Fall 2 - Die fehlerhafte Preisliste - Lösung 15-16

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Fallbesprechung Zivilrecht – 1. Semester, WS 2015/2016, AG 8 Fall 2: Die fehlerhafte Preisliste – Lösung
S 1 - AG 8 FALL 2: DIE FEHLERHAFTE PREISLISTE
AT: WILLENSERKLÄRUNG, AUSLEGUNG NACH DEM OBJEKTIVEN EMPFÄNGERHORIZONT, IRRTUMSANFECHTUNG
LÖSUNG:
Vorbemerkung: Die Fallfrage lautet: „Wie ist die Rechtslage?“.
Mit dieser Frage wird von Ihnen verlangt, dass Sie alle denkbaren Ansprüche der Parteien gegeneinander prüfen. Sollten bestimmte Ansprüche davon abhängen, dass noch einseitige
rechtsgestaltende Erklärungen abgegeben werden müssen (z.B.
Anfechtung), so ist der Fall auch unter Unterstellung einer derartigen Erklärung zu prüfen.
Achtung: Meist sind diese Erklärungen aber schon im Sachverhalt abgegeben worden. Sachverhalt und Bearbeitervermerk immer genau lesen!
I. Anspruch des W gegen G aus § 433 II BGB
W könnte gegen G einen Anspruch aus § 433 II BGB auf
Bezahlung des zugesandten Weins in Höhe von 600,- €
haben.
1. Voraussetzung des Anspruchs ist, dass zwischen W
und G ein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen
ist. Ein Kaufvertrag wird durch zwei übereinstimmende
Willenserklärungen, Angebot (§ 145 BGB) und Annahme
(147 BGB) geschlossen.
a) Ein Angebot des W könnte in der Zusendung des
Preisverzeichnisses zu sehen sein. Dagegen spricht aber,
dass das Verzeichnis gewöhnlich an eine Vielzahl potentieller Käufer verschickt wird, W aber nur eine begrenzte
Menge Wein hat. Eine Auslegung des Verzeichnisses als
Angebot würde daher den W möglicherweise Schadensersatzansprüchen aussetzen, wenn er nicht alle Interessenten beliefern kann. Eine derartige Auslegung entspricht erkennbar nicht dem Interesse des W. Daher liegt
nach dem objektiven Erklärungswert des Preisverzeichnisses kein Rechtsbindungswille und somit auch kein
Angebot vor, sondern lediglich eine sogenannte invitatio
ad offerendum.
b) Ein Angebot könnte aber in dem Schreiben des G an
W liegen.
aa) Die Bestellung des G enthält die Bezeichnung des
Kaufgegenstands und die Menge. Sie enthält durch Bezugnahme auf das Preisverzeichnis des W auch den
Kaufpreis, 2,- € pro Flasche, so dass ein Angebot vorliegt.
bb) Problematisch ist, dass W dieses Angebot anders verstanden hat, nämlich als ein solches zum Preis von 3,- €
pro Flasche, so dass zu klären ist, welchen Inhalt das Angebot hat. Mit welchem Inhalt eine empfangsbedürftige
Willenserklärung wirksam wird, bestimmt sich bei Zweifeln danach, wie der Empfänger nach Treu und Glauben
mit Rücksicht auf die Verkehrssitte die Erklärung zu verstehen hatte (= Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont, §§ 133, 157 BGB). Durch die Bezugnahme auf das Preisverzeichnis war für den W objektiv
erkennbar und nachprüfbar, zu welchem Preis G kaufen
wollte. Da G von dem Irrtum des W nichts wissen konnte, konnte W auch nicht davon ausgehen, dass G zu dem
von W eigentlich gemeinten Preis kaufen wollte. Unter
Zugrundelegung objektiver Kriterien konnte W das Angebot des G daher nur als auf einen Kaufpreis von 2,- €
pro Flasche gerichtet verstehen.
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c) Dieses Angebot könnte von W durch Zusendung des
Weins konkludent angenommen worden sein.
Bedenken bestehen wieder insoweit, als W dachte, den
Wein zu einem Preis von 3,- € pro Flasche zu verkaufen.
Auch hier kommt es darauf an, wie der Empfänger
(diesmal G) nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf
die Verkehrssitte die konkludente Erklärung verstehen
musste. Da W vor Zusendung der Ware nicht auf den
Preis zu sprechen kam, konnte G nur davon ausgehen,
dass der Vertrag zu dem im Preisverzeichnis ausgewiesenen Preis zustande kommen würde. Die konkludente Annahmeerklärung war daher nur so zu verstehen, dass zu
einem Preis von 2,- € verkauft werden sollte.
Es liegen somit zwei übereinstimmende Willenserklärungen vor. Ein Kaufvertrag über den Kauf von 200 Weinflaschen zum Gesamtpreis von 400,- € ist zustande gekommen.
Zwischenergebnis: W kann von G Bezahlung von 400,€, nicht aber von 600,- € aus § 433 II BGB verlangen.
Bei der Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont
muss man sehr sorgfältig vorgehen. Wandeln wir den Fall ab:
1. Abwandlung: G hat die in der Weinhandlung des W ausliegende Preisliste mitgenommen (20,- € für einen bestimmten
Rotwein); zwischenzeitlich ist eine neue Preisliste erschienen
(30,- €). 1 Jahr später bestellt G, der davon nichts weiß, „unter
Bezugnahme auf Ihre Preisliste“ den Rotwein.
Hier ergibt die Auslegung des Angebots nach dem objektiven
Empfängerhorizont, dass die jetzt gültige Preisliste gemeint ist.
Denn Preislisten ändern sich von Zeit zu Zeit. Da G das Datum
der Preisliste nicht in sein Angebot aufgenommen hat, bestand
objektiv für W auch kein Anhaltspunkt dafür, dass eine andere
Preisliste gemeint sein könnte. Fraglich ist, wie die Annahme zu
interpretieren ist. G kann nach Treu und Glauben nicht davon
ausgehen, dass die Rotweinpreise über diese Zeitspanne hinweg
gleichbleiben, da bekannt ist, dass Rotweine ab einer gewissen
Qualität mit zunehmendem Alter teurer werden. Nach dem objektiven Empfängerhorizont kann sich die Annahme daher nur
auf die aktuelle Preisliste beziehen. Erg.: KV über 30,- €, aber
Anfechtungsrecht des G. (m.E. ebenso vertretbar: versteckter
Dissens, da G keinen greifbaren Anhaltspunkt dafür hat, dass
sich die Preisliste geändert hat; dann kein KV)
2. Abwandlung: G hat die in der Weinhandlung des G ausliegende Preisliste mitgenommen (20,- €); dabei handelt es sich
aber nicht um die aktuelle Preisliste (30,- €). Die alte Liste hat
vielmehr der letzte Kunde direkt vorher auf den Stapel mit den
neuen Preislisten gelegt. Am nächsten Tag bestellt G wiederum
unter Bezugnahme auf die Preisliste den Wein.
Nach dem objektiven Empfängerhorizont liegt ein Angebot des
G über 30,- € vor, denn W konnte die Erklärung nur so verstehen, dass G sich auf die neue Preisliste bezieht. Dass ein Kunde
eine alte Preisliste auf den Stapel legt, ist so ungewöhnlich, dass
W damit nicht rechnen musste. Er hatte daher keinen Anhaltspunkt, davon auszugehen, dass G eine andere Preisliste benutzte.
Die Annahme des W konnte G dagegen nur als Annahme zu einem Preis von 20,- € verstehen. Da er sich die Preisliste erst am
vergangenen Tag holte, musste er nämlich davon ausgehen, dass
diese die aktuelle ist. Hätte sich der Preis zwischenzeitlich geändert, so wäre zu erwarten gewesen, dass W den G hierauf hingewiesen hätte. Erg.: versteckter Dissens, § 155 BGB! Mangels
übereinstimmender WE kein KV.
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S 1 – AG 8 – L2
Fallbesprechung Zivilrecht – 1. Semester, WS 2015/2016, AG 8 Fall 2: Die fehlerhafte Preisliste – Lösung
2. Der Kaufvertrag könnte jedoch von Anfang an nichtig
sein, wenn er von W wirksam angefochten wird, § 142 I
BGB. Hierfür ist ein Anfechtungsgrund, §§ 119 ff. BGB,
und eine fristgerechte Anfechtungserklärung, § 143 BGB,
erforderlich.
a) W hat gedacht, seine konkludente Annahmeerklärung
führe zu einem Vertragsschluß zum Preis von 3,- € pro
Flasche. Grund des Irrtums war, dass er sich über die objektive Bedeutung des Angebots (2,- €) getäuscht hat und
folglich auch über die seiner Annahme. W war sich demnach bei der Abgabe seiner Willenserklärung über deren
Inhalt im Irrtum, § 119 I Alt. 1 BGB (Inhaltsirrtum).
Anmerkung: Man könnte auch auf den Gedanken kommen, hier
einen Erklärungsirrtum anzunehmen (§ 119 I Alt. 2 BGB), weil
W sich ja bei der Abfassung der Preisliste verschrieben hat. Die
Preisliste ist jedoch keine Willenserklärung, sondern lediglich
eine invitatio ad offerendum. Die Preisliste ist also nicht der
maßgebliche Beurteilungsgegenstand des § 119 BGB. Bei der
Abgabe der iSv § 119 BGB maßgeblichen Erklärung (hier: konkludente Annahme durch Zusendung der Waren) hat sich W
weder versprochen, noch verschrieben, noch vergriffen. Es ist
dem W also nicht „die praktische Umsetzung seines Erklärungswillens mißglückt“ (MüKo-Kramer, BGB, § 119 Rn. 46).
Daher liegt kein Erklärungsirrtum vor. Im Ergebnis bedeutet das
jedoch keinen Unterschied, da die beiden Alternativen des § 119
I BGB zur selben Rechtsfolge, der Anfechtbarkeit, führen.
te. Nach dem objektiven Empfängerhorizont war die Erklärung daher nur als Annahme zu einem Preis von 3,- €
pro Flasche zu verstehen. Die Erklärung des W weicht
damit vom Angebot des G ab. Es handelt sich somit nicht
um eine Annahme des Angebots, sondern um ein neues
Angebot, § 150 II BGB. Da G dieses Angebot nicht angenommen hat, fehlt es am Vertragsschluß.
Ergebnis: Mangels Kaufvertrags besteht kein Anspruch
des W gegen G auf Bezahlung des Kaufpreises aus § 433
II BGB.
Wichtig: Auslegung geht vor Anfechtung. Das ist ein zwingendes Gebot der Logik. Sie müssen also bei möglichen Divergenzen zwischen Angebot und Annahme immer zuerst die beiden
Willenserklärungen auslegen. Dies kann dann zum Ergebnis
führen, dass Dissens vorliegt. In diesem Fall ist kein Vertrag
zustande gekommen; die Prüfung einer Anfechtung wäre daher
grob falsch. Erst wenn Sie nach Auslegung der beiden Erklärungen zu dem Ergebnis gelangen, dass sie sich decken, ein Vertrag
also zustande gekommen ist, kann sich die Frage der Anfechtung
wegen Irrtums stellen.
b) Weiter bedarf es einer Anfechtungserklärung, § 143
I BGB. Die Anfechtungserklärung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung und muss dem Anfechtungsgegner gegenüber erklärt werden. Dies ist der Vertragspartner G, § 143 II BGB.
c) Die Anfechtung ist nur innerhalb der Frist des § 121 I
S. 1 BGB möglich, muss also ohne schuldhaftes Zögern
(unverzüglich) nach Kenntniserlangung vom Anfechtungsgrund erfolgen. Im vorliegenden Fall ist die Erklärung der Anfechtung mangels Sachverhaltsangaben über
die bereits verstrichene Zeit noch möglich.
Ergebnis: Sofern W unverzüglich die Anfechtung erklärt, ist der Vertrag von Anfang an nichtig, § 142 BGB.
Ein Kaufpreisanspruch aus § 433 II BGB ist dann nicht
gegeben.
II. Anspruch des G gegen W aus § 122 BGB
Im Fall der rechtzeitigen Anfechtung durch W hat G einen Schadensersatzanspruch gegen ihn, der auf den Ersatz des Vertrauensschadens geht, § 122 BGB. Sachverhaltsangaben zu einem möglichen Schaden fehlen allerdings.
ABWANDLUNG:
Zunächst ebenso wie bis I 1 b.
c) Dieses Angebot könnte W durch Zusendung der Weinflaschen konkludent angenommen haben. Für den Inhalt
der Annahmeerklärung kommt es darauf an, wie dessen
Empfänger G die Erklärung nacht Treu und Glauben mit
Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen musste, §§ 133,
157 BGB. G wußte vorliegend, dass W sich geirrt hatte.
Es musste ihm auch klar sein, dass W diesen Irrtum nicht
bemerkt hat, denn anderenfalls wäre zu erwarten gewesen, dass W den G über den falschen Preis aufgeklärt hätSeite 2 von 2
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