. Dieser Umstand wird im Kapitel
140
Ebd. S. 40.
Meister: „Theater müßte eine Art Verweigerung sein“, S. 56.
142
Carp: Die Entweihung der heiligen Zonen, S. 34.
143
Lücke: Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo).
141
39
„Kollektives Subjekt“ näher behandelt, da er sich auf die Rezeptionssituation der
Theaterstücke von Jelinek auswirkt (wie bspw. die aus dem Chor heraustretenden
SprecherInneninstanzen). In Die Schutzbefohlenen spricht ein chorisches Wir, die
SchauspielerInnen sind hierbei TextträgerInnen und werden zu Resonanzkörpern
durch die Jelineks Textfläche erst gehört werden kann.
3.3
Die Arbeitstechnik der Autorin
Jelineks Arbeitstechnik besteht in der Aneignung verschiedener Genre, welche sie
dann mitunter auch parodiert, weshalb sich ihr Werk sehr heterogen gestaltet und nur
durch ihren speziellen Zugang zur Sprache zusammengehalten wird. Jelineks
genutztes „[...] Material kommt selbst aus sprachlichem Material der Medien. Sie
arbeitet mit semantischen Verschiebungen, Mehrdeutigkeiten, Verdichtungen.“ 144
Durch ihre spezielle Sprachtechnik, die sie auf die Massenmedien anwendet, werden
die dort behandelten Themen umgelegt und als ‚Verdrängtes’145 offenbart. Mit dieser
Methode greift Jelinek politisch auf die Themen zu und trifft immer wieder den Nerv
der Gesellschaft bzw. „[...] ins Zentrum öffentlichen Redens und deshalb wird ihr
auch so massiv und aggressiv erwidert.“ 146 Monika Meister beschreibt diese
montageartige Arbeitsweise von Jelinek folgendermaßen:
„Ihre literarische Technik besteht darin, dass sie nicht über die Welt spricht, sondern sich
hineinbegibt in Texte über die Welt, diese montiert, weiterschreibt, verschiebt, verdichtet und
so erst – jenseits moralischer Wertung – ihr scharfes Urteil fällt. Dies gelingt nur deshalb,
weil das Sprachmaterial ein bereits vorgefertigtes ist, in das eingegriffen wird. Dieser
Eingriff ist der Zugriff der Jelinek. Politisch sind die Texte aufgrund ihrer poetischen
Verfahrensweise.“147
Jelinek verwendet für ihre Texte zumeist gesellschaftliche und öffentliche Diskurse,
um daraus „Sprachmaterial“ zu entnehmen, zu sammeln, zu bearbeiten und neu zu
komponieren. Sie erarbeitet jede Verarbeitung oder Vorstellung von Geschichte neu
und greift aufklärerische Gedanken auf. Mittels „Sprachmontage“, das heißt
Montage von vorgefundenem Material, schreibt Jelinek ihren Figuren Aussagen zu,
die es schon gibt. 148 Ihre Sprache findet in den Inszenierungen ihren vollen
144
Meister: „Theater müßte eine Art Verweigerung sein“, S. 57.
nach Freud: aus dem Unterbewusstsein zum Bewusstsein überführte Themen.
146
Meister: „Theater müßte eine Art Verweigerung sein“, S. 57.
147
Ebd.
148
Vgl. Jelinek: Ich schlage sozusagen mit der Axt drein.
145
40
Ausdruck, durch das Aussprechen können die Worte und Wortspiele herausgekehrt
werden.
„Meine Stücke wuchern auch, ich weiß nicht, wer was davon hat. Ich habe auf alle Fälle
etwas davon, denn ich sehe ja, wie ein Regisseur, eine Regisseurin dies unterirdische
Gewuchere zum nach außen hin sichtbaren Leben erweckt [...] Deshalb glaube ich und hoffe
ich, daß auch meine Stücke irgendwie leben, aber anders, als wenn sie richtige Menschen und
ihre Taten und Untaten imitieren würden.“149
Elfriede Jelinek arbeitet in ihrer literarischen Verfahrensweise mit Destruktion und
Verfremdung von vorgefundenem Sprachmaterial. Ästhetisch positioniert sich
Jelinek zwischen Satire und Ironie, aber auch die totale Negation als Methode der
Entmythologisierung liegt ihr nahe. Die Literatin fühlt sich der Aufklärung
verpflichtet und lenkt den Blick auf den gesellschaftspolitischen Kontext. Jelinek
nimmt in ihren Textkörpern eine Demontage des Subjektbegriffs vor; die Auflösung
des Subjekts in Jelineks Texten ist eine Absage an die realistische Literatur.150
3.4
Regisseure als Ko-Autoren
Bereits in ihrem Text Ich möchte seicht sein aus dem Jahr 1990 formuliert Elfriede
Jelinek die Macht der „Spielleiter“ mit ihren „Sackerln [...] mit Dichtung“ zu
hantieren:
„Theater hat den Sinn, ohne Inhalt zu sein, aber die Macht der Spielleiter vorzuführen, die
die Maschine in Gang halten. Nur mit seiner Bedeutung kann der Regisseur die leeren
Einkaufstüten zum Leuchten bringen, diese schlappen undichten Sackeln mit mehr oder
weniger Dichtung drin.“151
Die jüngeren Theatertexte von Elfriede Jelinek gleichen einem ‚Brei’ der vom
Regisseur am Theater neu erarbeitet und zu einer Art Handlung werden muss.
Brigitte Jirku beschreibt den Wirkungszusammenhang von Jelineks Theatertexten
und der Regiearbeit am Theater und erläutert, dass „[d]er Text durch das
Regiekonzept neu gelesen [wird]. Im postdramatischen Theater wird der/die
DramaturgIn und/oder RegisseurIn zur Ko-AutorIn, wobei der Prozess der
149
Jelinek, Elfriede: Grußwort nach Japan. www.elfriedejelinek.com datiert mit
09.06.2012/09.07.2014 (=Elfriede Jelinek Homepage, Rubrik: zum Theater). Letzter Besuch:
10.11.2015.
150
Vgl. Gürtler, Christa (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Verlag Neue
Kritik. Frankfurt: 1990. Vorwort S. 7-16.
151
Jelinek: Ich möchte seicht sein.
41
Entstehung und Präsentation des Textes Teil der Aufführung sind.“152 Denn die
Jelinekschen Textflächen sind keine abgeschlossenen Arbeiten und daher immer
wieder veränderbar; selbst bei der Autorin erfahren sie oft eine Überarbeitung.153
Postuliert Elfriede Jelinek in Ein Sportstück (1999) bereits ihren Rückzug als
Autorin, indem sie folgende Regieanweisung formuliert: „Die Autorin gibt nicht
viele Anweisungen, das hat sie inzwischen gelernt. Machen Sie doch was sie
wollen“154, verzichtet sie in den Schutzbefohlenen gänzlich auf Anweisungen an die
Regie, lässt die Form und Umsetzung offen und gibt somit das künstlerische Zepter
weiter. So finden sich in Den Schutzbefohlenen weder Hinweise für Auf- bzw.
Abgänge noch Figuren im herkömmlichen Sinn, das Bühnenbild wird nicht skizziert
und auch Ort oder Zeit bleiben unbesprochen.
„Seit Jahren hat sie in RegisseurInnen, DramaturgInnen, DesignerInnen und
SchauspielerInnen MitstreiterInnen gefunden, die die Herausforderung ihrer Theatertexte
angenommen haben und ihrerseits neue, kongeniale »postdramatische« Theaterformen
erfunden und bestehende Konventionen verweigert haben. Die offene Form der Texte hat
RegisseurInnen die Freiheit gegeben, eine Vielfalt divergierender Inszenierungsstrategien
einzusetzen und dabei unweigerlich zu kreativen Co-AutorInnen zu werden.“155
In Diskussionen und im Spiel entsteht dann erst ein Theaterstück für die Bühne. Bei
Jelinek werden somit die Regisseure mit ihren Inszenierungen zu Ko-Autoren: „Der
Zugang zu ihren Werken hat sich erst durch die Arbeit der Regisseure entwickelt“156.
Evelyn Deutsch-Schreiner bezeichnet die Autorin Jelinek, die Theaterleute geradezu
einlädt, als Ko-AutorInnen zu wirken, in diesem Zusammenhang als ‚demokratisch’
und ‚innovativ’157.
152
Jirku, Brigitte: Wer spricht? Textform und Textanalyse. S. 1.
Die Schutzbefohlenen wurden von Jelinek insgesamt viermal erweitert, sie hat politische Ereignisse
aufgenommen und in ihrem Text verarbeitet. Zudem verfasste sie zunächst einen Appendix, der im
„Theater Heute“-Magazin im November 2015 abgedruckt wurde und als Ergänzung zu ihrem
Theatertext dient, und die letzte Veröffentlichung auf ihrer Homepage zu den Schutzbefohlenen war
eine auf die jüngsten gesellschaftspolitischen Ereignissen an den Grenzen Österreichs und die
anhaltende Flüchtlingskrise in Europa eingehende Coda.
154
Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück. Rowohlt. Reinbek: 1999. S. 7.
155
Jürs-Munby, Karen: Inszenierungsformen. In: Janke, Pia [Hrsg.]: Jelinek-Handbuch. Verlag J. B.
Metzler. Stuttgart/Weimar: 2013. S. 324-334, hier S. 324.
156
Nyssen, Ute: „Wir haben daran geglaubt, dass die Werke wichtig sind“ Zur Arbeit als Elfriede
Jelineks Theaterverlegerin. Janke, Pia (Hg.): JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek
Forschungszentrum 2014-2015. Praesens Verlag. Wien: 2015. S. 19-28, hier S. 20.
157
Vgl. Deutsch-Schreiner, Evelyn; Fleig, Anna: Über-Setzung, Transkription, Interpretation. Zum
Verhältnis von Theatertext und Aufführung. E-Mailwechsel (02.-19.12.2013). In:
https://fpjelinek.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/proj_ejfz/PDF-Downloads/Fleig_-_DeutschSchreiner.pdf Letzter Zugriff: 25.09.2015. S. 6.
153
42
„Jelinek gibt ihre Texte frei, zum Eingriff, zu Weiterarbeit. Sie macht ernst mit dem, was
Theater heißt, nämlich sich auf ein immer neues Terrain zu begeben, wo nicht von
vornherein klar ist, was dabei heraus kommt. Es geht um die Transformation von Text in die
Raum-Zeit der Szene.“158
Die Theatertexte Jelineks werden von ihr nicht nur für Eingriffe freigegeben, viel
mehr fordern diese selbst bereits ein Eingreifen „[...] und zeigen [...], drehen und
wenden die Bedeutung der Worte, des Sprechens“ 159. Dem liegt die Überlegung
zugrunde, dass das Theatermachen ein intermedialer Prozess ist, da jeder
Bühnenproduktion ein Bearbeitungsprozess des geschriebenen Textes vorangeht und
damit die Übertragung von Texten in Bühnenaufführungen dem Theater inhärent ist.
Ein Theatertext kann nicht unverändert auf die Bühne gebracht werden. Die
Schriftstellerin Jelinek bearbeitet die Wirklichkeit in ihren Textfluten mittels einem
Zitations- bzw. Übersetzungsverfahren und betätigt sich somit selbst im Feld der
intermedialen Bearbeitung.160 Nicole Colin findet in ihrem Aufsatz „Tod des Autors
oder Tod dem Theater?“ treffende Worte für die offene Form der Regieanweisungen
Elfriede Jelineks:
„Elfriede Jelinek hat nun in der ihr eigenen ironischen Attitüde den Spieß bereits seit langem
einfach umgedreht und in einer kontrafaktischen Affirmation zugespitzt. So stellt sie es dem
Regisseur nicht nur frei, ihre Texte aus seiner Perspektive zu interpretieren und zu
bearbeiten, nein, sie fordert es von ihm und sieht darin keinesfalls eine Verstümmelung ihres
Werkes oder Infragestellung ihrer Rolle als Autorin bzw. ihrer künstlerischen Autonomie,
sondern bewertet die Bearbeitung im Gegenteil als notwendigen Teil einer produktiven
(wenngleich zumeist indirekten) Zusammenarbeit.“161
Der deutsche Regisseur der Uraufführung von Die Schutzbefohlenen Nicolas
Stemann arbeitet seit einigen Jahren eng mit der österreichischen Literatin zusammen
und schreibt, dass ihre Theatertexte „[...] mehr, als nur gelesen und vielleicht
analysiert werden [wollen]. Sie wollen benutzt, beschmutzt, bekämpft und
umworben werden. Das ist im Rahmen einer Theaterinszenierung möglich – und nur
da.“162
158
Meister: „Theater müßte eine Art Verweigerung sein“, S. 71.
Meister: Bezüge zur Theatertradition, S. 68.
160
Vgl. Pewny, Katharina; Martens, Gunther: Bearbeitungen. In: Janke, Pia [Hrsg.]: JelinekHandbuch. Verlag J. B. Metzler. Stuttgart/Weimar: 2013. S. 312-323, hier S. 312.
161
Colin, Nicole: Tod des Autors oder Tod dem Theater?, S. 31.
162
Stemann, Nicolas: Das ist mir sowas von egal! Wie kann man machen sollen, was man will? –
Über die Paradoxie, Elfriede Jelineks Theatertexte zu inszenieren. In: Landes, Brigitte: Stets das Ihre,
Elfriede Jelinek. Theater der Zeit. Berlin: 2006. S. 62-68, hier S. 68.
159
43
Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek werden in dieser Arbeit in zwei
Inszenierungen – zum einen die Uraufführung von Nicolas Stemann in Hamburg,
zum anderen die ‚Heimholung’ nach Wien am Burgtheater unter der Regie von
Michael Thalheimer – analysiert, da die Jelinekschen Theatertexte als Rohmaterial
für die Aufführung dienen, sowohl Jelineks Schreibweise als auch ihr eigener
Anspruch fordern eine Überführung in ein realistisches Handeln im Sinne
körperlicher Präsenz. Elfriede Jelinek gibt den Regisseuren freie Hand, mit ihren
Texten umzugehen, wie sie wollen.
3.5
Wer (re-)präsentiert wen in welchem Kontext?
Jelinek
bezieht
Position:
„Mich
interessiert
das
Ungesicherte,
Gewagte.
Repräsentationstheater saugt den politischen Protest auf, der jetzt nötig ist.“ 163
Beschäftigt man sich mit den Theatertexten Jelineks fällt auf, dass sie sich
hinsichtlich Figuration und Formationen an den Mitteln der antiken Tragödie
orientiert, in den Schutzbefohlenen beispielweise mit einer chorischen Sprechweise –
einem kollektiven WIR – arbeitet.
„Jelineks Theatertexte negieren die Repräsentationsfunktion der szenischen Künste und die
konventionellen Dramaturgien grundlegend, knüpfen jedoch in vielfacher Form an die
Traditionen an, nicht zuletzt an die für die Moderne und Postmoderne maßgeblichen
ästhetischen Verfahren [...] Zugleich schöpfen die Texte aus dem kultur- und
kunstgeschichtlichen Reservoir, stellen Bezüge zur antiken griechischen Tragödie, der
europäischen Theater- und Dramengeschichte, philosophischen Diskursen und
gesellschaftlichen Konstrukten her. Jelineks Theater dekonstruiert historische und
gegenwärtige Ereignisse und entdeckt in diesen Prozessen verschüttete und verdrängte
Formationen von Gewalt und Verbrechen, die mittels ästhetischer Formgebung formuliert
und wahrnehmbar werden.“164
Der Jelinek-Text Die Schutzbefohlenen ist in Form einer Klageschrift verfasst.
„Durch dieses ästhetische Verfahren werden Diskurse des Dramatischen versus
Inszenierten auf der einen Seite sowie des Fiktiven und Wirklichen installiert, die
dieses Auseinander unterlaufen.“ 165 Daraus ergibt sich die Annahme, dass die
163
Kovacs, Teresa: Sanktion und Selbstzensur. Elfriede Jelineks Aufführungsverbote für Österreich.
In: Forschungsplattform Elfriede Jelinek. https://jelinektabu.univie.ac.at/sanktion/zensur/teresakovacs/ Letzter Zugriff: 26.09.2015. Zitiert nach: Stroh, A. / Kaindl, D.: Jelinek lehnt SalzburgAngebot ab.
164
Meister: Bezüge zur Theatertradition, S. 68.
165
Meister, Monika: „Wie ist es möglich, Theater ausschließlich mit Texten aufzustören?“ EMailwechsel zwischen Ulrike Haß und Monika Meister. In:
44
Autorin im Theater die Trennung von Realem und Imaginärem bezwingen möchte.
Ihre Texte stellen die Repräsentation als Gestaltung des Realen bloß. Jelineks
Theatertexte bergen die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Diskurses und
Identifikations-Potentials in sich, wodurch Prozesse der Identitätsbildung in Gang
kommen. Wie arbeitet Jelinek aber gegen das Theater? Dem Theater als Kunstform
ist das ‚Als-ob’ permanent immanent, denn selbst die Negation des ‚Als-ob’ ist
immer auch ein Hinweis auf dieses ‚Als-ob’. Elfriede Jelinek führt in ihrem
Bühnenessay Die Schutzbefohlenen ein WIR an, sie sucht den „[...] Abbau
autonomer Subjekte (denen die ästhetische Form des individualisierenden
Repräsentationstheaters entspricht).“166 Weiters geht aus den Theatertexten Jelineks
eine formale Absage an Narration und Figuration des traditionellen Theaters hervor,
sie dekonstruiert die üblichen Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen und
folglich auch das im traditionellen Theater eingeschriebene Einheitssubjekt. Der
Theaterraum als Ort der Repräsentation und der Aufbau von stereotypen Identitäten
in demselben werden von Elfriede Jelinek hinterfragt. Sie überträgt die
Zweifelhaftigkeit von Realität und deren Repräsentation auf die Subjektkonstitution.
Darin lässt sich auch ein subversives Potential ihrer Theatertexte erkennen. Jelinek
verhandelt die kulturelle Praxis des Theaters als abgeschlossenen Kunstraum, indem
das ‚Als-ob’ im Theateralltag immer auch eine zweite Wirklichkeit entstehen lässt,
die fiktiv ist im Gegensatz zu einer nicht-fiktiven „wahren“ Wirklichkeit. Im
Magazin des Theatertreffens Berlin 2015 beschreibt Peter Laudenbach in Bezug auf
die Inszenierung der Schutzbefohlenen von Nicolas Stemann die Situation des
Theaters hinsichtlich der Spielbarkeit politisch hoch brisanter Stücke und der
Möglichkeiten des Theaters als Kunstraum Fragen aufzuwerfen:
„Dem Theater wird offenbar alles zum Spielmaterial, auch die Frage, wie die reichen
europäischen Gesellschaften mit Armuts- und Bürgerkriegsmigranten umgehen. Das
politische Anliegen ist bestenfalls Stoff, schlimmstenfalls Vorwand für die Entfaltung der
eigenen Kunstmittel. Indem Stemann das zuspitzt, fragt er im Medium des Theaters nach den
nicht nur sympathischen Eigenlogiken und (politischen, gesellschaftlichen) Grenzen des
Mediums wie nach den Grenzen wohlmeinender Empathie-Bekundungen der Mitwirkenden.
[...] Wenn Kunst die blinden Stellen der (gesellschaftlichen) Selbstwahrnehmung markieren
kann, wird Stemanns Theater hier zu einem spezifischen Erkenntnisinstrument – auch
dadurch, dass es Theater-Spielregeln und den geschlossenen Kunstraum in Frage stellt.“167
https://fpjelinek.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/proj_ejfz/PDF-Downloads/Meister_-_Hass.pdf
Letzter Zugriff: 26.09.2015. S. 3.
166
Schößler, Franziska; Bähr, Christine: Die Entdeckung der ‚Wirklichkeit’. Ökonomie, Politik und
Soziales im zeitgenössischen Theater. In: Schößler, Franziska (Hg.): Ökonomie im Theater der
Gegenwart. Transcript-Verlag. Bielefeld: 2009. S. 9-20, hier S. 13.
167
Laudenbach: Spiel mit und ohne Grenzen, S. 14.
45
Elfriede
Jelinek
greift
in
ihrem
Theatertext
Die
Schutzbefohlenen
auf
dokumentarisches Sprach-Material zurück, wodurch die Unterscheidung zwischen
Theater und Realität bzw. Inszenierung und Realität in Frage gestellt wird. Lehmann
beschreibt ein Theater der Präsenz am Ende des letzten Jahrhunderts, welches eine
spezifische Wirklichkeit erzeugte und mit dem Einsatz von Medien einerseits
gestaltet und andererseits auch die Möglichkeit der Aufnahme mit sich brachte,
jedoch als Ereignis einzigartig und nicht wiederholbar ist. Daraus ergab sich
theaterwissenschaftlich die Frage nach der Relation von Theater und Realität und es
entwickelte sich ein Diskurs hin zum ‚Theater als Realität’. Und demnach bildet „[...]
das postdramatische Theater [...] folglich nicht die sozialen Entwicklungen nach,
sondern es bringt die Wirklichkeit des Sozialen mit bestimmten ästhetischen Mitteln
hervor.“168 Diese Präsenz ist der Kern des Postdramatischen Theaters, in dem es
primär
um
den
Prozess
und
die
Intensität
geht
und
nicht
wie
im
Repräsentationstheater um Information und Resultat.169 Die Dramaturgin Stefanie
Carp stellt fest, dass sich gerade durch die Abkehr von der Tradition in Jelineks
Theatertexten ein Zugang zu den Bühnen der deutschsprachigen Theater öffnete:
„Erstaunlich ist, je mehr Elfriede Jelinek die herkömmliche Form – wie man meint,
dass ein Theaterstück geschrieben sein müsste – verließ, desto obsessiver und
imaginärer wurden ihre Stücke und desto mehr wurden sie gespielt.“170
Diese Arbeit öffnet anhand der (Re-)Präsentationsfrage den Diskurs, wer wann für
wen in welchem Kontext spricht. So kommt man bei dem Bühnenessay Die
Schutzbefohlenen nicht umhin, sich zu fragen, wer die Schutzsuchenden darstellt?
Können SchauspielerInnen Flüchtlinge ‚spielen’, sollen Flüchtlinge selbst auf der
Bühne stehen und somit dem Vorwurf entgegenkommen, dass sie ‚ausgestellt’
werden? Sara Schausberger stellt eben diese Fragen in ihrem Kommentar über
Engagement und Voyeurismus:
„Darf man Menschen so exponieren? Was ist die empathiestiftende Wirkung eines politisch
engagierten Theaters und was Voyeurismus, der sich am Elend von Opfern ergötzt? [...]
168
Pewny, Katharina: Theatrum Europaeum Precarium. Rimini Protokolls Dramaturgie der
Ökonomie. In: Schößler, Franziska (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Transcript-Verlag.
Bielefeld: 2009. S. 39-55, hier S. 41.
169
Vgl. Schößler, Franziska: Dramatik/Postdramatik, Theatralität und Installation: Elfriede Jelineks
begehbare Landschaften. In: https://fpjelinek.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/proj_ejfz/PDFDownloads/Schößler.pdf Letzter Zugriff: 29.09.2015.
170
Carp: Die Entweihung der heiligen Zonen, S. 37.
46
Muss ein Flüchtling wirklich von einem Flüchtling gespielt werden, damit wir sein
existenzielles Drama begreifen?“171
Sie stellt fest, dass auch das Theater in diesen Zeiten Position bezieht und sagt
einmal mehr, dass „[...] das Theater [...] zwar ein Spiegel der Gesellschaft [ist], aber
eben auch ein Ort des Spiels und der Verstellung.“172 Doch mit dem ‚Kult des
Authentischen’ sieht sie für das Theater die Gefahr „[...] Rassismen zu
reproduzieren, gegen die es eigentlich angetreten ist.“173 Wie im Theater mit der
Thematik der Schutzsuchenden in seiner Form als (Re-)Präsentationsort umgegangen
wird, zeigt sich in der Analyse der Inszenierungen und den unterschiedlichen
Herangehensweisen der Regisseure Nicolas Stemann und Michael Thalheimer. So ist
für Marianna Salzmann „[...] Theater per se Aktivismus, sobald man sich nur auf die
Bühne stelle, werde man aktiv“
174
und Nicolas Stemann bezieht in der
Diskussionsrunde "Wie kann Theater der Wirklichkeit von Asylsuchenden und der
Politik begegnen?" im Zuge des Thementages ‚Say it loud, say it clear – Ein
Thementag zu Flucht, Einwanderungspolitik und Asylgesetzgebung’ beim Berliner
Theatertreffens am 2. Mai 2015 Stellung und betont, dass „[...] die selbstkritische
Befragung der Repräsentations-Theater-Techniken keineswegs in eine Sackgasse
führe, sondern vielmehr die Möglichkeit eröffne, dem Publikum – ganz brechtisch –
gesellschaftskritische Denkaufgaben zu stellen“.175 Und für Stemann benötigt diese
angesprochene Selbstkritik die Räume der Kunst.
3.6
Das kollektive Subjekt – der Chor
Elfriede Jelinek verankert ihr Stück Die Schutzbefohlenen in der politischen und
sozialen Wirklichkeit. Das Theater wird so zum Ort der Auseinandersetzung mit
dieser, bezieht sich die Autorin in ihrem Theaternetz doch einerseits auf konkrete
historische Situationen und knüpft in ihr Netz andererseits intertextuelle Bezüge ein:
171
Schausberger, Sara: „Der Flüchtling im Theater: Ein Kommentar über Engagement und
Voyeurismus“. In: Falter Nr.33/15. 12.08.2015, S. 27.
172
Ebd.
173
Ebd.
174
Diesselhorst, Sophie: Nur ein Modethema? In: nachkritik.de (Berlin, 02.05.2015)
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10928:say-it-loud-sayit-clear-ein-thementag-zu-flucht-einwanderungspolitik-und-asylgesetzgebung-beimtheatertreffen&catid=1515&Itemid=100406 Letzter Zugriff: 04.10.2015.
175
Ebd.
47
„Versteht sich also der Titel Jelineks als eine pointierte Inversion der griechischen Tragödie
(um den Schutz wird nicht mehr gefleht, denn die Flüchtlingen sind vielmehr dazu befohlen
worden), so ist das sprechende Subjekt des Textanfangs zugleich als aktualisierte
Transposition des Chors der Danaiden auszulegen, die als mythisches Paradigma der
Asylwerber gelten soll.“176
Reitani verweist hier auf Die Schutzflehenden (Hiketides) von Aischylos mit dem
Chor der Danaiden und erkennt im Jelinekschen Flüchtlingschor ein mythisches
Paradigma. Und auch Silke Felber wendet sich in ihrer Beschäftigung mit Jelineks
Schutzbefohlenen dem Text-eröffnenden WIR zu; „[d]ieses ‚wir’ zitiert bereits auf
formaler Ebene einen dezidiert von Jelinek ausgewiesenen Intertext, nämlich
Aischylos’ Tragödie Die Hiketiden [...]“177. Aischylos’ Tragödie wird:
„[...] nicht durch eine Einzelfigur, sondern durch den Chor eingeleitet [...] – eine Eigenart,
die bei Sophokles nicht mehr zu finden ist. Dieser Partikularität entspricht die Funktion, die
der Chor in Aischylos’ Hiketiden erfüllt: hier ist er nicht kommentierender Teil der Tragödie,
sondern vielmehr Träger der Handlung.“178
Christina Schmidt erkennt in ihrer Analyse Tragödie als Bühnenform den Chor als
plurale Figur, die nicht einer subjektivierten und individualisierten Einzelfigur
entspricht; das Sprechen liest sich in Jelineks Theatertext immer mehr als ein
Chorisches, das Fehlen eines ‚dramatischen’ Dialogs, „dem die Fiktion der Identität
von personal konturierter Figur und Schauspielerkörper zugrunde lag, markiert auf
dem Theater eine Erinnerung an die chorische Form“179. Mit dem Chor findet sich
die „älteste Figur des Theaters, die lange Zeit scheinbar vergessen oder als
‚kultische’ Form von der ‚aufgeklärten’ Bühne verbannt war“180, wieder im Theater
der Jetzt-Zeit.
In Jelineks Die Schutzbefohlenen lassen sich keine personal konturierten Figuren,
keine „dramatis personae“ mehr finden. In ihre Schreibweise ist ein Sprechen
eingeschrieben, das nicht protagonistisch ist, also außerhalb der Darstellung spielt181,
und erst „[...] mit dem körperlichen Rhythmus des chorischen Sprechens [tritt] die
Materialität der Sprache in den Vordergrund.“ 182 Bärbel Lücke erläutert anhand
Jelineks Chor der Schutzbefohlenen nicht nur ein Anstimmen eines „litaneihafte[n]
176
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 61.
Felber: Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (in Druck).
178
Ebd.
179
Schmidt, Christina: Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Transcript Verlag.
Bielefeld: 2010. S. 10f.
180
Ebd. S. 9.
181
Vgl. ebd. S. 37.
182
Ebd. S. 13.
177
48
Flehen[s]“183 der Flüchtlinge, das teilweise parodiert in „spottgetränkter, resignativer
Ohnmacht“184 im Text zum Vorschein kommt, sondern erkennt auch den Bezug auf
die „Menschenrechte, deren Wurzeln durchaus ebenso in der Antike zu verorten sind
wie das Problem vor Flucht und Asyl.“185 Christina Schmidt stellt fest, dass sich im
chorischen Sprechen der gesprochene Text durch das gleichzeitige Sprechen
mehrerer Stimmen von „der Möglichkeit des ‚individuellen Ausdrucks’“186 trennt
und „[d]er Text insofern ‚autonom’ [wird], als er sich auf eine andere, überpersonale
Dimension hin öffnet, die sowohl den sprachlichen Sinn als auch den Status der
Figur und den Klang der Sprache betrifft“ 187 . Jelinek hat in ihren jüngeren
Textflächen für das Theater den ‚dramatischen’ Dialog, „[...] der mit der Einheit,
Einzelheit und Identifizierbarkeit der fiktiven Figur rechnet, welche mittels
gestischer Illustration von einem ebenso einzelnen, personal identifizierbaren
Schauspieler verkörpert werden sollen [...]“ 188 , überwunden. Elfriede Jelinek
thematisiert diese Absage an ein Theater der Darstellung und ihre Abkehr vom
sogenannten ‚dramatischen’ Theater auch in ihren theaterästhetischen Schriften, wie
beispielsweise in ihrem bereits im Jahr 1990 publizierten Text Ich möchte seicht
sein: „Jeder kann ein anderer sein und von einem Dritten dargestellt werden, der mit
einem Vierten identisch ist, ohne daß es jemandem auffiele.“189 Daraus folgt eine
„Nicht-Identifizierbarkeit des Sprechens“190 und die Absage an das ‚dramatische’
Theater. Durch das Fehlen der Figuren werden die SchauspielerInnen in Jelineks
Theaterstücken zu TextträgerInnen und das kollektive Subjekt, das spricht, wird
eigentlich gesprochen:
„Damit sich das Subjekt als solches konstituieren kann, braucht es den Anschluss an eine
Sprache, die ihre Wurzeln in der Kultur der Vergangenheit hat. Dieser Anschluss ist jedoch
problematisch geworden, die Tradition erscheint förmlich gebrochen. Keine fließende Rede
mehr, sondern nur noch Bruchstücke. Von Anfang an ist der Chor zwiespältig oder
zweizüngig. Er spricht nicht einstimmig, sondern als eine Stimmenvielfalt.“191
183
Litaneien sind „Gebete mit wiederholenden Formen der Anrufung“ und „’Litanei’ selbst kommt
aus dem Griechischen und bedeutet »Bitte, Flehen«. Vgl. Lücke, Bärbel: Aischylos, Aufklärung und
Asylproteste in Österreich (und anderswo). Zu Elfriede Jelineks Stück Die Schutzbefohlenen. In:
Textem – Texte und Rezensionen. http://www.textem.de/index.php?id=2519 Letzter Besuch:
17.11.2015. Kapitel 2: Eingebettete parodierte Litanei.
184
Schmidt: Tragödie als Bühnenform, S. 13.
185
Ebd.
186
Ebd. S. 45.
187
Ebd.
188
Ebd. S. 41.
189
Jelinek: Ich möchte seicht sein.
190
Schmidt: Tragödie als Bühnenform, S. 41.
191
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 63.
49
Es spricht ein WIR, ein kollektives Subjekt, das auf der Bühne als Chor in
Erscheinung tritt, nicht jedoch als Kommentarebene wie es bei Sophokles’ Stücken
üblich war, sondern der Chor verkörpert ein handelndes Kollektiv. Gleich zu Beginn
gibt sich das chorische Wir als ein Chor von Flüchtlingen zu erkennen:
„[Es] stellt sich zunächst die Frage nach der Verortung der Stimmen[n], die hier zum Wort
kommt [kommen]. Wer spricht denn da eigentlich? Die Rede beginnt in der ersten Person
Plural [«Wir leben»] und das Subjekt des ersten Satzes lässt sich eindeutig als eine Gruppe
von Flüchtlingen [«wir flohen»] identifizieren, die nun in einem fremden Land leben [...]“. 192
Jelineks Absage an die Darstellungsfunktion des Schauspielers entspricht der
„Verwertung der Grundlagen des interpersonalen theatralen Dialogs“193, wodurch
sich die Theaterfiguren von Jelinek „explizit als nach-dramatische“194 erweisen.
3.6.1
Sprecherinstanzen – wer spricht?
„Waren in jüngeren Theatertexten (wieder) Stimminstanzen auszumachen [...], so wird der
Text hier [Anmk. d. Verf.: Die Schutzbefohlenen] einmal mehr nicht auf konkrete
SprecherInnen aufgeteilt. [...] Schließlich stellt sich in Die Schutzbefohlenen nicht nur die
Frage, wer da spricht, sondern vor allem jene nach der Lokalisierung der
SprecherInneninstanzen: wer spricht von welcher Position aus?“195
In ihrer Textfläche lässt Jelinek die protestierenden Flüchtlinge der Votivkirche aus
Wien zu Wort kommen und gibt den Schutzsuchenden ihre menschliche Stimme
zurück. Die Schriftstellerin „verwischt die Stimmen, verzerrt sie“196.
Bärbel Lücke geht in ihrem Beitrag zu den Schutzbefohlenen auf die einzelnen
Sprecherinstanzen ein:
„Diese Stimmen sind zugleich überlagert von anderen Stimmen und Diskursen, und sie gehen
zudem in die Stimmen der Gegner, der Finanzmächtigen, der Empörten aus allen Lagern
über, [...] sie bringt in den Kunststimmen, den künstlichen Stimmen die Wahrheit zur
Sprache, die Wahrheit über diese Gesellschaft, für die sich ‚die’ Gesellschaft selbst blind und
taub macht.“197
192
Ebd. S. 60.
Schmidt: Tragödie als Bühnenform, S. 41.
194
Ebd.
195
Ebd.
196
Lücke: Aischylos, Aufklärung und Asylproteste in Österreich (und anderswo).
197
Ebd.
193
50
Das kollektive Subjekt – der Chor der Flüchtlinge – wendet sich im Stück
fortwährend vergeblich an unterschiedliche Instanzen und diese ‚Bezugslosigkeit’
lässt eine haltlose Lokalisierung im gesellschaftlichen Raum zu, denn: „Wer mit
keinem Ansprechpartner rechnen kann, wird aus dem Gesellschaftsvertrag
ausgeschlossen.“
198
Dadurch schafft Jelinek in den Schutzbefohlenen ein
„Bewusstsein des Ausgeschlossen-Seins [...] [und] der Chor der Flüchtlinge befindet
sich – wie die Autorin – ‚im Abseits’“199. Ulrike Haß stellt fest, dass „[...] die
vielstimmige, plurale Figuration des Chorischen, wie sie in der antiken Tragödie in
der Funktion des Schon-da vorliegt [...] [den] wechselhaft gegeneinander und
ineinander übergreifenden Sprecherinstanzen bei Jelinek“ 200 gleichkommt und
unterstreicht „allgemein in Bezug auf den Chor der griechisch-antiken Tragödie
seine Bedeutung für die Konstitution des Subjekts“201. In den Schutzbefohlenen
wendet sich der Chor „vergeblich an unterschiedliche Instanzen [...]: an eine
postulierte Gottheit, an die Behörden, an die Zuschauer, an eine gleichgültige
Öffentlichkeit, für die Migranten und Flüchtlinge nur einen Störfaktor darstellen.“202
Luigi Reitani beschreibt den Chor polyphonisch; in der „Vielfalt der Stimmen“203
offenbart sich auch „die Stimme der Anderen“ 204 als Opponent, der „kein
Verständnis für Asylwerber hat“205:
„Sie hat keiner gerufen, Sie ewig Umnachteter, gehen Sie zurück mit Ihrem blöden Zweig zu
Ihrem Gott, gehen Sie bitte mit Ihrer Sippe, sterben Sie stumm in Schlingen, in Solingen, wo
auch immer, oder, wenn euch das lieber ist, verdrahtet euch, stopft euch was in die Ohren.
Das ist zu laut, können Sie das nicht leiser drehen? Das können Sie nicht? Unerhört, ihr
Götter droben, unerhört euch! Und was soll der grausame Haß hier? Was will der hier? Der
ist hier falsch! Hier stehts, der ist hier falsch. Die Freiheit endet dort, wo Ihre beginnt,
jawohl, aber Ihre beginnt nicht, dafür werde ich schon sorgen, und meine endet nicht. So.
Ihre endet, bevor sie beginnt, und meine beginnt überhaupt immer und endet nie. So. Nein.
Nicht so! Bitte kommen Sie mir nicht so!“206
Reitani beschreibt, dass der Chor „durch Diskurse definiert wird, die von außen
kommen“207 und dadurch in seiner „Polyphonie auch eine solche (freilich groteske)
198
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 64.
Ebd.
200
Haß: Theaterästhetik, S. 67.
201
Felber: Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (in Druck).
202
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 64.
203
Ebd.
204
Ebd.
205
Ebd.
206
Jelinek: Die Schutzbefohlenen.
207
Reitani: „Daß uns Recht geschieht, darum beten wir“, S. 64.
199
51
Stimme aufnehmen kann“208. Immerzu sieht sich die ‚Identität’ der Flüchtlinge ihren
von der Gesellschaft geformten Bildern ausgesetzt; das sprechende ‚ich’ des
Stimmengewirrs ist zugleich ein „angreifendes Ich [...], das sich gegen diesen
Angriff [Anmk. d. Verf.: der Gesellschaft] zu wehren sucht“209. Einzelne Mitglieder
des Chors erheben ihre Stimme, „[o]hne dass sie eine bestimmte Individualität oder
eine Psychologie aufweisen [...]“210 und berichten aus einer Einzelperspektive von
ihrer gemeinsamen Geschichte von Leid und Flucht; es „artikuliert sich die Stimme
des Chors in vielfältigen Variationen“211:
„Wir sind längst schmerzbefreundet, ja, aber was haben wir hier getan, daß Sie uns in Angst
halten, Angst überall, Angst vor den Meinen, die ich verließ, daß ich wieder zurück muß, vor
Ihnen aber noch mehr Angst, daß ich bleiben muß, daß ich nicht bleiben darf, jetzt geben Sie
mir gleich recht, jetzt werden Sie mir gleich recht geben [...]“212
Das Subjekt wechselt in diesem Satz vom Plural zum Singular und die Frage nach
der Identität der Stimmen wandelt sich zu einer Frage nach deren Zugehörigkeit;
man versucht die Stimmen zu lokalisieren und herauszufinden, welche Positionen die
SprecherInneninstanzen einnehmen.213
208
Ebd.
Ebd.
210
Ebd.
211
Ebd.
212
Jelinek: Die Schutzbefohlenen.
213
Vgl. Felber: Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (in
Druck).
209
52
4
ANALYSE
Das Medium Theater und sein Betrieb steht bei Jelineks Flüchtlingsklage im
chorischen Wir vor großen Fragen, die die Regisseure Nicolas Stemann und Michael
Thalheimer in ihren Inszenierungen sehr konträr zu beantworten versuchen.
Das Fachmagazin „Theater Heute“ bezeichnet in seiner Ausgabe vom Mai 2015 das
Theaterstück Die Schutzbefohlenen als „meta-theatrale Steilvorlage der Stunde“214
und benennt die Problematik der (Re-)Präsentation:
„Denn wer spricht da eigentlich, wenn Flüchtlinge eine österreichische
Literaturnobelpreisträgerin rezitieren, die ihrerseits – gleichsam selbst Repräsentantin der
europäischen Gated Community – aus der Perspektive eines Flüchtlings-Wirs schreibt?“215
Es kommen Fragen und unterschiedliche Hypothesen an die Jelinek-Inszenierungen
auf, die ihren Inhalt aus unserem unmittelbaren Erfahrungsbereich der Gegenwart
beziehen: Wer kann wen repräsentieren? Wer kann für wen sprechen? Wie kann man
dieses unsagbare Leid thematisieren? Und mit welchem Verfahren das Leiden auf
der Bühne darstellen?
Für das Theater und die Inszenierung des Textes Die Schutzbefohlenen bedeutet das,
dass sich „[e]in starkes Regietheater [...] damit nicht nur als Möglichkeit, sondern
geradezu als Notwendigkeit für Jelineks Stücke erwiesen [hat] [...]“216. Mit ihrer
Textfläche Die Schutzbefohlenen fordert die Autorin das Medium und seine
Bedingungen zur kritischen Reflexion auf.
Gemäß dem Forschungsinteresse dieser Arbeit wird der Schwerpunkt in der Analyse
auf die Repräsentation gelegt, es werden punktuell Szenen sowie ästhetische
Verfahren der Regisseure analysiert und interpretiert. Der Diskurs soll zudem in
beiden Inszenierungen anhand des Bühnenbilds näher untersucht und in
Zusammenhang mit den medial vermittelten Bildern zur Flüchtlingssituation in
Europa sowie den von Jelinek auf ihrer Homepage mit dem Theatertext
veröffentlichten Bildern (vgl. dazu Kapitel 2.2 Bilder des Theorieteils) fortgeführt
werden. Welches (mediale) Bild / welche Bilder vermitteln die beiden
Inszenierungen und welche Bilder aus unserem kollektiven Gedächtnis werden
abgerufen? Wie sieht das Bühnenbild aus, welche Assoziationen werden dadurch
214
Wahl, Christine: „Die Welt und ihre dramatischen Haltigkeit“. In: Theater Heute Magazin. Mai
2015. S. 46-49, hier S. 48.
215
Ebd.
216
Jürs-Munby, Karen: Inszenierungsformen. In: Janke, Pia (Hrsg.): Jelinek-Handbuch. Verlag J. B.
Metzler. Stuttgart/Weimar: 2013. S. 324.
53
geweckt? Mit der dramatischen Umsetzung auf der Bühne wird die Wirklichkeit der
Flüchtlinge am Theater thematisiert.
„Dramatische Formen fragen nach einem Bezug zur gesellschaftlichen Realität unter der
Bedingung der Thematisierung der Konflikte. Jede Umwandlung dieser Formen im Raum ist
zugleich Interpretation; Authentizität und Wahrheit sind als begriffliche Referenzen überholt
und unproduktiv, ebenso wie das Individuum als Zeichen aufgelöst ist.“217
Ausgangspunkt ist Jelineks Text Die Schutzbefohlenen, das einen sehr stark
systemischen Ansatz verfolgt – die Zusammenhänge sind sehr mittelbar – und das
Individuum ausschaltet. Der Theatertext wie auch der von Jelinek genannte Intertext
Die Schutzflehenden öffnet mit einem chorischen Wir. Der Chor folgt der antiken
Tradition, ist aber gleichzeitig ein dialektischer Zugang: wer bekommt hier eine
Stimme? Und wie schreibt sich der Chor in den Text ein? Mittels einiger
aussagekräftiger
Beispiele
aus
den
Inszenierungen
sollen
die
theatralen
Verfahrensweisen der Regisseure aufgezeigt werden. Im nachfolgenden Analyseteil
werden die Inszenierungen der beiden Regisseure Nicolas Stemann und Michael
Thalheimer hinsichtlich der (Re-)Präsentationsfrage am Theater auf strukturelle
Anordnungen und die Übersetzung des Textes auf die Bühne untersucht. Der
konzeptionelle Zugang der Regie wie das ästhetische Verfahren, die Arbeit am und
der Umgang mit dem Theatertext von Elfriede Jelinek, die theatrale Umsetzung
sowie der Erarbeitungs- bzw. Entstehungsprozess der Inszenierungen und die durch
die szenische Arbeit erreichte Form (bspw. SchauspielerInnen, Bühne, Kostüm,
Musik) wird analysiert.
Außerdem soll die politische Dimension des Textgeflechts von Jelinek auch in den
Aufführungen entwirrt und punktuell die bereits im Theorieteil angesprochenen
Elemente Sprache / Stimme / Chor / Kollektiv auf die repräsentative Wirkung im
Theaterraum hin erforscht werden.
Beim Gang über den Jelinekschen Textteppich Die Schutzbefohlenen sollen die
Umsetzungen der konstitutiven (kollektive Dynamik auf der Bühne, Aufteilung der
‚Figuren’) wie auch der rhythmischen Strukturen des Theaters (Chor /
Einzelstimmen) beleuchtet werden.
217
Jirku, Brigitte: Wer spricht? Textform und Textanalyse. In: Forschungsprojekt „Sinn egal. Körper
zwecklos“ Postdramatik - Reflexion & Revision. Forschungsplattform Elfriede Jelinek.
https://fpjelinek.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/proj_ejfz/PDF-Downloads/Jirku.pdf Letzter
Besuch: 26.11.2015.
54
An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass jeder Analyse eine gewisse
Subjektivität innewohnt und auch nicht zu vermeiden ist, basieren doch die
Untersuchungsergebnisse auf der eigenen Wahrnehmung.
4.1
Material
Als Materialien für die Analysen werden zum einen die Premieren-Strichfassungen
des Thalia Theaters und des Burgtheaters, zum anderen die von den Theatern zur
Verfügung gestellten Video-Mitschnitte218 herangezogen.
So können strukturelle Differenzen der Regisseure aufgezeigt werden. Untersucht
wird, wie mit der spezifischen Form des Jelinek-Textes am Theater umgegangen
wird. Die wohl größte Schwierigkeit bei der Inszenierung eines Jelinek-Textes ist die
Handhabung ihrer sperrigen, vielstimmigen und kunstvoll energetisch aufgeladenen
Sprachpartituren.
Weitere berücksichtigte Materialien sind von den Theatern verfasste Programmhefte
zu den Inszenierungen sowie die gesammelten Pressespiegel zu den jeweiligen
Premieren-Vorstellungen. Zudem werden auch Theaterkritiken und thematische
Beiträge aus Fachzeitschriften in die Analyse einbezogen.
Auch Interviews mit den Regisseuren in Tageszeitungen, Fachzeitschriften oder
Online sowie Unterlagen vom Theatertreffen Berlin (Magazin und Online) wurden
für die Untersuchung gesichtet. An dieser Stelle soll auch ausdrücklich betont
werden, dass die Textvorlage von Jelinek in der Analyse immer mitgedacht und für
Vergleiche herangezogen wird, denn:
„Es ist schwierig die Entstehung von Theatertexten zu verstehen, wenn man dabei die
wichtige Tatsache außer acht läßt, daß der Theatertext ohne eine bereits bestehende TheaterKonvention nicht geschrieben worden wäre; [...] man schreibt nicht für das Theater, ohne
etwas über das Theater zu wissen. Man schreibt für, mit oder gegen einen bereits
existierenden theatralen Kode.“219
Die vorhandenen Analysedokumente lassen sich nach Christopher Balme in zwei
Kategorien unterteilen: die Produktions- und Rezeptionsquellen. Die Auswahl der
218
Die Aufzeichnungen der Aufführungen wurden von den Theatern live für eigene Zwecke
aufgenommen, sind nicht veröffentlicht und dienen nicht als Fernsehmaterial; folglich sind keine
Schnitte oder Kamerabewegungen oder andere künstlerische Filmmerkmale vorhanden.
219
Ubersfeld, Anne: „Der lückenhafte Text und die imaginäre Bühne“ In: Texte zur Theorie des
Theaters. Hg. von Klaus Lazarowicz und Christopher Balme. Reclam. Stuttgart: 1991. S. 394-400,
hier S. 397.
55
Quellen obliegt keiner vorgegebenen Rangordnung, richtet sich nach der
erkenntnisleitenden Problemstellung und erfolgt damit nach analytischen Kriterien.
Auf der Produktionsebene stehen für diese Arbeit folglich die Videoaufzeichnungen,
die Premieren-Strichfassungen sowie die Programmhefte und Interviews mit den
Regisseuren zur Verfügung, auf der Rezeptionsebene werden eigene Notizen,
Theaterkritiken sowie Aufführungsfotos berücksichtigt.
Beide Inszenierungen werden einzeln betrachtet und mit Hilfe der vorhandenen
Materialien analysiert.
Sowohl das Thalia Theater Hamburg als auch das Burgtheater haben ihre gesamten
vorhandenen Materialien zur Verfügung gestellt, weshalb von einer ausgewogenen
Materialgrundlage ausgegangen wird.
4.2
Methode
Der methodische Zugang ist einerseits am vorhandenen Material andererseits an der
zentralen Fragestellung dieser Arbeit orientiert.
Der Fokus liegt auf der (Re-)Präsentation am Theater und schließt damit – auch
aufgrund des beschränkten Umfangs – viele andere Gesichtspunkte aus.
Als Methodik dient die Inszenierungsanalyse wie von Christopher Balme in
Einführung in die Theaterwissenschaft beschrieben;
die
Abgrenzung
zur
Aufführungsanalyse soll durch eine kurze Erläuterung der unterschiedlichen
Herangehensweisen und der in der Fachliteratur verwendeten Begrifflichkeiten
erläutert werden. Zunächst gilt es, die begriffliche Unschärfe von Aufführung und
Inszenierung zu thematisieren.
Die Begriffe werden in der Theaterwissenschaft oftmals synonym verwendet und
haben im letzten Vierteljahrhundert verschiedene Überarbeitungen durchlaufen.220
Die
hier
vorgenommene
terminologische
Unterscheidung
ist
in
der
Theaterwissenschaft nicht standardisiert und stützt sich auf die 3. Auflage von
Christopher Balmes Einführung in die Theaterwissenschaft aus dem Jahr 2003.
220
Zwei Standardwerke in diesem Fachbereich sind: Der theatralische Blick (1993) von Guido Hiß
und Erika Fischer-Lichtes Die Aufführung als Text (1983). Beide Werke nehmen jedoch keine
terminologische Unterscheidung der Begriffe ‚Aufführung’ und ‚Inszenierung’ vor und hinterfragen
diese Gleichsetzung auch nicht.
56
Balme beschreibt die Aufführung als ein „einmaliges Ereignis“221, bei dem es sich
„um hoch komplexe Interaktionsmuster handelt“ 222 und bei deren Analyse die
„Interaktion zwischen dem theatralen Ereignis und den anwesenden Zuschauern“223
im Zentrum steht. Die Einmaligkeit der Theateraufführung ist unwiederholbar, bei
jeder Vorstellung sind andere ZuseherInnen anwesend und auch die AkteurInnen
spielen nicht immer gleich. Daher ist das einmalige Ereignis einer Theateraufführung
von der Inszenierung deutlich abzutrennen. Im Gegensatz zur Aufführungsanalyse ist
bei der Inszenierung der „Gegenstand der Analyse [...] vorrangig das ästhetische
Produkt“224. Balme hebt hervor, dass die eindeutige Trennung der beiden Begriffe,
obwohl es einige klare Differenzierungen gibt, nicht vollständig möglich ist:
„Trotz der hier angestellten systematischen Differenzierungsversuche sollten Inszenierungsund Aufführungsanalyse nicht grundsätzlich streng getrennt voneinander behandelt werden,
denn die beiden sind Bestandteil einer komplexen Wechselbeziehung.“225
Schaut man sich nun die von Balme differenzierten Schwerpunkte der
„prozessorientierten“ 226 , „produktorientierten“ 227 und der „ereignisorientierten“
Inszenierungsanalyse an, so wird diese komplexe Wechselbeziehung verständlich;
wobei letztere – wie auch die Aufführungsanalyse nach Balme – ihr
„Hauptaugenmerk auf den Ablauf der Aufführung, die Interaktion zwischen Bühne
und Zuschauerraum“228 legt. Diese drei Hauptansätze von Balme überlagern sich in
einer Inszenierungsanalyse, wird die Analyse doch immer mit Fokus auf die
Arbeitshypothese(n) durchgeführt.
In dieser Arbeit soll der konzeptionelle Zugang der Regisseure zur Inszenierung des
Jelinek-Textes möglichst objektiv beschrieben werden, wobei als wichtige
Voraussetzung angenommen wird, dass „zwischen den vielen Aufführungen soviel
Konstanz besteht, daß eine intersubjektive Verständigung unter Wissenschaftlern
über die Inszenierung möglich ist.“229
221
Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Dritte Auflage. Erich Schmidt Verlag.
Berlin: 2003. S. 82.
222
Ebd.
223
Ebd.
224
Ebd.
225
Ebd. S. 83.
226
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der Entstehungsprozess einer Inszenierung. Vgl. ebd. S. 88.
227
Hier ist die Inszenierung als fertiges ästhetisches Produkt Mittelpunkt der Analyse. Vgl. ebd. S. 90.
228
Ebd. S. 90.
229
Ebd. S. 83.
57
Kernpunkte der Analyse sind folglich die ästhetischen Verfahren der Regisseure und
das daraus entstandenen Inszenierungen. Jelinek verfasste ihr Theaterstück Die
Schutzbefohlenen als Klageschrift und daher ist für die Analyse die Umsetzung auf
der Bühne wie auch die Einbeziehung der ZuschauerInnen interessant: mit welchen
Gefühlen
verlassen
die
ZuschauerInnen
das
Theater?
Ziel
ist
es,
die
Bedeutungskonstitutionen der Inszenierungen systematisch zu begreifen und
darzulegen. „[B]estimmte Diskurse der zur analysierenden Inszenierung(en) zu
erfassen“230 ist nach Balme die Absicht der Analyse; weiters bezieht er sich auf eine
Formulierung von Patrice Pavis (1989), nach der es „um die Freilegung des
‚Metatexts der Inszenierung’“231 geht. Der Metatext wird hier als eingeschriebener
Kommentar in der Inszenierung begriffen, der nirgends explizit steht, sondern sich
aus den Entscheidungen des jeweiligen Regisseurs hinsichtlich der DarstellerInnen
und Darstellungen, des Bühnenbildes und des Rhythmus der Aufführung ergibt.232
Das Theater ist ein vermeintlich ‚rationales System’ mit AkteurInnen, die sich
mutmaßlich ‚rational verhalten’. Es ist die Aufgabe der Regisseure, geeignete
‚Bilder’ für das Medium zu finden, d.h. zunächst naiv an den Text heranzugehen; es
geht nicht darum, das anonyme Sprechen zu individualisieren, sondern damit zu
spielen. Das Vorgehen von Jelinek, ihre Texte zwar fürs Theater zu schreiben,
gleichzeitig aber die Regisseure zu Zweit-Autoren zu machen, ist ebenso
ungewöhnlich wie genial. Das Flüchtige ist der Pluspunkt des Theaters, dadurch
bleibt es ein Ort, wo solche Themen ver-/behandelt werden können. Die
Schnelligkeit des Schreibens von Jelinek und ihr Bezug zur Echtzeit stellen eine
große Herausforderung an das Medium dar. Die Echtzeit des Schreibens der Literatin
zeigt sich auch in ihrer Serialität und dem Fortschreiben ihrer Texte (vgl. bei den
Schutzbefohlenen: Appendix und Coda).
Anhand einer punktuellen Inszenierungsanalyse wird mit der vorliegenden Arbeit
versucht, Diskurse der Repräsentation zu erfassen. Der Umfang dieser Masterarbeit
ist beschränkt und daher wird keine lückenlose Analyse, sondern eine Annäherung
an ausgewählte Aspekte und Motive über einzelne Szenen gemäß des
Forschungsinteresses angestrebt. Noch einmal soll betont werden, dass kein
Vergleich beabsichtigt wird, sondern eine kritische Gegenüberstellung zweier ganz
unterschiedlicher Inszenierungsweisen des Jelinek-Textes Die Schutzbefohlenen.
230
Ebd. S. 90.
Ebd.
232
Vgl. ebd.
231
58
5
Uraufführung in Deutschland
Der Jelinek-Kenner Nicolas Stemann, der nach eigenen Aussagen Anstifter für die
Textfläche Die Schutzbefohlenen war, wurde von der Autorin mit der Uraufführung
betraut; Stemann hat im Vorfeld schon viele Texte von Jelinek auf der Bühne zur
Uraufführung gebracht, u.a. inszenierte er Das Werk (2003) und Babel (2005) sowie
auch Ulrike Maria Stuart (2006) und Die Kontrakte des Kaufmanns (2009).233
Im Jahr 2013 bat der Regisseur Elfriede Jelinek für sein Projekt „Kommune der
Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ in Wien um einen gegenwärtigen Theatertext und
Jelinek ließ ihm zwei Wochen vor der Premiere Die Schutzbefohlenen zukommen.
Nicolas Stemann wusste, dass er den Text nicht mehr in sein Projekt einbinden
konnte.
234
Doch
die
Aktualität
und
politische
Brisanz
hinsichtlich
der
Flüchtlingsproteste in der Wiener Votivkirche war gut geeignet für eine geplante
Aktion des Thalia Theaters im Kontext der Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg. Am
21. September 2013 fand in der St.-Pauli-Kirche eine Urlesung des Jelinek-Textes
statt – gemeinsam haben 80 dort untergebrachte Flüchtlinge und SchauspielerInnen
des Thalia Theaters den Text vorgetragen.
In der Mai-Ausgabe 2015 von „Theater Heute“ ist unter der Rubrik ‚Theater ohne
Grenzen’ ein Gespräch von Barbara Burckhardt, Eva Behrendt und Franz Wille mit
Amelie Deuflhard und Nicolas Stemann abgedruckt, darin beschreibt Nicolas
Stemann die Ausgangssituation für die Urlesung als „[...] sehr kurzfristig und in
einer damals noch völlig unklaren und prekären Lage [...]. Das war alles noch nicht
so freundlich, wie es heute Bürgermeister Olaf Scholz darstellt. Dieses Zeichen der
Unterstützung vom Thalia war deshalb sehr wichtig.“235 Auf der Homepage des
Thalia Theaters heißt es dazu:
„Jelineks jüngster Text ist anlässlich der Vorgänge um das Kirchenasyl in der Wiener
Votivkirche entstanden, wo neben Berlin und München vergleichbare Ereignisse
stattgefunden haben. Sie selbst hat ihre Unterstützung bei dem Hamburger Projekt zugesagt
und wird ebenfalls zu Wort kommen.“236
233
Vgl. Thalia Theater – Regie Nicolas Stemann. http://www.thalia-theater.de/de/regie/nicolasstemann/ Letzter Besuch: 11.12.2015.
234
Vgl. Stemann, Nicolas: Menschenrechte für alle? Ein Gespräch von „Theater Heute“ mit Amelie
Deuflhard und Nicolas Stemann. In: Theater Heute Magazin. Februar 2015. S. 21-25, hier S. 23.
235
Ebd.
236
Thalia Theater – Spielplan-Archiv „Urlesung Die Schutzbefohlenen“ http://www.thaliatheater.de/de/extra/archiv/lesung-elfriede-jelinek-die-schutzbefohlenen/ Letzter Besuch: 08.12.2015.
59
Es folgten Koproduktionen des Thalia Theaters mit dem Theater der Welt sowie dem
Holland Festival und dafür inszenierte Nicolas Stemann das Stück mit Flüchtlingen
auf der Bühne, denn es war von Beginn an die Intention des Regisseurs „[...] die
Betroffenen, von denen das Stück handelt, nicht erneut auszugrenzen, sondern ihnen
zur Sichtbarkeit zu verhelfen. Sie mitspielen und ihre Stimme erheben zu lassen.“237
Das Vorhaben, den Chor mit „echten“ Flüchtlingen zu besetzen, gestaltete sich
schwierig: „wenn man mit Flüchtlingen arbeitet, deren Aufenthaltsstatus, freundlich
formuliert, unklar ist. Entweder haben sie Residenzpflicht – oder die Gefahr, dass sie
auf der Fahrt ohne gültige Papiere aufgegriffen werden, ist einfach zu groß.“238 Der
Teil der Inszenierung mit Flüchtlingen auf der Bühne wurde von Stemann drei mal
neu inszeniert; in Mannheim bestand der Chor zu einem großen Teil aus
Flüchtlingen, aber auch aus deutschen Laienschauspielern, was nach Stemann „die
politische Idee der Inszenierung verunklart“239 hat. Zudem waren die Flüchtlinge in
Mannheim aus verschiedenen Heimen und somit nicht wie dann in Hamburg eine
geschlossene, organisierte Gruppe; dort holte Stemann die Lampedusa-Flüchtlinge
aus der St.-Pauli-Kirche auf die Bühne. In Berlin beim Theatertreffen lud der
Regisseur aus einer künstlerischen Überlegung heraus einige Refugees vor Ort
stellvertretend für viele ein, die beispielsweise an der Besetzung des Urania-Platzes
beteiligt waren, um ihre Situation am Theater zu schildern. Die Besetzung der
Votivkirche und die damit zusammenhängenden falschen Versprechungen der Politik
und die Abschiebungen in Wien waren Ausgangspunkt für den Text von Jelinek und
Nicolas Stemann stellte einen Bezug zu diesen Ereignissen her, indem er Leuten aus
diesem Kontext eine Stimme gab zu ihren Erlebnissen. Im Interview beschreibt
Stemann eine weitere Problematik der Arbeit mit Flüchtlingen am Theater, denn man
stößt schnell an die Grenzen der Legalität:
„Von Seiten der Flüchtlinge [war die Zusammenarbeit] optimal, sehr engagiert und
zuverlässig. Problematisch war eher die andere Seite. [...] Entweder hält man die Gesetze ein
– oder man behandelt diese Leute anständig. Und das bedeutet zuallererst, dass man sie
angemessen bezahlt für das, was sie tun.“240
In allen Fällen war genau dieser Punkt schwierig; Nicolas Stemann war bereit eine
Strafanzeige zu riskieren doch der Theaterintendant Joachim Lux lehnte jegliche
237
Stemann: Menschenrechte für alle?, S. 23f.
Ebd. S. 24.
239
Ebd.
240
Ebd. S. 25.
238
60
nicht legale Lösung ab, konnte – nach dem Dissens am Thalia Theater – aber „mit
seinen guten Beziehungen zur Hamburger Politik eine Sondergenehmigung für diese
Veranstaltung erwirken.“ 241 Die Flüchtlinge wurden bezahlt und Stemann nimmt
genau das auch in seine Inszenierung auf, denn diese „Realität“ soll ja vorgeführt
werden. Mit den Flüchtlingen und ihren Berichten erzeugt Stemann eine
Kommentarebene; auf der Bühne wird thematisiert, dass sie arbeiten wollen, aber
nicht dürfen.
Die Premiere der Uraufführung fand am 23. Mai 2014 in Mannheim beim Festival
„Theater der Welt“ statt. Von 10. Bis 12. Juni 2014 war die Inszenierung als
Gastspiel beim Holland Festival in Amsterdam zu sehen, bevor sie am Thalia
Theater in Hamburg am 12. September 2014 Premiere feierte. Die Umsetzung des
Bühnenessays von Elfriede Jelinek dauert in der finalen Endfassung der Inszenierung
von Nicolas Stemann circa eine Stunde und 50 Minuten und wird ohne Pause
aufgeführt. 242 Das Thalia Theater wurde mit dieser Inszenierung zum Berliner
Theatertreffen 2015 eingeladen und Die Schutzbefohlenen wurden dort als
Eröffnungsstück gezeigt.
5.1
Ästhetische Verfahren
Nicolas Stemann kommt in seiner Auseinandersetzung mit dem Jelinek-Text Die
Schutzbefohlenen nicht umhin, sich die Frage nach der (Re-)Präsentation zu stellen,
„ob und wie das überhaupt geht: dass weiße, komfortable im deutschen
Theatersystem gebettete Schauspieler für die Ausgegrenzten und Ungebetteten
sprechen, ihr Wir übernehmen, ihre Stimmen.“243 Und noch verstrickter wird es,
wenn man – wie bereits im einleitenden Kapitel der Analyse festgestellt wurde – sich
überlegt, dass die Autorin selbst als ‚Repräsentantin der europäischen Gated
Community’ ihre Stimme den Flüchtlingen gibt und aus der Perspektive der
Schutzbefohlenen schreibt.
241
Ebd.
Vgl. Thalia Theater (Hg.): Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek. Uraufführung.
Programmheft Nr. 99. Hamburg: Spielzeit 2014/2015. S. 7.
243
Burckhardt, Barbara: „Die Heimholung“. In: Theater Heute Magazin. Mai 2015. S. 26-27, hier S.
26.
242
61
Stemann setzt diesen Gedanken komplex und konsequent fort und bildet die
unfassbaren Ereignisse an den EU-Außengrenzen im Theater in ihrer NichtDarstellbarkeit ab.
5.1.1
Regiekonzept
Der Text ist nicht abstrakt, sondern sprudelt vor Lebendigkeit und diese übernimmt
Stemann beim Inszenieren. Die Wirklichkeit der Flüchtlinge wird am Theater
thematisiert; es stehen aber nun einmal Schauspieler auf der Bühne und tragen
Kostüme; Stemann führt das Theater vor, indem er die Schauspieler vom Blatt lesen
und „echte“ Flüchtlinge auf der Bühne auftreten lässt. Die Schwierigkeit ist das
„Wir“,
denn in Jelineks Text sprechen dieses „Wir“ Schutzsuchende, die der
Festung Europa entgegenschauen, und doch ist es eine Kunstsprache. Um Jelineks
Sprache gerecht zu werden, braucht es Menschen, die der deutschen Sprache mächtig
sind. Gleichzeitig sind das aber eben nicht diejenigen, von denen der Text spricht
bzw. die im Text sprechen. Jelineks Text ist politisch, behandelt zeitnahe
gesellschaftspolitische Probleme und Diskurse, nimmt Flüchtlingsproteste zum
Anlass für den Text, in denen die Schutzsuchenden um Sichtbarkeit und Hörbarkeit
kämpfen. Stemann konnte die Flüchtlinge nicht unsichtbar lassen und wollte
gleichzeitig das Scheitern an dieser Kunstsprache aufzeigen, dieses macht er zum
Teil der Inszenierung. 244 Er agiert in seiner 82 Seiten umfassenden finalen
Strichfassung als Ko-Autor und fügt selbst lange Textpassagen und bettet Songs ein,
lässt die Flüchtlinge Textteile von Jelinek vortragen und vom Blatt lesen, aber sie
erzählen auch in vielen Sprachen selbst ihre Geschichten, die Flüchtlinge kommen zu
Wort und erheben in Statements ihre eigenen Stimmen.
Die Premieren-Strichfassung ist in zwei Teile unterteilt; im zweiten Teil haben die
Flüchtlinge das Wort, beherrschen die Bühne.
Für Stemann ist eine Inszenierung das, was sich am Theater ereignet, die Lektüre des
Textes im Theaterkollektiv.245 Oft nähert er sich in den Probenarbeiten über das
244
Vgl. Behrendt, Barbara: Diskussion: Elfriede Jelinek «Die Schutzbefohlenen» (25.05.2015)
http://www.theaterheute.de/blog/muelheimstuecke/diskussion-elfriede-jelineks-die-schutzbefohlenen2/ Letzter Besuch: 21.12.2015.
245
Vgl. Stemann, Nicolas: im Gespräch mit Monika Meister. „Wie die Frauen wollen die Texte ja
umworben werden“ (25.04.2015). Interdisziplinäres Symposium des Jelinek-Forschungszentrum:
KAPITAL MACHT GESCHLECHT. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Ökonomie & Gender
https://www.youtube.com/watch?v=H1OiSFa4mkk Letzter Besuch: 11.12.2015.
62
Lesen vom Blatt an den Text an; bei den Schutzbefohlenen inszeniert er das Lesen
aber auch auf der Bühne. Die Inszenierung unterliegt bei dem Spielleiter Nicolas
Stemann einem „work-in-progress“, was schon zu Beginn der Aufführung deutlich
wird: auf der Bühne herrscht bereits geschäftiges Treiben, wenn das Publikum den
Zuschauerraum betritt und langsam Platz nimmt. Die DarstellerInnen gehen mit
Textbüchern in der Hand auf der Bühne auf und ab, der Flüchtlingschor bekommt
letzte Anweisungen vom Regisseur und im Hintergrund beklagen Schutzbefohlene in
Videoclips ihre Situation, berichten von Folter, Verfolgung und ihrer dramatischen
Flucht. Die Arbeit mit „echten“ Flüchtlingen und die Struktur von Stemanns
Inszenierung bedingen weiters den „work-in-progess“, wodurch auch das Prinzip der
Repräsentation aufgehoben wird. Zudem bestimmen die unterschiedlichen Stufen der
Inszenierung – zunächst Mannheim, dann Amsterdam, zuletzt die Premiere in
Hamburg mit den Lampedusa-Flüchtlingen aus der St.-Pauli-Kirche – den
Arbeitsprozess am Text, da immer wieder mit neuen Flüchtlingen gearbeitet wurde.
Stemann streicht in seiner Inszenierung zum Teil österreichische Kontexte oder legt
sie auf deutsche Ereignisse um, beispielsweise wird die Kanzlerin angesprochen oder
ist die Rede von Pöseldorf, einem Hamburger Nobelviertel.
Er nähert sich mit kritischen Selbstbefragungen sowohl an die künstlerischen
Möglichkeiten im Theater als auch an die gesellschaftlichen Standpunkte an und
bewegt sich in seinen Inszenierungen „zwischen Performance, politischem
Diskurstheater, popkulturellem Spektakel und Konzert“246. Der Regisseur arbeitet in
der Inszenierung Die Schutzbefohlenen auch mit Video-Einspielungen und häufig
sind Bildinstallationen auf der Bühne und an der hinteren Bühnenwand zu sehen.
Den Text untermalt Stemann immer wieder mit Musik, rhythmischen Bewegungen
oder, im zweiten Teil der Inszenierung, mit Songs. Dem Mythenhintergrund sowie
dem Leid der Flüchtlinge in Europa, wie es Jelinek in ihrem Textnetz verknüpft,
mengt Stemann noch die Frage nach der (Nicht-)Darstellbarkeit des unsagbaren und
doch gegenwärtigen Leidens der Flüchtlinge bei.247 Stemanns Inszenierung und seine
Text-Interpretation dreht sich um die Frage: Wer kann hier für wen sprechen? Die
SchauspielerInnen
Dramaturgie
248
fungieren
wird
die
als
TextträgerInnen;
Arbeitsweise
des
anhand
Regisseurs
einer
deutlich.
3-StufenIn
der
Premierenstrichfassung werden diese drei Stufen explizit als Phasen gekennzeichnet,
246
Berliner Festspiele (Hrsg.): Theatertreffen Magazin. Berlin: April 2015. Performing Politics. S. 81.
Vgl. Burckhardt: Die Schutzbefohlenen, S. 20.
248
Vgl. Burckhardt: „Die Heimholung“, S. 26.
247
63
die in der Inszenierung immer wieder mit Schnipp-Schnapp-Scherengeräuschen
unterbrochen werden. Am Beginn sprechen also drei „weiße“249 Schauspieler (1.
Phase) – Daniel Lommatzsch, Felix Knopp, Sebastian Rudolph – des Thalia Theaters
auf der Bühne, dann geht ihr Sprechen auf zwei Darsteller mit dunkler
Pigmentierung über (2. Phase), die ihrerseits schließlich von authentischen
Flüchtlingen (3. Phase) abgelöst werden.
5.1.2
Bühnenbild
Das Bühnenbild hat der Regisseur Nicolas Stemann selbst gestaltet und es entspricht
seiner Arbeitsweise: es sieht aus wie ein Versuchsgelände. Auf der fast leeren Bühne
befinden sich am rechten Bühnenrand ein Klavier und ein Schlagzeug. Im hinteren
Bühnenbereich in der Mitte steht eine Reihe roter Plastikstühle und davor in großen
weißen Lettern leuchtet die Zahl 23168; links davon erscheint etwas später ein
kleineres Schild, auf dem mit roten Buchstaben das Wort OPEN steht.
Abb. 11: Drei weiße Thalia-Schauspieler vor den weißen Lettern
Später findet sich auch ein meterhoher Stacheldrahtzaun auf der Bühne, der von
weißen Männern in Frontex-Anzügen über die Bühne geschoben wird; der
Flüchtlingschor wird in der Inszenierung vom Zaun nach hinten gedrängt und
„weggesperrt“. Die SchauspielerInnen ziehen sich hinter eben diesen Zaun zurück,
wenn der Flüchtlingschor im zweiten Teil die Bühne übernimmt.
249
Hier ist die Pigmentierung gemeint und der Verfasserin der Arbeit ist durchaus bewusst, dass diese
Bezeichnung mit Ethnizität und weiteren Diskursen verknüpft ist.
64
Jelinek veröffentlicht den Appendix erst lange nach der Uraufführung von Stemann,
doch dort findet sich auch ein Bild vom Grenzzaun in Ungarn; das zeigt die
Aktualität und unfassbare Wahrheit des Theatertextes und der Realität.
Abb. 12: Rückzug der SchauspielerInnen hinter den Zaun
Auf der linken Bühnenseite steht ein Pult, an dem Claudia Lehmann sitzt und mit
einer Live-Video-Cam Bilder auf den Bühnenboden und an die Rückwand der Bühne
installiert. Dort werden während der Aufführung auch Videos eingespielt:
Flüchtlinge erzählen von ihrer Flucht oder es wird eine von den SchauspielerInnen
ironisch nachgespielte Umfrage zu einer geplanten Flüchtlingsunterkunft im
Hamburger Luxusviertel Pöseldorf gezeigt, die Eingang in Stemanns Regiekonzept
gefunden hat und nicht auf Jelineks Vorlage beruht.
5.1.3
Kostüm
Die drei weißen DarstellerInnen
250
tragen zu Beginn des Stückes legere
Alltagskleidung, Hosen und T-Shirts, und lesen von zerknitterten Textseiten in ihren
Händen ab.
Es kommt der „farbige“251 Schauspieler Ernest Allan Hausmann sowie die beiden
Frauen – die weiße Barbara Nüsse und die dunkelhäutige Thelma Buabeng – dazu,
250
Es sind Männer, aber ab einem gewissen Zeitpunkt tragen sie Frauenkleider, wodurch eine
Heteronorm-Debatte angerissen wird. In dem Fall ist das Gendern dadurch gerechtfertigt, da das
Binnen-I ja für alles zwischen Mann/Frau stehen soll.
251
Unter „farbig“ ist die dunkle Pigmentierung gemeint und der Verfasserin der Arbeit ist durchaus
bewusst, dass diese Bezeichnung mit Ethnizität und weiteren Diskursen verknüpft ist.
65
auch sie tragen gewöhnliche Kleidung. Im zweiten Teil der Inszenierung schlüpfen
alle DarstellerInnen – Männer und Frauen – in schillernde bunte Abendkleider und
„staksen allerliebst als die Anna Netrebkos dieser Welt durch die Szenen“252.
Abb. 13: SchauspielerInnen in Abendroben und Flüchtlinge in Ganzkörperoveralls
Später regnet es Hilfspakete oder Almosen vom „Theaterhimmel“, angebliche
Kleidergeschenke für die Flüchtlinge: kreativ aus alten Trainingshosen und
Kapuzenjacken zusammengenähte Overalls; Ganzkörperanzüge, die sogar die
Gesichter bedecken, erinnern auch an Leichensäcke, in die man die Ertrunkenen vor
den Küsten Europas hüllt; solche Bilder gingen in Zusammenhang mit der
Flüchtlingskatastrophe in Europa durch die Medien und tauchen sogleich vor dem
inneren Auge wieder auf. Damit werden die Flüchtlinge wieder zu einer anonymen
Masse, die sich selbst nicht äußern kann, zu dem Kollektiv, für das Jelinek mit ihrer
zornigen, bitteren Sprache spricht.
252
Wille, Franz: Nur die ganze Welt. Juli 2014. In: http://www.kultiversum.de/Theaterheute/Theaterder-Welt-Mannheim-2014.html Letzter Besuch: 14.12.2015.
66
5.1.4
Musik
Stemann arbeitet oft und gerne mit Musik und Rhythmus – so auch bei den
Schutzbefohlenen: einzelne Textpassagen werden vom Klavier begleitet, die
SchauspielerInnen sprechen gemeinsam, klatschen oder schnippen im Takt und
später setzt gar eine ganze Band ein und es wird auf der Bühne gesungen – ein
Rockkonzert-Abend, eine Opern-Arie oder Stadel-Klamauk, all das findet in den
zwei Stunden Raum. Der mit einem grauen Anzug bekleidete Musiker Daniel
Regenberg ist über die gesamte Aufführungsdauer auf der Bühne und begleitet die
DarstellerInnen und den Flüchtlingschor mit Live-Musik am Klavier, erzeugt Jazzund Lyrikstimmung und untermalt die gesprochene Kunstsprache Jelineks mit
harmonischen Klängen oder ergänzt die rhythmischen Bewegungen auf der Bühne.
Im zweiten Teil der Inszenierung werden Songs wie Freiheit kann ein Gefühl sein,
Fundamente der Welt oder am Schluss das Bärli-Lied von Jelinek auf der Bühne
performt und die SchauspielerInnen von einer Band begleitet.
5.1.5
Pöseldorf und Netrebko
Stemann wagt auch Ausflüge ins ironische Fach: so zieht er die Pöseldorfer253 mit
einem eingespielten Videoclip satirisch über den Teppich. Auf der Bühne stehen die
SchauspielerInnen in schicklichen Abendroben und Barbara Nüsse hält ein Schild
mit dem Slogan „Wir sind Pöseldorf“ in Händen, als Bezug und Anspielung auf den
Solidaritätsslogan „Wir sind Lampedusa“.
Das zuvor eingespielte Video einer ironisch nachgespielten Umfrage zu einem
geplanten Flüchtlingsheim im Nobelviertel254, zeigt die „Sorgen“ der Anrainer, die
sich mit Argumenten wie ‚die können sich hier ja keinen Kaffee leisten’ gegen die
Umsetzung der geplanten Flüchtlingsunterkunft in Pöseldorf stark machten.
253
Pöseldorf ist ein Hamburger Stadtteil, AnwohnerInnen klagten erfolgreich gegen eine
Notunterkunft in ihrem Viertel. Stemann nimmt das in seiner Inszenierung kritisch auf.
254
Es hat tatsächlich eine juristische Aktion von Anwohnern gegeben, die sich gegen ein
Flüchtlingsheim in der Nachbarschaft aussprachen, und damit auch durchkamen.
67
Für die Aufführung beim Berliner Theatertreffen wurde dieser Teil von Stemann
angepasst, denn auch in Berlin gab es in Wilmersdorf eine ähnliche Aktion der
Bewohner, die sich nach dem Vorbild Pöseldorf ereignete.255
Abb. 14: Wir sind Pöseldorf
Auch Anna Netrebko (gespielt von Thelma Buabeng) lässt Stemann in seiner
Inszenierung in Hamburg auftreten, allerdings nicht singend, sondern dümmlich
arrogant fragend:
„’Wehe dem Fliehenden, Welt hinaus Ziehenden! Fremde durchmessenden, Heimat
vergessenden, Mutterhaus hassenden’, Blödsinn, also zu denen gehöre ich nicht, sicher nicht,
hätte ich dieses Mutterhaus nicht gehabt, wäre ich jetzt nicht hier; und ich bin auch sicher, für
mich und meine Sicherheit wurde schließlich bezahlt [...] Kenn ich nicht, die kenn ich nicht,
auch die nicht, nein, kenn ich nicht, nie gehört, was soll das? Wer ist diese Jelinek. [...] Kenn
ich nicht, kann ich von mir nicht behaupten, also für mich gilt das nicht, kein Gott hemmt
meine Flucht, ich bin doch keine Kuh, ich bin nicht Europa, bin nicht Io, nichts hemmt mich,
manch einer fickt mich oder nicht, er hat die Wahl, es wurde bezahlt, und hier bin ich nun,
genau dort, wo ich sein wollte.“256
255
Vgl. Berliner Festspiele: Nicolas Stemann im Interview mit Yvonne Büdenhölzer – „Wir können
euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen“ (28.04.2015) http://blog.berlinerfestspiele.de/wirkoennen-euch-nicht-helfen-wir-muessen-euch-doch-spielen/ Letzter Besuch: 28.01.2016.
256
Thalia Theater (Hg.): Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek. Uraufführung. PremierenStrichfassung. 16.09.2014.
68
Stemann greift Jelineks Anspielung auf Netrebkos „Blitzeinbürgerung“ im Text auf
und verweist gleichzeitig auf viele von Jelinek angeführte Intertexte. Eine groteske
Szene, vor allem dann, wenn sie sich pathetisch mit „Servus, Eure Anna
Netrebko“ verabschiedet und von „Europa auf dem Stier reitend“ (Ernest Allan
Hausmann) über die Bühne geschubst wird.
Abb. 15: Netrebko verabschiedet sich
5.1.6
Rassismen auf der Bühne
Das bunte Treiben auf der Bühne, wenn die ZuseherInnen den Saal betreten, wird
beendet, indem sich aus den kleinen Gruppen der Refugees auf der Bühne ein
wütender Chor bildet, der an die Rampe tritt und sich an das Publikum wendet. Als
das Licht im Saal ausgeht, rufen die Flüchtlinge der Lampedusa-Gruppe mit großen
Gesten ihre Parolen: „We are here, we will fight. Freedom of movement is
everybody’s right.“257
Die Gruppe verschwindet aber sogleich wieder von der Bühnenkante ins Dunkle und
setzt sich auf die Stühle im Bühnenhintergrund. Der Raum gehört dann zunächst drei
weißen männlichen Schauspielern des Thalia Theaters – nun gibt es Platz für
Sprechtheater und für Jelineks Kunstsprache: sie sprechen Passagen aus Jelineks
257
Thalia Theater (Hg.): Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek. Uraufführung. PremierenStrichfassung. 16.09.2014.
69
Textfläche und suchen dabei nach einem Sprechduktus – eben dem theatralen
Zugang; zugleich hebt sich die „bühnenerprobte Kunstsprache der einzelnen
Schauspieler [...] deutlich vom Chor der Flüchtlinge ab [der später die Bühne
einnimmt, Anmk. d. Verf.] und löst die kollektiven Intentionen des Jelinekschen
Textkanons auf.“258 Sie halten die Manuskripte in der Hand, ihre Blicke wandern
zwischen den Blättern und dem Mikrofon hin und her und man spürt ihren Kampf
mit dem Text.
Zugleich wirken die zerknitterten Seiten wie eine Stütze eines genau musizierten und
instrumentalisierten Textes. Auf der Bühne spielt Stemann mit der Frage nach
Repräsentation, indem unterschiedliche Formen des Rassismus gezeigt werden:
Black-, White-, Red- und Yellowfacing, Kopftuch und Bart, peinlich anmutende
Szenen.
In
parodistischen
Einlagen
machen
die
SchauspielerInnen
auf
Rollenklischees aufmerksam; eine nachgestellte, in der Strichfassung als
Produzenten-Impro bezeichnete Szene in gebrochenem Englisch folgt auf die
Sprechtheater-Einlage der drei Schauspieler: „We are coming from the Thalia
Theater, a Theater in Hamburg Germany. And we are looking for authentic people
with Arbeitserlaubnis who can tell us their authentic fleeing stories.“259 Das ist einer
der Einschnitte von Stemann in Jelineks Textvorlage und hier spricht er die
Problematik offen an, thematisiert den Diskurs rund um Rassismus und
Diskriminierung. Der jetzt vierte „farbige“ Schauspieler, Ernest Allan Hausmann,
antwortet verdutzt in perfektem Hochdeutsch.
Später kommen dann eine schwarze und eine weiße Frau auf die Bühne hinzu; es
folgt ein Kampf um Sprechpositionen auf der Bühne, die SchauspielerInnen sprechen
mal wütend, mal ironisch und dann auch mit fremdländischen, beispielsweise
afrikanischen oder chinesischen Akzenten oder aber ‚kölsch’.
Als weiterer ironischer Verweis auf die Blackfacing-Debatte im Theater bemalen
sich die etablierten SchauspielerInnen am Ende der Szene ihre Gesichter: schwarz,
weiß, gelb und rot, setzen ein Kopftuch auf und hängen sich einen Bart ins Gesicht.
In Stemanns Strichfassung heißt es „Vor der Kamera sind alle gleich, wenn sie auch
nicht alle die gleiche Kamera haben, aber sie haben alle eine [...] und damit machen
258
Heinicke, Julius: Grenzen (auf) der Bühne. Wie geht Darstellung ohne Zurschaustellung?
Flüchtlingstheater in Südafrika und Deutschland. In: Theater Heute Magazin. Februar 2015. S. 26-31,
hier 27.
259
Thalia Theater (Hg.): Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek. Uraufführung. PremierenStrichfassung. 16.09.2014.
70
sie jetzt auch noch ein Foto, Achtung, die Menschenwürde“260 und schon wird ein
Foto mit der Menschenwürde, die auch noch daherkommt, gemacht: ein Foto Freeze
Moment auf der Bühne bis der Kamerablitz auf der Bühne aufleuchtet.
Abb. 16: Foto Freeze Moment
5.1.7
Chor der „Flüchtlinge“ – Statements
Im zweiten Teil der Inszenierung übernimmt der Chor der „echten“ Flüchtlinge die
Bühne. Nicolas Stemann lässt sie selbst zu Wort kommen: einige schildern ihre
traumatischen Erlebnisse, ihre Fluchtgründe, ihr individuelles Schicksal, einmal in
Englisch, dann Französisch oder Arabisch. Aber auch Jelineks Text wird vom Blatt
abgelesen und damit nachdrückliche ans Publikum
gerichtete Forderungen
formuliert.
„An der Urlesung [in der St.Pauli-Kirche am 21. September 2013, Anmerkung d. Verf.] [...]
nahmen auch Afrikaner teil, die dem libyschen Bürgerkrieg entronnen waren. Die Erfahrung
mit diesen Experten des Asylalltags hat Nicolas Stemann wohl veranlasst, auf dem Weg hin
zur Uraufführung des neuen Jelinek-Stücks nicht nur mit Thalia-Schauspielern, sondern auch
mit realen Asylsuchenden zu arbeiten.“261
Hier kommt die Frage nach der Authentizität, nach dem Verhältnis von Kunst und
Realität, ins Spiel. Das Diktum, um das sich Stemanns Inszenierung dreht, wird auch
260
Ebd.
Berger, Jürgen: „Theater der Welt“ startet mit Jelinek: Die Katastrophe namens Lampedusa
(26.05.2014) http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/theater-der-welt-startet-mit-jelinek-dieschutzbefohlenen-a-971564.html Letzter Besuch: 27.01.2016.
261
71
hier wieder deutlich: er überlässt den Flüchtlingen die Bühne. Der Regisseur wollte
die Probleme im Umgang mit dieser Thematik auf der Bühne verhandeln, gerade
weil sie in der Gesellschaft nicht gelöst sind und man im Theater nicht so tun kann,
als könnte man diese lösen beziehungsweise gäbe es diese Probleme real nicht.
Abb. 17: Flüchtlingschor
Für Nicolas Stemann ist es zwar künstlerisch legitim, dass nur SchauspielerInnen den
Text Jelineks auf der Bühne sprechen, er findet es in Anbetracht der Thematik und
realen Situation jedoch fragwürdig und stellt den ‚Experten des Theaters’ – also den
SchauspielerInnen – einen Chor aus Flüchtlingen entgegen. Er betont, dass die
„echten“ Flüchtlinge auf der Bühne nicht das Authentische zeigen sollten, sondern
dass es ihm vielmehr darum ging das inhaltlich und politisch Fragwürdige am
Theater abzubilden.262
Gleichzeitig erfordert die Sprache Jelineks und die Stückumsetzung auf einer großen
deutschen Bühne aber auch die ‚Experten des Theaters’. Und diese sind dann auch
irritiert von der Gruppe der Geflüchteten. Zunächst haben sie sich mit den
Flüchtlingen solidarisiert. Als diese dann jedoch bald eine „anstrengende
Eigendynamik“
263
entwickeln, beginnen die SchauspielerInnen chorisch ihre
Zudringlichkeiten gegenüber einem Chor von Flüchtlinge abzuwehren: „Wir können
262
263
Vgl. Berliner Festspiele: Nicolas Stemann im Interview mit Yvonne Büdenhölzer.
Laudenbach: Spiel mit und ohne Grenzen. S. 14.
72
Euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen“264, woraufhin die Flüchtlinge zu
Boden fallen. Dieser Satz ist von großer Direktheit, ehrlich.
Gleichzeitig zeigt sich in eben dieser Szene die politische Dimension in Stemanns
Inszenierung sowie deutlich das Scheitern am Repräsentationsdiskurs.
5.1.8
Politischer Aktivismus
Die Absicht von Nicolas Stemanns Schutzbefohlenen-Inszenierung ist das Dilemma
mit und die Probleme der Flüchtlinge in die Arbeit einzublenden. Der zentrale Punkt
seiner Inszenierung sind die Refugees, wobei er bei der Umsetzung des Stückes
keine Lösungen sucht, sondern auf der Bühne verschiedene Ansätze ausagiert und
die Flüchtlinge sichtbar macht, sie sprechen und berichten lässt –das ist auch der
zentrale Kern der Flüchtlingsproteste.265 Im Gespräch mit Uludag Özgür im Umfeld
des Berliner Theatertreffens erläutert Stemann, dass der Gedanke der dialektischen
Wendung bei Brecht in seiner Inszenierung eine wichtige Rolle spielt. Das Theater
soll erst einmal unterhaltsam sein – das ist eine sehr kunstimmanente Argumentation
–, aber damit es im wissenschaftlichen und technischen Zeitalter unterhalten kann,
muss
es
sich
mit
politischen
und
gesellschaftlichen
Fragestellungen
auseinandersetzen. Stemann möchte ein Theater als Ort der Selbstbefragung, wo die
Gesellschaft sich reflektieren kann. Von der Bühne aus sollen keine Antworten
gegeben, sondern vielmehr durchaus falsche Gegebenheiten abgebildet werden und
es soll den Zusehern überlassen werden damit umzugehen und weiterzudenken.266
Der Regisseur bricht aufkommende Diskurse des Stücks auf der Bühne auf und
macht so das Brüchige in unserer Gesellschaft sichtbar und verleiht zugleich den
Flüchtlingen öffentlich eine Stimme – hier schwingt politischer Aktivismus mit.
Stemann gelingt es in seiner Inszenierung das „wachsende politische Bewusstsein
des gegenwärtigen Theaters“267 aufzuzeigen, ein politisches Theater, „[...] das stets
die kritische Reflexion der eigenen Bedingungen von Produktion, Rezeption und
264
Thalia Theater (Hg.): Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek. Uraufführung. PremierenStrichfassung. 16.09.2014.
265
Vgl. Berliner Festspiele: Nicolas Stemann im Interview mit Yvonne Büdenhölzer.
266
Vgl. Berliner Festspiele: Nicolas Stemann im Interview mit Uludag Özgür – „Asylrecht &
Menschenwürde“ (06.05.2015) http://theatertreffen-blog.de/tt15/stemann-asylrecht-menschenwuerde/
Letzter Besuch: 28.01.2016.
267
Richter: Verästelungszusammenhang, S. 78.
73
künstlerischer
Praxis
herausfordert
und
als
durchlässiges
System
die
Wechselbeziehungen zu Gesellschaft, Künsten und Wissenschaften sucht.“268
5.2
FAZIT
Das „Theater Heute“-Magazin formuliert im Interview mit Nicolas Stemann
„Darstellungsfallen“:
„Was man macht, macht man falsch: Lässt man die Flüchtlinge von deutschen
Stadttheaterspielern darstellen, wirkt es herablassend und paternalisiernd; arbeitet man mit
Blackfacing, schreibt man direkt oder indirekt rassistische Praktiken fort; holt man
«authentische» Flüchtlinge sieht es sehr schnell nach Exotismus aus. [...] Die Inszenierung
hat das ausführlich thematisiert.“269
Er lässt sich auf die Darstellungsproblematiken ein, indem er eben diese im Theater
sichtbar macht: er lässt deutsche Schauspieler Jelineks Text vortragen, zeigt
rassistische Praktiken wie das Produzenten-Impro mit einem deutschsprachigen
„farbigen“ Darsteller und dann auch noch das Black- und Whitefacing. Christine
Wahl bringt in wenigen Worten auf den Punkt, was die Inszenierung ausmacht:
„Indem Stemann die Unfassbarkeit der Tragödien, die sich an den europäischen
Außengrenzen
ereignen
und
die
der
Text
(auch)
in
entsprechenden
Selbstproblematisierungsloops umkreist, konsequent auf deren (Nicht-) Darstellbarkeit im
Theater überträgt, inszeniert er die möglicherweise intelligenteste – und wahrscheinlich
selbstkritischste – Repräsentationstheater-Bankrotterklärung des Bühnenjahrzehnts: «Wir
können euch nicht helfen», lautet der abendfüllende künstlerische Offenbarungseid, «wir
müssen euch doch spielen!»“270
Der Regisseur ist sich im Klaren darüber, wo das Theater der Jetzt-Zeit steht,
hinterfragt die Strukturen, thematisiert Probleme und bricht Diskurse auf, indem er
verschiedene Hautfarben und Rassen auf der Bühne vorführt – als Statement.
Stemann ist sich im Klaren darüber, dass dieser hochartifizielle Text von Elfriede
Jelinek Experten braucht, die dem Umgang mit der deutschen Sprache mächtig sind.
Allerdings spricht in Die Schutzbefohlenen die ganze Zeit über konkret ein
Flüchtlings-Wir, das wiederum ein Ihr – also unsere Gesellschaft und Politik –
adressiert.
268
Ebd.
Theater Heute Magazin. Februar 2015. Menschenrechte für alle? S. 24.
270
Wahl: „Die Welt und ihre dramatischen Haltigkeit“, S. 48.
269
74
6
„Heimholung“ nach Wien
Am Burgtheater hat der Regisseur Michael Thalheimer Jelineks Flüchtlingsdrama zu
einem großen, emotionalen Abend verwandelt. Parallel zur Erarbeitung der
österreichischen Erstaufführung der Schutzbefohlenen am Burgtheater gab es
verschiedene Projekte.
Unter anderem fand vor der österreichischen Erstaufführung eine Soiree im Kasino –
einer weiteren Spielstätte des Burgtheaters – mit dem Titel „Von Aischylos zu
Jelinek“ statt. Im Gespräch mit Haide Tenner gaben der Regisseur sowie Catrin
Striebeck und Tilo Nest aus dem sechzehn SchauspielerInnen umfassenden
Ensemble Einblick in die laufenden Probearbeiten und erläuterten, wie man sich
diesem Stoff in den Proben näherte und wie „man auf der Bühne dem Schicksal der
Menschen gerecht werden [will], die als heimatlose Bittsteller unter uns leben
müssen“ 271 . Das VERSATORIUM – Verein für Gedichte und Übersetzen –
präsentierte im Rahmen der Premiere der Schutzbefohlenen im Vestibül (die kleinste
Spielstätte des Burgtheaters) sein Übersetzungsprojekt „Die, should sea be fallen in“.
In Zusammenarbeit mit der Regisseurin Ivna Zic und dem DRAMA FORUM
sprachen, sangen oder lasen Studierende der Universität Wien gemeinsam mit
betroffenen Asylsuchenden des „Refugee Protest Camp Vienna“ auf Englisch, Urdu,
Pashtu und Georgisch; auf der Homepage des Burgtheaters wird das Projekt
folgendermaßen beschrieben:
„In diesem Resonanzraum wird die Einsprachigkeit der deutschen Fassung mehrsprachig
aufgefasst, [...] Es ist der Versuch, den Asylwerbern, die 2012 an der Besetzung der
Votivkirche teilgenommen haben und von denen kaum einer deutsch sprach, Elfriede
Jelineks Text näher zu bringen.“272
Am 28. März 2015 fand die ‚Heimholung’ des Stücks an den Ort des Geschehens –
das Burgtheater ist nur wenige Gehminuten von der Votivkirche entfernt – mit
sechzehn BurgschauspielerInnen auf der Bühne statt. Auch Refugees aus der
Votivkirche waren bei der Premiere im Theater anwesend.
Für den Regisseur Michael Thalheimer war es seine erste Jelinek-Inszenierung. Er ist
nicht für Ur- oder Erstaufführungen bekannt, vielmehr aber als Spezialist für antike
271
Burgtheater – Spielplan-Archiv «Von Aischylos zu Jelinek»
http://www.burgtheater.at/Content.Node2/home/spielplan/event_detailansicht.at.php?repertoireView=
true&eventid=963970209 Letzter Besuch: 11.12.2015.
272
Ebd.
75
Stoffe. Das wird sogleich auch in seinem Umgang mit den Schutzbefohlenen
deutlich; er erläutert in einem Interview, was ihn an seiner ersten Inszenierung eines
Jelinek-Textes interessiert: „Ganz pragmatisch interessiert mich das Chorische“ 273,
wobei Thalheimer durchaus die unterschiedlichen SprecherInneninstanzen bewusst
sind: „Die Perspektiven wechseln, aber das Chorische ist durchgehend“274.
Der Dramaturg des Burgtheaters Klaus Missbach betont, dass Jelinek sich in ihrem
Text auf ein aktuelles politisches Ereignis sehr konkret bezieht und dass das im
Theater nur selten vorkommt; denn das Theater ist nicht unbedingt ein
tagespolitisches Medium und dennoch gelingt es der Autorin, die Thematik in eine
Form und Sprache zu bringen, die so nur am Theater möglich ist. Das war auch der
entscheidende Ansatzpunkt von Regisseur Michael Thalheimer und Dramaturg Klaus
Missbach, sich mit dem Text am Burgtheater auseinanderzusetzen.
Das Stück noch näher an den Ereignissen 2013 auf die Bühne des Burgtheaters zu
bringen war nicht möglich, da die Uraufführungsrechte bei Nicolas Stemann lagen.
Dieser wollte es ursprünglich bei den Wiener Festwochen noch im selben Jahr (im
Sommer 2013) zeigen, was dann aber aus organisatorischen und künstlerischen
Gründen nicht geklappt hat. Abgesehen von der Thematik und von Jelinek gehört das
Stück laut Missbach natürlich nach Wien275 und auch Thalheimer sagt: „Dieser Text
muss in dieser Stadt einfach gezeigt werden“276.
Die Aufführungsdauer am Burgtheater beträgt eine Stunde und 30 Minuten und es
wird ohne Pause durchgespielt.277 Auf der 40-seitigen Premieren-Strichfassung ist am
Deckblatt vermerkt, dass „alle 16 Schauspieler [...] während des gesamten Stückes
anwesend [sind]. Die Sängerin tritt nach ca. 45min auf, singt ihre Arie und geht
wieder ab“278.
In Wien gibt es noch eine weitere Inszenierung der Schutzbefohlenen, ebenfalls – wie
bei Stemann – mit Flüchtlingen auf der Bühne. Das KünstlerInnenkollektiv „Die
Schweigende Mehrheit“ hat das Stück von Elfriede Jelinek gemeinsam mit
273
Mayer, Norbert: Thalheimer: »Die Bühne ist kein Zoo« In: Die Presse. 22.03.2015. S. 42-43, hier
42.
274
Ebd.
275
Mitschnitt: Diskussionsveranstaltung zu Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen.
276
Mayer: Thalheimer: »Die Bühne ist kein Zoo«, S. 42.
277
Vgl. Burgtheater (Hg.): Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek. Österreichische
Erstaufführung. Programmheft. Wien: Spielzeit 2014/2015.
278
Burgtheater (Hg.): Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek. Österreichische Erstaufführung.
Premieren-Strichfassung. 28.03.2015.
76
Geflüchteten, die gerade im Lager Traiskirchen wohnen, und mit der Unterstützung
von SchauspielerInnen auf die Bühne gebracht. Im Rahmen des „Festival für
Europa“, veranstaltet in der Arena Wien, feierte die Performance am 12. September
2015 Premiere.279
Abb. 18: Schutzbefohlene spielen Die Schutzbefohlenen
6.1
Ästhetische Verfahren
Die Herangehensweise von Regisseur Michael Thalheimer verhält sich konträr zu
der von Nicolas Stemann. Thalheimer nähert sich dem Jelinek-Text nicht über die
(Re-)Präsentationsfrage an, sondern nutzt die Künstlichkeit des Mediums für seine
Inszenierung und lässt „’Die Schutzbefohlenen’ im Wiener Burgtheater im Reich der
Kunst verschwinden.“280
Im Interview beschreibt Thalheimer die Wichtigkeit des Ereignisortes der
Geschehnisse; die Proteste aus dem Jahr 2012, die Jelinek für ihre Textflut zum
Anlass nahm, waren in allen österreichischen Medien präsent und lösten viele PolitDebatten aus. Thalheimer wählte daher in seiner Inszenierung eine Form, die sehr
nahe am Text und an den beschriebenen aktuellen Ereignissen (wie Votivkirche,
279
Leisch, Tina: 12.9. in der Arena Wien: Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene
(02.09.2015) http://www.schweigendemehrheit.at/12-9-arena-wien-schutzbefohlene-spielen-jelinek/
Letzter Besuch: 19.12.2015.
280
Burckhardt, Barbara: „Die Heimholung“. In: Theater Heute Magazin. Mai 2015. S. 26-27, hier S.
26.
77
Netrebko, Jelzins Tochter, Frank Stronach) bleibt.281 Der Text von Elfriede Jelinek
ist in einem Flüchtlings-Wir verfasst, was zur Frage anregt, wie man denn „reale“
Flüchtlinge überhaupt auf die Bühne bringen kann bzw. ob und wie
SchauspielerInnen
für
Asylsuchende
sprechen
können?
Nach
Stemanns
Uraufführung in Deutschland ist eine Diskussion über „Darstellungsrassismus“
entbrannt, denn er hat „echte“ Flüchtlinge auf die Bühne geholt und ihnen einen
Raum geboten, ihre Geschichten zu erzählen und die Stimmen zu erheben, zum Teil
in den Worten Jelineks, zum Teil in ihrer eigenen Sprache und ihren eigenen Worten.
Thalheimer widerspricht an dieser Stelle energisch:
„[...] es handelt sich weder um Figuren noch reale Flüchtlinge. Es ist schlicht und ergreifend
ein Text und kein Bühnenstück. [...] Es handelt sich um eine Kunstform, die bedient werden
muss. Bedient man diese Kunstform, vermeidet man automatisch einen
‚Darstellungsrassismus’. Ebenso irreführend finde ich den Einsatz von ‚echten Exilanten’ auf
der Bühne, denn auch dies hat mit Wahrhaftigkeit auf dem Theater nichts zu tun.“282
6.1.1
Regiekonzept
Michael Thalheimer hatte nach eigener Aussage in einem Interview 283 vor
Probenbeginn einige Schwierigkeiten mit der Transformation der Textfläche ins
Theater und wählte eine ganz andere Herangehensweise als Nicolas Stemann.
Die Strichfassung, in dem der Jelinek-Text bereits in eine Spielfassung gebracht
worden ist, baut auf 16 hochkarätige BurgschauspielerInnen, davon sieben Frauen
und neun Männer. Thalheimer bewog vor allem der sekundärdramatische Bezug zur
antiken Tragödie Die Schutzflehenden von Aischylos zu seiner ersten JelinekInszenierung, hat er doch in jüngster Vergangenheit einige antike Theaterstücke
inszeniert (zuletzt Hofmannsthals Elektra am Burgtheater); auch „Jelineks Verzicht
auf klassische dramatische Mittel und auf intrinsisch ausgestaltete Figuren“284 stellte
eine große Herausforderung für ihn dar: Jelinek „gibt keine Hilfe, sie überlässt alles
281
Nicolas Stemann näherte sich freier an den Text an, strich einen Großteil des Österreichbezugs und
baute eigenständig ähnliche deutsche Ereignisse in seine Inszenierung ein (bspw. Kritik an der
Oberschicht „Pöseldorf“, Arbeit mit den Lampedusa-Flüchtlingen) und konzentriert sich mehr auf die
Problematiken die Jelinek in ihrem Text aufwirft (Menschenrechte, Rassismus, etc.).
282
Lohs, Lothar: Die Schande Europas. In: Bühne. Nr. 3. März 2015. S. 22-23, hier S. 23.
283
Thalheimer, Michael: Die Farben eines schwarzen Bildes. Zur österreichischen Erstaufführung von
Die Schutzbefohlenen am Burgtheater. Michael Thalheimer im Gespräch mit Björn Hayer. In: Janke,
Pia (Hg.): JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 2014-2015. Praesens Verlag.
Wien: 2015. S. 72-80, hier S. 72.
284
Ebd.
78
dem Theater“285. Vor allem das Chorische reizte ihn an dem Stück, die Sprache und
Gesten gehen in seiner Inszenierung vom Chor aus.
Thalheimer kürzt den Text von Jelinek auf eineinhalb Stunden und legt den
Schwerpunkt einerseits auf das Wir der Schutzbefohlenen und andererseits auf
Ereignisse in Österreich, die dem Wiener Publikum größtenteils noch präsent sein
dürften, wie beispielsweise die beschriebenen Proteste vor und in der Votivkirche
(sein Bühnenmeister Olaf Altmann schafft ein himmelhohes dunkles Kirchenschiff)
und die Blitzeinbürgerungen der Opernsängerin Anna Netrebko und der Tochter des
ehemaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin. Im Interview mit der „Presse“
beschreibt er seine Sicht: „Wir holen uns diese Geschichte noch einmal ins
Gedächtnis und fungieren als eine Art Gewissen“.286
Die Auseinandersetzung mit der Repräsentationsthematik ist für ihn nicht notwendig;
im Burgtheater-Magazin begründet Thalheimer seinen Zugang folgendermaßen:
„Jelinek verändert den Titel in Die Schutzbefohlenen, das heißt für uns richtet sich
der Blick nicht auf die Flüchtlinge, sondern auf die Gesellschaft. Sie spielt den Ball
zurück“287 ; der Dramaturg Klaus Missbach ergänzt: „Da schreibt Elfriede Jelinek
ganz aus der Tradition des Theaters als moralischer Anstalt. “288
Thalheimer nähert sich der Thematik über eine Reduktion an und verdichtet den Text
zu einem gerade noch abendfüllenden Theaterstück. Nicolas Stemann fügt
eigenmächtig Textteile hinzu, schreibt in Jelineks Text hinein oder ihre Worte um,
Michael Thalheimer hingegen nimmt Jelinek beim Wort und komprimiert in
Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Klaus Missbach den Theatertext durch viele
Streichungen
auf
einen
abendfüllenden
Theaterabend;
die
Struktur
und
Textmerkmale wie Wiederholungen oder auch das litaneihafte Flehen wurden dabei
beibehalten. Thalheimer fügte keine eigenen Textteile bei, sondern konzentrierte sich
auf das gesprochene Wort und die Wirkungsmacht von Jelineks Text und die präzise
Arbeit der SchauspielerInnen. Einfachheit ist das Credo des Regisseurs, er bleibt
puristisch: es dominieren Klagen und Anklagen den Abend. Michael Thalheimer hält
sich strikt an Theater-Konventionen und konzentriert sich auf das Chorische; er lässt
Einzelstimmen erklingen, aber immer wieder im Chor aufgehen und baut von Beginn
an eine Verbindung zum Publikum auf, indem er einen Zeigefinger ins Publikum
285
Ebd.
Mayer: Thalheimer: »Die Bühne ist kein Zoo«, S. 42.
287
Burgtheater-Magazin: Die Aktivgewordenen. April/Mai 2015. S. 6-11, hier S. 10.
288
Ebd.
286
79
richtet und den Theaterabend als Anklage der „Flüchtlinge“ gestaltet; doch betont
Thalheimer: „Statt um Mitleid geht es um Erfahrung, Erkenntnis und darum, den
Diskurs mit dem Publikum während der Aufführung aufbauen zu können.“289
Deutlich macht Thalheimer, dass allen SchauspielerInnen auf der Bühne klar sei,
dass sie keine Flüchtlinge sind, sondern gut bezahlte KünstlerInnen und er „fände es
anmaßend, würde ein Schauspieler auf der Bühne so tun, als wäre er ein
Flüchtling.“290 Nach der Vorstellung vom 23. April 2015 fand im Burgtheater ein
Publikumsgespräch mit dem Dramaturgen Klaus Missbach sowie einem Teil des
Ensembles der Schutzbefohlenen statt, bei dem die SchauspielerInnen ihre
Diskrepanz beschrieben auf der Bühne Flüchtlinge darzustellen und gleichzeitig zu
wissen, dass sie dafür bezahlt werden. Andererseits betonten alle, dass es wichtig
und richtig sei mit den Worten Jelineks den Flüchtlingen ihre Stimme zu leihen.
Betrachtet man die Premierenstrichfassung, so lässt sich gleich ein langes chorisches
Intro herauslesen, und später die Unterscheidung in Damen- und Herrenchor. In der
gesamten Strichfassung ist jedoch nie die Rede von Flüchtlingen, es herrscht eine
Distanz zur Thematik und eine politische Dimension bleibt außen vor. Jelineks
Sprache wurde beibehalten: in langen chorischen, aber auch Einzel-Stimmen prasselt
sie wie ein Worthagel auf das Publikum ein.
6.1.2
Bühnengestaltung
Olaf Altmann schafft ein einfaches, sehr beklemmendes Bühnenbild: den Raum
gestaltete er stark perspektivisch und verkleinerte ihn, nach hinten verjüngt sich die
Bühne zu einer schwarzen dunklen Szenerie. An der Rückwand sind ein waag- und
ein senkrechter Schlitz zu sehen; gemeinsam bilden sie ein meterhohes von hinten
beleuchtetes Kreuz, ein christliches Symbol und Verweis auf die Ereignisse in der
Votivkirche nur wenige Luftmeter von der Bühne entfernt: „Echoraum einer
angeblich christlich geprägten Gesellschaft, in dem die Rufe der Schutzbefohlenen
ungehört verhallen.“291 Das Licht, das durch die kreuzartigen Balken auf die Bühne
scheint, ist das einzige Licht im Bühnenraum und daraus treten zu Beginn der
Aufführung die schwarz gekleideten Schattengestalten hervor. Michael Thalheimer
289
Thalheimer: Die Farben eines schwarzen Bildes, S. 76.
Tartarotti, Guido: „Furcht nur vor der Dummheit“ In: Kurier (24.03.2015), S. 23.
291
Burckhardt: „Die Heimholung“, S. 26.
290
80
konzentriert sich in seiner Inszenierung auf die Ereignisse in Wien und in der
Votivkirche; das beleuchtete Kreuz in der dunklen Szenerie erinnert an ein
Kirchenschiff, doch wird es auch zum Schiff auf hoher See, denn der Bühnenboden
ist in seiner ganzen Breite mit Wasser, ca. einen halben Meter hoch, geflutet und die
Schatten, die durch den Schlitz, durch den schmalen Durchgang kommen, fallen ins
schwarze Meer. Die geflutete Bühne und das meterhohe weiße, leuchtende Kreuz im
sonst sehr dunklen Bühnenraum ruft im kollektiven Gedächtnis Bilder der Ereignisse
vor Lampedusa und tausender Ertrunkener an den Küsten, aber auch von den
Ereignissen in der Votivkirche hervor.
Abb. 19: Meterhohes beleuchtetes Kreuz im Bühnenhintergrund mit schwarzer
Gestalt und Spiegelung am gefluteten Bühnenboden
Das mediale Gedächtnis spielt einem die Bilder des Mittelmeers zu, des
Massengrabes vieler Flüchtlinge. Nach und nach finden sich treibende Körper,
strampelnd, schwimmend, keuchend in den Wasserfluten und schaffen so ein
wogendes Meer: eine theatralisch effektvolle Wellenbewegung auf der Bühne, die
sich auch auf der Decke widerspiegelt.
Nach und nach arbeiten sich die SchauspielerInnen an den Bühnenrand vor, um die
ZuseherInnen mit Jelineks Textfluten zu übergießen. Ganz zur vom Wasser befreiten
Bühnenrampe schaffen sie es nicht, dieser Ort bleibt der Sängerin vorbehalten.
Der dunkle Nachthimmel über den scheinbar unendlichen Tiefen des Mittelmeeres
spiegelt die Bewegungen des Wassers und reflektiert die Lichter im Publikumsraum.
81
Abb. 20: SchauspielerInnen im Bühnenhintergrund, geflutete Bühne
6.1.3
Kostüm
Das Kostüm entwarf Katrin Lea Tag; auch sie blieb bei einfacher, einheitlicher
Kleidung für die SchauspielerInnen: schwarze Anzüge, Röcke und Hosen, Blusen
und Hemden, bodenlange und kniekurze Kleider. Ebenfalls trägt der Flüchtlingschor
bei Thalheimer Masken aus bunten Plastiksäcken und wird somit gesichtslos.
Erst im Laufe der Aufführung, wenn die SchauspielerInnen ihre orangen, grünen
oder türkisen Masken – einmal alle gemeinsam, mal einzelne – runternehmen, sind
individuelle Züge in den Gesichtern erkennbar.
Abb. 21: SchauspielerInnen an Bühnenrampe mit Plastiksackmasken in den Händen
82
Das Kostüm der Sängerin ist umso pompöser: sie trägt ein elegantes schwarzes
Abendkleid mit weitem Reifrock und einer meterlangen Schleppe.
Abb. 22: Netrebko in Abendkleid an Bühnenkante
6.1.4
Musik
Die Aufführung wird über den gesamten Abend von simplen monotonen
Geigenklängen begleitet, die sich dann zu einer bedrohlichen Klangkulisse steigern,
mit schweren Bässen wird das Kirchenschiff auf der Bühne erschüttert; immer mehr
übertönt der Sound von Bert Wrede die verzweifelte Klage des Chors.
Einmal wird der Klangteppich der Inszenierung unterbrochen, die elegische Musik
setzt irgendwann aus und es betritt eine Opernsängerin von links die Bühne und singt
die Arie von Schicksal und Freiheit.
6.1.5
Netrebko
Als die Rede der Schutzbefohlenen auf der Bühne auf wohlhabende BlitzEingebürgerte fällt, wie beispielsweise auf die Tochter des russischen Präsidenten
Boris Jelzin, die durch Geld in die Festung Österreich kam, oder auf Netrebko, der
83
ihre Stimme den Weg über die Grenze ebnete; als das Klagen des Chors von den
immer lauter werdenden monotonen Geigenklängen übertönt wird und auch einzelne
Stimmen sich nicht mehr gegen die bedrohliche Klangkulisse durchsetzten können,
wird es dunkel auf der Bühne, die Schutzbefohlenen ziehen sich zurück, die Musik
wird leiser; begleitet vom Plätschern des Wassers auf dem Bühnenboden betritt von
links die Stellvertreterin „DER russischen Sängerin“ in Riesenreifrockrobe die
Bühne, herein schwebt „die Fremde, deren Einbürgerung in die Festung Österreich
nie ein Problem war.“292 Die Anspielung auf die Opernsängerin Anna Netrebko hat
Michael Thalheimer in Form einer große Rolle für den Abend (auch hier ist der
Österreichbezug gegeben) umgesetzt und gestaltet den Auftritt der Sängerin als
einen atmosphärischen Höhepunkt des Theaterabends. Thalheimer will die BlitzEinbürgerung von Anna Netrebko nicht nur besprechen und auf der Bühne
abhandeln, er möchte sie haptisch, bildlich auf der Bühne präsent haben und einen
Kontrast zu den „Flüchtlingen“ herstellen. Von links schreitet die Sängerin mit ihrem
pompösen, mächtigen, schwarzen Abendkleid an der Rampe, die den „Flüchtlingen
vorenthalten bleibt, entlang bis zur Mitte der Bühne. Sie steht nicht im Wasser und
singt aufs Betörendste eine bekannte Sopran-Arie („Lascia ch’io pianga“ aus Georg
Friedrich Händels „Rinaldo“). Im knietiefen Wasser im Hintergrund bilden die
SchauspielerInnen in ihren nassen schwarzen Zotteln und den Plastikfetzen im
Gesicht einen „elegischen Resonanzkörper“293. Barbara Burckhardt liest den Aufritt
der Sängerin „als sarkastischen Kommentar auf Thalheimers eigene Anstrengung
[...], grausame Flüchtlingsschicksale in höchst kommensurable Schönheit zu
übersetzen.“294
6.1.6
Chor der „Flüchtlinge“
Bei Thalheimer tritt der Chor, bestehend aus 16 BurgschauspielerInnen, als
geschlossenes Kollektiv auf; das chorische Sprechen wird von Chorleitung Marcus
Crome bis zur Perfektion ausgeführt. In einem Interview vor Probenbeginn sagt er:
„Den Chor kann man gar nicht umgehen, wenn man Jelineks vielstimmige Texte
292
Burckhardt: „Die Heimholung“, S. 27.
Thalheimer: Die Farben eines schwarzen Bildes, S. 79.
294
Burckhardt: „Die Heimholung“, S. 27.
293
84
liest.“295 Die ganze Aufführung konzentriert sich auf den Text von Jelinek, auf Klage
und Anklage eines Wir. Nur vereinzelt treten Einzelstimmen aus dem Chor hervor,
der eine massive Präsenz auf der Bühne einnimmt. Einzelne Solisten lösen sich aus
der choreografierten Chor-Masse und vertreten unterschiedliche Positionen: „von
breitem Wienerisch bis zu gebrochenem Pathos“296, um sich dann wieder in die
Masse zurückzuziehen.
Abb. 23: Solist löst sich aus choreografierten Chor-Masse
Das Sprechen des Kollektivs ist rhythmisch und unpersönlich, auf der Bühne entsteht
ein komplexer Hör-Raum. Der Chor repräsentiert bei Thalheimer das kollektive
Bewusstsein, Thalheimer „will die Protagonisten des Burgtheaters dafür einsetzen
und damit das klare Bekenntnis artikulieren, dass das gesamte Theater und nicht nur
der Regisseur oder eine Handvoll Schauspieler hinter dem Text steht.“297
6.1.7
Politische Dimension
Thalheimer stellt sich der (Re-)Präsentationsthematik auf der Bühne nicht; er
erarbeitet aus Jelineks Textfläche eine 90-minütige Aufführung als Kunstwerk; die
Realität wird hierbei nicht abgebildet, sondern vom Regisseur ästhetisch mittels
Reduktion und Perfektion zu einem dichten Theaterabend verarbeitet: „Sie [die
295
Thalheimer: Die Farben eines schwarzen Bildes, S. 76.
Cerny, Karin: Achtung, die Menschenwürde (30.03.2015).
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/burgtheater-wien-jelineks-schutzbefohlene-von-thalheimera-1026143.html Letzter Besuch: 15.12.2015.
297
Thalheimer: Die Farben eines schwarzen Bildes, S. 78.
296
85
Aufführung, Anm. d. Verf.] ergreift Partei, sie klagt an, sie verleiht Stimme. Sie fleht
um Schutz. Und sie fragt nach dem Erbarmen.“298
Thalheimer macht pragmatisches Theater, ihn interessiert der Text, der AntikeBezug, das Chorische, nicht aber die politische Dimension; Jelineks Text behandelt
zwar einen politischen Stoff, doch bei Thalheimer ist kein politischer Aktivismus
erkennbar. Die Inszenierung macht die Frage, wer für wen sprechen darf, kann oder
soll, nicht explizit, mehr richtet sich der Zeigefinger aufs Publikum: „ja, ihr seid
gemeint!“ 299 Anstatt sich einer bestimmten Lesart zu verschreiben, variiert das
Thema Flüchtlinge bei Thalheimer; er arbeitet sehr textzentriert, es geht ihm um den
Inhalt und vor allem um den Wien-Bezug, er möchte Assoziationen bei den Zusehern
auslösen, Reaktion und Aktivierung des Publikums sind ihm wichtig.
Thalheimer arbeitet mit Masken und dem chorischen Kollektiv, das die Passagen mit
höchster Präzision spricht. Die BurgschauspielerInnen werden mit kleinen Solos
betraut, sodass im Perspektivwechsel verschiedene Gegenpositionen deutlich
werden: der Zynismus des politisch-medialen Mainstreams („Das Boot war voll“300),
Stammtischparolen („fluchempörte Brut, Brut, Brut! Wie Tiere! Ausländerbrut!“301)
sowie die Rede von einer „abstrakten Menschenwürde, die als Allegorie herbeifliegt
und schnell auf einem Foto festgehalten werden muss, damit sie nicht sogleich
wieder entschwindet“ 302 . Das Gefühl von grotesker Komik und beklemmender
Tragik führt dazu, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Zugleich sind
auch einzelnen Forderungen der Refugee-Bewegung zu hören.
„Zu Wredes ganz großem Pathosdröhnen flüstern sie: «Wir leben!», recken kollektiv die
Finger gen Himmel, beklagen das entwürdigende Prozedere der Behörden, bei Jelinek
komisch, sarkastisch, wütend, bei Thalheimer in perfekte Form gebrachte, im Rhythmus
gezähmte Verzweiflung.“303
Im Vorfeld hat es Gespräche mit Flüchtlingen gegeben: dort tauchte bei einem
Flüchtling auch die Frage nach dem ‚Wer spricht’ im Text und auf der Bühne auf
und Thalheimer antwortete: „Schauspieler“304.
298
Tartarotti, Guido: Lass mich beweinen: Formschöne Frage nach dem Erbarmen. In: Kurier Online
(29.03.2015) http://kurier.at/kultur/die-schutzbefohlenen-lass-mich-beweinen-formschoene-fragenach-dem-erbarmen/122.115.145 Letzter Besuch: 19.12.2015.
299
Jelinek: Die Schutzbefohlenen.
300
Ebd.
301
Ebd.
302
Thalheimer: Die Farben eines schwarzen Bildes, S. 79.
303
Burckhardt: „Die Heimholung“, S. 27.
304
Burgtheater-Magazin: Die Aktivgewordenen, S. 10.
86
Abb. 24: Chor-Kollektiv mit Masken
6.2
FAZIT
Gedanken zur Repräsentationsvermeidung (wie Nicolas Stemann)
macht sich
Thalheimer nicht, er nähert sich Jelineks Text als pragmatischer Regie-Handwerker
und strebt Perfektion an.
Der antike Hintergrund und der Wien-Bezug haben ihn gereizt, diese Inszenierung
am Burgtheater zu machen. Gemeinsam mit Olaf Altmann und dem chorischen
Leiter Marcus Cromes erarbeitete er eine konzentrierte Umsetzung, wobei er bewusst
nicht plakativ arbeitet (Stemann hingegen stellt einen Grenzzaun auf die Bühne und
reale Flüchtlinge) und Jelineks Bilder oder den politischen Fundus aufgreift;
vielmehr versucht er bei den ZuschauerInnen Reaktionen und Assoziationen
auszulösen. Thalheimer lässt in seiner Inszenierung keine „echten“ Flüchtlinge auf
der Bühne auftreten:
„Sie kommen nicht vor. Weder in Person noch in Kostüm oder Spielweise. Thalheimer
inszeniert einen Jelinek-Text, und er nimmt ihn beim (entschlossen eingestrichenen) Wort.
Diese Jelinek-Worte, ob in Wir- oder Sie-Form, sind natürlich keine Worte Geflüchteter. Sie
simulieren keinen anderen Duktus als den der Jelinekschen Texterzeugung, sie sind ein
wogendes Diskurs-, kein Spielangebot für Repräsentationsakte.“305
305
Ebd. S. 26.
87
Thalheimer wählt die Methode der „Reduktion, um eine klare Aussage zu
formulieren“306, vermeidet aber auch „alle Brüche, Konfrontationen und schwierige
Annäherung an die Realität“ 307 ; strikt versucht er den Text „mit ästhetischer
Formstrenge zu bewältigen“ 308 , wobei er die Sprachspiele von Elfriede Jelinek
bezüglich der blitzeingebürgerten Sängerin ins Opernhafte, ins Kunstvolle überhöht.
Zum Schluss zeigt auch Michael Thalheimer Resignation: „’Wir sind die
Vergessenen. Wir sind gekommen. Doch wir sind gar nicht da.’ Das ist das
Schlusswort. Thalheimer hat Elfriede Jelinek beim Wort genommen und diese
Abwesenheit im Kunstraum konsequent zu Ende inszeniert.“309
306
Briegleb, Till: Formstreng, schmerzfrei. (30.03.2015) In:
http://www.sueddeutsche.de/kultur/burgtheater-wien-formstreng-schmerzfrei-1.2416626 Letzter
Besuch: 19.12.2015.
307
Ebd.
308
Ebd.
309
Burckhardt: „Die Heimholung“, S. 27.
88
7
Conclusio und Ausblick
„Derzeit befinden sich so viele Menschen wie noch nie auf der Flucht. Die Aufnahmeländer
sind vollkommen überfordert von den stetig wachsenden Zuwanderungsströmen. Während
die europäischen Grenzen dicht gemacht werden, öffnen sich die Theater einem politischen
Diskurs, der sich mit der prekären Situation der Asylsuchenden auseinandersetzt. [...] Was
sind angemessene Formen, im Theater über Flucht und Asyl zu reflektieren? Wie kann
Theater der Wirklichkeit von Asylsuchenden und der Politik begegnen? Was öffnet
Denkweisen und Perspektiven in einem Diskurs jenseits einer theatralen Reproduktion von
Rassismen, Ressentiments und Exotismus?“310
In der Auseinandersetzung mit Elfriede Jelineks Theatertext Die Schutzbefohlenen
und der langen Beschäftigung mit den beiden sehr konträren Inszenierungen –
einerseits mit der Uraufführung des erfahrenen Jelinek-Inszenierers Nicolas
Stemann, andererseits mit der österreichischen Erstaufführung und Heimholung nach
Wien des Jelinek-Neulings Michael Thalheimer – kann ich durchaus behaupten, dass
mir sowohl Jelineks Text und seine Fortschreibungen (Appendix und Coda) als auch
die genannten Inszenierungen vertraut sind, ich diese deshalb allerdings noch lange
nicht kenne.
Der rote Faden, der hier nachzuzeichnen versucht wurde, bezog sich auf Jelineks
Begriff des Theaters als ein politisches Medium. Davon ausgehend wurde ihre
Theaterfläche Die Schutzbefohlenen im Kontext des postdramatischen Theaters auf
seine (für das Theater untypische) Entstehung sowie Serialität311 und Intertextualität
untersucht.
„Indem Jelinek nun den Flüchtlingshungerstreik in der Votivkirche, der auf den
problematischen Umgang mit dem ‚Volk der Ausgeschlossenen’ aufmerksam machen sollte,
mit Aischylos’ Hiketiden kontextualisiert, rührt sie an die Ursprünge des Staats- und
Fremdenrechts und entspinnt eine Genealogie des heiligen und weltlichen Asyls.“312
Über die politische Resonanz ihrer Textfläche erschloss sich die Frage nach dem
‚wer spricht?’. Und wie gehen die Regisseure mit den Quellen und Bezügen des
Textes um? Dass eine österreichische Schriftstellerin den Flüchtlingen eine wütende
Stimme leiht und gleichzeitig in einer Kunstsprache voller philosophischer Verweise
und mit Wortspielen (bspw. „unerhört“) den gesellschaftlichen Nerv trifft, beruht auf
310
Focus Jury (Theatertreffenmagazin 2015) -Say it loud, say it clear...! Thementag zu Flucht,
Einwanderungspolitik und Asylgesetzgebung, S. 40.
311
Jelinek hat aufgrund jüngster Geschehnisse in Österreich und an den EU-Außengrenzen ihren Text
während des Verfassens dieser Arbeit um zwei weitere Texte, nämlich zunächst einen Appendix und
darauffolgend eine Coda, erweitert.
312
Felber: Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (in Druck).
89
der Tatsache, dass Jelinek durch ihr Aufgreifen tagespolitischer Themen in den
Theaterkontext einen virulenten Umgang mit ihrem Text im öffentlichen Diskurs und
an den Theatern provoziert hat. „Womöglich ist es die Globalität solcher Fragen, die
Jelineks Theatertexte über die österreichischen Grenzen hinaus brisant machen und
zu zahlreichen performativen Realisierungen führen“313, schreibt Silke Felber in
ihrem Beitrag zu den Schutzbefohlenen. Die ‚Globalität’ zeigt sich auch in Jelineks
Annäherung an die Thematik über ‚mythische Versatzstücke’:
[...] „sie zitiert nicht nur die Schutzflehenden des Aischylos, sondern den Mythos von Io, der
schönen Tochter des Flussgottes Inachos, die als Geliebte des Zeus zur Tarnung in eine
silberglänzende Kuh verwandelt, in dieser Tiergestalt vor der eifersüchtigen Hera fliehen
muss. Die Nobelpreisträgerin verwendet auch wohltönende Passagen über Würde und
Freiheit der Menschen aus der staatlichen Broschüre Zusammenleben in Österreich, die sich
angesichts des tatsächlichen Umgangs mit den Asylanten gnadenlos als hohle Phrasen
entpuppen. Aber wie kann man diese disparaten semantischen Ebenen der Textcollage für
den Zuschauer sinnfällig machen?“314
Elfriede Jelinek hat mit ihrem Text den Nerv der Zeit getroffen und auch nach über
zwei Jahren nach der Textentstehung und ersten Veröffentlichung von Die
Schutzbefohlenen auf ihrer Homepage ist der Text immer noch höchst aktuell. Diese
Arbeit versucht aufzuzeigen, wie verwoben Politik und Kunst, Realität und
Theaterraum in den Schutzbefohlenen sind und welche Möglichkeiten gerade die
sprachversierte Schriftstellerin Jelinek mit ihren zeitpolitischen Stücken dem Theater
eröffnet. Sie gibt ihre Textcollagen frei zur Bearbeitung – nein sie fordert geradezu
dazu auf – und lässt die Regisseure als Ko-Autoren weitere Diskurse aufbauen, was
neue Denkweisen öffnet (das zeigt sich in den unterschiedlichen Umsetzungen für
die Bühne von Stemann und Thalheimer) bzw. verschiedene Perspektiven impliziert:
Wie kann das Theater politisch intervenieren? Wie Stellung beziehen? Soll es das
denn überhaupt? Wie geht das Theater mit der neuen Situation hinsichtlich der
Flüchtlinge in der Gesellschaft um?
Die Textfläche ist aus der Perspektive eines Flüchtlings-Wir geschrieben, wobei
„[...] [i]n virtuoser Rede und Gegenrede sich allerdings in den Chor der Schutzbefohlenen
auch die Stimmen der fremdenfeindlichen, besitzstandwahrenden Bürger [mischen], die das
uralte Grundprinzip der Gastfreundschaft mit Füßen treten. Jelinek [...] konfrontiert uns mit
der bitteren Wahrheit, dass die Menschenrechte eben nicht für alle gelten [...].“315
313
Ebd.
Lohs: Die Schande Europas, S. 23.
315
Burgtheater-Magazin: Die Schutzbefohlenen, S. 5.
314
90
Der Regisseur Thalheimer macht Theater „ohne Selbstzweifel, Selbstanklage oder
Selbstanwendung“ 316 , ganz im Gegensatz zu Nicolas Stemann, der in seiner
Schutzbefohlenen-Inszenierung nicht umhin kommt, die Frage der Repräsentation
und Wirklichkeit zu stellen, aufzuzeigen und daran zu scheitern; Stemann führt den
Theaterbetrieb und seine Rassismen vor („Schwarzes Casting“) und lässt die
SchauspielerInnen und Flüchtlinge mit Textbüchern auf der Bühne spielen. Auch das
Problem, dass weiße BurgschauspielerInnen Flüchtlinge darstellen, wird in der
Inszenierung von Michael Thalheimer nicht thematisiert. Stemann entfachte
hingegen auf der Bühne wieder die Blackfacing-Debatte und dass die Theater in
ihren
Ensembles
keine
dunkelhäutigen
SchauspielerInnen
haben;
Michael
Thalheimer lässt sich auch auf diese Debatte nicht ein, bei ihm stehen weder
dunkelhäutige SchauspielerInnen auf der Bühne noch „reale Flüchtlinge“.
Die Beschäftigung mit der Repräsentationsthematik am Theater anhand der
Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek und den konträren Übersetzungen auf der
Bühne von Nicolas Stemann und Michael Thalheimer schneidet einen Diskurs an,
der noch ein weites Forschungsfeld beschäftigen wird, denn:
„Wer die Qualität einer Demokratie messen will, darf also nicht nur das Funktionieren der
Gewaltenteilung und das Ausmaß der Medienfreiheit beurteilen. Die ‚Theaterfreiheit’ gehört
dazu. Sie ist sogar, reizt sie ihre Grenzen aus, ein politischer Motivator.“317
Die in dieser Arbeit betrachteten Inszenierungen zeigen die Freiheit des Theaters und
der Regisseure im Umgang mit einer Jelinek-Textfläche.318
Jelinek
stellt
die
Theater
mit
ihrem
jüngsten
Theatertext
vor
ein
Repräsentationsproblem: wer kann für wen sprechen und wie wird gesprochen?
Dabei bedingt die Kunstsprache Jelineks geradezu die ‚Experten des Theaters’, die
der deutschen Sprache mächtig sind.
Nicolas Stemann bezieht aber auch „Laien mit ein, Migranten mit prekärem Status.
Ein Kunstgriff in die Wirklichkeit.“319
316
Gindlstrasser, Theresa Luise: Aus dem Kreuz gefallen. (28.03.2015) In:
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10742:dieschutzbefohlenen-michael-thalheimer-inszeniert-die-oesterreichische-erstauffuehrung-desfluechtlings-stuecks-von-elfriede-jelinek-am-burgtheater-wien-mit-zeigefinger&catid=80:burgtheaterwien&Itemid=100190 Letzter Besuch: 19.12.2015.
317
Sperl, Gerfried: Die „Theaterfreiheit“ als politischer Motivator. In: Der Standard. 13.04.2015. S.
19.
318
Einen ganz eigenen Zugang wählte beispielsweise Oberhausens Intendant Peter Carp für sein
Theater, indem er das ‚Wir’ des Jelinek-Textes schlichtweg in ein ‚Sie’ umschreibt, jedoch die, über
die gesprochen wird, als stillen Flüchtlingschor auf die Bühne stellt.
91
In der österreichischen Erstaufführung schlug Michael Thalheimer einen
entgegengesetzten Weg ein, um „[d]iese Zwickmühle [...] zu vermeiden [...] und
[ergriff] die Flucht nach vorn: mit Volldampf in die Kunst.“320
So wählt Regisseur Nicolas Stemann eine opulente Umsetzung des Textes für die
Uraufführung
mit Videoeinspielungen und Musik-Livebands; er lässt die
SchauspielerInnen ihre Texte vom Blatt lesen und „echte“ Flüchtlinge auftreten und
stellt einen meterhohen wirkungsmächtigen Stacheldrahtzaun auf, führt Black-,
White- und Redfacing auf der Bühne vor („rassistische Praxis als Kritik der
rassistischen Praxis“321) und ironisiert ein Produzenten-Impro mit dem Casting eines
dunkelhäutigen Schauspielers. In einer 3-Phasen-Regie wechseln sich die Textträger
ab oder ergänzen sich; zu Beginn ist der Text aus dem Off zu hören, dann sprechen
drei deutsche Thalia-Schauspieler, zu denen ein farbiger, gut deutsch sprechender
Schauspieler hinzukommt, sowie zwei Schauspielerinnen, schließlich mischen sich
die Gruppen und werden im zweiten Teil der Inszenierung vom Flüchtlingschor aus
Asylsuchenden abgelöst: „[...] zahllose Szenen mit Kritik und Gegenkritik,
Selbstkritik und Kritikkritik zum schutzbefohlenen Thema.“ 322 Nicolas Stemann
nimmt das Dilemma des „Flüchtlings-Wir“ in seiner Uraufführung auf und hat „die
Flüchtlingsproblematik mit ihrer (Nicht-) Darstellbarkeit im Repräsentationsmedium
par
excellence
zu
zusammengedacht.“
einer
Art
Metatheater
des
strukturellen
Scheiterns
323
Der Regisseur Michael Thalheimer stützt sich hingegen in seiner ersten JelinekInszenierung und der österreichischen Erstaufführung auf die Kunst und inszeniert
Die Schutzbefohlenen werktreu „ganz ohne postmoderne Ironisierung [...] im Wiener
Burgtheater als düsteres Endzeitdrama.“324 Die Produktion von Thalheimer ist sehr
textzentriert, jedoch stark verkürzt; er konzentriert sich auf Jelineks Kunstsprache,
auf den Text und die SchauspielerInnen, die sich als kollektive Stimme formieren
und als chorisches Wir auftreten. Die Frage nach der Repräsentation umgeht er,
indem er sie gar nicht erst stellt: Jelineks Textcollage dient als Vorlage für das
Theater und die Inszenierung zeigt, dass ein Text wie dieser für die
SchauspielerInnen – also für die Experten des Theaters – gemacht ist; „[d]er
319
Villiger, Barbara: Das Nicken im Nacken. In: Neue Zürcher Zeitung. 31.03.2015. S. 20.
Ebd.
321
Wille, Franz: Nur die ganze Welt. Juli 2014. In: http://www.kultiversum.de/Theaterheute/Theaterder-Welt-Mannheim-2014.html Letzter Besuch: 14.12.2015.
322
Ebd.
323
Wahl, Christine: An der Wir-Basis. In: Theater Heute Magazin. Februar 2015. S. 10-13, hier S. 10.
324
Cerny, Karin: Achtung, die Menschenwürde (30.03.2015).
320
92
Regisseur vertraut [...] ganz auf die Kraft der Worte und ein virtuoses StarEnsemble.“325
Der Refugee-Hype an den deutschsprachigen Theatern fördert einerseits die
Empathie des Publikums, verlangt ihm gleichzeitig aber auch eine Haltung ab.
Stemanns Zugang über die Reflexion ist eine große Stärke seiner Uraufführung. Die
ZuschauerInnen werden bei ihm zur Selbstbefragung angeregt, hier ist ein politischer
Aktivismus spürbar; hingegen liegt die Stärke bei Thalheimers Inszenierung in der
Perfektion, aber auch in einer zynischen Ehrlichkeit, wobei am Schluss auf der
Bühne und im Publikum ein Gefühl von Resignation vor der politischen Dimension
des Themas vorherrscht. Thalheimers Inszenierung wirkt oberflächlicher, wobei das
durchaus bewusst geschehen kann und damit etwas provoziert wird.
Immer schon werden im Theater „wahre“ Themen verhandelt, aber eben nur
stellvertretend; wie das im Fall der Flüchtlingsproblematik zu lösen ist, steht
weiterhin offen. Es entsteht dort ein Bedeutungsraum, bei vielen AkteurInnen und
RegisseurInnen herrscht ein Gefühl vor, „dass hier etwas geschieht, wofür das
Theater wirklich gebraucht wird“326.
Die vielen Facetten in Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek, denen im Rahmen
dieser Untersuchung längst nicht allen nachgegangen werden konnte, bergen noch
großes Potential für weitere Auseinandersetzungen.
325
326
Ebd.
Michalzik, Peter: Eine Frage des Taktes. In: Theater Heute Magazin. Dezember 2015. S. 1.
93
8
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8.1
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94
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106
9
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Abbildung flüchtiger Sklaven.
http://204.200.212.100/ej/schutzbefohlene.jpg Letzter Besuch: 28.11.2015.
Abb. 2: Schutzbefohlene
http://204.200.212.100/ej/schutzbefohlene7.jpg Letzter Besuch: 28.11.2015.
Abb. 3: Pressekonferenz.
http://204.200.212.100/ej/schutzbefohlene16.jpg Letzter Besuch: 28.11.2015.
Abb. 4: Ansprache eines Geistlichen.
http://204.200.212.100/ej/schutzbefohlene15.jpg Letzter Besuch: 28.11.2015.
Abb. 5: Schutzbefohlene auf einem übervollen Boot.
http://204.200.212.100/ej/schutzbefohlen12.JPG Letzter Besuch: 28.11.2015.
Abb. 6: Flüchtlinge in Rözske
http://204.200.212.100/ej/fluechtlinge-in-roszke-b.JPG Letzter Besuch: 28.11.2015.
Abb. 7: Syrische Flüchtlinge in Edirne.
http://204.200.212.100/ej/syrische-fluechtlinge-in-edirne-2.JPG Letzter Besuch:
28.11.2015.
Abb. 8: Bootflüchtlinge im Mittelmeer
http://204.200.212.100/ej/bootsfluechtlinge-mittelmeer-680.JPG Letzter Besuch:
28.11.2015.
Abb. 9: Kleines Boot mit Flüchtlingen
http://204.200.212.100/ej/bootsfluechtlinge-mittelmeer-kleines-boot.JPG Letzter
Besuch: 28.11.2015.
107
Abb. 10: römische Meister 125 v. Chr.
http://204.200.212.100/ej/Roemischer_Meister_um_125_v._Chr._680-wikipedia.JPG
Letzter Besuch: 28.11.2015.
Abb. 11: Drei weiße Thalia-Schauspieler vor den weißen Lettern.
Die Schutzbefohlenen. Regie Nicolas Stemann. Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer.
http://www.thalia-theater.de/ufile/df6220dd11.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 12: Rückzug der SchauspielerInnen hinter den Zaun.
Die Schutzbefohlenen. Regie Nicolas Stemann. Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer.
http://www.thalia-theater.de/ufile/b9fab685bf.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 13: SchauspielerInnen in Abendroben und Flüchtlinge in Ganzkörperoveralls.
Die Schutzbefohlenen. Regie Nicolas Stemann. Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer.
http://www.thalia-theater.de/ufile/c6f9c0223f.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 14: Wir sind Pöseldorf.
Die Schutzbefohlenen. Regie Nicolas Stemann. Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer.
http://www.thalia-theater.de/ufile/b7e79679c4.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 15: Netrebko verabschiedet sich.
Die Schutzbefohlenen. Regie Nicolas Stemann. Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer.
http://www.thalia-theater.de/ufile/a809d92258.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 16: Foto Freeze Moment.
Die Schutzbefohlenen. Regie Nicolas Stemann. Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer.
http://www.thalia-theater.de/ufile/f6230e06de.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 17: Flüchtlingschor.
Die Schutzbefohlenen. Regie Nicolas Stemann. Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer.
http://www.thalia-theater.de/ufile/36a287839f.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
108
Abb. 18: Schutzbefohlene spielen Die Schutzbefohlenen. Foto © Schweigende
Mehrheit / Daniel Partke. http://www.schweigendemehrheit.at/12-9-arena-wienschutzbefohlene-spielen-jelinek/ Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 19: Meterhohes beleuchtetes Kreuz im Bühnenhintergrund mit schwarzer
Gestalt und Spiegelung am gefluteten Bühnenboden.
Die Schutzbefohlenen. Burgtheater, Inszenierung: Michael Thalheimer, 2015.
Foto: Reinhard Werner.
http://www.burgtheater.at/GenticsImageStore/640/400/prop/Content.Node2/bilder/in
szenierung/Schutzbefohlenen_01s-001.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 20: SchauspielerInnen im Bühnenhintergrund, geflutete Bühne.
Die Schutzbefohlenen. Burgtheater, Inszenierung: Michael Thalheimer, 2015.
Foto: Reinhard Werner.
http://www.burgtheater.at/GenticsImageStore/640/400/prop/Content.Node2/bilder/in
szenierung/Schutzbefohlenen_88s-088.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 21: SchauspielerInnen an Bühnenrampe mit Plastiksackmasken in den Händen.
Die Schutzbefohlenen. Burgtheater, Inszenierung: Michael Thalheimer, 2015.
Foto: Reinhard Werner.
http://www.burgtheater.at/GenticsImageStore/640/400/prop/Content.Node2/bilder/in
szenierung/Schutzbefohlenen_17s-017.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 22: Netrebko in Abendkleid an Bühnenkante.
Die Schutzbefohlenen. Burgtheater, Inszenierung: Michael Thalheimer, 2015.
Foto: Reinhard Werner.
http://www.burgtheater.at/GenticsImageStore/640/400/prop/Content.Node2/bilder/in
szenierung/Schutzbefohlenen_1_42s.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
Abb. 23: Solist löst sich aus choreografierten Chor-Masse.
Die Schutzbefohlenen. Burgtheater, Inszenierung: Michael Thalheimer, 2015.
Foto: Reinhard Werner.
http://www.burgtheater.at/GenticsImageStore/640/400/prop/Content.Node2/bilder/in
szenierung/Schutzbefohlenen_22s-022.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
109
Abb. 24: Chor-Kollektiv mit Masken.
Die Schutzbefohlenen. Burgtheater, Inszenierung: Michael Thalheimer, 2015.
Foto: Reinhard Werner.
http://www.burgtheater.at/GenticsImageStore/640/400/prop/Content.Node2/bilder/in
szenierung/schutzbefohlenen_1_05s.jpg Letzter Besuch: 19.12.2015.
110
10 Abstract Deutsch
Die österreichische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nahm
2012 die Proteste von Refugees und deren UnterstützerInnen vor und in der
Votivkirche in Wien zum Anlass für ihren Theatertext Die Schutzbefohlenen. Diesen
hat Jelinek mit Form und Motiven des antiken Dramas Die Schutzflehenden von
Aischylos – das lässt bereits der Titel des Stücks erkennen – sowie mit
existenzphilosophischen Motiven verschränkt. Nach den Ereignissen vor Lampedusa
im Jahr 2013 und zahlreichen medialen Debatten zur Flüchtlingssituation in Europa,
hat die Autorin ihre Textfläche mehrmals überarbeitet und erweitert. Im Stück
verhandelt
Jelinek
Asylrechtsmissstände
in
Europa
sowie
die
mediale
Berichterstattung darüber. Der Fokus liegt einerseits auf der Arbeitstechnik der
Schriftstellerin für das Theater, ihrem politischen Schreiben und dem Verhältnis von
Theater und Wirklichkeit in ihren Texten und andererseits auf den konkreten
Verfahren und Mitteln der Umsetzung für das Medium Theater durch die Regisseure
Nicolas Stemann (Uraufführung in Deutschland) und Michael Thalheimer
(Heimholung nach Wien). Der Theaterregisseur und Jelinek-Kenner Nicolas
Stemann und Michael Thalheimer, Regisseur mit Schwerpunkt auf antiken Dramen,
brachten Die Schutzbefohlenen auf ganz unterschiedliche Weise auf die Bühne.
Anhand
der
Schutzbefohlenen lässt
sich
eine
Problematik,
die
in
den
Fachzeitschriften der letzten Jahre immer wieder aufgekommen ist, hingegen in einer
theoretischen Aufarbeitung vergleichsweise wenig präsent war, diskutieren: Wer
spricht? Welche SprecherInneninstanzen gibt es? Und wer (re-)präsentiert am
Theater wann wen in welchem Kontext?
111
11 Abstract English
The Austrian writer and Nobel Prize winner Elfriede Jelinek took the protests of
Refugees and supporters before and in the Votive Church in Vienna in 2012 as an
opportunity for her theatre text Die Schutzbefohlenen. Jelineks text has crossed in
shape and featuring the ancient drama The suppliants of Aeschylus. This already
indicates the title of the piece. In addition, philosophical motives are processed in the
theatre text. After the events in front of Lampedusa in 2013 and numerous media
debates on the refugee situation in Europe, the author repeatedly revised and
expanded her theatre text. Jelinek negotiates with her text asylum abuses in Europe
and the inclusion and exclusion mechanisms in the context of migration and its
media coverage. On the one hand the focus is on the working technique of Elfriede
Jelinek for the theatre, her political writing and the relationship between theatre and
reality in her lyrics and on the other hand on the specific methods for the medium
theatre by directors Nicolas Stemann (premiere in Germany) and Michael
Thalheimer (repatriation to Vienna). The theatre director and Jelinek connoisseur
Nicolas Stemann and Michael Thalheimer brought Die Schutzbefohlenen in very
different ways on the stage. Based on a repeatedly issue in the journals of the past
years this master thesis asks: Who is speaking? Which instances of voices are there?
And who presents whom in which context in the theatre?
112
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