Globalisierung und Sozialstaat gehören zusammen.

Werbung
Globalisierung und Sozialstaat gehören
zusammen.
Von Bert Rürup
Deutschland gilt als der große Gewinner der Globalisierung. Glaubt man jüngsten Prognosen
des Ifo-Instituts, so wird Deutschland in diesem Jahr China als Land mit dem weltgrößten
Exportüberschuss ablösen. Sollte dieses Institut Recht behalten, so wird die Kritik am
Geschäftsmodell der Deutschland AG bald wieder aufflammen: Deutschland bereichere sich
auf Kosten anderer. Dieses Argument sei nicht ganz falsch, schrieb Marcel Fratzscher, der
Präsident des DIW, jüngst im Handelsblatt.
Tatsächlich sind Außenhandel und internationale Arbeitsteilung keine Nullsummenspiele. Sie
machen die Menschheit insgesamt reicher, allerdings profitieren keineswegs alle Länder
gleichermaßen davon. Und auch in den einzelnen Ländern kommen nicht alle Menschen in
den Genuss dieser die Außenhandelsgewinne. Es gibt also keineswegs nur Gewinner; die
Globalisierung hat auch viele Verlierer.
Eine Politik, die freien Welthandel und offene Finanzmärkte fordert und fördert, ist deshalb
gut beraten, die Verlierer der Globalisierung zu kompensieren. Sonst verliert sie den Rückhalt
in der Bevölkerung; was derzeit in vielenwestlichen Industriestaaten zu beobachten ist.
Nehmen wir als Beispiel einen ehemals gutbezahlten Monteur in einem deutschen
Automobilwerk, der entlassen wurde, weil sein Arbeitgeber die arbeitskostenintensive
Kabelbaumfertigung, in der er beschäftigt war, ins kostengünstigere Ausland verlagert hat.
Er mag eine neue Stelle im Dienstleistungssektor gefunden haben, doch nur zu einem
deutlich geringeren Lohn. Dieser Arbeitnehmer wird wenig Trost darin finden, dass sein
ehemaliger Arbeitgeber den verbliebenen Beschäftigten gute Löhne zahlt und zudem seinen
Gewinn und weltweiten Marktanteil steigert. Und es macht ihn auch nicht zufriedener, dass
durch die Verlagerung der Fertigung dieser Komponenten Menschen in Osteuropa besser
bezahlte Arbeitsplätze bekommen haben. Auch dass die Globalisierung insgesamt Hunger
und Armut in den Schwellenländern reduziert hat und bei uns die Preise für Fernsehgeräte
oder Mobiltelefone gesunken sind, kompensiert ihn nicht für seine Einkommenseinbußen. Gut
1
möglich, dass er zum Globalisierungsgegner geworden ist und Forderungen nach
Handelsrestriktionen unterstützt.
Das, was heute als Globalisierung bezeichnet wird, ist zu einem Teil die Folge der Öffnung
zuvor abgeschotteter Märkte nach dem Kollaps des Ostblocks Ende der 1980er Jahre. Nicht
weniger wichtig war allerdings, dass eine Dekade zuvor das bis dahin weltweit dominierende
Konzept der keynesianischen Nachfragesteuerung durch den Monetarismus abgelöst wurde.
Monetarismus steht neben dem Primat der Geldwertstabilität für eine Entstaatlichung von
Industrien, die Deregulierung von Güter- und Finanzmärkten, den Abbau von
Handelshemmnissen sowie eine Rückführung von Subventionen, Steuern und
Sozialleistungen. Seit Beginn der 1980er Jahre wurden solche Maßnahmen von
Internationalem Währungsfonds und Weltbank in Entwicklungs- und Schwellenländern als
Voraussetzung für eine Gewährung von Krediten durchgedrückt. Und in den entwickelten
Staaten wurde die Nachfragesteuerung durch das Konzept der Angebotspolitik ersetzt.
Dieser Regimewechsel erfolgte teils radikal wie in den USA mit den Reaganomics und in
Großbritannien mit dem Thatcherismus. Oder er vollzog sich Schritt für Schritt wie in
Deutschland und in den Niederlanden. Grundgedanke des Konzepts ist, das gute und stabile
Gewinnerwartungen der Unternehmen die entscheidende Voraussetzung für hohe
Beschäftigung und kräftiges Wirtschaftswachstum seien. Deshalb sollten die Arbeitsmärkte
möglichst flexibel sein, die Löhne langsamer als die Produktivität wachsen, geringe
Einkommen- und Gewinnsteuern die Leistungs- und Investitionsbereitschaft fördern und die
Staatshaushalte ausgeglichen sein.
Ohne diesen oft als Neoliberalismus verschrienen Paradigmenwechsel hin zur
Angebotspolitik wäre es wohl nicht zu dem gekommen, was heute als Globalisierung
bezeichnet wird: Die enge Einbindung einer zunehmenden Anzahl von Volkswirtschaften in
die internationale Arbeitsteilung und die Liberalisierung der Finanzmärkte.
Hans-Werner Sinn hat in seinem jüngst im Handelsblatt veröffentlichten Essay „Lob der
Globalisierung“ aus weltwirtschaftlicher Sicht zweifellos recht: Die Entgrenzung der Güterund Finanzmärkte hat in den vergangenen 35 Jahren „die Ungleichheit auf der Welt nicht
erhöht, sondern dramatisch verringert“. In der Tat ist der Anteil der Weltbevölkerung, der in
existenzieller Armut lebt, in diesem Zeitraum von fast 45 Prozent auf derzeit etwa zwölf
Prozent zurückgegangen.
Aus Sicht eines wohlmeinenden Weltherrschers ist dies sicher ein grandioser Erfolg.
Allerdings hat sich in der realen Welt in den entwickelten Industriestaaten ein tiefes
Misstrauen in großen Bevölkerungskreisen gegenüber der Globalisierung breitgemacht.
Dieses Unbehagen mag man als akademischer Ökonom angesichts der theoretisch
unbestrittenen gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtseffekte freier Märkte und dem
2
offenkundigen Rückgang der existenziellen Armut auf der Welt als vernachlässigbar abtun,
zumal zudem aus ökonomischer Sicht die für die gesamtwirtschaftliche Produktion
stimulierenden Impulse im reifen Industriestaat Deutschland für die Globalisierung sprechen.
Die politische Realität zeigt jedoch, dass breite Teile der Bevölkerungen wenig für eine solch
ökonomische Sicht übrig haben.
Demokratie steht für eine durch freie Wahlen legitimierte Herrschaft auf Zeit. Daher müssen
Parteien und Regierungen in demokratischen Staaten Wahlen gewinnen, um gestalten zu
können. Sie müssen konkrete Antworten sowohl auf tatsächliche, als auch auf gefühlte
individuelle Wohlfahrtsverluste ihrer potenziellen Wähler geben. Denn in vielen etablierten
Industriestaaten ist eine zunehmende Lohnspreizung zu beobachten, die mit stagnierenden,
ja sinkenden Reallöhnen der Mittelschicht und unsicheren Arbeitsplätzen einhergeht - in
Deutschland zum Glück bislang weniger als in anderen Ländern.
Gleichzeitig verliert dauerhafte Vollzeitbeschäftigung an Bedeutung, während
Unternehmens- und Vermögenseinkommen im Vergleich zu den Lohneinkommen
überproportional ansteigen. So ist in Deutschland der Anteil der Lohneinkommen am
gesamten Volkseinkommen von etwa 75 Prozent Mitte der 1980er Jahre auf derzeit gut 67
Prozent zurückgegangen. Dies alles kann nicht durch einen Verweis auf die Verringerung der
Armut in den Entwicklungs- und Schwellenländern kompensiert werden.
Der Aufstieg von Politikern wie Marine Le Pen, Donald Trump, Geert Wilders oder Victor
Orban ist zu einem großen Teil Folge dieses Unbehagens, das in Abstiegsängsten der
Mittelschicht mündet. Diese Ängste sind letztlich eine Folge des Versagens der
nationalstaatlichen Sozialpolitik und womöglich auch einer der Gründe dafür, warum die
Globalisierungsdynamik in der letzten Zeit deutlich abgenommen hat.
Der Wirtschaftshistoriker Anthony B. Atkinson plädiert in seinem neuesten Buch
„Ungleichheit. Was wir dagegen tun können“ für eine massive Umverteilungspolitik von oben
nach unten. Dabei nennt er 15 konkrete staatliche Maßnahmen, die sich nicht in einer
Erhöhung der Umverteilungseffizienz des Steuer- und Sozialsystems erschöpfen. Vielmehr
fordert er Maßnahmen, die auch auf eine Verringerung der Einkommens- und
Vermögensungleichheit bereits der Bruttowerte abzielen. Dazu schlägt er ein
Grundeinkommen für alle vor. Außerdem fordert er, dass jeder, der volljährig wird, eine aus
einer hohen Steuer auf bestehende Vermögen finanzierte Erbschaft erhält. Allerdings
versäumt es Atkinson, die Frage zu beantworten, wie die „Reichen“ vor dem Hintergrund
ihres großen politischen und medialen Einflusses dazu gebracht werden können, solch eine
massive Umverteilungspolitik nicht zu blockieren oder sich ihr einfach durch Wegzug zu
entziehen.
3
Hans-Werner Sinn hat vor gut 30 Jahren einen klügeren Weg aufgezeigt, wie mit den Risiken
für die Einzelnen umzugehen ist, die zwingend aus wirtschaftlichen Innovationen oder einem
wachstumsfördernden Strukturwandel erwachsen. In seiner Münchner Antrittsvorlesung
„Risiko als Produktivitätsfaktor“ im Sommer 1985 arbeitete er in vorbildlicher Klarheit heraus,
dass die Wachstumschancen einer Volkswirtschaft umso größer sind, je ausgeprägter die
Fähigkeit der Bevölkerung ist, Risiken einzugehen, die die gesamtwirtschaftliche
Produktivität steigern. Sein plastisches Beispiel: Erst als im 14. Jahrhundert in Venedig die
Seeversicherung erfunden wurde, durch die das Risiko des Verlustes eines Schiffs auf viele
Schultern verteilt werden konnte, wagten zahlreiche Kaufleute und Schiffseigner eine
Beteiligung an dem sehr lukrativen Fernhandel. Die Folge war ein zuvor ungeahnter
Wohlstand. Die Wahrscheinlichkeit, dass Schiffe verloren gehen, wurde zwar nicht kleiner;
durch die Verteilung dieser Risiken auf sehr viele Kaufleute und Reeder, verringerte sich
jedoch das individuelle Risiko deutlich. Daraus folgerte Sinn damals: Staatliche
Sozialversicherungen seien „nicht ausschließlich als Instrument zur Schaffung von Sicherheit,
sondern ebenso als Instrument zur Vermehrung des knappen Produktionsfaktors Risiko zu
sehen“.
Wer also in Sozialabgaben oder in steuerfinanzierten Sozialleistungen nur einen Kostenblock
für die Unternehmen sieht, der die internationale Wettbewerbsfähigkeit gefährdet und daher
abgebaut werden sollte, der übersieht, dass ein effizienter und leistungsfähiger Sozialstaat
ein Standortvorteil für die Wirtschaft sein kann. Nur wenn der Staat der Bevölkerung die
Angst vor den Folgen von Globalisierung und Strukturwandel nimmt, können die
Unternehmen die sich bietenden Möglichkeiten der Globalisierung und auch der
Digitalisierung nutzen. Und nur dann kann die Volkswirtschaft von ihrem gegenwärtig
verhaltenen Tempo wieder auf einen höheren Wachstumspfad gelangen. Wer die seit einigen
Jahren zu konstatierende Globalisierungspause überwinden und die Chancen offener Güterund Finanzmärkte nutzen will, muss in einer Demokratie auf einen zielgerichteten Ausbau
des Sozialstaats setzen - und nicht auf einen pauschalen Rückbau zur vermeintlichen
Verbesserung der Standortbedingungen.
4
Herunterladen