Bericht des Bundesministeriums für Gesundheit zur Versorgungssituation mit psychotherapeutisch tätigen Leistungserbringern (Bundestag Ausschuss für Gesundheit Drs. 16(14)0303) Stellungnahme der Bundespsychotherapeutenkammer BPtK Klosterstraße 64 10179 Berlin Tel.: (030) 27 87 85-0 Fax: (030) 27 87 85-44 [email protected] www.bptk.de Stellungnahme Überblick Der Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages hat das Bundesministerium für Gesundheit in seiner 64. Sitzung am 24.10.2007 um Informationen zur Versorgungssituation mit psychotherapeutisch tätigen Leistungserbringern gebeten. Die BPtK nimmt den Bericht des BMG mit Befremden zur Kenntnis. Der Bericht stützt sich ausschließlich auf die Bedarfsplanung in der vertragsärztlichen Versorgung und kann deshalb als Fazit feststellen, dass „für die Arztgruppe der psychotherapeutischen Leistungserbringer insgesamt eine sehr günstige Versorgung festgestellt werden kann“. Nur hat die Bedarfsplanung für den Bereich der Psychotherapie keinen Bezug zur Versorgungsrealität. Eine Betrachtung der Prävalenzen psychischer Störungen in der Bevölkerung, des Inanspruchnahmeverhaltens und der Behandlungspräferenzen gibt erste Einblicke in die Versorgungsrealität: • behandlungsbedürftige und -willige Patientinnen und Patienten müssen vor dem Antritt einer Psychotherapie i. d. R. lange Wartezeiten und Beantragungsverfahren in Kauf nehmen (Zepf et al., 2003), • in ländlichen Gebieten ist das psychotherapeutische Versorgungsangebot neunmal geringer als in Kernstädten in großen Verdichtungsräumen. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass die Prävalenz psychischer Krankheiten oder die Bereitschaft, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, in ländlichen Regionen neunmal niedriger ist als in Städten, • nur die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, bei denen im Rahmen der Versorgung bereits eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden war, wird psychologisch, psychotherapeutisch oder psychiatrisch behandelt (Ravens-Sieberer et al., 2007). Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit aus dem Jahre 2000 zeigt darüber hinaus, dass nur rund 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die eine Psychotherapie suchten bzw. für die eine Psychotherapie gesucht wurde, ein Therapieangebot fanden. Die Systematik der Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigungen berücksichtigt den realen Versorgungsbedarf nicht. Die Soll-Versorgungsgrade leiten sich aus Seite 2 von 9 Stellungnahme Ist-Versorgungsgraden ab. Das kann ein Weg sein, wenn die Versorgungsgrade Ergebnis eines jahrelangen Entwicklungsprozesses unter annähernd gleichen Strukturbedingungen sind. Dies war jedoch für den Bereich der Psychotherapie nicht der Fall. Die Ende der 90er Jahre nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes bestehenden Unterversorgungen und Verwerfungen in der Versorgungsstruktur wurden eins zu eins in die Bedarfsplanung übernommen und als Soll-Größe zementiert. Seite 3 von 9 Stellungnahme 1. Verbreitung psychischer Erkrankungen Psychische Erkrankungen gehören zu den häufigsten und die Lebensqualität der Betroffenen stark einschränkenden Erkrankungsarten. Jacobi et al. (2004) ermitteln für Erwachsene anhand des Zusatzmoduls „Psychische Störungen“ des Bundesgesundheitssurveys in der Bundesrepublik Deutschland eine Einjahresprävalenz für psychische Störungen von insgesamt 31,1 Prozent. Es wird davon ausgegangen, dass annähernd ein Drittel der erwachsenen Allgemeinbevölkerung im Laufe eines Jahres die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer psychischen Störung erfüllt. Die Daten zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland weisen ebenfalls auf einen hohen Versorgungsbedarf hin. 21,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind psychisch auffällig. Dies ist das Ergebnis des ersten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS, s. Ravens-Sieberer, Wille, Bettge & Erhart, 2007). Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass ca. fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter einer akut behandlungsbedürftigen psychischen Störung leiden. Davon nehmen ca. 80 Prozent dieser Störungen einen chronischen Verlauf. Darüber hinaus ist schätzungsweise bei nahezu einem Fünftel der Kinder und Jugendlichen zumindest eine diagnostische Abklärung erforderlich. Seite 4 von 9 Stellungnahme 2. Inanspruchnahme von Psychotherapie Die Mehrheit der Patienten spricht sich bei freier Wahl für eine Psychotherapie zur Behandlung psychischer Erkrankungen aus. Bei einer Depression würden 70 Prozent der Bevölkerung eine Psychotherapie als Behandlung empfehlen, nur 9 Prozent würden anderen von einer Psychotherapie abraten. Psychopharmaka präferieren dagegen nur knapp 40 Prozent, wobei fast ebenso viele Befragte im Falle einer Depression von einer solchen Behandlung abraten würden (Angermeyer et al., 2004). Behandlungsbedürftige und -willige Patientinnen und Patienten müssen vor dem Antritt einer Psychotherapie i. d. R. längere Wartezeiten und Beantragungsverfahren in Kauf nehmen (Zepf et al., 2003). Lange Wartezeiten vor Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung gibt es insbesondere bei der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit aus dem Jahre 2000 berichtet, dass in den untersuchten Regionen nur rund 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen bzw. deren Eltern, die eine Psychotherapie suchten, ein Therapieangebot fanden. Die Psychotherapeutenkammer Hessen hat in einer eigenen Untersuchung im Jahre 2005 ermittelt, dass Schulkinder bzw. ihre Eltern im Einzugsbereich der KV Hessen in fast allen Landkreisen Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz von mehr als 18 Wochen hinnehmen müssen. Eine Expertise im Auftrag der Landespsychotherapeutenkammer Hamburg zeigt, dass Versorgungsdefizite gerade in sozialen Brennpunkten bestehen und damit dort, wo die Prävalenzen psychischer Krankheiten besonders hoch sind (Albota, 2004). Nach einer Studie der Psychotherapeutenkammer Baden-Württemberg können dort selbst unter Einbezug von Leistungen der psychosozialen Versorgung nur zwischen 12 und 35 Prozent der behandlungsbedürftigen Kinder und Jugendlichen versorgt werden (Nübling et al., 2006). Nur die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, bei denen im Rahmen der Versorgung bereits eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden war, wird psychologisch, psychotherapeutisch oder psychiatrisch behandelt (Ravens-Sieberer et al., 2007). Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit aus dem Jahre 2000 zeigt darüber hinaus, dass nur rund 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die eine Psychotherapie suchten bzw. für die eine Psychotherapie gesucht wurde, ein Therapieangebot fanden. Seite 5 von 9 Stellungnahme 3. Strukturbedingte Unterversorgung durch Systematik der Bedarfsplanung Die Bedarfsplanungs-Richtlinie führt zu einem starken regionalen Gefälle der Einwohner-Leistungserbringer-Relation zwischen Kernstädten, großen Verdichtungsräumen und ländlichen Kreisen/ländlichen Regionen. Laut KV-Statistik kommt in „Kernstädten in großen Verdichtungsräumen“ ein Psychotherapeut auf 2.577 Einwohner, in „ländlichen Kreisen, ländlichen Regionen“ ein Psychotherapeut auf 23.106 Einwohner (Tabelle 1 zeigt dazu im Vergleich die Einwohner-Nervenarzt-Relationen). Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass die Prävalenz psychischer Krankheiten oder die Bereitschaft, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen in ländlichen Regionen neunmal niedriger ist als in Städten. Tabelle 1: Einwohner/Arztrelation für die definierten Raumgliederungen Kreistyp entsprechend der definierten Raumgliederung Einwohner/PsychotherapeutenRelation Einwohner/NervenarztRelation Große Verdichtungsräume 1. Kernstädte 2.577 12.864 2. Hochverdichtete Kreise 8.129 30.212 3. Normalverdichtete Kreise 10.139 34.947 4. Ländliche Kreise 15.692 40.767 5. Kernstädte 3.203 11.909 6. Normalverdichtete Kreise 8.389 28.883 16.615 47.439 8. Verdichtete Kreise 10.338 30.339 9. Ländliche Kreise 23.106 46.384 8.743 31.373 Verdichtungsansätze 7. Ländliche Kreise Ländliche Regionen 10. Sonderregion Ruhrgebiet (Quelle: Bedarfsplanungs-Richtlinien Ärzte in der Fassung vom 7. April 2006) Seite 6 von 9 Stellungnahme Das System der Bedarfsplanung beruht darauf, dass Ist-Zahlen zu einem bestimmten Stichtag als Soll-Zahlen unterstellt werden, i. d. R. nach einer langjährigen Entwicklung der entsprechenden Anbieterstrukturen. Da die Psychotherapeuten relativ spät als approbierter Heilberuf in die Bedarfsplanung aufgenommen wurden, gab es eine solche Entwicklung bei ihnen nicht und die Ende der 90er Jahre bestehenden Unterversorgungen und Verwerfungen in der Versorgungsstruktur wurden eins zu eins in die Bedarfsplanung übernommen und als Soll-Größe zementiert. Die Versorgungsgrade in den Planungsbereichen eigenen sich aus einem weiteren Grund nicht zur Feststellung eines tatsächlichen psychotherapeutischen Versorgungsbedarfs. Viele Planungsbereiche sind so großräumig, dass die durchschnittlichen Versorgungsgrade des gesamten Planungsbereichs nicht für alle Regionen innerhalb des Planungsbereiches gültig sind. Damit verlieren auch die im Bericht des BMG vorgenommenen aggregierten Versorgungsgrade eines KV-Bereiches ihre Aussagekraft. So wird Baden-Württemberg mit einem Gesamtversorgungsgrad von 159,1 Prozent zu den Bezirken mit einer Überversorgung mit psychotherapeutischen Leistungserbringern gezählt, obwohl vier Planungsbereiche lediglich einen Versorgungsgrad von 50 bis 90 Prozent erreichen. In einem Flächenland kann das bedeuten, dass ein Patient mehrere Stunden Fahrzeit zu einem Psychotherapeuten in Kauf nehmen muss. Bei einer Behandlung, die üblicherweise einmal in der Woche stattfindet, stellt dies insbesondere für berufstätige Patienten oder auch Kinder und Jugendliche eine hohe Behandlungsbarriere dar. Der Gesamtversorgungsgrad kaschiert damit durchaus regionale Versorgungsdefizite, die sich in der Praxis vor allem durch lange Wartezeiten und lange Fahrtwege zeigen. Seite 7 von 9 Stellungnahme 3. Fazit Betrachtet man die Versorgungssituation nicht ausschließlich auf der Basis der Versorgungsgrade in den Planungsbereichen, kommt man zu einer anderen Bewertung der Versorgungssituation mit psychotherapeutisch tätigen Leistungserbringern als der Bericht der Bundesregierung. Statt einer insgesamt sehr günstigen Versorgungssituation ist vielmehr in vielen Regionen und Planungsbereichen von einer massiven Unterversorgung auszugehen. Dies gilt auch dort, wo die Versorgungsrade die SollWerte der Bedarfsplanung der KVen um ein Vielfaches übersteigen. Seite 8 von 9 Stellungnahme Literatur Albota, M. (2004). Zur Situation der Versorgung von psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen in Hamburg. Psychotherapeutenkammer Hamburg. www.ptkhamburg.de/uploads/expertise.pdf. Angermeyer, M.C., Matschinger, H. & Holzinger, A. (2004). Einstellung der Bevölkerung zur Psychotherapie. In H. Remschmidt (Hrsg), Praxis der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (S. 3-13). Köln: Deutscher Ärzte-Verlag. Jacobi, F., Wittchen, H. U., Hölting, C., Höfler, M., Pfister, H., Müller, N.et al. (2004). Prevalence, comorbidity and correlates of mental disorders in the general population: results from the German Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychological Medicine, 34, 1-15. Nübling, R., Reisch, M. & Raymann, T. (2006). Zur psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in Baden-Württemberg. Psychotherapeutenjournal, 5, 247-257. Ravens-Sieberer, U.; Wille , N.; Bettge, S., Erhart, N. (2007), Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus der BELLA-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 50, 871-878. Zepf, S.; Mengele, U. & Hartmann, S. (2003) Zum Stand der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung der Erwachsenen in der Bundesrepublik. Psychother. Psychosom. Med. Psychol. 53: 152-162. 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