Wirkmechanismen von Glutamin und ihre klinische Relevanz – gestern und heute Prof. Dr. Peter Stehle Institut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften (IEL) Ernährungsphysiologie Geschichte der Glutaminforschung 1883: • Isolierung (aus dem Protein von Runkelrüben) und chemische Charakterisierung Schulze & Bosshard 1914: • Erste Hinweise auf das Vorkommen und die Funktion von Glutamin im menschlichen Organismus Thierfelder & Sherwin 1935-1939: • Erste in vitro-Studien mit isoliertem Gewebe zu Krebs et al. Synthese und Spaltung von Glutamin Geschichte der Glutaminforschung 1954-1958: • Entwicklung eines automatischen Verfahrens zu Analytik von freien Aminosäuren (incl. Glutamin) in biologischen Proben (Ionenaustauschchromatographie) Spackman, Stein and Moore; Hamilton ⇒bis heute: • Intensive Studien zur Erfassung der physiologischen Funktionen von Glutamin Glutamin – bekannte physiologische Funktionen • Höchstkonzentrierte freie Aminosäure im Extraund Intrazellulärraum (ic 19.5 mmol/L icw; ec 600 µmol/L) • Vorstufe für die Synthese von Purinen, Pyrimidinen, Nukleotiden, Aminozuckern • Hauptsubstrat für die renale Ammoniagenese (Regulation des Säure-Basen-Gleichgewichts) • Stickstoff-Transporteur zwischen Geweben; Regulator der Aminosäurenhomöostase Bergström et al. 1974, Meister 1983, Windmueller 1982, Souba 1991, Newsholme 1990 …… Glutamin und Postaggressionsstoffwechsel 1951-1954: • Studien bei Lebercirrhose-Patienten: Erste Hinweise auf Veränderungen im Glutaminstoffwechsel Walshe; Seegmiller et al. 1975: • Nachweis einer drastisch verminderten Verfügbarkeit von Glutamin bei hyperkatabolen und hypermetabolen Zuständen Vinnars, Bergström & Fürst Wirkmechanismen von Glutamin Wissenschaftliche Forschungsarbeiten (in zeitlicher Abfolge): • Glutamin als anaboler/antikataboler Faktor • Glutamin als Immunmodulator • Regulative Kapazität von Glutamin 1 Glutamin als anaboler/antikataboler Faktor Charakteristische Veränderungen im Postaggressionsstoffwechsel • • • Proteolyse: ÇÇÇ (bis zu - 260 g/d) Proteinsynthese ÇÇ (Akut-Phase-Proteine) Aminosäurenoxidation ÇÇÇ ⇓ • • Negative Stickstoffbilanz Verlust an Muskelprotein/Skelettmuskulatur erstmals beschrieben von Cuthbertson et al, 1930 Glutamin als anaboler/antikataboler Faktor Katabolie als „biologischer Abwehrvorgang“: ¾ Bereitstellung von glucoplastischen Aminosäuren (Alanin) ¾ Unterstützung der Synthese von Akut-PhaseProteinen ¾ Unterstützung der Wundheilung ¾ Bereitstellung von Glutamin (als Energie- und NSubstrat für Enterocyten, immunkompetente Zellen) ⇒ Erhöhter Bedarf an Glutamin Trauma führt zur drastischen Reduzierung der Glutaminverfügbarkeit Stehle, berechnet aus Literaturdaten Glutaminbilanz bei Katabolie Stehle, berechnet aus Literaturdaten Verbrauch: • • • Intestinale Verwertung 11-15 g/d Aufnahme Nieren 4 g/d Aufnahme Immunzellen 2-4 g/d Endogene Synthese: • Glutamin-Efflux aus Muskel Bilanz: 8-10 g/d -12 g/d ⇓ Glutamin ist eine bedingt unentbehrliche AS! Glutamin als anaboler/antikataboler Faktor Metabolische/klinische Konsequenzen einer Glutamin-Verarmung • Verminderte Proteinsynthese (Auslöser der Katabolie?) • Eingeschränkte Nukleinsäurensynthese • Barrierefunktion des GIT vermindert ¾ erhöhte Translokation? • Verlängerung der Rehabilitation Glutamin als anaboler/antikataboler Faktor Parenterale Gabe von Dipeptamin verhindert bei postoperativen Patienten Glutaminmangel und verbessert N-Bilanz Stehle et al, Lancet 1989 Glutamin als anaboler/antikataboler Faktor • Exogene Zufuhr der bedingt unentbehrlichen Aminosäure Glutamin führt zu ¾ Aufrechterhaltung einer ausgeglichenen Glutamin- Bilanz ¾ verbesserter N-Bilanz/erhöhter Proteinsyntheserate ¾ Verbesserung der intestinalen Integrität ¾ verstärkter Proliferation immunkompetenter Zellen Fürst et al, 1997 Glutamin als Immunmodulator 2 Nicht ausreichende Versorgung von Immunzellen mit Nährstoffen/Metaboliten ist verbunden mit • niedriger Proliferationsrate (Lymphocyten, Makrophagen, Neutrophile) • reduzierter Phagocytose-Aktivität • eingeschränkten Funktionen ⇒ verminderter Immunantwort Glutamin als Immunmodulator Thymidine incorporation, % maximum 100 80 60 40 20 0 0 human rat 0.01 0.05 0.3 Glutamine, mM 0.6 1 Calder, 1995 Lymphocyten-Proliferationsrate hängt von Gln-Verfügbarkeit ab Glutamin als Immunmodulator Tripeptid Glutathion als Antioxidans: γ-glutamyl-cysteinyl-glycine (γGlu-Cys-Gly) ic Synthese aus Glutamat, Cystein und Glycin Ausgewählte Funktionen von GSH: Elimination von Peroxiden (Glutathion-Peroxidase): 2 GSH + R2O2 → GSSG + 2 ROH Synthese von Leukotrienen (Glutathion-S-transferase): 2 GSH → → → Cys-Leukotriene Glutamin ist Vorstufe von Glutathion (GSH) Glutamin Glutamin Glutaminase ATP Transaminase Cystin GSH Glutamat Glutamat Cystin Glutamine (dipeptide) increases secretion of Cys-leukotrienes from PMN in postoperative patients *** 30 Cys-LTs (ng/ml 25 * 20 * 15 * 10 5 0 preop. day 1 day 6 Morlion et al., 1998 TPN (n=5) supplemented with Ala-Gln (blue) or conventional (yellow); mean ± SEM; sign. between groups: ***p<0.001, sign. with preop: *p<0.05 Glutamin als Immunmodulator Human Leukocyte Antigens (HLA-DR): • Expression in Monocyten spielt eine entscheidende Rolle für die Induktion der zellulären Immunantwort nach Kontakt mit extrazellulären Antigenen • Bei Trauma-Patienten ist die Expression stark unterdrückt ⇒ korreliert mit klinischem Outcome Livingston et al, 1988; Ditschkowski et al, 1999 Gln-enriched enteral nutrition increases HLA-DR expression in trauma patients Boelens et al, 2002 Glutamin als Immunmodulator Parenterale/enterale Gabe von Glutamin (-peptiden) • Erhöhung der Proliferationsraten von immunkompetenten Zellen • Erhöhung der intra-/extrazellulären GSH-Spiegel bzw. des Verhältnisses GSH:GSSG • Hochregulation antiinflammatorischer Cytokine • Erhöhte Expression von HLA-DR Regulative Kapazität von Glutamin 3 Glutamin besitzt weitgehende regulative Funktion auf zellulärer Ebene • Beeinflussung der NO-Synthese (via Arg?) • Fas- bzw. TNFα-vermittelte Apoptose • Erholung von Cardiomyocten ⇒ Ischämie- bzw. Reperfusionsschäden ⇓ • Verstärkte Freisetzung von HSP-70 ⇒ Verbesserte ´“stress tolerance“? Regulative Kapazität von Glutamin Heat Shock Proteins (HSP): • Familie hoch konservierter Proteine, die bei nicht lethalem Stress gebildet werden (Einteilung n. Mol-Gew.) • Schützen andere Proteine vor Abbau und vermindern metabolische Dysfunktionen nach Verletzungen/Eingriffen • Schwächen die Synthese von proinflammatorischen Cytokinen ab Pelham, 1986; De Maio, 1999; Wischmeyer, 2006 Regulative Kapazität von Glutamin • Glutamin-verarmte Leukocyten sind während einer Inflammation nicht in der Lage, ausreichend HSP (vor allem HSP-70) zu bilden. ⇓ • • • Vermehrte Apoptose Eingeschränkte Funktionen Korrelation mit klinischem Outcome Oehler & Roth, 2003; Wischmeyer, 2006 Parenterale Gabe von Dipeptiven verstärkt Expression von HSP-70 durch Ausgleich der Glutaminbilanz Ziegler et al, 2005 Regulative Kapazität von Glutamin „Glutamine sensing“ • Einflüsse auf die Expression von bestimmten Proteinen und Zellfunktionen ¾ Osmosignalling ¾ Beeinflussung von Translationsprozessen ¾ Interaktion mit tRNA-Synthasen Oehler & Roth, 2003 ⇓ Noch keine „klinischen“ Belege Zusammenfassung • Glutamin besitzt eine Vielzahl von physiologischen, immunmodulierenden und regulativen Wirkungen Sufficient glutamine availability and/or Wischmeyer 2006, mod. Zusammenfassung • Mangel an Glutamin (bedingt durch erhöhten Bedarf und/oder eingeschränkte Eigensynthese) hat vielfältige, klinisch relevante Konsequenzen (Verschlechterung des outcome) • Ausgleich der Glutaminbilanz ist essenzieller Bestandteil einer Glutamintherapie bei hypermetabolen Patienten! Zusammenfassung Persönliche Bewertung: • Eine therapeutische Maßnahme, die nachweislich die Rehabilitationschancen von Patienten verbessert, kann nie zu teuer sein! für ihre Aufmerksamkeit ! Bedingt unentbehrliche Aminosäuren vorläufige Bedarfszahlen mg/kg KG • Cystein ¾ Früh-/Neugeborene ¾ Leberinsuffizienz • 20 20 Glutamin ¾ moderates Trauma, Kachexie, Erkrankungen des GIT ¾ Kritisch Kranke, Sepsis, MOV • Tyrosin ¾ Früh-/Neugeborene ¾ Chronische Niereninsuffizienz • 150-200 300-500 30 30-40 Serin ¾ Hämodialyse-Patienten 35-40 Fürst & Stehle, J. Nutr. 2004